Toxikologie der Lokalanästhetika. Pathomechanismen – Klinik
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Die aus <strong>der</strong> Anwendung von <strong>Lokalanästhetika</strong><br />
resultierenden Plasmaspiegel <strong>–</strong><br />
als Hauptdeterminanten systemisch-toxischer<br />
Effekte <strong>–</strong> werden von unzähligen<br />
individuellen physiologischen und pharmakokinetischen<br />
Faktoren beeinflusst.<br />
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, die<br />
zumindest den Einfluss des jeweiligen Injektionsorts<br />
zu berücksichtigen versuchen<br />
[167, 168], werden die meisten <strong>der</strong> gegenwärtig<br />
empfohlenen Maximaldosierungen<br />
dieser Komplexität nicht gerecht [191].<br />
Solche Angaben führen vielmehr dazu,<br />
dass oftmals ein „falsches Gefühl <strong>der</strong> Sicherheit“<br />
im klinischen Umgang mit diesen<br />
Substanzen vermittelt wird, denn lebensbedrohliche<br />
systemisch-toxische Effekte<br />
können erwiesenermaßen auch nach<br />
<strong>der</strong> Anwendung weitaus geringerer Mengen<br />
auftreten.<br />
Toxische Wirkungen auf<br />
das Zentralnervensystem<br />
Im Allgemeinen reagiert das zentrale Nervensystem<br />
empfindlicher auf eine systemische<br />
Anreicherung von <strong>Lokalanästhetika</strong><br />
als das kardiovaskuläre System.Daher liegen<br />
die Plasmaspiegel, die zu einer entsprechenden<br />
zentralnervösen Symptomatik<br />
führen, in aller Regel niedriger als<br />
diejenigen, die einen vollständigen kardiovaskulären<br />
Kollaps zur Folge haben.<br />
Parallel zur steigenden zerebralen Konzentration<br />
<strong>der</strong> <strong>Lokalanästhetika</strong> treten die<br />
Symptome <strong>der</strong> zentralnervösen Intoxikation<br />
klassischerweise in nahezu linearer<br />
Reihenfolge auf (⊡ Tabelle 2) [66,129,138,<br />
192, 199, 251]:<br />
Im Prodromalstadium kommt es charakteristischerweise<br />
zu perioralen Taubheitsgefühlen,Schwindelgefühlen,Irritationen<br />
<strong>der</strong> Geschmackswahrnehmung<br />
(„metallisch“), einer mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong><br />
ausgeprägten Hyperakusis sowie ausgeprägten<br />
Angstzuständen bis hin zu Panikattacken<br />
[138].<br />
Ein weiterer Anstieg <strong>der</strong> intrazerebralen<br />
<strong>Lokalanästhetika</strong>konzentration leitet<br />
über in das präkonvulsive Stadium.Die<br />
Patienten klagen charakteristischerweise<br />
über akut auftretenden Tinnitus, einen<br />
Verlust <strong>der</strong> Sehschärfe sowie einen zunehmenden<br />
Kontrollverlust <strong>der</strong> Willkürmotorik;<br />
dies manifestiert sich in Tremor,unkoordinierten<br />
Muskelbewegungen sowie<br />
Nystagmen. Zusätzlich kann es bereits in<br />
diesem Stadium zu Einschränkungen <strong>der</strong><br />
Bewusstseinslage bis hin zu komatösen<br />
Zuständen kommen.<br />
Im darauffolgenden konvulsiven Stadium<br />
werden die präkonvulsiven Symptome<br />
durch tonisch-klonische Krampfanfälle<br />
von variabler Dauer und Ausprägung<br />
abgelöst,die mit Bewusstseinsverlust und<br />
Apnoephasen einhergehen. Vom klinischen<br />
Gesamtbild her ähneln die Anfälle<br />
zumindest initial einer Temporallappenepilepsie<br />
mit fokalem Beginn, bevor diese<br />
schließlich in ein generalisiertes Stadium<br />
übergehen [152, 228].<br />
Bei einem weiteren Anstieg <strong>der</strong> <strong>Lokalanästhetika</strong>spiegel<br />
sind die Anfälle <strong>–</strong> auch<br />
ohne Behandlung <strong>–</strong> durch den Übergang<br />
in das Stadium <strong>der</strong> zentralnervösen Depression<br />
selbstlimitierend.In diesem letzten,lebensbedrohlichen<br />
Stadium <strong>der</strong> zentralnervösen<br />
Intoxikation sind die betroffenen<br />
Patienten tief komatös, ohne Atmung,<br />
bradykard und durch den Ausfall<br />
entsprechen<strong>der</strong> Vasomotorenzentren in<br />
aller Regel hypoton.<br />
Pathophysiologisch beruhen diese Intoxikationserscheinungen<br />
zunächst auf<br />
einer peripheren Blockade entsprechen<strong>der</strong><br />
afferenter und efferenter Gehirnnervenfasern;<br />
direkte zentralnervöse Effekte<br />
spielen somit im Prodromalstadium<br />
lediglich eine untergeordnete Rolle [216].<br />
Der weitere biphasische Verlauf <strong>der</strong><br />
Symptomatik <strong>–</strong> initiale Exzitation gefolgt<br />
von vollständiger zentralnervöser Depression<br />
<strong>–</strong> erklärt sich dadurch,dass kortikale<br />
inhibitorische Neuronenverbände<br />
empfindlicher auf intrazerebrale <strong>Lokalanästhetika</strong>konzentrationen<br />
zu reagieren<br />
scheinen als exzitatorische [237,251,254].<br />
Das präkonvulsive Stadium ist demnach<br />
gekennzeichnet durch ein funktionelles<br />
Überwiegen exzitatorischer Neuronengruppen;<br />
hierbei kommt <strong>der</strong> Aktivität des<br />
Mandelkerns,dem Corpus amygdaloideum,<br />
eine pathophysiologische Schlüsselrolle<br />
zu [56]. Das Corpus amygdaloideum<br />
selbst ist wichtiger Bestandteil des<br />
limbischen Systems und kann in basolaterale<br />
bzw.kortikomediale Kerngruppen<br />
unterteilt werden, wobei letztere beim<br />
Menschen hochentwickelt sind. Über afferente<br />
Bahnen ist die Amygdala eng mit<br />
dem olfaktorischen System bei<strong>der</strong> Seiten<br />
verschaltet, sendet aber auch Efferenzen<br />
zum Thalamus,dem Hyopothalamus und<br />
<strong>der</strong> Formatio reticularis. Die Funktion<br />
dieses Kerngebietes ist komplex. Beim<br />
Menschen führt die selektive Stimulation<br />
beispielsweise zu Konfusion und<br />
Amnesie, während sich die Ablation <strong>der</strong><br />
Amygdala in einer betont aggresiven Verhaltensweise<br />
und Wesensverän<strong>der</strong>ung äußert<br />
[61, 75, 181].<br />
Der Mandelkern gilt heutzutage als <strong>der</strong><br />
primäre Fokus für die im konvulsiven Stadium<br />
auftretenden generalisierten Anfälle<br />
nach dem Wegfall <strong>der</strong> kortikalen Hemmung.Eine<br />
Reihe von tierexperimentellen<br />
Untersuchungen konnte darüber hinaus<br />
zeigen, dass <strong>der</strong> Hippocampus einen sekundären<br />
Fokus darstellt, <strong>der</strong> allerdings<br />
nur bei intakter funktioneller Integrität<br />
<strong>der</strong> Amygdala in Erscheinung treten kann.<br />
So war es nicht möglich, nach Ablation<br />
<strong>der</strong> Amygdala bei Ratten generalisierte<br />
Krampfanfälle durch die Applikation von<br />
Kokain auszulösen [55].<br />
Zur vollständigen zentralnervösen Depression<br />
kommt es schließlich, wenn die<br />
exzitatorischen Neuronenverbände subkortikaler<br />
Zentren sowie weiterer übergeodneter<br />
zerebraler Strukturen in ihrer<br />
Funktion durch <strong>Lokalanästhetika</strong> unterdrückt<br />
werden [237].Elektrophysiologisch<br />
ist dieser Zustand durch das Auftreten von<br />
Nulllinien im EEG charakterisiert,was als<br />
Korrelat einer vollständig erloschenen<br />
neuronalen Aktivität gewertet wird [245].<br />
Grundsätzlich gelten all diese Vorgänge<br />
als reversibel, und es muss bei rechtzeitig<br />
einsetzenden und adäquaten Therapiemaßnahmen<br />
in aller Regel mit keinen<br />
permanenten neurologischen Defiziten<br />
gerechnet werden.Hierzu trägt sicherlich<br />
die Tatsache entscheidend bei, dass <strong>der</strong><br />
erhöhte neuronale Sauerstoffbedarf während<br />
<strong>der</strong> Krampfanfälle durch eine sogar<br />
überproportionale Zunahme des zerebralen<br />
Blutflusses über einen längeren Zeitraum<br />
kompensiert werden kann [136].<br />
Die klinische Erfahrung hat gezeigt,<br />
dass die hier dargestellte exemplarische<br />
Abfolge <strong>der</strong> Symptomatik nicht in allen<br />
Fällen beobachtet werden kann. So kann<br />
die rasche intravasale Applikation von Bupivacain,<br />
weitaus seltener aber auch von<br />
Lidocain bzw. Procain, zu einer schlagartig<br />
einsetzenden, ubiquitären Blockade<br />
zentralnervöser Strukturen führen, so<br />
dass die Symptomatik des präkonvulsiven<br />
und konvulsiven Stadiums nur kurz-<br />
Der Anaesthesist 12 · 2003 | 1109