16.06.2014 Aufrufe

I. Aufklärung der Hysterie - Rote Ruhr Uni

I. Aufklärung der Hysterie - Rote Ruhr Uni

I. Aufklärung der Hysterie - Rote Ruhr Uni

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

I. <strong>Aufklärung</strong> <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong><br />

Man versteht die Psychoanalyse immer noch am besten,<br />

wenn man ihre Entstehung und Entwicklung verfolgt.<br />

Sigmund Freud 1<br />

Vor Charcot und Freud war die <strong>Hysterie</strong> »die bete noir <strong>der</strong> Medizin;<br />

die armen Hysterischen, die in früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten als Besessene<br />

verbrannt o<strong>der</strong> exorziert worden waren, verfielen im letzten<br />

aufgeklärten Zeitalter bloß dem Fluche <strong>der</strong> Lächerlichkeit; ihre<br />

Zustände wurden als Simulation und Übertreibungen einer klinischen<br />

Beobachtung unwert erachtet.« 2 Dies Schicksal teilte die <strong>Hysterie</strong> am<br />

Ausgang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit <strong>der</strong> eigentümlichen, mit dem Namen<br />

Mesmers verbundenen, von <strong>der</strong> offiziellen Medizin ignorierten<br />

Beeinflussungskunst <strong>der</strong> Hypnose (Suggestion), die <strong>der</strong> unbefangene<br />

Empiriker Charcot als erster zur experimentellen Erzeugung<br />

hysterischer Symptome verwandt hatte, und die dem jungen<br />

Nervenarzt Freud (neben <strong>der</strong> »Elektrotherapie«) im zeitgenössischen<br />

therapeutischen Arsenal als einzige Waffe gegen die Neurosen zur<br />

Verfügung stand. 3 <strong>Hysterie</strong> wie Hypnose, <strong>der</strong>en frühestes Heilmittel,<br />

sprengten den physiologisch-materialistischen Interpretationsrahmen<br />

für Organismus, Krankheit und Therapie, wie ihn die Medizin des 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts nach <strong>der</strong> Abwendung von <strong>der</strong> spekulativen<br />

Naturphilosophie (Goethes und Schellings) ausgebildet hatte.<br />

Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Physiologie war in<br />

Deutschland Johannes Müller (1801-1858), <strong>der</strong> Lehrer von Rudolf<br />

Virchow, Hermann Helmholtz, Emil Du Bois-Reymond<br />

1 »Psychoanalyse« und »Libidotheorie« (1923). GW XIII, 211.<br />

2 Freud, <strong>Hysterie</strong> (1888 c), 886.<br />

3 Freud, Selbstdarstellung (1925); GW XIV, 39. - Erna Lesky hat (1965)<br />

darauf aufmerksam gemacht, daß Freud und Charcot hierin einen Vorgänger<br />

hatten: Moritz Benedikt (1835-1920), selbst ein Outsi<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schulmedizin.<br />

»Schon in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> siebziger Jahre griff Benedikt in seiner therapeutischen<br />

Verzweiflung vor schweren <strong>Hysterie</strong>fällen zur Hypnose.« Nachdem ihm Josef<br />

Breuer zunächst von solchen Experimenten abgeraten hatte, empfing Benedikt<br />

1878 »einen starken Impuls zur Fortsetzung dieser Studien von Charcot... All<br />

diese alten Beziehungen sind lebendig gewesen, als sich 1885 <strong>der</strong> junge Freud<br />

Charcot mit einem Empfehlungsschreiben Benedikts an <strong>der</strong> Salpetriere<br />

vorstellte« (Lesky, S. 392).<br />

29


und Ernst Brücke. Müllers wissenschaftliche Entwicklung ist für den<br />

Übergang von <strong>der</strong> Naturphilosophie zum Positivismus exemplarisch;<br />

sein 1834-40 erschienenes »Handbuch <strong>der</strong> Physiologie des Menschen«<br />

wird wegen <strong>der</strong> »Hinwendung zu Beobachtung und Experiment«<br />

gerühmt. 4 Die von Müller noch aufrechterhaltene Differenz zwischen<br />

chemisch-physikalischen und (durch Teleologie charakterisierten)<br />

biologischen Phänomenen, sein »Vitalismus«, »läßt sich als<br />

Überbleibsel aus Müllers Anschauungsweise <strong>der</strong> früheren Jahre<br />

deuten; denn die positivistisch orientierte Wissenschaft hatte um das<br />

Jahr 1840 bereits eine völlig abweichende Richtung eingeschlagen.<br />

Die Mehrzahl <strong>der</strong> Biologen war allmählich zu <strong>der</strong> Überzeugung<br />

gelangt, daß <strong>der</strong> Vitalismus nicht nur nichts ausrichtete, son<strong>der</strong>n für<br />

den gewissenhaften Experimentator sogar eine Gefahr bedeutete.« 5<br />

Will man sich diese Entwicklung vergegenwärtigen, schreibt Shryock,<br />

»so beginnt man am besten mit dem Studium <strong>der</strong> Werke Schellings<br />

und endet mit denen Ernst Häckels. Müller läßt sich allenfalls als<br />

zwischen den beiden Extremen schwebend betrachten« (S. 163). Die<br />

Schüler Johannes Müllers waren entschlossene Materialisten 6 ; ihr<br />

antispekulativer Furor hat noch den eher an »menschliche(n)<br />

Verhältnisse(n) als ... natürliche(n) Objek-te(n)« interessierten,<br />

goethebegeisterten Medizinstudenten Freud 7 zu dem »lebenslangen<br />

Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie«<br />

genötigt 8 , ehe er sich im Alter wie<strong>der</strong> gestattete, zu »jenen kulturellen<br />

Problemen« zurückzukehren, »die <strong>der</strong>einst den kaum zum Denken<br />

erwachten Jüngling gefesselt hatten.« 9 Das Programm zur<br />

Entwicklung einer physikalischen Lehre vom Organismus hat <strong>der</strong><br />

junge Du<br />

4 Vgl. Shryock, Die Entwicklung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Medizin (1947), 160-163.<br />

5 A.a.O., 162.<br />

6 Ernst Brücke etwa beginnt seine 1874 veröffentlichten »Vorlesungen über Physiologie«<br />

(Bd. I, S. 3), indem er die Organismen (die sich fremde Substanzen assimilieren können)<br />

von den Mechanismen abgrenzt. Dann zitiert er das kartesische »Cogito, ergo sum« und<br />

fährt fort: »Dasjenige aber, was in uns denkt, das Ich, das fühlen wir fortwährend<br />

verän<strong>der</strong>t, und es geht in unsere Vorstellungen nicht hinein, daß für diese Verän<strong>der</strong>ungen<br />

keine äußeren Ursachen vorhanden sein sollen. Die Außendinge, die unser Ich verän<strong>der</strong>n,<br />

bezeichnen wir, insofern sie ausgedehnt sind, mit dem Namen <strong>der</strong> Materie . . .«<br />

7 Selbstdarstellung. GW XIV, 34.<br />

8 Nachschrift 1935 zur »Selbstdarstellung«. GW XVI, 32.<br />

9 A.a.O.<br />

Bois-Reymond in einem Brief an Eduard Hallmann (vom Mai 1842)<br />

folgen<strong>der</strong>maßen umrissen:<br />

»(Meine) Arbeit wird geeignet sein, den Physikern Respekt vor <strong>der</strong><br />

Physiologie zu verschaffen . .. Brücke seinerseits schreibt eine Dissertation,<br />

in welcher zuerst <strong>der</strong> Versuch gemacht ist, . .. alle vegetativen<br />

Vorgänge <strong>der</strong> organischen Körper auf physikalischem Wege zu erklären<br />

. .. Brücke und ich wir haben uns verschworen, die Wahrheit<br />

geltend zu machen, daß im Organismus keine an<strong>der</strong>en Kräfte wirksam<br />

sind, als die gemeinen physikalisch-chemischen; daß, wo diese bislang<br />

nicht zur Erklärung ausreichen, mittels <strong>der</strong> physikalisch-mathematischen<br />

Methode entwe<strong>der</strong> nach ihrer Art und Weise <strong>der</strong> Wirksamkeit<br />

im konkreten Fall gesucht werden muß, o<strong>der</strong> daß neue Kräfte angenommen<br />

werden müssen, welche, von gleicher Dignität mit den physikalisch-chemischen,<br />

<strong>der</strong> Materie inhärent, stets nur auf abstoßende o<strong>der</strong><br />

anziehende Componenten zurückzuführen sind . . .« 10<br />

<strong>Hysterie</strong> und Hypnose aber wi<strong>der</strong>standen <strong>der</strong> Reduktion auf »gemeine<br />

physikalisch-chemische Kräfte« noch vierzig Jahre nach <strong>der</strong><br />

Programmerklärung <strong>der</strong> physikalistischen Mediziner, die für<br />

Funktionsstörungen ohne organischen Befund, gar für das »Ein- und<br />

Ausreden« 11 solcher Störungen keinen Raum gelassen hatte. <strong>Hysterie</strong><br />

und Hypnose waren in dem allgemein anerkannten ätiologischen<br />

Schema körperlicher Krankheiten nicht unterzubringen. Die Fahndung<br />

nach einer hirnanatomischen o<strong>der</strong> neurophysiologischen Basis <strong>der</strong><br />

vielgestaltigen hysterischen Symptome blieb ohne Resultat, <strong>der</strong><br />

Mechanismus <strong>der</strong> Hypnose unerklärt. Die naturwissenschaftlichmaterialistische<br />

Weltanschauung hatte den großen Fortschritt <strong>der</strong><br />

medizinischen Grundwissenschaften ermöglicht. Ihre dogmatische<br />

Schranke wurde kenntlich, wo sie mit den Neurosen, eigenartigen<br />

Produkten <strong>der</strong> in Bildungsprozessen historisch formierten und<br />

deformierten Menschennatur, konfrontiert war. Die »Objektivität« <strong>der</strong><br />

hysterischen Symptome wurde, da sie den konventionellen (somatischen)<br />

Kriterien von »Krankheit« nicht genügten, geleugnet; die<br />

Hypnose galt als Scharlatanerie. Freud berichtet aus seiner nervenärztlichen<br />

Tätigkeit in den frühen achtziger Jahren: »Von den<br />

Neurosen verstand ich nichts. Als ich einmal meinen Hörern einen<br />

Neurotiker mit fixiertem Kopfschmerz als Fall von chronischer<br />

zirkumskripter Meningitis vorstellte, fielen sie alle in be-<br />

10 Du Bois-Reymond (1918), 108.<br />

11 Freud, Anfänge, 54.<br />

30<br />

31


echtigter kritischer Auflehnung von mir ab ... Zu meiner Entschuldigung<br />

sei bemerkt, es war die Zeit, da auch größere Autoritäten<br />

in Wien die Neurasthenie als Hirntumor zu diagnostizieren pflegten.« 12<br />

In dieser Situation wurde Charcot zum Pionier. Freud rühmt an ihm<br />

den Mut zur vorurteilslosen Beobachtung, <strong>der</strong> es ihm ermöglichte, den<br />

»Tatsachen <strong>der</strong> Klinik« auch dann »Vorrang« einzuräumen, wenn sie<br />

allgemein anerkannten Theorien zu wi<strong>der</strong>sprechen schienen. »Charcot<br />

wurde ... niemals müde, die Rechte <strong>der</strong> rein klinischen Arbeit, die im<br />

Sehen und Ordnen besteht, gegen die Übergriffe <strong>der</strong> theoretischen<br />

Medizin zu verteidigen.« 13 Freud, <strong>der</strong> als Student »einer öffentlichen<br />

Vorstellung des >Magnetiseurs< Hansen beigewohnt« und durch<br />

Beobachtung des Zustands einer <strong>der</strong> Versuchspersonen sich die<br />

»Überzeugung von <strong>der</strong> Echtheit <strong>der</strong> hypnotischen Phänomene«<br />

erworben hatte 14 , schreibt im Bericht über seine Paris-Reise<br />

(1885/86) 15 :<br />

»Ich versäumte auch nicht, mir eigene Erfahrungen über die so wun<strong>der</strong>baren<br />

und wenig geglaubten Phänomene des Hypnotismus ... zu<br />

erwerben. Zu meinem Erstaunen fand ich, daß es sich hierbei um grob<br />

sinnfällige, in keiner Weise anzuzweifelnde Dinge handelt, die allerdings<br />

wun<strong>der</strong>bar genug sind, um nicht ohne eigene sinnliche Wahrnehmung<br />

geglaubt zu werden ... (Charcot war) <strong>der</strong> Hypnotismus ein<br />

Erscheinungsgebiet, auf das er die naturwissenschaftliche Beschreibung<br />

anwandte.. .« 16 »Durch das wissenschaftliche Studium des Hypnotismus<br />

- ein Gebiet <strong>der</strong> Neuropathologie, das einerseits dem Unglauben,<br />

an<strong>der</strong>erseits dem Betruge abgerungen werden mußte - gelangte er<br />

selbst zu einer Art von Theorie <strong>der</strong> hysterischen Symptomatologie,<br />

welche er den Mut hatte, als eine zumeist reelle anzuerkennen ...«<br />

Charcot beschränkte sich auf eine genaue Beschreibung <strong>der</strong> Symptome<br />

und Anfallsstadien und unterlegte ihnen die Annahme einer<br />

hereditären Disposition, ohne zu einer psychologischen<br />

12 Selbstdarstellung. GW XIV, 36 f.<br />

13 Charcot. GW I, 23 f.; vgl. auch GW XIV, 38.<br />

14 Selbstdarstellung. GW XIV, 40.<br />

15 Freud (1886), S. 87 und 88.<br />

16 Diese unvoreingenommene Voreingenommenheit engte Charcots Auffassung<br />

<strong>der</strong> Hypnose auf eine »ausschließlich somatische« ein. Er erklärte die<br />

hypnotischen Erscheinungen »nach dem Schema <strong>der</strong> spinalen Reflexe« und<br />

behauptete, daß nur bei einer bestimmten Veranlagung Hypnose möglich sei,<br />

»daß also nur Neuropathen (speziell Hysterische) hypnotisierbar sind« (Freud,<br />

1889, II, S. 1893). Später hat er gar <strong>der</strong> Hypnose jede Bedeutung als Heilmittel<br />

abgesprochen (vgl. Freud, Charcot; GW I, 34).<br />

32<br />

Theorie <strong>der</strong> Neurosen vorzudringen. Freud gibt dazu den erklärenden<br />

Hinweis: »Er war doch von <strong>der</strong> pathologischen Anatomie her<br />

gekommen.« 17 Indem Charcot »mit seiner vollen Autorität für die<br />

Echtheit und Objektivität <strong>der</strong> hysterischen Phänomene eintrat«, hatte er<br />

aber den Weg zur <strong>Aufklärung</strong> »diese(r) rätselhafteste(n) aller<br />

Nervenkrankheiten« geebnet. 18 Die <strong>Hysterie</strong> ahmt proteushaft eine<br />

Vielzahl organischer Störungen (Krampfanfälle, Sensibilitätsstörungen,<br />

Störungen <strong>der</strong> Sinnestätigkeit, Lähmungen und Kontrakturen) nach.<br />

Die Variabilität <strong>der</strong> Symptome aber läßt keinen Rückschluß auf eine<br />

lokalisierte »materielle Läsion« zu. Da die hysterischen Störungen<br />

»keinerlei Rücksicht auf den anatomischen Aufbau des Nervensystems<br />

(verraten)«, fügen sie sich keiner <strong>der</strong> traditionellen anatomischphysiologischen<br />

Ätiologien ein. Sie bieten das Paradox physischer<br />

Verän<strong>der</strong>ungen, die durch naturwissenschaftliche (anatomischphysiologische,<br />

organologische) Theorien nicht sich erklären lassen.<br />

Wenn die positivistische Medizin die »Objektivität« dieser Leiden<br />

leugnete, den Simulationen <strong>der</strong> Kranken mit »höhnische(m) Lächeln«<br />

begegnete 19 , so war das zunächst nur konsequent. Das äußerste, was die<br />

Naturwissenschaft bzw. die naturwissenschaftlich orientierte Medizin<br />

gegenüber <strong>der</strong> Pseudo-natur von Leiden vermag, die aus mißglückten<br />

Soziali-sationsprozessen stammen, hat Charcot versucht: beobachten,<br />

beschreiben, typisieren. Seine »experimentelle Nachahmung hysterotraumatischer<br />

Lähmungen« gab Einblick in den »Mechanismus«<br />

hysterischer Symptome, nicht in »die inneren Ursachen <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong>«. 20<br />

Die Pseudonatur von Sozialisationsleiden wie die von<br />

Sozialverhältnissen, die sich unter Bedingungen von Arbeitsteilung,<br />

Ungleichheit und Herrschaft einspielen, provoziert die Anwendung von<br />

Verfahrensweisen, die aus dem Interesse an technischer Verfügung<br />

über vergegenständlichte Prozesse entwickelt worden sind. Verführung<br />

und Grenze quasi-technischer Beherrschung zwischenmenschlicher<br />

Verhältnisse in pseudonatürlicher Gestalt formuliert <strong>der</strong> junge Freud<br />

am Beispiel <strong>der</strong> Hyp-<br />

17 GW XIV, 38.<br />

18 »Charcot hatte im kleinen die Tat <strong>der</strong> Befreiung wie<strong>der</strong>holt, wegen welcher<br />

das Bild Pinels den Hörsaal <strong>der</strong> Salpetriere zierte« (Freud, Charcot; GW I, 30).<br />

19 Freud, Charcot. GW I, 30.<br />

20 Breuer/Freud, Vorläufige Mitteilung . . . GW I, 97.<br />

33


nose. Er zitiert zunächst den von Forel im Anschluß an Bernheim<br />

aufgestellten Satz: »Man kann durch Suggestion in <strong>der</strong> Hypnose<br />

sämmtliche bekannte subjektiven Erscheinungen <strong>der</strong> menschlichen<br />

Seele und einen großen Theil <strong>der</strong> objektiv bekannten Funktionen des<br />

Nervensystems produziren, beeinflussen, verhin<strong>der</strong>n (hemmen,<br />

modifiziren, lähmen o<strong>der</strong> reizen)«, und illustriert ihn: »Also<br />

Beeinflussung <strong>der</strong> sensiblen und motorischen Körperfunktionen,<br />

gewisser Reflexe, vasomotorischer Vorgänge (sogar Blasenziehen!),<br />

auf psychischem Gebiete <strong>der</strong> Gefühle, Triebe, des Gedächtnisses, <strong>der</strong><br />

Willensthätigkeit u.s.w.« Dann fährt er fort:<br />

»Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> einige persönliche Erfahrungen über den Hypnotismus gesammelt<br />

hat, wird sich hiebei des Eindruckes erinnern, den es ihm<br />

machte, als er zum ersten Male einen bisher ungeahnten Einfluss auf<br />

das psychische Leben eines an<strong>der</strong>en Menschen ausübte und mit einer<br />

Menschenseele wie sonst nur mit einem Thierleib experimentiren<br />

konnte! Allerdings erfolgt diese Beeinflussung nur selten ohne Wi<strong>der</strong>stand<br />

von Seiten des Hypnotisirten. Derselbe ist kein blosser Automat,<br />

er wehrt sich oft genug gegen die Suggestion und schafft sich aus seiner<br />

eigenen Thätigkeit >AutosuggestionenSuggestion< gegeben ist.« 21<br />

Macht sich die Hypnose - wie an<strong>der</strong>e Formen von Psychotech-nik - die<br />

am Grunde <strong>der</strong> mühsam errungenen Selbständigkeit des Erwachsenen<br />

liegende infantile Hilflosigkeit und Liebesbedürftigkeit, sie<br />

aktualisierend, zunutze, lebt die Sozialtechnik von <strong>der</strong> Berechenbarkeit<br />

<strong>der</strong> Reaktionen <strong>der</strong> Menschenmassen, die sich <strong>der</strong> Übermacht <strong>der</strong><br />

vorgefundenen Verhältnisse resigniert fügen, so arbeitet die kritische<br />

Theorie daran, jene Formen des falschen Bewußtseins, die die Macht<br />

<strong>der</strong> Verhältnisse wie die Ohnmacht <strong>der</strong> Subjekte nicht begründen, aber<br />

fixieren, aufzulösen. Die Fortschritte technischer Naturbeherrschung,<br />

die den Druck von Naturnotwendigkeit mil<strong>der</strong>n, die Naturschranke<br />

zurückweichen lassen, werden realisiert und fruktifiziert im Zusammenhang<br />

mit <strong>Aufklärung</strong>sschritten, die die Ideologien - die den<br />

Kämpfen sozialer Klassen entspringen und je schon antiquierte<br />

Sozialverhältnisse (die Matrix <strong>der</strong> Fortschritte <strong>der</strong> Naturbeherrschung)<br />

legitimieren - auflösen. Fortschritte <strong>der</strong> Re-<br />

21 Forel-Referat (1889), II, S. 1894. - Vgl. dazu auch Freuds Argumentation im<br />

Untersuchungsverfahren gegen Wagner-Jauregg (1920), bei dem es um die Faradisierung<br />

sogenannter »Kriegsneurotiker« ging.<br />

flexion, die denen <strong>der</strong> Naturbeherrschung komplementär sind,<br />

enthüllen in steigendem Maße pseudonatürliche Verhältnisse als<br />

(unfreiwillig eingegangene) menschliche. Naturwissenschaft und<br />

Reflexion verhalten sich hier gegenläufig: Indem auf <strong>der</strong> magischanimistischen<br />

Stufe des kollektiven Bewußtseins Natur anthropomorph<br />

ausgelegt, hinter allen Naturerscheinungen menschengleiche<br />

Autoren vermutet wurden, entstanden die ersten Formen<br />

einer magischen Naturbeeinflussung. Der reale Fortschritt <strong>der</strong><br />

Naturerkenntnis vollzog sich als Fortschritt <strong>der</strong> Des-<br />

Anthropomorphisierung, als Entzauberung <strong>der</strong> Welt. Die Naturgesetze<br />

aber schienen noch lange auf einen Weltschöpfer zurückzudeuten.<br />

Schließlich wurden sie wie<strong>der</strong> »subjektiviert«, erscheinen als (in<br />

bestimmten Erfahrungsbereichen) empirisch gut bewährte (Gesetzes-<br />

)Hypothesen, in <strong>der</strong>en Konstruktion <strong>der</strong> »Perspektivismus <strong>der</strong> Gattung«<br />

(Nietzsche) ebenso wie die in <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Arbeit erschlossene<br />

Struktur <strong>der</strong> »objektiven« Welt, in <strong>der</strong> die Gattung zu überleben<br />

verstand, aufgehoben sind. Die kritische Reflexion aber verfährt<br />

»radikal«, sucht die Menschen als Wurzel aller Dinge, als Autoren ihrer<br />

Welt, um ihnen <strong>der</strong>en Verän<strong>der</strong>ung zu ermöglichen. Sie wendet sich an<br />

die Akteure, wo an<strong>der</strong>e, den Argwohn des Intellekts übertönend, das<br />

Schicksal verehren. Nicht Prometheus, <strong>der</strong> Revolutionär <strong>der</strong> Technik,<br />

<strong>der</strong> den Göttern listig das Feuer stiehlt und dafür büßt, son<strong>der</strong>n Ödipus,<br />

dem sie willkürlich das Schicksal auferlegt haben, unwissend gegen die<br />

ältesten Kulturverbote zu verstoßen, und <strong>der</strong> dies Schicksal nicht nur<br />

vollbringt, son<strong>der</strong>n - ohne göttlichen Auftrag - auch aufklärt, die<br />

Schuld nicht den Göttern zuschiebt, son<strong>der</strong>n sie auf sich nimmt, ist das<br />

mythische Vorbild <strong>der</strong> Psychoanalyse. 22 Im ahnungslosen Täter, <strong>der</strong> die<br />

mißlungene Vergangenheit post festum reflektierend sich zu eigen<br />

macht, hat sich <strong>der</strong> letzte »Gott«, den die Psychoanalyse verehrt,<br />

»unser Gott Logos« 23 , inkarniert.<br />

22 Der seine Vergangenheit furchtlos aufdeckende Ödipus symbolisiert das<br />

emanzipatorische Erkenntnisinteresse, von dem Habermas sagt: »In <strong>der</strong> Selbstreflexion<br />

gelangt eine Erkenntnis um <strong>der</strong> Erkenntnis willen mit dem Interesse an Mündigkeit zur<br />

Deckung ... In <strong>der</strong> Kraft <strong>der</strong> Selbstreflexion sind Interesse und Erkenntnis eins«<br />

(Erkenntnis und Interesse, in: 1968 a, 164). Vgl. dazu Ferenczi, Symbolische Darstellung<br />

des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus-Mythos (1912). In: Ferenczi (1922), 142-153.<br />

(Nachdruck in: Psyche, XXVI. Jg., 1972, 520-529.)<br />

23 Freud, Die Zukunft einer Illusion. GW XIV, 378.<br />

34 35


Was die offizielle Medizin verleugnete, hat Charcot als Naturtatsache<br />

zu behandeln versucht. Die hysterischen Phänomene interpretierte er<br />

als Momente eines (unerkannten) physiologischen Prozesses, zu<br />

dessen Erklärung er naturalistische Hypothesen bildete. Der empirisch<br />

geschulte Blick des großen Klinikers vermochte nicht, die Phänomene<br />

<strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong> als Pseudonatur zu durchschauen. Mit dem Simulations-<br />

Verdacht war die offizielle Neurologie auf <strong>der</strong> richtigen Fährte<br />

gewesen, einer Fährte freilich, die ihr physikalistisches Ethos ihr zu<br />

verfolgen verbot. Charcot behauptete die »Objektivität« <strong>der</strong> hysterischen<br />

Symptome, verstand sie also als rein somatische; <strong>der</strong> Gedanke,<br />

die hysterischen Phänomene zu »deuten«, sie auf einen somatisierten<br />

»Sinn« hin zu befragen, lag ihm ganz fern, obwohl er <strong>der</strong> erste war,<br />

<strong>der</strong> in großem Stil hysterische Symptome durch suggestives Ein- und<br />

Ausreden experimentell schuf und wie<strong>der</strong> verschwinden ließ. Gerade<br />

die von ihm eingeführten physiologischen Erklärungen <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong><br />

waren dazu angetan, das »Pseudo«-Moment <strong>der</strong> neurotischen<br />

Produktionen völlig zu verdecken. Auch in <strong>der</strong> (noch unter Charcots<br />

Einfluß formulierten) ersten Version von Freuds <strong>Hysterie</strong>-Theorie 24<br />

erscheinen Ätiologie und Symptomatologie naturalistisch verkappt.<br />

Freud brauchte zehn Jahre, um den Phänomenen, denen er konfrontiert<br />

war, ihren naturalistischen Schein abzustreifen. Erst Breuers<br />

therapeutische Anwendung <strong>der</strong> Hypnose eröffnete die lebensgeschichtliche<br />

Dimension <strong>der</strong> Neurosen-Ätiologie. In seinem <strong>Hysterie</strong>-<br />

Artikel aus dem Jahre 1888 25 unterstellt Freud eine physiologische<br />

Basis <strong>der</strong> Krankheit als conditio sine qua non. Allerdings betont er<br />

nachdrücklich die eigentümliche Verselbständigung <strong>der</strong> Symptome<br />

gegenüber ihrem organischen Substrat. Als entscheiden<strong>der</strong><br />

ätiologischer Faktor wird eine (hereditäre) »Konstitutionsanomalie« 26<br />

vermutet. Die therapeutische Konzeption aber ist bereits von Breuers<br />

hypnotischem Ausforschungsverfahren bestimmt. Die Auflösung<br />

dieser Wi<strong>der</strong>sprüche wurde <strong>der</strong> Weg zur Psychoanalyse. Freud<br />

charakterisiert die <strong>Hysterie</strong> als ein Mischgebilde aus somatischen und<br />

psychischen Störungen. Sie »beruht ganz und gar auf physiologischen<br />

Modifikationen des Nervensystems, und ihr Wesen wäre durch<br />

24 Freud, <strong>Hysterie</strong> (1888 c).<br />

25 A.a.O.<br />

26 A.a.O., S. 890.<br />

eine Formel auszudrücken, welche den Erregbarkeitsverhältnissen <strong>der</strong><br />

verschiedenen Teile des Nervensystems Rechnung trägt. Eine solche<br />

physiopathologische Formel ist aber noch nicht gefunden worden«, so<br />

daß man die <strong>Hysterie</strong> einstweilen nur nosographisch definieren kann<br />

(S. 886). »Die psychischen Verän<strong>der</strong>ungen ..., welche man als<br />

Grundlage des hysterischen Status postulieren muß, spielen ganz im<br />

Gebiete <strong>der</strong>... automatischen Gehirntätigkeit«, die Freud hier eine<br />

»unbewußte« nennt. »Die Ätiologie des Status hystericus ist durchaus<br />

in <strong>der</strong> Heredität zu suchen« (889). Die These von <strong>der</strong> Heredität<br />

verstellt noch gänzlich die Aussicht auf die Psychogenese <strong>der</strong><br />

Neurosen in (familialen) Sozialisationsprozessen: »Die Hysterischen<br />

sind immer erblich zu Störungen <strong>der</strong> Nerventätigkeit veranlagt und<br />

zeigen Epileptische, psychisch Kranke, Tabiker usw. in ihrer<br />

Verwandtschaft. Auch direkte hereditäre Übertragung <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong><br />

wird beobachtet und liegt z. B. dem Auftreten <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong> bei Knaben<br />

(von <strong>der</strong> Mutter her) zu Grunde« (889). Freud erkennt und negiert<br />

zugleich die Geschichte <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong>: Im Mittelalter sei sie »infolge<br />

psychischer Contagion epidemisch aufgetreten, und liegt dem<br />

Tatsächlichen aus <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Besessenheit und des<br />

Hexenwesens zu Grunde.« In früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten wurden die<br />

Hysterischen als Besessene verbrannt o<strong>der</strong> exorziert, im neunzehnten<br />

verfielen sie (vor Charcot) »bloß dem Fluche <strong>der</strong> Lächerlichkeit«. Daß<br />

eine Krankheit, bei <strong>der</strong> die Vorstellungen <strong>der</strong> Kranken eine so<br />

exquisite Rolle spielen, durch die Interpretationen, in <strong>der</strong>en Licht die<br />

Menschen sie erleben, selbst entscheidend bestimmt wird, daß im<br />

einen Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Folterkeller o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Scheiterhaufen, im an<strong>der</strong>n<br />

die Couch des Analytikers, im einen Tod und Höllenfahrt, im an<strong>der</strong>n<br />

Heilung durch Selbstreflexion als Ausweg aus <strong>der</strong> Krankheit gelten,<br />

erscheint Freud gegenüber <strong>der</strong> abstrakten Identität <strong>der</strong> Symptome (und<br />

des psychophysischen Mechanismus) <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong> als gleichgültig:<br />

»Dokumente aus jener Zeit bezeugen, daß ihre Symptomatologie bis<br />

auf den heutigen Tag keine Verän<strong>der</strong>ung erfahren hat« (886). Die<br />

Neurose schafft nichts Neues, son<strong>der</strong>n entwickelt und übertreibt nur<br />

physiologische Relationen. Freilich ist »<strong>der</strong> Einfluß psychischer<br />

Vorgänge im Organismus ... gesteigert« (889), - die Fähigkeit zu<br />

»Konversionen«. »Es sind nicht nur keine wahrnehmbaren<br />

Verän<strong>der</strong>ungen des Nervensystems bei dieser Krankheit gefunden<br />

worden, son<strong>der</strong>n es steht auch nicht zu erwarten,<br />

36 37


daß irgendeine Verfeinerung <strong>der</strong> anatomischen Techniken eine solche<br />

nachweisen würde« (886). Für die hysterischen Symptome<br />

(Lähmungen, Sensibilitätsstörungen, Kontrakturen etc.) sind schärfste<br />

Begrenzung und höchste Intensität charakteristisch. Sie sind in einer<br />

Weise beweglich, »welche jede Vermutung einer materiellen Läsion<br />

von vornherein abweist«, und bieten »in keiner Weise ein Abbild <strong>der</strong><br />

anatomischen Verhältnisse des Nervensystems ... Man kann sagen, die<br />

<strong>Hysterie</strong> ist ebenso unwissend in <strong>der</strong> Lehre vom Bau des<br />

Nervensystems wie wir selbst, ehe wir's gelernt haben ... Man muß<br />

daher den Gedanken abweisen, daß <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong> eine mögliche<br />

organische Störung zu Grunde liegt« (889). Während ästhesiogene<br />

Mittel (Elektrizität, Magnetismus etc.) die Symptome beeinflussen<br />

können, äußert »ein hysterisches Nervensystem in <strong>der</strong> Regel große<br />

Resistenz gegen chemische Beeinflussung durch interne Medikation...<br />

(und reagiert) gegen Narcotica ... in geradezu perverser Weise« (889).<br />

Die Medikamentierung mit Narkotika bei akuter <strong>Hysterie</strong> nennt Freud<br />

daher einen »schwere(n) Kunstfehler« (891). »Gegen das Moment <strong>der</strong><br />

Heredität« treten alle an<strong>der</strong>en ätiologischen Faktoren zurück »und<br />

spielen die Rolle von Gelegenheitsursachen, <strong>der</strong>en Bedeutung« - z. B.<br />

<strong>der</strong> Einfluß von »Abnormitäten <strong>der</strong> Geschlechtssphäre« - »in <strong>der</strong> Regel<br />

überschätzt wird« (889). Allerdings weist Freud darauf hin, daß bei<br />

hysterischen Frauen »die ersten Jahre einer glücklichen Ehe« die<br />

Krankheit unterbrechen - ein erster Hinweis auf die direkte sexuelle<br />

Ätiologie <strong>der</strong> (Aktual-)Neurosen. Mögliche Auslöser akuter <strong>Hysterie</strong><br />

sind Traumen, Intoxikationen, Gemütsbewegungen, erschöpfende<br />

Krankheiten etc. »An<strong>der</strong>e Male entwickelten sich hysterische Zustände<br />

oft auf geringfügige und dunkle Anlässe« hin. Begünstigend wirke die<br />

»verweichlichende«, sensibilisierende Erziehung »in den besseren<br />

Ständen <strong>der</strong> Gesellschaft«, »frühzeitiges Erwecken <strong>der</strong> geistigen<br />

Tätigkeit bei Kin<strong>der</strong>n« (889, 891). »Hysterische Kin<strong>der</strong> sind ... häufig<br />

frühreif und hoch beanlagt; in einer Reihe von Fällen ist die <strong>Hysterie</strong><br />

freilich bloß ein Symptom einer tiefgehenden Degeneration des<br />

Nervensystems, die sich in bleiben<strong>der</strong> moralischer Perversion äußert«<br />

(890). Für die Behandlung von Kin<strong>der</strong>neurosen empfiehlt Freud hier<br />

noch »autoritative Abweisung« (891). Von <strong>der</strong> Therapie <strong>der</strong> Neurose<br />

wird einleitend gesagt: »Bei keiner an<strong>der</strong>en Krankheit kann <strong>der</strong> Arzt so<br />

wun<strong>der</strong>tätig eingreifen o<strong>der</strong> so ohnmächtig dastehen«<br />

38<br />

(890). Der bloße Milieuwechsel (von <strong>der</strong> Familie in eine ärztliche<br />

Anstalt) führt - in Verbindung mit kräftigenden Heilmitteln (Massage,<br />

Elektrisation, Hydrotherapie etc.) - häufig auf indirektem Wege zu<br />

einem »zauberhafte(n) und bleibende(n)« Erfolg (891). »Die direkte<br />

Behandlung besteht in <strong>der</strong> Wegschaffung <strong>der</strong> psychischen Reizquelle<br />

für die hysterischen Symptome und ist verständlich, wenn man die<br />

Ursachen <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong> im unbewußten Vorstellungsleben sucht« (891).<br />

Als für die dritte Phase des hysterischen Anfalls typisch beschreibt<br />

Freud »Stellungen und Gebärden .. ., welche leidenschaftlich bewegten<br />

Szenen angehören, die <strong>der</strong> Kranke halluziniert und häufig mit den<br />

entsprechenden Worten begleitet« (887). Neben den suggestiven Geund<br />

Verboten, dem Zwang unter Hypnose, führt Freud als wirksamere<br />

Therapie die von Breuer erprobte an, die »den Kranken in <strong>der</strong> Hypnose<br />

auf die psychische Vorgeschichte des Leidens zurückführt, ihn zum<br />

Bekennen nötigt, bei welchem psychischen Anlaß die entsprechende<br />

Störung entstanden ist. Diese Methode <strong>der</strong> Behandlung... ist die <strong>der</strong><br />

<strong>Hysterie</strong> adäquateste, weil sie genau den Mechanismus des Entstehens<br />

und Vergehens solcher hysterischer Störungen nachahmt.« 27 Gegen<br />

Schluß des Artikels kommt er direkt auf das Problem <strong>der</strong> Pseudonatur<br />

<strong>der</strong> hysterischen Phänomene zu sprechen: »Es läßt sich <strong>der</strong>zeit nicht<br />

mit Bestimmtheit entscheiden, inwieweit <strong>der</strong> psychische Einfluß bei<br />

gewissen an<strong>der</strong>en scheinbar physischen Einwirkungen ins Spiel<br />

kommt.« 28 Freuds Aufdeckung <strong>der</strong> sozialen Ätiologie <strong>der</strong> Neurosen<br />

vollzog sich im Rahmen einer bestimmten Auffassung des Leib-Seele-<br />

Verhältnisses, die er erstmals im Zusammenhang seiner »kritischen<br />

Studie« »Zur Auffassung <strong>der</strong> Aphasien« (1891) entwickelte. Die<br />

Strategie seiner Kritik an den Auffassungen von Meynert und<br />

Wernicke war darauf gerichtet, Raum für eine psychologische<br />

Ätiologie <strong>der</strong> Aphasien und allgemeiner: Raum für eine Psychologie<br />

zu gewinnen, die zwar mit (unerkannten) physiologischen, die<br />

psychischen Phänomene fundierend-begleitenden Prozessen rechnet,<br />

aber doch selbständig psychologisch beschreibt und erklärt, solange<br />

die Physiologie dazu mit ihren Mitteln nicht<br />

27 Es handelt sich um den ersten Hinweis auf Breuers Entdeckung, da Breuer selbst 1888<br />

sein neues Verfahren noch nicht an die Öffentlichkeit gebracht hatte.<br />

28 A.a.O., 892. (Meine Hervorhebung, H. D.)<br />

39


in <strong>der</strong> Lage ist. »Aphasie ist nicht immer Folge eines materiellen<br />

Gehirnprozesses; vielmehr können auch Neurosen wie die <strong>Hysterie</strong><br />

und die Neurasthenie aphasische Störungen erzeugen«, hieß es schon<br />

(1888) in Freuds Aphasie-Artikel für Villarets Lexikon. 29 Gegen<br />

Meynerts topische, »gehirnanatomische« Interpretation, die die<br />

Sprachstörungen auf lokalisierte Läsionen zurückführen wollte, setzte<br />

Freud eine weitaus weniger »mechanische«, funktionelle Erklärung;<br />

gestützt auf eigene neurophysiologische Untersuchungen konnte er<br />

zeigen, daß Meynerts Hypothese einer vollständigen »Abbildung« des<br />

Körpers in <strong>der</strong> Großhirnrinde unrealistisch war, - »daß in <strong>der</strong> Hirnrinde<br />

die Körperperipherie nur in min<strong>der</strong> detaillierter Son<strong>der</strong>ung durch<br />

ausgewählte und nach Funktionen angeordnete Fasern vertreten ist.« 30<br />

Freud ersetzte die These von <strong>der</strong> »Projektion« des Körpers in <strong>der</strong> Hirnrinde<br />

durch die einer »Repräsentation«. Seine Neurosenstudien zeigten<br />

ihm, daß es kein wirkliches Abgrenzungskriterium für physische und<br />

psychische Vorgänge gibt, daß sie vielmehr einan<strong>der</strong> begleiten,<br />

ineinan<strong>der</strong> übergehen o<strong>der</strong> - als psychophysische - sich unter beiden<br />

Aspekten betrachten lassen. Freuds Formel, die die starre Scheidung<br />

von Physis und Psyche aufhebt, ohne ihren (variablen) Zusammenhang<br />

zu leugnen, war die eines psychophysischen Parallelismus: »Die<br />

physiologischen Vorgänge hören nicht auf, sobald die psychischen<br />

begonnen haben, vielmehr geht die physiologische Kette weiter, nur<br />

daß jedem Glied <strong>der</strong>selben (o<strong>der</strong> einzelnen Glie<strong>der</strong>n) von einem<br />

gewissen Moment an ein psychisches Phänomen entspricht. Das<br />

Psychische ist somit ein Parallelvorgang des Physiologischen (‚a<br />

dependant concomitant’).« 31 Damit war Raum geschaffen für die neue<br />

(Neuro-sen-)Psychologie, die Freud am Leitfaden <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong>-Phänomene<br />

entwickelte. Der Mechanismus <strong>der</strong> »Konversion«, jener »Sprung<br />

aus dem Seelischen in die somatische Innervation,... den wir mit<br />

unserem Begreifen doch niemals mitmachen kön-<br />

29 Freud (1888a), 89.<br />

30 Inhaltsangaben <strong>der</strong> wissenschaftlichen Arbeiten des Privatdocenten Dr. S. Freud,<br />

1877-1897. GW I, 473.<br />

31 Freud, Zur Auffassung <strong>der</strong> Aphasien (1891), 56f. In <strong>der</strong> Vorrede zur Bernheim-<br />

Obersetzung heißt es:<br />

»Wir besitzen kein Kriterium, welches einen psychischen Vorgang von einem<br />

physiologischen . .. exact zu trennen gestattete, denn das »Bewußtsein«, was immer es sein<br />

mag ... ist nichts, was an eine Localität im Nervensystem gebunden wäre.« Freud (1888 b,<br />

XII).<br />

nen« 32 , belehrte darüber, daß aus dem »dependant concomitant« auch<br />

ein Agens werden konnte, das körperliche Funktionen (somatisches<br />

»Entgegenkommen« vorausgesetzt) <strong>der</strong>art in seinen Bann zwang, daß<br />

sie zum bloßen Ausdruck psychischer Konflikte wurden. 33 Die<br />

Rahmenvorstellung eines psychophysischen Parallelismus erlaubte, die<br />

Konzeption <strong>der</strong> starren Abhängigkeit des Psychischen vom<br />

Somatischen durch die einer Semiautonomie des Psychischen bzw.<br />

einer Wechselwirkung von Psyche und Soma zu ersetzen. Damit war<br />

aber die Möglichkeit geschaffen, die Geschichtlichkeit des Menschen<br />

in die naturwissenschaftliche Krankheitslehre einzubringen, im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Neurosenpsychologie <strong>der</strong> Einsicht in die historische<br />

Modifizierbarkeit <strong>der</strong> Menschennatur Geltung zu schaffen. Der Weg<br />

zur Sozialpsychologie war eröffnet. Doch Freud war sich dieser<br />

Möglichkeit nicht bewußt; seine als naturwissenschaftliche konzipierte<br />

neue Psychologie blieb <strong>der</strong> traditionellen »Idee einer Ontologie <strong>der</strong><br />

Seele, die ein Analogon sein könnte <strong>der</strong> Physik« 34 , verhaftet. 35 Husserl<br />

erklärt die neuzeitlichen Bestrebungen, eine physikalistische<br />

Psychologie auszubilden, wie folgt:<br />

»Die Neuzeit hatte sich von Anfang an den Dualismus <strong>der</strong> Substanzen<br />

und den Parallelismus <strong>der</strong> Methoden des mos geometricus, man kann<br />

32 Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. GW VII, 382.<br />

33 ». .. die Wirkung des Seelischen auf den Körper fand in früheren Zeiten wenig Gnade<br />

vor den Augen <strong>der</strong> Ärzte. Sie schienen es zu scheuen, dem Seelenleben eine gewisse<br />

Selbständigkeit einzuräumen, als ob sie damit den Boden <strong>der</strong> Wissenschaftlichkeit<br />

verlassen würden.« Freud (1890), GW V, 291. Entsprechend GW II/III, 44 f.<br />

34 E. Husserl, Die Krisis <strong>der</strong> europäischen Wissenschaften und die transzendentale<br />

Phänomenologie (1934-37), S. 269.<br />

35 Freuds Psychologie blieb - <strong>der</strong> Möglichkeit nach - eine physiologische; entsprechend<br />

trat die Psychoanalyse als »Naturwissenschaft« auf. »Indem er als Träger <strong>der</strong> psychischen<br />

Vorgänge gleichlaufende physiologische annimmt«, kann Freud »eine Psychologie<br />

entwerfen, die insofern naturwissenschaftlich ist, als sie sich auf das Nervensystem stützt.<br />

Jene unerkennbaren Vorgänge bleiben einerseits hypothetisch und ihre Verifizierung<br />

bestenfalls ein Ideal für die Zukunft, an<strong>der</strong>erseits zwingen eben diese Hypothesen den<br />

durch sie zu Kausalbeziehungen zusammengefaßten seelischen Vorgängen neurologischen<br />

Charakter auf ... Bei diesem Sprung . . . von einer Wissenschaft zu einer durch ihre<br />

Methoden völlig getrennten an<strong>der</strong>en, . .. behielt Freud als Erklärungsprinzip eben dieser<br />

seelischen Vorgänge, ja als Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit, sie überhaupt in einem<br />

Kausalzusammenhang zu erfassen und zu ordnen, die somatische Begründung . . . bei.«<br />

Spehlmann (1953). 86.<br />

40 41


auch sagen: das methodische Ideal des Physikalismus vorgezeichnet;<br />

wie vage und abgeblaßt es in <strong>der</strong> Übertragung wurde und wie wenig<br />

auch nur zu ernstlichen Anfängen einer expliziten Durchführung kam<br />

es war doch für die Grundauffassung des Menschen als psycho-physische<br />

Realität und für alle Weisen, Psychologie ins Werk zu setzen,<br />

maßgebend, eine methodische Erkenntnis des Psychischen zustandezubringen.<br />

Vorweg war also die Welt >naturalistisch< gesehen, als doppelschichtige<br />

Welt realer Tatsachen, durch Kausalgesetzlichkeiten geregelt;<br />

demnach auch die Seelen als reale Annexe an ihren exakt naturwissenschaftlich<br />

gedachten körperlichen Leibern, zwar von einer an<strong>der</strong>en<br />

Struktur als die Körper, nicht res extensae, aber doch real in einem<br />

gleichen Sinne wie diese und in dieser Verbundenheit eben auch in<br />

gleichem Sinne nach >Kausalgesetzen< zu erforschen: also in Theorien<br />

prinzipiell <strong>der</strong>selben Art wie die <strong>der</strong> vorbildlichen und zugleich fundierenden<br />

Physik.« 36<br />

Jene Versuche, die res cogitans mit Hilfe von Methoden, die <strong>der</strong> res<br />

extensa angemessen waren, zu erforschen 37 , waren, da inadäquat, zum<br />

Scheitern verurteilt. »Psychologie wurde nie exakt, die Parallelisierung<br />

war nicht wirklich durchführbar« (S. 225). Die von Husserl kritisierte<br />

methodische Stilisierung eines Konstitutiven zum Konstitutum, die an<br />

den neuzeitlichen Versuchen, eine objektivistische Psychologie<br />

auszubilden, deutlich wird, ist Folge <strong>der</strong> Verabsolutierung <strong>der</strong><br />

physikalistischen Natur- und Weltauffassung, des Vergessens ihrer<br />

Genesis. »Immer fühlbarer wird allgemein die Reformbedürftigkeit <strong>der</strong><br />

ganzen neuzeitlichen Psychologie, aber noch versteht man nicht, daß<br />

sie überhaupt an das eigene Wesen des Geistes nicht herankommt, daß<br />

ihre Isolierung <strong>der</strong> objektiv gedachten Seele und ihre psychophysische<br />

Umdeutung des In-Gemeinschaft-Seins eine Verkehrtheit ist.« 38 Der<br />

Physikalismus verdeckt sein Substrat: die »Lebenswelt« und die sie<br />

intersubjektiv konstituierenden Subjekte. »Indem die anschauliche<br />

Umwelt, dieses bloß Subjektive, in <strong>der</strong> wissenschaftlichen Thematik<br />

vergessen wurde, ist auch das arbeitende Subjekt selbst vergessen, und<br />

<strong>der</strong> Wissenschaftler wird nicht zum Thema« (343). Le-<br />

36 Husserl, a.a.O., 218 f.<br />

37 »Die naive Gleichstellung (<strong>der</strong>) Gegebenheiten <strong>der</strong> psychologischen Datenerfahrung<br />

mit denen <strong>der</strong> Körpererfahrung führt zu einer Verdinglichung <strong>der</strong>selben; <strong>der</strong> beständige<br />

Blick auf die vorbildliche Naturwissenschaft verführt zur Fassung <strong>der</strong>selben als seelische<br />

Atome o<strong>der</strong> Atomkomplexe und zur Parallelisierung <strong>der</strong> Aufgaben bei<strong>der</strong>seits« (a.a.O.,<br />

234).<br />

38 A.a.O., 344 (meine Hervorhebung, H. D.).<br />

bensnot zwang zur Ausbildung naturbeherrschen<strong>der</strong> Techniken; das<br />

Selbstverständnis <strong>der</strong> Naturwissenschaften, ihr »Weltbild« wurde, je<br />

erfolgreicher sie waren, totalisiert, zum herrschenden Bewußtsein. In<br />

<strong>der</strong> fortschreitenden Objektivierung von Welt und Mensch ging die<br />

Subjektivität unter, die im Physikalismus investierten<br />

erkenntnisleitenden Interessen wurden <strong>der</strong> Reflexion entzogen, es<br />

entstand <strong>der</strong> Schein »reiner«, an Interessen nicht gebundener<br />

Theorie. 39 Die »Natur« <strong>der</strong> Naturwissenschaft aber ist ein<br />

gesellschaftlich-historischer »Entwurf« 40 , kein an sich Seiendes, das<br />

»reine« Theorie aufdeckt und nachbildet. 41<br />

»Die Natur <strong>der</strong> exakten Naturwissenschaft (ist) nicht die wirkliche erfahrene<br />

Natur .. ., die <strong>der</strong> Lebenswelt. Es ist eine aus Idealisierung<br />

entsprungene, <strong>der</strong> wirklich angeschauten Natur hypothetisch substituierte<br />

Idee. Die Denkmethode <strong>der</strong> Idealisierung ist das Fundament für<br />

die gesamte naturwissenschaftliche (rein körperwissenschaftliche)<br />

Methode <strong>der</strong> Erfindung von >exakten< Theorien und Formeln, sowie<br />

für <strong>der</strong>en Rückverwertung innerhalb <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Welt wirklicher Erfahrung<br />

sich bewegenden Praxis.« 42<br />

Auf <strong>der</strong> Suche nach dem historischen Ursprung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Naturwissenschaft stößt Husserl auf Galilei; als Voraussetzung <strong>der</strong><br />

von Galilei zum Programm erhobenen Mathematisierung <strong>der</strong> Natur<br />

bestimmt er praktische Erfahrungen <strong>der</strong> (Feld-)Meß-<br />

39 »Instead of rationally transcending the Lebenswelt, science compre-hended, expressed,<br />

and extended the specific rationale of the Lebenswelt, namely, the ever more effective<br />

mastery of the environment (Herrschaft über die praktische Umwelt), including the ever<br />

more effective mastery of man . . . In other words, the empirical reality constitutes, in a<br />

specific sense, the very concepts which science believes are pure theoretical concepts.«<br />

Marcuse (1964 b), 282 f.<br />

40 »Die Objektwelt ist . . . die Welt eines spezifisch geschichtlichen Entwurfs und ist<br />

niemals außerhalb des geschichtlichen Entwurfs erreichbar, <strong>der</strong> die Materie organisiert, und<br />

die Organisation <strong>der</strong> Materie ist ein zugleich theoretisches und praktisches Unternehmen.«<br />

In <strong>der</strong> »technologischen Wirklichkeit« werden Dinge und Menschen als »eine Welt von<br />

Mitteln erfahren«. »Der technologische Zusammenhang bestimmt im vorhinein die Form,<br />

unter <strong>der</strong> die Objekte erscheinen. Sie erscheinen dem Wissenschaftler a priori als wertfreie<br />

Elemente o<strong>der</strong> Komplexe von Beziehungen, die <strong>der</strong> Organisation in einem leistungsfähigen<br />

mathematisch-logischen System zugänglich sind; und sie erscheinen dem gesunden<br />

Menschenverstand als Stoff <strong>der</strong> Arbeit o<strong>der</strong> Freizeit, <strong>der</strong> Produktion o<strong>der</strong> des Konsums.«<br />

Marcuse (1964 a), 230 f.<br />

41 Vgl. dazu Habermas, Erkenntnis und Interesse (1965). In: Habermas (1968 a), 146-<br />

168.<br />

42 Husserl, a.a.O., 224.<br />

42 43


kunst. 43 Husserls Interesse geht darauf, die »Welt« <strong>der</strong> Naturwissenschaft<br />

und die »reine« Theorie gegenüber <strong>der</strong> »Lebenswelt« als<br />

dem Boden, dem sie durch interessegelenkte, stilisierende<br />

Abstraktionen entwachsen sind, zu relativieren. Ist die Illusion des<br />

objektivistisch-»reinen« Denkens gebrochen, so ist <strong>der</strong> Weg frei für<br />

eine nichtphysikalistische Psychologie als transzendentale<br />

Phänomenologie, die, indem ihre (egologischen) Analysen die die<br />

Lebenswelt konstituierenden Subjekt-Leistungen aufdecken, den uns<br />

bedrängenden praktischen Fragen nicht wie die »reine« Theorie<br />

antwortlos gegenübersteht. Husserls soziale »Lebenswelt« aber bleibt<br />

historisch ohne Profil. Der Sprung von <strong>der</strong> Feldmeßkunst zur<br />

Mathematisierung <strong>der</strong> Natur wird sozial-historisch nicht abgeleitet; die<br />

in egologischer Analyse destillierten Subjekt-Leistungen, die die<br />

Objektivität <strong>der</strong> lebensweltlich erfahrenen (wie <strong>der</strong> mathematischkonstruierten)<br />

Natur konstituieren, werden nicht selbst wie<strong>der</strong> auf ihre<br />

Genesis hin befragt. Die Antwort auf die selbstgestellte Frage nach<br />

dem Wesen <strong>der</strong> <strong>der</strong> Gegenstandswelt korrelierten (sie als Lebenswelt<br />

erst hervorbringenden), »leistenden« Subjektivität bleibt unbefriedigend.<br />

Vermöge <strong>der</strong> phänomenologischen »Methode <strong>der</strong> Epoche<br />

verwandelt sich« für Husserl (wie einst für Hegel) »alles Objektive in<br />

Subjektives«. Es heißt bei ihm »Menschheit« 44 , nicht »absoluter<br />

Geist«. Egologische Analyse führt auf Intersubjektivität als Bedingung<br />

<strong>der</strong> Möglichkeit von Ich-Identität. 45 Gestützt auf diese Denkerfahrung<br />

möchte Husserl die den großen idealistischen Philosophen<br />

eigentümliche Abwehr »je<strong>der</strong> Verwertung <strong>der</strong> Psychologie zu<br />

transzendentalen Zwecken« überwinden. Empirisches und<br />

transzendentales Subjekt sind unauflöslich ineinan<strong>der</strong> verschränkt. 46<br />

»Ich selbst als transzendentales Ich >konstituiere< die Welt und bin zugleich<br />

als Seele menschliches Ich in <strong>der</strong> Welt. Der Verstand, <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Welt sein Gesetz vorschreibt, ist mein transzendentaler Verstand, und<br />

dieser formt mich selbst nach diesen Gesetzen, er, <strong>der</strong> doch mein, des<br />

Philosophen, seelisches Vermögen ist. Das sich selbst setzende Ich, von<br />

43 Vgl. Husserl, a.a.O., § 9.<br />

44 »Die universale Intersubjektivität, in die sich alle Objektivität, alles überhaupt<br />

Seiende auflöst, kann offenbar doch keine an<strong>der</strong>e sein als die Menschheit,<br />

die unleugbar selbst ein Teilbestand <strong>der</strong> Welt ist ...« A.a.O., 182 f.<br />

45 Vgl. a.a.O., § 57.<br />

46 Vgl. dazu das Kapitel (I. 2) »Selbstreflexion als Therapie«.<br />

44<br />

dem Fichte spricht, kann es ein an<strong>der</strong>es sein als das Fichtes? Wenn dies<br />

keine wirkliche Absurdität sein soll, son<strong>der</strong>n eine auflösbare Paradoxie,<br />

wie könnte eine an<strong>der</strong>e Methode uns zur Klarheit verhelfen als die <strong>der</strong><br />

Befragung unserer inneren Erfahrung und einer in ihrem Rahmen erfolgenden<br />

Analyse?« (205)<br />

Aber die antipsychologische Haltung <strong>der</strong> idealistischen Dialektiker ist<br />

nicht nur daraus verständlich zu machen, daß die zeitgenössischen<br />

Psychologien, die sie vor Augen hatten, empiristische Lehren vom<br />

Menschen als einem Konstitutum waren, son<strong>der</strong>n hat ihren tieferen<br />

Grund darin, daß die gesellschaftliche Objektivität aus <strong>der</strong><br />

individuellen Psychologie so wenig wie aus purer Intersubjektivität<br />

sich verständlich machen o<strong>der</strong> herleiten läßt. Das<br />

»Transzendentalsubjekt« ist nicht das empirische und auch nicht das<br />

abstrakt-kollektive, ahistorisch konzipierte <strong>der</strong> »Menschheit«. Darum<br />

ist Husserls Versuch, Psychologie transzendentalphilosophisch,<br />

Transzendentalphilosophie psychologisch zu entfalten, gegenüber den<br />

großen idealistischen Systemen kein Fortschritt.<br />

Der von Sohn-Rethel unternommene Versuch, das Problem des<br />

transzendentalen Subjekts und <strong>der</strong> sozialhistorischen Genesis des<br />

naturwissenschaftlichen Denkens im Anschluß an Marx' Kritik <strong>der</strong><br />

politischen Ökonomie geschichtsmaterialistisch aufzuklären 47 , macht<br />

das Geld als den »Träger <strong>der</strong> gesellschaftlichen Synthesis« in<br />

warenproduzierenden (Aneignungs-)Gesellschaften kenntlich. Das<br />

»Geldverhältnis« erscheint als die historische Wahrheit, die hinter dem<br />

mythischen »transzendentalen Subjekt« sich verbirgt: »Am Gelde,<br />

genauer an seiner gesellschaftlich-synthetischen Funktion, haften Züge<br />

von unverkennbarer Porträtähnlichkeit... mit dem<br />

>Transzendentalsubjekt


Aber in demselben Maße wie dieser wächst, wächst die Macht des<br />

Geldes, d. h. setzt sich das Tauschverhältnis als eine den Produzenten<br />

gegenüber äußere und von ihnen unabhängige Macht fest. Was ursprünglich<br />

als Mittel zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Produktion erschien, wird zu<br />

einem den Produzenten fremden Verhältnis . . . Das Geld bringt diese<br />

Gegensätze und Wi<strong>der</strong>sprüche nicht hervor; son<strong>der</strong>n die Entwicklung<br />

dieser Wi<strong>der</strong>sprüche und Gegensätze bringt die scheinbar transzendentale<br />

Macht des Geldes hervor.« 49<br />

Im Geld ist <strong>der</strong> gesellschaftliche Nexus <strong>der</strong> Individuen inkarniert.<br />

Darum kann Marx sagen, sie trügen ihre »gesellschaftliche Macht, wie<br />

(ihren) Zusammenhang mit <strong>der</strong> Gesellschaft, in <strong>der</strong> Tasche mit sich.« 50<br />

Ihre Verhältnisse zu einan<strong>der</strong> wie zu ihren Produkten sind in<br />

Tauschgesellschaften durch stillschweigend vollzogene<br />

Abstraktionsleistungen vermittelt. Waren (darunter die Ware<br />

Arbeitskraft) eignen sie sich an, indem sie im Tauschverkehr von<br />

<strong>der</strong>en Naturqualitäten abstrahieren, Ungleichartiges gleich setzen.<br />

Sohn-Rethel leitet den Natur-Entwurf des bürgerlichen Zeitalters, die<br />

Kategorien, mit denen mathematische Naturwissenschaft die Welt<br />

auslegt, aus den im Warentausch geltenden, ihn ermöglichenden<br />

gesellschaftlichen Fiktionen her. 51 Die Projektion <strong>der</strong> Warendinge, wie<br />

sie die Tauschenden im Zirkulationsprozeß fingieren, auf »Natur«<br />

ermöglichte <strong>der</strong>en kalkulatorisch-technische Beherrschung.<br />

49 Marx, Grundrisse, 64 f.<br />

50 A.a.O., 74 f.<br />

51 Die Tauschabstraktion entspringt gesellschaftlichen Postulaten: »Es ist ein Postulat,<br />

daß <strong>der</strong> Gebrauch <strong>der</strong> Waren einzustellen und damit zu warten ist, bis <strong>der</strong> Austausch<br />

stattgefunden hat; ein Postulat, daß in den zum Tausch stehenden Waren keine physischen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen vor sich gehen, das aufrechterhalten werden muß, selbst wenn ihm die<br />

Tatsachen wi<strong>der</strong>sprechen; ein Postulat, daß die Waren in <strong>der</strong> Tauschrelation einan<strong>der</strong><br />

gleich gelten ungeachtet ihrer faktischen Verschiedenheit; ein Postulat, daß zwischen<br />

Privateigentümern die Veräußerung und Erwerbung von Dingen an die Bedingung <strong>der</strong><br />

Austauschbarkeit geknüpft ist . . . Keiner dieser Formbegriffe indiziert faktische Daten. Sie<br />

alle sind bloß Normen, die das Geschehen des Warenaustausches zu erfüllen hat, um<br />

möglich zu sein. Wenn aber das Tauschgeschehen zur Tatsächlichkeit geworden ist, dann<br />

schließt diese Tatsächlichkeit die Erfüllung jener Normen als gesetzliche Notwendigkeit in<br />

sich. Genau so verhält sich in den Begriffen des >reinen Verstandes< die abstrakte Natur<br />

zur phänomenalen: sie sind Erkenntnisbegriffe für die Notwendigkeit, die in <strong>der</strong><br />

Tatsächlichkeit jedes Naturgeschehens als Bedingung seiner Möglichkeit eingeschlossen<br />

ist. »Natur ist das Dasein <strong>der</strong> Dinge nach Gesetzen«, lautet die Kantsche Definition.«<br />

Sohn-Rethel, a.a.O., 80 f.<br />

46<br />

»Das Bewegungsschema <strong>der</strong> Tauschabstraktion bringt einen definitiven<br />

Begriff von Natur als materieller Objektwelt mit sich. Sie ist eine Objektwelt,<br />

aus <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mensch selbst als Subjekt - Subjekt des Warentauschs<br />

nicht nur, son<strong>der</strong>n auch des Warenverbrauchs - sich zurückgezogen<br />

hat. Sie leitet sich ab von einer gesellschaftlichen Synthesis<br />

durch reine Warenbewegungen, genügt also einer Logik von bloßen<br />

(wennzwar reziproken) Aneignungsprozessen, keineswegs von Arbeitsprozessen.<br />

Im Gefolge <strong>der</strong> Abstraktion und Trennung <strong>der</strong> Austauschprozesse<br />

von den Gebrauchsvorgängen (in Produktion und Konsumtion)<br />

verfallen in dieser Begriffsweise Natur und Menschenwelt selber<br />

einer scharfen Scheidung« (a.a.O., 66 f.).<br />

Die Tauschabstraktion ist die gesellschaftliche Voraussetzung zur<br />

Ausbildung <strong>der</strong> reinen Mathematik, die ihr entstammenden reinen<br />

Formbegriffe aber sind »für die gesellschaftliche Welt <strong>der</strong> Menschen<br />

als Subjekte« blind (78f.). Die an Naturzusammenhängen bewährte<br />

instrumentelle Vernunft entstammt sozialem Handeln, taugt aber nicht<br />

zu dessen Erhellung; sie »ist ausschließlich <strong>der</strong> Natur als physischer<br />

Objektwelt zugewandt, mit zeitloser Logik ausgestattet und mit dem<br />

Rücken <strong>der</strong> Gesellschaft zugekehrt« (91). Die »Vergesellschaftung<br />

durch Warenaustausch ist von solcher Art, daß sie sich selbst<br />

verleugnet.« 52 Darum erfahren sich die Arbeitenden wie die<br />

Tauschenden als vereinzelte Einzelne, Robinsone, »Einzige«,<br />

»praktische Solipsisten«. 53<br />

Die (einan<strong>der</strong> ergänzenden) Analysen Husserls und Sohn-Rethels<br />

erhellen die gesellschaftliche Genesis des Programms einer physikalistischen<br />

Psychologie, an dem Freud festhielt. Als ihm<br />

52 A.a.O., 90. - »Die Praxis des Gebrauchs ist aus <strong>der</strong> öffentlichen Sphäre des Marktes<br />

verbannt und gehört ausschließlich in den Privatbereich <strong>der</strong> Warenbesitzer. Im Markt<br />

bleibt <strong>der</strong> Gebrauch <strong>der</strong> Dinge für die Interessenten >bloße Vorstellung< ... Da beides<br />

Notwendigkeit hat, die Abstraktheit <strong>der</strong> Handlung und die Nichtabstraktheit des sie<br />

begleitenden Bewußtseins, werden die Tauschenden <strong>der</strong> Abstraktheit ihrer<br />

Tauschhandlung nicht gewahr. Sie entzieht sich ihrem Bewußtsein. Indes ist die<br />

Bewußtlosigkeit <strong>der</strong> Menschen gegenüber <strong>der</strong> Abstraktheit ihrer Tauschhandlungen nicht<br />

<strong>der</strong> Grund für diese Abstraktheit noch eine Bedingung ihrer« (40 f.).<br />

53 A.a.O., 48f. Sohn-Rethel betont: »Die Prinzipien, von denen wir hier handeln, gehören<br />

zur Verkehrsform des Warentauschs, nicht zur Psychologie <strong>der</strong> darin agierenden<br />

Personen« (Anm. 10).<br />

Zum »praktischen Solipsismus« <strong>der</strong> Individuen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft vgl. das<br />

Kapitel (I. 4) über gesellschaftliche Genesis und Wirkung <strong>der</strong> Psychoanalyse.<br />

47


deutlich wurde, daß an dessen Realisierung (einstweilen) nicht zu<br />

denken war, begann er - wie bereits skizziert -, den physikalistischen<br />

Rahmen zu dehnen, das Band zwischen Physiologie und Psychologie<br />

systematisch zu lockern. An die Stelle eindeutiger Determination trat<br />

die Wechselwirkung von Psyche und Soma. Daß das dialektisch<br />

gefaßte Verhältnis von Körper und Seele das geschichtliche<br />

Sozialisations-Verhältnis von Gesellschaft und Menschen-Natur<br />

verdeckt und doch impliziert 54 , Psychologie insofern eine (ihrer selbst<br />

nicht bewußte) Sozialwissenschaft ist, wurde noch lange Zeit nicht<br />

gesehen. Die Lehre vom psychophysischen Parallelismus bot aber<br />

Raum für die Annahme einer weitgehenden Selbständigkeit<br />

psychischer Prozesse gegenüber ihrem hypothetisch unterstellten, beim<br />

Stande <strong>der</strong> neuro-physiologischen Forschung nicht dingfest zu<br />

machenden physiologischen Substrat, - damit für die Ausbildung einer<br />

an physiologische Modelle und Terminologie nur mehr angelehnten,<br />

<strong>der</strong> Sache und dem therapeutischen Forschungsverfahren nach aber<br />

selbständigen (Neurosen-)Psychologie. Freuds Aufsätze zur<br />

Verteidigung <strong>der</strong> Hypnose 55 ebneten <strong>der</strong> neuen psychoanalytischen<br />

Psychologie den Weg. Hypnose wie <strong>Hysterie</strong> blieben im Rahmen<br />

physikalistischer Voraussetzungen, wie sie die zeitgenössische<br />

Physiologie und Medizin beherrschten, unerklärliche Phänomene. Sein<br />

Versuch, mit dem unkonventionellen therapeutischen Mittel <strong>der</strong><br />

hypnotischen Ausforschung (Breuer) <strong>der</strong> spezifischen Logik <strong>der</strong><br />

befremdlichen Krankheitsphänomene auf die Spur zu kommen, führte<br />

Freud dazu, eine um die an<strong>der</strong>e <strong>der</strong> naturalistischen ätiologischen<br />

Annahmen, wie sie die medizinische Tradition ihm nahelegte,<br />

zugunsten <strong>der</strong> Einsicht in die soziale Genese <strong>der</strong> Neurosen<br />

aufzuopfern. Die »<strong>Aufklärung</strong> <strong>der</strong> Neurosen« führte ihn nicht, wie <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaftler erwartet hatte, zur Entschleierung »eines <strong>der</strong><br />

großen Geheimnisse <strong>der</strong> Natur« 56 , son<strong>der</strong>n zur Einsicht in jene<br />

Interaktions- und Bildungsprozesse, in denen sich die Enkulturation als<br />

historischspezifische Modifikation <strong>der</strong> Menschennatur vollzieht. 1890<br />

schrieb er im Anschluß an die Feststellung, daß bei einem Teil<br />

<strong>der</strong> Neurosekranken »die nächste Ursache <strong>der</strong> Störung im Seelischen<br />

zu suchen ist«: »Welches die entfernteren Ursachen jener Störung<br />

sind, von <strong>der</strong> das Seelische betroffen wurde, das nun seinerseits auf<br />

das Körperliche störend einwirkt, das ist eine an<strong>der</strong>e Frage und kann<br />

hier füglich außer Betracht gelassen werden.« 57 Auf <strong>der</strong> Suche nach<br />

jenen »entfernteren Ursachen« stieß er in den folgenden zehn Jahren<br />

auf die infantilen Traumen, die infantile Sexualität und die<br />

Familieninstitution als Sozialisationsmatrix, - schließlich auf die<br />

Kultur, unter <strong>der</strong>en Druck sich die disharmonisch-plastische<br />

menschliche Natur erst strukturiert, und die eine Vielzahl von<br />

Individuen in die neurotische Störung treibt. Freud lernte, die als<br />

Funktionsstörung verkappt auftretenden neurotischen<br />

Krankheitssymptome im therapeutischen Umgang mit Patienten als<br />

Reminiszenzen gestörter Sozialisationsprozesse zu lesen und den<br />

Kranken, sobald die fixierte infantile Reaktion auf die<br />

traumatisierenden Szenen in <strong>der</strong> Übertragungssituation wie<strong>der</strong>auflebte,<br />

eine Revision ihrer habitualisierten Abwehren zu ermöglichen.<br />

Gegenüber den philosophischen Systemen verhielt Freud sich<br />

skeptisch; den Anti-Illusionisten störte ihre Nähe zum Animismus,<br />

zum Wortzauber, zur Paranoia 58 : »Die Philosophie ist <strong>der</strong><br />

Wissenschaft nicht gegensätzlich, sie gebärdet sich selbst wie eine<br />

Wissenschaft, arbeitet zum Teil mit den gleichen Methoden, entfernt<br />

sich aber von ihr, indem sie an <strong>der</strong> Illusion festhält, ein lückenloses<br />

und zusammenhängendes Weltbild liefern zu können, das doch bei<br />

jedem Fortschritt unseres Wissens zusammenbrechen muß.<br />

Methodisch geht sie darin irre, daß sie den Erkenntniswert unserer<br />

logischen Operationen überschätzt und etwa noch an<strong>der</strong>e<br />

Wissensquellen wie die Intuition anerkennt.« 59 An den amerikanischen<br />

Philosophen Putnam schrieb er 1914: »Von <strong>der</strong> Philosophie verstehe<br />

ich bekanntlich nichts, mit <strong>der</strong> Erkenntniskritik (mit, nicht vor) hört da<br />

mein Interesse auf.« 60 Die indirekte psychologische Kritik bestimmter<br />

philosophischer Theorien durch Aufdeckung ihrer »subjektive(n) und<br />

individuelle(n) Motivierung«, die »die schwachen Punkte des Systems<br />

54 Husserl spricht von <strong>der</strong> »Verkehrtheit« <strong>der</strong> »psychophysische(n) Umdeutung des In-<br />

Gemeinschaft-Seins« (1934-37, S. 344).<br />

55 Vgl. vor allem Freuds Vorrede zur Bernheim-Übersetzung (1888 b) und sein Forel-<br />

Referat (1889).<br />

56 An Fließ, 21. 5. 94; Anfänge 77.<br />

57 Psychische Behandlung (Seelenbehandlung). GW V, 293.<br />

58 GW X, 164; XII, 327; XV, 178. Vgl. auch seine Polemik gegen die<br />

»weltanschaulichen Baedeker«; GW XIV, 123.<br />

59 GW XV, 173.<br />

60 Freud (1909-16), 371. (Brief vom 30. 3. 1914)<br />

48 49


anzeigen« soll (GW VIII, 407), wobei Freud sich auf die Analyse von<br />

Lebensgeschichte und Triebschicksal des philosophischen Autors<br />

beschränkt und die Differenz von Genesis und Geltung beachtet,<br />

weitete er gelegentlich zu einer psychologischen Ableitung <strong>der</strong><br />

philosophischen Ideen selbst aus: »Die unklare innere Wahrnehmung<br />

des eigenen psychischen Apparates regt zu Denkillusionen an, die<br />

natürlich nach außen projiziert werden, und in charakteristischer<br />

Weise in die Zukunft und in ein Jenseits. Die Unsterblichkeit,<br />

Vergeltung, das ganze Jenseits sind solche Darstellungen unseres<br />

psychischen Inneren ... Psycho-Mythologie.« 61 Vor diesem<br />

Hintergrund ist es außerordentlich interessant, daß Freud die eigene<br />

Wendung von <strong>der</strong> Medizin zur Psychologie als eine zur Philosophie<br />

verstanden hat. An Fließ schrieb er am 1.1. 1896: »Ich sehe, wie Du<br />

auf dem Umwege über das Arztsein Dein erstes Ideal erreichst, den<br />

Menschen als Physiologe zu verstehen, wie ich im geheimsten die<br />

Hoffnung nähre, über dieselben Wege zu meinem Anfangsziel <strong>der</strong><br />

Philosophie zu kommen. Denn das wollte ich ursprünglich, als mir<br />

noch gar nicht klar war, wozu ich auf <strong>der</strong> Welt bin.« 62 Freud wußte,<br />

daß er mit <strong>der</strong> <strong>Aufklärung</strong> <strong>der</strong> Neurosen weit mehr als nur die Lösung<br />

eines medizinischen Spezialproblems in Angriff nahm. 63 Husserls<br />

transzendentalphilosophische wie Sohn-Rethels geschichtsmaterialistische<br />

Frage nach <strong>der</strong> Konstitution <strong>der</strong> sozialen<br />

Lebenswelt lag ihm ebenso fern wie die Positivismus-Kritik bei<strong>der</strong><br />

Autoren. Er identifizierte mo<strong>der</strong>ne Naturwissenschaft und<br />

Ideologiekritik; so blieb ihm <strong>der</strong> Status seiner eigenen kritischen<br />

Theorie verborgen. Sein Thema war die Konstitution <strong>der</strong> Neurosen.<br />

Die therapeutische Aufdeckung ihrer Ätiologie resultierte in einer<br />

Theorie <strong>der</strong> Sozialisation: des autoplastischen Sich-Einlebens in eine<br />

schon konstituierte soziale Welt, ihre Sprache,<br />

61 Anfänge, 204. Vgl. dazu Freuds Aufzeichnungen vom 22. 8. 1938: »Räumlichkeit mag<br />

die Projektion <strong>der</strong> Ausdehnung des psychischen Apparats sein. Keine an<strong>der</strong>e Ableitung<br />

wahrscheinlich. Anstatt Kants a priori Bedingungen unseres psychischen Apparats. Psyche<br />

ist ausgedehnt, weiß nichts davon.« GW XVII, 152.<br />

62 Anfänge, 125. wenig später (am 2. 4. 96) notierte er: »Ich habe als junger Mensch<br />

keine an<strong>der</strong>e Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt<br />

im Begriffe sie zu erfüllen, indem ich von <strong>der</strong> Medizin zur Psychologie hinüberlenke.«<br />

Anfänge, 142.<br />

63 Von <strong>der</strong> »neuen Seelenkunde« sagte er: »Der Weg ins Weite, zum Weltinteresse, ist<br />

ihr eröffnet« (GW XIV, 73).<br />

Normen und Traditionen. Kolumbus-Geist, das Pathos <strong>der</strong> großen<br />

Reisenden und Philosophen, erfüllt Freuds Forschungsberichte »vom<br />

Seelenende dieser Welt« 64 , die er in den neunziger Jahren an Wilhelm<br />

Fließ sandte:<br />

»Mein teurer Wilhelm! Wir werden nicht scheitern! Anstatt <strong>der</strong> Durchfahrt,<br />

die wir suchen, dürften wir Meere finden, <strong>der</strong>en genauere Erforschung<br />

Späteren erübrigen wird, aber ... Nous y arriverons. Gib mir<br />

noch zehn Jahre und ich mache die Neurosen und die neue Psychologie<br />

fertig. Du kommst vielleicht mit weniger Zeit für Deine Organologie<br />

aus.« 65<br />

Fließ, <strong>der</strong> Rhinologe und Erforscher biologischer Lebensrhythmen,<br />

war in dem Jahrzehnt, in dem Freud seine bedeutendsten<br />

Entdeckungen machte, dessen eigentliches Publikum. In <strong>der</strong> Rolle des<br />

väterlichen Freundes löste er Joseph Breuer ab. Die von Freud in den<br />

Briefen an Fließ immer wie<strong>der</strong> vorgeschlagene Arbeitsteilung - »Du<br />

das Biologische, ich das Psychische« 66 - erleichterte ihm den Übergang<br />

zur psychologia psychologice. Ich hoffe, »daß Du den physiologischen<br />

Mechanismus meiner klinischen Feststellungen auf Deinem Weg<br />

aufklären wirst«, schrieb er schon 1893, und 1896: »Vielleicht finde<br />

ich bei Dir den Boden, auf dem ich aufhören kann, psychologisch zu<br />

erklären, und beginnen, physiologisch zu stützen!« 67 Fließ war auch<br />

1895, im gleichen Jahr, als die »Studien über <strong>Hysterie</strong>« publiziert wurden,<br />

<strong>der</strong> Adressat des systematischen Entwurfs einer physikalistischen<br />

Psychologie 68 , dessen Intention Freud am 20. 10. 1895<br />

folgen<strong>der</strong>maßen formulierte: »Es schien alles ineinan<strong>der</strong> zu greifen,<br />

das Rä<strong>der</strong>werk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding<br />

sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber<br />

gehen.« 69 Vier Wochen später bereits rückte Freud von seinem<br />

»Entwurf« ab (»Den Geisteszustand, in dem<br />

64 Anfänge, 194 (15. 10. 97).<br />

65 Ebd., 158 (3. 1. 97).<br />

66 12. 6. 97, Anfänge, 182f.<br />

67 Anfänge, 71 und 148.<br />

68 Vgl. Anfänge, 297-384.<br />

69 A.a.O., 115. Vgl. dazu den Einleitungssatz zum »Entwurf«: »Es ist die Absicht dieses<br />

Entwurfes, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, d.h. psychische Vorgänge<br />

darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile, und sie<br />

damit anschaulich und wi<strong>der</strong>spruchsfrei zu machen.« Anfänge, 305.<br />

50<br />

51


ich die Psychologie ausgebrütet, verstehe ich nicht mehr .. .« 70 ).<br />

Breuer, <strong>der</strong> in den »Studien über <strong>Hysterie</strong>« gegenüber Freuds<br />

Auffassung <strong>der</strong> »Abwehrneurosen« »eine sozusagen physiologische<br />

Theorie (bevorzugte)« (GW XIV, 47), nämlich die von den<br />

»hypnoiden« Seelenzuständen, welche eine normale psychische<br />

Verarbeitung von Erlebnissen (Phantasien) erschwerten, postulierte in<br />

seinem eigenen Entwurf einer (an Physiologie angelehnten)<br />

Neurosenpsychologie: »Psychische Vorgänge sollen in <strong>der</strong> Sprache<br />

<strong>der</strong> Psychologie behandelt werden ...«, und nannte den Ersatz<br />

psychologischer Ausdrücke unserer Alltagserfahrung durch<br />

physiologische Kunstausdrücke »eine zwecklose Maskerade.« 71 Freud<br />

hat seinen (unveröffentlichten) »Entwurf« weitgehen<strong>der</strong> physiologisch<br />

»maskiert« als Breuer den seinen; die Skepsis gegen solche<br />

stilistischen Vor- bzw. Rückgriffe aber war den beiden Autoren <strong>der</strong><br />

<strong>Hysterie</strong>-Studien gemeinsam. Am 24. 1. 1897 schrieb Freud an Fließ,<br />

er wolle sich »den Unterbau fertig von (ihm) holen, anstatt ihn zu<br />

phantasieren« (Anfänge, 164). Die Auffindung <strong>der</strong><br />

»Organgrundlagen«, des »Postaments« zum psychologischen<br />

»Oberbau« 72 , blieb für Freud lebenslänglich ein Desi<strong>der</strong>at, die neue<br />

Psychologie insofern ein Provisorium. 73 Ich bin »gar nicht geneigt, das<br />

Psychologische ohne organische Grundlage schwebend zu erhalten.<br />

Ich weiß nur von <strong>der</strong> Überzeugung aus nicht weiter, we<strong>der</strong> theoretisch<br />

noch therapeutisch, und muß also mich benehmen, als läge mir nur das<br />

Psychologische vor. Warum mir das nicht zusammengeht, ahne ich<br />

noch gar nicht.« 74 Die Nicht-Identität von Physis und Psyche tritt an<br />

Phänomenen wie <strong>der</strong> Konversion, dem<br />

70 Anfänge, 119 (29. II. 9$).<br />

71 Freud und Breuer (1895), Teil III (»Theoretisches«): »Wenn wir statt >Vorstellung<<br />

>Rindenerregung< sagen wollten, so würde <strong>der</strong> letztere Ausdruck nur dadurch einen Sinn<br />

für uns haben, daß wir in <strong>der</strong> Verkleidung den guten Bekannten erkennen und die<br />

>Vorstellung< stillschweigend wie<strong>der</strong> restituieren. Denn während Vorstellungen<br />

fortwährend Gegenstände unserer Erfahrung und uns in all ihren Nuancen wohlbekannt<br />

sind, ist »Rindenerregung< für uns mehr ein Postulat, ein Gegenstand künftiger, erhoffter<br />

Erkenntnis« (S. 149).<br />

72 Anfänge, I50 und 155.<br />

73 In den »Vorlesungen« (1915-17) heißt es, falls eine chemische Regulierung <strong>der</strong><br />

libidinösen Triebe eines Tages möglich würde, »wäre dies eine im eigentlichen Sinne<br />

kausale Therapie, für welche unsere Analyse die unentbehrliche Vorarbeit <strong>der</strong><br />

Rekognoszierung geleistet hätte« (GW XI, 452 f.).<br />

74 Anfänge, 227 (22. 9. 98).<br />

rätselhaften »Sprung aus dem Seelischen in die somatische<br />

Innervation« (GW VII, 382), deutlich hervor. Physis und Psyche<br />

folgen je einer spezifischen Logik, keine beide Sphären umfassende<br />

Theorie kann sie wi<strong>der</strong>spruchslos auf einem homogenen begrifflichen<br />

Kontinuum abbilden. Die psychoanalytische bezeugt den Bruch<br />

zwischen Physis und (sozialisierter) Psyche in ihrer durchweg<br />

dualistischen Begriffsbildung, in den Gegensatzpaaren <strong>der</strong><br />

psychischen Regulationsprinzipien, <strong>der</strong> »Instanzen«, schließlich in <strong>der</strong><br />

Konzeption <strong>der</strong> antagonistischen Stellung <strong>der</strong> Individuen zur »Kultur«.<br />

Die Lebenseinheit bei<strong>der</strong> Sphären, die dennoch zustandekommt, ist,<br />

mit Plessner zu reden, »nur das leere Hindurch <strong>der</strong> Vermittlung« 75 von<br />

Selbstvergessenheit (Leib sein, Objekte haben) und Sich-mit-den-<br />

Augen-<strong>der</strong>-an<strong>der</strong>en-Sehen (Leib haben). Solche<br />

vermittlungsbedürftige Gebrochenheit (»exzentrische Positionalität«)<br />

ist das Privileg <strong>der</strong> Gattung; sie kann eine Geschichte des Leibes wie<br />

<strong>der</strong> Seele, des Verhältnisses bei<strong>der</strong> zueinan<strong>der</strong> - und freilich auch<br />

Neurosen haben. Die proteischen Leistungen <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong>, die den<br />

Leib zum Symbol psychosozialer Konflikte werden läßt, bezeugen in<br />

nuce die Wandlungsfähigkeit <strong>der</strong> Menschennatur in <strong>der</strong> Geschichte<br />

(ihrer Selbsterzeugung).<br />

Als ein Substitut für die fehlende »organologische« Basis bildete sich<br />

mit <strong>der</strong> fortschreitenden Einsicht in die Bedeutung <strong>der</strong> sexuellen<br />

Traumen »im untersten Stockwerk« <strong>der</strong> neuen Psychologie eine<br />

»Sexualtheorie« aus. 76 »Ausblicke auf das sexuell-organische<br />

Fundament des Ganzen« (Anfänge, 280) ergaben sich vor allem beim<br />

Studium <strong>der</strong> Aktual- o<strong>der</strong> Stauungsneurosen (Neurasthenie, Migräne,<br />

Angstneurose, Hypochondrie). Auf dem Wege zur Aufdeckung <strong>der</strong><br />

Ätiologie <strong>der</strong> Neurosen war die Erkenntnis <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong><br />

Aktualneurosen ein eigentümliches Etappenziel. Sie repräsentieren<br />

dasjenige, was auch an den eigentlichen, den Psycho- (o<strong>der</strong><br />

Übertragungs-)Neurosen das »rein« somatische Moment ist, ihnen<br />

genügt darum scheinbar eine (sexual-)physiologische Theorie. Wie bei<br />

den Psychoneurosen ist eine sexuelle Schädigung Quelle <strong>der</strong><br />

neurotischen Erkrankung, aber keine infantile, »vorzeitige«, son<strong>der</strong>n<br />

die aktuelle durch »frustrane Erregung«, die durch »sexuellen Abusus«<br />

(Masturbation, Koitus interruptus, etc.) zustandekommt. Wie bei<br />

75 Plessner, Die Stufen des Organischen und <strong>der</strong> Mensch (1928), 292.<br />

76 Anfänge, 158 und 258.<br />

52 53


den Psychoneurosen ist <strong>der</strong> sexuellen Erregung <strong>der</strong> Weg zur (adäquaten)<br />

Abfuhr verlegt; sie sucht sich folglich Auswege, Befriedigungssubstitute<br />

- Symptome. Aber die Symptome <strong>der</strong> Aktualneurosen<br />

sind nicht psychologisch vermittelt, fügen sich keiner<br />

»Deutung«.<br />

»Die Symptome <strong>der</strong> Aktualneurosen, ein Kopfdruck, eine Schmerzempfindung,<br />

ein Reizzustand in einem Organ, die Schwächung o<strong>der</strong><br />

Hemmung einer Funktion haben keinen >SinnSexualökonomie


dabei auch eine tief einschneidende Verän<strong>der</strong>ung in unseren gesellschaftlichen<br />

Zuständen angebahnt.« 80 Der letzte Satz eröffnet die<br />

Perspektive auf gesellschaftliche Probleme, die sich hinter <strong>der</strong><br />

projektierten technischen Neuerung verbergen. Freud glaubte damals,<br />

daß Fließ' Periodenlehre ein neues Verfahren <strong>der</strong> Empfängnisverhütung<br />

ermöglichen werde. 81 In diesem Zusammenhang<br />

formuliert er die Aufgabe, die luxurierende menschliche Sexualität<br />

medizinisch vom Fortpflanzungsrisiko zu emanzipieren, und gibt<br />

zugleich Aufschluß über das Interesse, das zur Ausbildung <strong>der</strong><br />

Psychoanalyse als einer kritischen Theorie führen sollte:<br />

»Theoretisch wäre es einer <strong>der</strong> größten Triumphe <strong>der</strong> Menschheit, eine<br />

<strong>der</strong> fühlbarsten Befreiungen vom Naturzwange, dem unser Geschlecht<br />

unterworfen ist, wenn es gelänge, den verantwortlichen Akt <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>erzeugung<br />

zu einer willkürlichen und beabsichtigten Handlung zu<br />

erheben, und ihn von <strong>der</strong> Verquickung mit <strong>der</strong> notwendigen Befriedigung<br />

eines natürlichen Bedürfnisses loszulösen« (GW I, 507).<br />

Die Lehre von den Aktualneurosen war die letzte Version einer rein<br />

somatischen Neurosentheorie. Freuds späterer Auffassung<br />

entsprechend bilden die aktualneurotischen Symptome den harten, für<br />

psychologische Deutung undurchdringlichen Kern <strong>der</strong> eigentlichen<br />

Psychoneurosen: »Sie spielen... die Rolle jenes Sandkorns, welches<br />

das Muscheltier mit den Schichten von Perlmuttersubstanz umhüllt<br />

hat.« 82 Die inadäquat abgeführte, gestaute Sexualerregung setzt sich<br />

unmittelbar in die spezifisch aktualneurotische Symptomatik um (die<br />

bei Abstellung des sexuellen Abusus wie<strong>der</strong> verschwindet) und<br />

produziert sekundär, indem die gestaute Erregung auf die<br />

bereitstehenden Kanäle <strong>der</strong> Kindheitsneurose überfließt, das<br />

komplizierte Gebäude <strong>der</strong> Psychoneurose. Deren<br />

»Perlmuttersubstanz« wird im Licht <strong>der</strong> lebensgeschichtlichen<br />

Deutung transparent, während das »Sand-<br />

80 Die Sexualität in <strong>der</strong> Ätiologie <strong>der</strong> Neurosen (1898). GW I, 507 f.<br />

81 Jones berichtet: »Schon im Juli 1893 hoffte er auf Fließ >als auf den Messias«, und im<br />

Dezember versprach er ihm eine Statue im Berliner Tiergarten, wenn es ihm gelinge. Zwei<br />

Jahre später, am 25. Mai 1895, schien <strong>der</strong> Erfolg zu winken, und Freud schrieb: >Deine<br />

Mitteilungen hätten mich schreien machen können. Wenn Du wirklich das<br />

Konzeptionsproblem gelöst hast, so geh nur gleich mit Dir zu Rate, welche Sorte Marmor<br />

am ehesten Deinen Beifall finden kann


äußerer aufgefaßter innerer) Traumatisierungsgefahr zur Verfügung<br />

steht, ist die These <strong>der</strong> »direkten Umsetzung <strong>der</strong> Libido in Angst«<br />

kaum vereinbar: »Die Angst <strong>der</strong> Tierphobie ist die unverwandelte<br />

Kastrationsangst, also eine Realangst, Angst vor einer wirklich<br />

drohenden o<strong>der</strong> als real beurteilten Gefahr. Hier macht die Angst die<br />

Verdrängung, nicht, wie ich früher gemeint habe, die Verdrängung die<br />

Angst.« 86 Freud ließ sie nicht völlig fallen, aber in »Hemmung,<br />

Symptom und Angst« wurde doch <strong>der</strong> Fortschritt von <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong><br />

Aktualneurosen zu <strong>der</strong> <strong>der</strong> Psychoneurosen auch auf dem Gebiet <strong>der</strong><br />

Angsttheorie nachgeholt. Auch die Angst blieb nun nicht länger ein an<br />

sich unverständliches Resultat rein somatischer<br />

Energieumwandlungen, son<strong>der</strong>n wurde aus sozialer Erfahrung (<strong>der</strong><br />

Kastrationsdrohung) abgeleitet, als ein Resultat <strong>der</strong> Verschmelzung<br />

realer (gesellschaftlicher) Sanktionen mit <strong>der</strong> Wahrnehmung von<br />

Triebimpulsen interpretiert. »Die früher behauptete direkte Umsetzung<br />

<strong>der</strong> Libido in Angst ist unserem Interesse weniger bedeutsam geworden«<br />

(GW XIV, 195). Eingesprengt in die <strong>Aufklärung</strong> <strong>der</strong><br />

Psychoneurosen, erscheint die Lehre von den Aktualneurosen als <strong>der</strong><br />

Versuch, wenigstens auf einem Teilgebiet <strong>der</strong> neurotischen<br />

Erkrankungen die Legitimität einfacher physiologischer Erklärungen<br />

zu demonstrieren. In diesem Interpretationsrahmen deutete Freud<br />

Migräne und Angstneurose als »Intoxikationen«, verursacht durch eine<br />

»sexuelle Substanz«, einen »sexuellen Reizstoff«. 87 Die Symptome <strong>der</strong><br />

Aktualneurosen »verhalten sich ganz ähnlich wie die Erscheinungen<br />

bei übergroßer Zufuhr o<strong>der</strong> bei Entbehrung gewisser Nervengifte«<br />

(GW VII, 148). Diese Stufe <strong>der</strong> Theoriebildung im Felde <strong>der</strong><br />

Neurosenätiologie entspricht Freuds frühestem Versuch, zur Therapie<br />

<strong>der</strong> Neurosen beizutragen. Die Annahme giftiger Sexualsubstanzen als<br />

<strong>der</strong> Krankheits-»Ursache« korrespondiert methodologisch dem<br />

Vorschlag, Coca-Extrakte zur Kompensation von Depressionen zu<br />

verwenden. 88 Relativierend heißt es später in den<br />

86 Hemmung, Symptom und Angst (1926). GW XIV, 137 ff.<br />

87 Vgl. Anfänge, 80, 104, 140, 142.<br />

88 Das Cocain wird vom jungen Freud als Wun<strong>der</strong>droge gepriesen, die all das (und mehr)<br />

mühelos zuwege bringt, was später die Erinnerungsarbeit <strong>der</strong> Patienten leisten soll:<br />

Cocagenuß vertreibt die Depression, stimmt euphorisch, steigert Leistung und Potenz,<br />

wird gegen <strong>Hysterie</strong>, Hypochondrie, melancholische Hemmung empfohlen. Ein guter Teil<br />

<strong>der</strong> Autoren, <strong>der</strong>en Meinung Freud referiert, ist <strong>der</strong> Meinung, »daß ein Organismus, <strong>der</strong><br />

eine äußerst geringe<br />

58<br />

»Vorlesungen«: »Die Probleme <strong>der</strong> Aktualneurosen, <strong>der</strong>en Symptome<br />

wahrscheinlich durch direkte toxische Schädigung entstehen, bieten<br />

<strong>der</strong> Psychoanalyse keine Angriffspunkte, sie kann nur wenig für <strong>der</strong>en<br />

<strong>Aufklärung</strong> leisten ... Im übrigen aber ist uns das Wort<br />

>Sexualstoffwechsel< o<strong>der</strong> >Chemismus< <strong>der</strong> Sexualität ein Fach<br />

ohne Inhalt; wir wissen nichts darüber und können uns nicht einmal<br />

entscheiden, ob wir zwei Sexualstoffe annehmen sollen, die dann<br />

>männlich< und >weiblich< heißen würden, o<strong>der</strong> ob wir uns mit<br />

einem Sexualtoxin bescheiden können, in dem wir den Träger aller<br />

Reizwirkungen <strong>der</strong> Libido zu erblicken haben.« 89<br />

Durch Kritik <strong>der</strong> Charcotschen Auffassung von <strong>der</strong> Heredität <strong>der</strong><br />

<strong>Hysterie</strong> gewann Freud den Raum für die <strong>Aufklärung</strong> ihrer<br />

sozialpsychologischen Ätiologie. Bereits <strong>der</strong> Nachruf auf Charcot<br />

enthielt (1893) den Passus: »Auch an den ätiologischen Theorien, die<br />

Charcot in seiner Lehre von <strong>der</strong> famille nevro-pathique vertrat, und die<br />

er zur Grundlage seiner gesamten Auffassung <strong>der</strong> Nervenkrankheiten<br />

gemacht hatte, wird wohl bald zu rütteln und zu korrigieren sein.<br />

Charcot überschätzte die Heredität als Ursache so sehr, daß kein Raum<br />

für die Erwerbung von Neuropathien übrig blieb...« (GW I, 35)<br />

Gestützt auf seine Kenntnis <strong>der</strong> Ätiologie <strong>der</strong> Aktualneurosen, also<br />

erworbener Neurosen, bekämpfte er die Hereditäts-These, weil sie den<br />

Fortschritt <strong>der</strong> theoretischen <strong>Aufklärung</strong> <strong>der</strong> Neurosen ebenso<br />

blockierte, wie sie alle Hoffnungen auf therapeutische Hilfe zunichte<br />

machte. »Die Konstatierung <strong>der</strong> Heredität überhebt... nicht <strong>der</strong> Suche<br />

nach einem spezifischen Moment, an dessen Auffindung sich übrigens<br />

auch alles therapeutische Interesse knüpft. Denn was will man<br />

therapeutisch mit <strong>der</strong> Heredität als Ätiologie anfangen?« 90 In <strong>der</strong> an<br />

die Schüler Charcots adressierten Abhandlung »L'heredite et l'etiologie<br />

des nevroses« (1896) führte Freud seine These von <strong>der</strong> Verursachung<br />

<strong>der</strong> Psycho-Neurosen durch vorzeitige sexuelle Verführung gegen die<br />

Heredi-<br />

Menge Cocain in sich aufgenommen hat, im Stande sei, aus denselben Zersetzungen« (des<br />

Stoffwechsels) »eine größere Menge lebendiger Kraft, die in Arbeit umgesetzt werden<br />

kann, zu gewinnen als ohne Coca.« Vgl. Freud, Ober Coca (1884), 309; zur<br />

»Kokainepisode« insgesamt: Jones (1954-57), I, Kap. VI, und v. Scheidt (1973).<br />

89 GW XI, 404 und 403.<br />

90 Zur Kritik <strong>der</strong> »Angstneurose«. GW I, 375.


tätsthese ins Feld. 91 Geeignete Erlebnisse können auch eine nicht<br />

hereditär belastete Person in die <strong>Hysterie</strong> treiben. 92 Die Heredität allein<br />

bringt keine Psychoneurosen zustande, denn die Neurosenwahl hängt<br />

vom Modus <strong>der</strong> Verführung ab (GW I, 422). Freud charakterisierte<br />

nunmehr die Aktualneurosen, speziell die Angstneurose, als ein<br />

spezifisch mo<strong>der</strong>nes, durch den Lebensstil, beson<strong>der</strong>s den sexuellen,<br />

ausgelöstes Leiden. 93 (Diese Einschätzung steht zu seinem Verständnis<br />

<strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong> als einem historisch invarianten Leiden in merkwürdigem<br />

Kontrast.) Die Verführungs-Hypothese gab Freud die Möglichkeit,<br />

»den Anschein einer familiären neurotischen Disposition« als Resultat<br />

wechselseitiger inzestuöser Verführung zwischen Geschwistern und<br />

nahen Anverwandten bzw. zwischen Eltern und Kin<strong>der</strong>n zu dechiffrieren.<br />

94 Die von Charcot angesichts <strong>der</strong> Familienneurosen<br />

postulierte Heredität erwies sich als »Pseudoheredität« (GW I, 382);<br />

ihre Kritik deckte familienspezifische pathogenetische sexuelle<br />

Interaktionen auf. Die Annahme inzestuöser Verführung als<br />

Vorbedingung <strong>der</strong> Familienneurosen übersetzt die in <strong>der</strong><br />

Familienmatrix mit Notwendigkeit entstehenden Wunschphantasien in<br />

reale Interaktionen, während es doch die Funktion <strong>der</strong><br />

Familieninstitution ist, solche Realisierung zu verhin<strong>der</strong>n. Aber trotz<br />

dieser unglaubwürdig-realistischen Deutung des Familienschicksals<br />

kam Freuds Neurosenlehre <strong>der</strong> wirklichen Ätiologie bei weitem näher<br />

als die von Charcot, <strong>der</strong> anstelle des psychosozialen Verhältnisses <strong>der</strong><br />

Familienangehörigen zueinan<strong>der</strong> eine ihnen gemeinsame hereditäre<br />

Disposition gesetzt hatte.<br />

91 »Un grand interet pratique se rattache a la connaissance de cette Ätiologie specifique<br />

qui donnera acces a notre travail therapeutique, tandis que la dis-position hereditaire, fixee<br />

d'avance pour le malade des sa naissance, oppose a nos efforts un obstacle inabordable«<br />

(GW I, 410).<br />

92 Vgl. Studien über <strong>Hysterie</strong>, GW I, 180.<br />

93 »L'abstinence forcee, l'irritation genitale fruste (qui n'est pas assouvie par l'acte<br />

sexuel), le coi't imparfait ou interrompu (qui n'aboutit pas a la jou-issance), les efforts<br />

sexuels qui surpassent la capacite psychique du sujet etc., tous ces agents, qui sont d'une<br />

occurence trop frequente dans la vie mo<strong>der</strong>ne, semblent convenir en ce qu'ils troublent<br />

1'equilibre des fonctions psychiques et somatiques dans les actes sexuels, et qu'ils<br />

empechent la participation psychique necessaire pour deivrer l'eonomie nerveuse de la<br />

tension genesi-que« (GW I, 416).<br />

94 »Die <strong>Hysterie</strong> spitzt sich mir immer mehr zu als Folge von Perversität des Verführers;<br />

die Heredität immer mehr als Verführung durch den Vater.« An Fließ, 6. 12. 96; Anfänge,<br />

155.<br />

Freuds gemeinsam mit Breuer entwickelte Theorie <strong>der</strong> Psychoneurosen,<br />

vor allem <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong>, ist ein systematischer Versuch, die<br />

befremdlichen, durch keine physiologische Theorie erklärbaren<br />

Symptome als symbolische Darstellung <strong>der</strong> Ätiologie zu deuten.<br />

»Peinliche Kontrastvorstellungen« und Affekte, »durch welche sich<br />

<strong>der</strong> Mensch in seiner Lebensfreude o<strong>der</strong> in seiner Selbstachtung<br />

bedroht fühlt« 95 , lösen die Reaktion einer willkürlichen o<strong>der</strong><br />

unbewußten Unterdrückung <strong>der</strong> mit dem ichgerechten<br />

Vorstellungsleben unvereinbaren Regungen aus. Ist das Verfahren<br />

(aktuell) erfolgreich, so wird die störende Vorstellung aus dem<br />

Assoziationszusammenhang (dem Bewußtsein) ausgeklammert; <strong>der</strong> an<br />

<strong>der</strong> Vorstellung hängende Affekt verwandelt sich in Angst o<strong>der</strong> wird<br />

in ein Symptom eingebunden. Die Vorstellung selbst wird, indem ihr<br />

<strong>der</strong> Affekt abhanden kommt, neutralisiert, o<strong>der</strong> sie wird selbst<br />

bewußtseinsunfähig und zieht vielerlei Derivate (die ihr symbolisch<br />

assoziiert sind) in die Verdrängung nach (Zwangsvorstellungen,<br />

Vergessen, etc.). Der »Gegenwille« aber ist nur aus dem Bewußtsein<br />

verschwunden; sein symbolischer Stellvertreter ist das Symptom (<strong>der</strong><br />

Tic, die Lähmung, <strong>der</strong> Schmerz); er hat sich - unkenntlich geworden -<br />

somatisch objektiviert. 96 Nähere Analyse zeigt, daß im Symptom stets<br />

beides, Abgewehrtes und Abwehr, repräsentiert ist; es handelt sich um<br />

»Kompromißbildungen zwischen den verdrängten und den<br />

verdrängenden Vorstellungen« (GW I, 387). Das Abgewehrte aber, das<br />

<strong>der</strong> bedrängte Mensch in einer Situation <strong>der</strong> Ohnmacht von sich<br />

wies 97 , wird dadurch zugleich unsterblich.<br />

95 Breuer in: Freud und Breuer (1895), 172.<br />

96 Vgl. dazu Freud, Ein Fall von hypnotischer Heilung .. .; Die Abwehr-Neuropsychosen<br />

. ..; Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen. GW I.<br />

97 »Bei den von mir analysierten Patientinnen hatte nämlich psychische Gesundheit bis<br />

zu dem Moment bestanden, in dem . . . ein Erlebnis, eine Vorstellung, Empfindung an ihr<br />

Ich herantrat, welches einen so peinlichen Affekt erweckte, daß die Person beschloß, daran<br />

zu vergessen, weil sie sich nicht die Kraft zutraute, den Wi<strong>der</strong>spruch dieser<br />

unverträglichen Vorstellung mit ihrem Ich durch Denkarbeit zu lösen« (GW I, 61 f.). Was<br />

aber im »Probehandeln« unlösbar erscheint, war es zuvor im Handeln. Die Kraftlosigkeit,<br />

die Freud hier als causa <strong>der</strong> Flucht aus <strong>der</strong> unbewältigten Realität in die Neurose einsetzt,<br />

ist keine Denkschwäche, son<strong>der</strong>n - wie an den Fallgeschichten aus den »Studien über<br />

<strong>Hysterie</strong>« ablesbar - eine soziale. Die erstere ist mit <strong>der</strong> letzteren vermittelt durch<br />

Sozialisationspraktiken, in denen sozial Ohnmächtige Ohnmacht in ihren Kin<strong>der</strong>n<br />

reproduzieren, ehe noch <strong>der</strong>en eigene Lebens-<br />

60 61


Der unerledigte Affekt lebt weiter im Symptom, je<strong>der</strong> Revision<br />

entzogen. Hat das Ich des Patienten einmal in auswegloser (o<strong>der</strong> doch<br />

ausweglos scheinen<strong>der</strong>) Situation sich ohnmächtig gezeigt, ein Stück<br />

seiner Bewußtseinsherrschaft autotomisch aufgegeben, so muß es die<br />

expansiven Symptome (Phobien, Zwangshandlungen), die es zu<br />

weiteren Verzichten nötigen, tolerieren. Das Verdrängte, unerledigt<br />

und unersättlich, wird zum ichfremden Zwang. »Wo immer neurotischer<br />

Zwang im Psychischen auftritt, rührt er von Verdrängung her«<br />

(GW I, 388). In den als Schutzmaßnahmen eingeführten reaktiven<br />

Symptomen setzt sich - stets unverhüllter - <strong>der</strong> verdrängte Impuls<br />

durch, kenntlich nicht für den Leidenden, wohl aber für den<br />

geschulten Betrachter, <strong>der</strong> schließlich aus <strong>der</strong> Symptomatik auf die<br />

Ätiologie schließen kann. Versuchte <strong>der</strong> Therapeut, die verdrängten<br />

pathogenen Vorstellungen wie<strong>der</strong> in die Erinnerung des Patienten<br />

zurückzurufen, so bekam er an dessen Wi<strong>der</strong>stand die Kraft zu spüren,<br />

die einst zur Abwehr des Peinlichen aufgeboten und seither zur<br />

Unterhaltung des Symptoms investiert worden war. Jene verdrängten<br />

Vorstellungen »waren sämtlich peinlicher Natur, geeignet, die Affekte<br />

<strong>der</strong> Scham, des Vorwurfes, des psychischen Schmerzes, die<br />

Empfindung <strong>der</strong> Beeinträchtigung hervorzurufen, sämtlich von <strong>der</strong><br />

Art, wie man sie gerne nicht erlebt haben möchte, wie man sie am<br />

liebsten vergißt« (GW I, 269). Abwehr und Symptombildung erläutert<br />

eine von Freuds Patientinnen wie folgt: »Mir ist einmal etwas sehr<br />

Unangenehmes passiert, ich habe mich mit Macht bemüht, es<br />

fortzuschieben, nicht mehr daran zu denken. Endlich ist es mir<br />

gelungen, da bekam ich das an<strong>der</strong>e, das ich seither nicht losgeworden<br />

bin« (GW I, 66). Inbegriff des Unerträglich-Peinlichen aber sind die<br />

sexuellen Triebwünsche 98 : »Das Abgewehrte ist«, schließt Freud,<br />

»immer die Sexualität.« 99 Auf die Frage nach dem Abwehrenden<br />

ergibt sich als »nächstliegende Antwort«, »daß Scham und Moralität<br />

die verdrängenden Kräfte sind ...« (Anfänge, 130). Provozieren<br />

geeignete Anlässe die »Wie<strong>der</strong>kehr<br />

erfahrung die Abdankung des Ichs, die durch Verdrängung erkaufte soziale Anpassung<br />

diktiert.<br />

98 »Übrigens versteht man es leicht, daß gerade das Sexualleben die reichlichsten<br />

Anlässe zum Auftauchen unverträglicher Vorstellungen mit sich bringt« (GW I, 66).<br />

99 An Fließ, 21. 5. 94; Anfänge, 78.<br />

des Verdrängten«, eine neuerliche Konfrontation mit dem Abgewehrten<br />

o<strong>der</strong> die Antizipation einer solchen Konfrontation, so stellt<br />

sich auch <strong>der</strong> Vorwurfs-Affekt, <strong>der</strong> die Verdrängungsreaktion<br />

motivierte, wie<strong>der</strong> ein. Seine Analyse lehrt, daß ihn die Furcht vor<br />

körperlichen und sozialen Folgen <strong>der</strong> »Vorwurfshandlung« speist. 100<br />

Die in den »Studien über <strong>Hysterie</strong>« beschriebenen Fallgeschichten<br />

zeigen typische soziale Konstellationen, unter <strong>der</strong>en Druck Menschen<br />

zur icheinschränkenden Verdrängung getrieben werden. Wurde in<br />

einer sozialen Situation <strong>der</strong> adäquate Affekt unterdrückt, »so bleibt <strong>der</strong><br />

Affekt mit <strong>der</strong> Erinnerung verbunden. Eine Beleidigung, die vergolten<br />

ist, wenn auch nur durch Worte, wird an<strong>der</strong>s erinnert, als eine, die<br />

hingenommen werden mußte. Die Sprache anerkennt auch diesen<br />

Unterschied in den psychischen und körperlichen Folgen und bezeichnet<br />

höchst charakteristischerweise eben das schweigend erduldete<br />

Leiden als >Kränkung


natorisch wie<strong>der</strong>erlebt und dargestellt. Soweit diese Reproduktion auf<br />

bloße motorische Phänomene reduziert bleibt, läßt sich durch<br />

ergänzende hypnotische Ausforschung die nur angedeutete Szene<br />

rekonstruieren. Die Krämpfe eines kleinen Mädchens erweisen sich in<br />

<strong>der</strong> Hypnose, die den Zugang zum verdrängt Gehaltenen öffnet, als<br />

stets wie<strong>der</strong>holte Reaktion auf die »Verfolgung durch einen wilden<br />

Hund« (GW I, 93 f.). Eine weitergehende psychoanalytische<br />

Untersuchung des Falles, die zur Aufdeckung des sexuellen Traumas<br />

führen könnte, das die pathogene Wirkung des »banalen« erklärt,<br />

unterbleibt auf <strong>der</strong> Stufe <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong>-Studien. Für die Klärung <strong>der</strong><br />

Frage, warum die Hundsverfolgung in diesem Fall die Kin<strong>der</strong>neurose<br />

auslöste, fehlt noch das lebensgeschichtliche Gerüst, die Lehre von <strong>der</strong><br />

psychosexuellen Entwicklung. So führt die Befragung unter Hypnose<br />

nicht zur traumatisierenden Originalszene, son<strong>der</strong>n nur zu einem<br />

sekundären Anlaß (einer »Deckerinnerung«). Hinter <strong>der</strong><br />

pseudokonkreten Szene mit dem Verfolger-Hund bleiben die<br />

Familienszenen, die für die Hundsjagd empfindlich machten und <strong>der</strong><br />

Konversion den Weg bahnten, verborgen. Die reale Situation, bei <strong>der</strong><br />

die Nachforschung vorläufig endet, wird nicht nochmals als Symbol<br />

gelesen. Das gilt auch für die übrigen sozialen Trauma-Szenen <strong>der</strong><br />

<strong>Hysterie</strong>-Studien. Familienszenen und Sozialszenen bilden im Leben<br />

<strong>der</strong> Individuen eine »Ergänzungsreihe«: Im Arbeits- und<br />

Lebensschicksal <strong>der</strong> Erwachsenen leben die Urkonflikte auf <strong>der</strong><br />

Familienbühne, die die Fortschritte und Fixierungen ihrer<br />

psychosexuellen Ontogenese vermittelten, wie<strong>der</strong> auf, erfahren eine<br />

neuerliche Bearbeitung. Die Revision <strong>der</strong> alten Ängste und<br />

Konfliktlösungen bleibt freilich an den affektiv-kognitiven Stil <strong>der</strong><br />

Welterfahrung und Selbstbehauptung, den die Schicht- und<br />

familienspezifische Kindheitserfahrung prägte, gebunden. Die<br />

Ergänzungsreihe verbindet den Verfolger-Hund, in dem vielleicht <strong>der</strong><br />

gefürchtet-geliebte Vater sich inkarnierte, mit den ökonomischsexuellen<br />

Konkurrenten und Vorgesetzten in <strong>der</strong> Hierarchie sozialer<br />

Positionen, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Erwachsene um sein Überleben (Arbeit,<br />

Sicherheit und Konsumchancen) zu kämpfen hat. Neben dem vom<br />

Hund verfolgten kleinen Mädchen steht zur Illustration »ein<br />

Angestellter, <strong>der</strong> infolge einer Mißhandlung von Seiten seines Chefs<br />

hysterisch geworden ist.« Im Anfall durchlebt er wie<strong>der</strong> »die Szene...,<br />

wie <strong>der</strong> Herr ihn auf <strong>der</strong> Straße beschimpft und mit einem Stocke<br />

64<br />

schlägt«, überlagert von <strong>der</strong> sie komplettierenden »im Gerichtssaale,<br />

als es ihm nicht gelang, Satisfaktion für die Mißhandlung zu erreichen<br />

...« (GW I, 94) Miß Lucy R. wie<strong>der</strong>um, eine Gouvernante, ist an<br />

unerfüllbarer Liebe zum Hausherrn, einem Direktor, erkrankt. Dem<br />

Therapeuten, <strong>der</strong> diesen Sachverhalt aus ihren Mitteilungen errät,<br />

antwortet sie auf die Frage: »Wenn Sie aber wußten, daß Sie den<br />

Direktor lieben, warum haben Sie es mir nicht gesagt?« - »Ich wußte<br />

es ja nicht o<strong>der</strong> besser, ich wollte es nicht wissen, wollte es mir aus<br />

dem Kopfe schlagen, nie mehr daran denken, ich glaube, es ist mir<br />

auch in <strong>der</strong> letzten Zeit gelungen.« »Warum wollten Sie sich diese<br />

Neigung nicht eingestehen? Schämten Sie sich dessen, daß Sie einen<br />

Mann lieben sollten? - O nein, ich bin nicht unverständig prüde, für<br />

Empfindungen ist man ja überhaupt nicht verantwortlich. Es war mir<br />

nur darum peinlich, weil es <strong>der</strong> Herr ist, in dessen Dienst ich stehe, in<br />

dessen Haus ich lebe, gegen den ich nicht wie gegen einen an<strong>der</strong>n die<br />

volle Unabhängigkeit in mir fühle. Und weil ich ein armes Mädchen<br />

und er ein reicher Mann aus vornehmer Familie ist; man würde mich ja<br />

auslachen, wenn man etwas davon ahnte« (GW I, 175 f.). Katharina ...,<br />

die Wirtstochter im Pubertätsalter, ist infolge <strong>der</strong> sexuellen<br />

Nachstellungen ihres Vaters an hysterischen Angstanfällen erkrankt,<br />

nicht an ödipalen Wunsch-Phantasien, son<strong>der</strong>n an realer Angst vor<br />

inzestuöser Verführung auf <strong>der</strong> Stufe <strong>der</strong> Adoleszenz. 103 Bei <strong>der</strong> Aufdeckung<br />

<strong>der</strong> Vorgeschichte <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong> des Fräuleins v. R... erinnert<br />

die Kranke »eine ganze Reihe von Szenen, in früher Kindheit<br />

beginnend, denen etwa gemeinsam war, daß sie ein Unrecht ohne<br />

Abwehr erduldet hatte, so daß es ihr dabei in den Fingern zucken<br />

konnte, z. B. Szenen, wie daß sie in <strong>der</strong> Schule die Hand hinhalten<br />

mußte, auf die ihr <strong>der</strong> Lehrer mit dem Lineal einen Schlag versetzte.«<br />

Die Kette dieser »banale(n) Anlässe« führt auf zwei ineinan<strong>der</strong><br />

verschränkte, gleichsam übereinan<strong>der</strong>photographierte Szenen: den<br />

Jahre zurückliegenden Vergewaltigungsversuch durch einen Onkel<br />

und die argwöhnisch-eifersüchtige Reaktion <strong>der</strong> Tante, bei <strong>der</strong> sie im<br />

Zeitpunkt <strong>der</strong> Behandlung lebte. 104 Die Hysterischen leiden<br />

»größtenteils an Reminiszenzen«, lautet die ätiologische Formel <strong>der</strong><br />

<strong>Hysterie</strong>-<br />

103 Vgl. Studien über <strong>Hysterie</strong>; GW I, 193 und 195 (Anm. 1). 104 A.a.O.,<br />

238-241.<br />

65


Studien (GW I, 86). Diese Reminiszenzen sind unkenntlich gewordene<br />

Erinnerungen, Symbole des Verdrängten, die dem Versuch des<br />

geschädigten Ichs entstammen, die Szenen, in denen es überwältigt<br />

wurde, durch Ausschluß aus <strong>der</strong> (erinnerten) Lebensgeschichte zu<br />

annullieren. Eben dadurch aber wurden sie unsterblich. Die durch<br />

Selbstblendung ratifizierte Ichschwäche wird durch eine ganze Serie<br />

nachfolgen<strong>der</strong>, gleichfalls als unerträglich erlebter Kränkungsszenen<br />

fixiert. Die verdrängte Originalszene aber, <strong>der</strong>en Symptom-<br />

Reminiszenz »nach Art eines Parasiten im Bewußtsein haust« (GW I,<br />

63), zieht Analogieszene auf Analogieszene in das »Schattenreich«<br />

(GW I, 15) des Verdrängt-Unbewußten hinab, dessen Kern sie bildet.<br />

Die Symptome hängen »schließlich nicht an den initialen Traumen<br />

allein, son<strong>der</strong>n an einer langen Kette von ihnen assoziierte(r)<br />

Erinnerungen.« 105 Darum kann man den (überdeterminierten)<br />

hysterischen Symptomen »nicht leicht zu viel Sinn unterlegen.« 106<br />

Schädliche Sexualpraktiken, die Freud als Bedingung <strong>der</strong> Aktualneurosen<br />

erkannt hatte, schienen auch den Grund für die<br />

Psychoneurosen zu legen. Was Ärzten und Patienten des Viktorianischen<br />

Zeitalters als anrüchige Spezialität erschien, die »Geheimnisse<br />

des Alkovens« (Breuer), »la chose genitale« (Charcot) 107 ,<br />

erwies sich dem forschenden Blick Freuds als das eigentliche<br />

Lebenszentrum seiner Patienten. Wo immer die Lebensgeschichte <strong>der</strong><br />

Kranken als Geschichte kumulierter Kränkungen, als Bil<strong>der</strong>folge<br />

unerträglich peinlicher Szenen dem Therapeuten sich enthüllte, war<br />

die tiefste Kränkung hinter vielen banalen Deckerinnerungen stets eine<br />

sexuelle. Die vita sexualis <strong>der</strong> Neurose-Patienten bildete die geheime<br />

Achse, um die sich die Biographie als Kränkungsgeschichte drehte.<br />

Die Traumen <strong>der</strong> Lebensgeschichte hinterließen empfindliche Narben<br />

in <strong>der</strong> Libidoorganisation als dem leicht verwundbaren Mark <strong>der</strong> Ontogenese;<br />

erst von diesen Schädigungen her empfingen spätere banale<br />

Erfahrungen ihre für den Neurotiker spezifische Bedeutung. Im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Aktualneurosen war von den Sexualpartnern<br />

<strong>der</strong> Kranken noch kaum die Rede; sie figurierten allenfalls als<br />

Veranlasser (o<strong>der</strong> Geschädigte) <strong>der</strong> inadäquaten<br />

105 GW I, 128 (Anm. 2).<br />

106 Ebd., 150 (Anm. 1).<br />

107 Vgl. GW X, 51 (Zur Geschichte <strong>der</strong> psychoanalytischen Bewegung).<br />

Befriedigungspraktiken. 108 Die künftige Libidotheorie steckte verpuppt<br />

in <strong>der</strong> Hypothese von den »Sexualtoxinen«. Die nächste Etappe <strong>der</strong><br />

<strong>Aufklärung</strong> <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong> aber rückte Szenen und Gegenspieler ins<br />

Zentrum <strong>der</strong> Aufmerksamkeit. Als entscheiden<strong>der</strong> ätiologischer Faktor<br />

wurde nun die reale sexuelle Verführung in früher Kindheit<br />

angenommen. Die Verführungstheorie kam <strong>der</strong> späteren<br />

psychoanalytischen Sozialisationslehre und <strong>der</strong> Auffassung <strong>der</strong><br />

Neurosen und Psychosen als <strong>der</strong> Resultate deformierter Interaktion und<br />

Symbolbildung bereits sehr nahe, wenngleich sie Wunsch- und<br />

Angstphantasien <strong>der</strong> Patienten naiv für bare Münze nahm und darin<br />

dem physikalistischen Vorurteil, nur objektive »Tatsachen« als<br />

wirksam anzuerkennen und alles Psychische auf handgreifliche<br />

Realitäten zu reduzieren, nochmals - vergeblich - Tribut zollte. Erst die<br />

Selbstanalyse belehrte Freud über die psychische Realität bloßer<br />

Wunschphantasien. Die Verführungstheorie bot den Vorteil, daß in<br />

ihrem Rahmen die - von Wunschphantasien drastisch kolorierten —<br />

Interaktionen auf <strong>der</strong> Familienbühne ins Zentrum <strong>der</strong> Aufmerksamkeit<br />

rückten, die in <strong>der</strong> späteren psychoanalytischen Theorie in<br />

monadologischer Einstellung nur mehr als »Triebschicksale« und<br />

Besetzungsvorgänge an Objektrepräsentanzen erscheinen. Freud<br />

übersah zunächst, daß die Mitteilungen seiner Patienten über ihr<br />

Sexualleben in Kindheit und Jugend nicht als historisch getreue<br />

Reproduktion <strong>der</strong> objektiven biographischen Wahrheit gelten konnten,<br />

- vielmehr den Status von Wunschphantasien hatten, die sich <strong>der</strong><br />

Kindheitsreminiszenzen als eines Vehikels bedienten, um in <strong>der</strong><br />

therapeutischen Situation zu realistischer Darstellung zu kommen.<br />

Abgesehen von dem Ertrag <strong>der</strong> Patientenphantasien für eine<br />

Sexualtheorie machte die Pseudorealistik <strong>der</strong> »erinnerten«<br />

Verführungsszenen deutlich, daß <strong>der</strong> Sozialisationsprozeß wesentlich<br />

eine Abfolge von (in <strong>der</strong> Reproduktion phantastisch sexualisierten)<br />

Interaktionsszenen zwischen dem heranwachsenden Kinde, seinen<br />

Eltern und Geschwistern, den Verwandten und Dienstboten ist, <strong>der</strong>en<br />

Typik für das Trieb- und Lebensschicksal entscheidend wird. 109 Die<br />

Verfüh-<br />

108 Die Phantasieobjekte, ohne die kein masturbatorischer Akt zustandekommt, blieben<br />

ganz außer Betracht.<br />

109 »Es sieht aus, als wäre hier eine Kindheit-Erinnerungsspur zu einer späteren<br />

(Erweckungs-)Zeit ins Plastische und Visuelle rückübersetzt worden.« Ober<br />

Deckerinnerungen, GW I, 552 f.<br />

66 67


ungs-Ätiologie <strong>der</strong> Neurosen führte die Erkrankung auf sexuellen<br />

Mißbrauch von Kin<strong>der</strong>n durch Erwachsene (bzw. ältere Geschwister)<br />

zurück. Freud glaubte zu dieser Zeit noch, daß vor <strong>der</strong> Pubertät keine<br />

spontanen sexuellen Impulse aufträten (GW I, 445). Die sexuelle<br />

Attacke wird demnach passiv erlitten, <strong>der</strong> resultierende<br />

»Sexualschreck« (Anfänge, 117) o<strong>der</strong> die vorzeitig erfahrene<br />

Sexuallust legt den Keim zur neurotischen Erkrankung. Lebensalter<br />

und Modi <strong>der</strong> Verführung entscheiden über die Neurosenwahl: »Die<br />

<strong>Hysterie</strong> ist die Folge eines präsexuellen Sexualschrecks. Die<br />

Zwangsneurose ist die Folge einer präsexuellen Sexuallust, die sich<br />

später in Vorwurf verwandelt« (Anfänge, 113). »Sexuelle Erfahrungen<br />

<strong>der</strong> Kindheit, die in Reizungen <strong>der</strong> Genitalien, koitusähnlichen<br />

Handlungen usw. bestehen, sollen also in letzter Analyse als jene<br />

Traumen anerkannt werden, von denen die hysterische Reaktion gegen<br />

Pubertätserlebnisse und die Entwicklung hysterischer Symptome<br />

ausgeht« (GW I, 443). Die Erinnerung an die infantile Verführung<br />

wird erst »posthum« zum Trauma 110 , wenn <strong>der</strong> Triebschub <strong>der</strong><br />

Pubertät spontane sexuelle Regungen auslöst, die »die Erinnerungsspuren<br />

jener Kindheitstraumen erwecken« (GW I, 383),<br />

welche nun sogleich mit den in <strong>der</strong> Latenzzeit aufgerichteten<br />

Reaktionsbildungen <strong>der</strong> Scham und Moralität kollidieren. Dadurch<br />

wird die Kindheitserinnerung zum belastenden Problem; die Kranken<br />

holen »jetzt an Schämen nach, was sie als Kind versäumt« haben (GW<br />

I, 196), denn die frühe Kindheit war eine »Periode <strong>der</strong>...<br />

Immoralität«. 111 Das polymorph-perverse Wesen <strong>der</strong> genital noch<br />

nicht zentrierten infantilen Sexualität erscheint im Rahmen <strong>der</strong><br />

Verführungstheorie als Perversität <strong>der</strong> sexuellen Attentäter: »Die<br />

infantilen Sexualszenen sind nämlich arge Zumutungen für das Gefühl<br />

eines sexuell normalen Menschen; sie enthalten alle Ausschreitungen,<br />

die von Wüstlingen und Impotenten bekannt sind, bei denen<br />

Mundhöhle und Darmausgang mißbräuchlich zu sexueller<br />

Verwendung gelangen« (GW I, 452). Freud interpretierte die<br />

Phantasien <strong>der</strong> Hysteriker als »Ge-<br />

110 GW I, 384; Anfänge, 356.<br />

111 GW I, 386. - In einem Zusatz aus dem Jahre 1924 heißt es zu dieser Passage: »Ich<br />

verstand es damals noch nicht, die Phantasien <strong>der</strong> Analysierten über ihre Kin<strong>der</strong>jahre von<br />

realen Erinnerungen zu unterscheiden . . . Nach <strong>der</strong> Überwindung dieses Irrtums eröffnete<br />

sich <strong>der</strong> Einblick in die spontanen Äußerungen <strong>der</strong> kindlichen Sexualität. . .« (GW I, 385;<br />

Anm. 1)<br />

ständnisse«, wie es die Inquisitionsrichter vor ihm getan hatten. 112 In<br />

den mittelalterlichen Berichten über »Besessenheit« sah er eine<br />

Bestätigung <strong>der</strong> von ihm aufgedeckten »<strong>Hysterie</strong>-Urgeschichte«:<br />

»Warum... hat <strong>der</strong> Teufel, <strong>der</strong> die Armen in Besitz genommen,<br />

regelmäßig Unzucht mit ihnen getrieben und auf ekelhafte Weise? ...<br />

Nicht nur die Opfer, son<strong>der</strong>n auch die Henker (erinnerten sich dabei)<br />

an ihre erste Jugend.« 113 Von den durch Verführung gestifteten<br />

Verhältnissen unter Kin<strong>der</strong>n sagt er, ihre psychischen Folgen seien<br />

»ganz außerordentlich tiefgreifende; die beiden Personen bleiben für<br />

ihre ganze Lebenszeit durch ein unsichtbares Band miteinan<strong>der</strong><br />

verknüpft« (GW I, 4J2). Aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Verführungstheorie ist in den<br />

Briefen an Fließ <strong>der</strong> folgende Dialog zwischen Patientin und<br />

Therapeut überliefert: »Früher war ich arglos, seither ist mir die<br />

kriminelle Bedeutung mancher Dinge klar geworden, ich kann mich<br />

nicht entschließen, davon zu sprechen ... - In meinen Analysen sind es<br />

die Nächststehenden, Vater o<strong>der</strong> Bru<strong>der</strong>, die die Schuldigen sind. - Ich<br />

habe nichts mit meinem Bru<strong>der</strong>. - Also mit dem Vater...« (Anfänge,<br />

168 f.). Die unkenntlich gemachten Reminiszenzen, an denen die<br />

Hysteriker leiden, gehen demnach auf Szenen zwischen Verführern<br />

und den Patienten (im Kindesalter) zurück. 114 An die vorzeitig<br />

erfahrene sexuelle Lust, an die Verführer, vor allem die Väter, heftet<br />

sich die Sehnsucht. »Die Sehnsucht ist <strong>der</strong> Hauptcharakterzug <strong>der</strong><br />

<strong>Hysterie</strong>... Während (<strong>der</strong>).. Periode <strong>der</strong> Sehnsucht werden die<br />

Phantasien gemacht und... die Masturbation gepflegt, die dann <strong>der</strong><br />

Verdrängung weicht...« (Anfänge, 196) Der unterdrückte sexuelle<br />

Impuls, <strong>der</strong> die szenische Reproduktion <strong>der</strong> Verführungsszene<br />

hervortreibt, »<strong>der</strong> Schwindelanfall, Weinkrampf, alles ist auf den<br />

An<strong>der</strong>en berechnet,<br />

112 »Warum sind die Geständnisse auf <strong>der</strong> Folter so ähnlich den Mitteilungen meiner<br />

Patienten in <strong>der</strong> psychischen Behandlung?« Anfänge, 162.<br />

113 Anfänge, 162. Freud fügt erklärend hinzu: »Von Personen, die kein Bedenken tragen,<br />

ihre sexuellen Bedürfnisse an Kin<strong>der</strong>n zu befriedigen, kann man nicht erwarten, daß sie an<br />

Nuancen in <strong>der</strong> Weise dieser Befriedigung Anstoß nehmen, und die dem Kindesalter<br />

anhaftende sexuelle Impotenz drängt unausbleiblich zu denselben Surrogathandlungen, zu<br />

denen sich <strong>der</strong> Erwachsene im Falle erworbener Impotenz erniedrigt...»<br />

114 Die Verführungstheorie war wesentlich eine Inzesttheorie <strong>der</strong> Neurose. Das Problem,<br />

wieso »in den nie<strong>der</strong>en Ständen«, wo mit einer größeren Häufigkeit inzestuöser<br />

Sexualbeziehungen als in Mittel- und Oberschichten zu rechnen ist, die <strong>Hysterie</strong> nicht<br />

weitaus verbreiteter ist, erklärte Freud durch<br />

68 69


meist aber auf jenen prähistorischen unvergeßlichen An<strong>der</strong>en, den<br />

kein späterer mehr erreicht... So haben den Schlafanfall jene Kranken,<br />

denen im Schlaf Sexuelles zugefügt worden, sie schlafen wie<strong>der</strong> ein,<br />

um dasselbe zu erleben ... Einer meiner Patienten wimmert jetzt noch<br />

im Schlaf wie damals (damit ihn die Mama zu sich nimmt, die, als er<br />

22 Monate alt, gestorben ist)« (ebd., 156).<br />

Der vierzigjährige Therapeut, <strong>der</strong> das schrieb, litt selbst unter<br />

neurotischen Symptomen. Sein Biograph, Ernest Jones, vermerkt<br />

dazu: »Es scheinen keine körperlichen >Konversions


zerrten Formen des sozialen Verkehrs und <strong>der</strong> Symbolik, die ihn<br />

repräsentiert und interpretiert. Nicht verbotene, son<strong>der</strong>n verdorbene<br />

Spiele vom Typus des Liebesentzugs, <strong>der</strong> Traumatisierung, <strong>der</strong><br />

Beziehungsfalle (double bind), bei denen das Kind regelmäßig den<br />

Kürzeren zieht, lösen die neurotische Fluchtbewegung, die<br />

Selbstabdankung des Ichs aus. Die neurotischen Leiden werden im<br />

sozialen Verkehr erworben, in den Übertragungen des Alltagslebens<br />

agiert; sie können schließlich auch nur »am Nebenmenschen«, in <strong>der</strong><br />

kontrollierten, auf verbale Kommunikation hin stilisierten Probe-<br />

Interaktion <strong>der</strong> analytischen Kur »geheilt« werden. Der zerbrochene<br />

Dialog, <strong>der</strong> entgleiste Affekt: sie kehren in allen Interaktionen des<br />

Neurotikers wie<strong>der</strong>, als komplexbedingte privatsprachliche<br />

Bedeutungsverschiebung, als disproportionale Affektreaktion, als<br />

perzeptive Verzerrung, aussetzende Realitätsprüfung. Sie treten,<br />

Leidensdruck setzend, vor allem in dem in Interaktionen erst<br />

aufgebauten, identitätswahrenden reflexiven Umgang des Patienten<br />

mit sich selbst auf: als sistierter innerer Monolog, als Amnesie,<br />

Zwangshandlung, psychosomatische Symptomatik. Was als »Krankheit«<br />

wie an<strong>der</strong>e erscheint, ist Ausdruck einer Kommunikationsstörung.<br />

Wie ontogenetisch das Selbstbewußtsein im Spiegel des<br />

an<strong>der</strong>en reifte, so bedarf es des Probe-Dialogs mit dem Therapeuten<br />

zur Bearbeitung traumatisch verstörter Identität, zur Revision von<br />

unkontrollierbar gewordenen Interaktionsritualen. Nur wenn<br />

aneignende Erinnerung den Lebensweg kumulativer neurotischer<br />

Störung, falscher Objektivierungen zurückläuft, die traumatisierenden<br />

Szenen erinnernd durcharbeitet, archaische Abwehrreaktionen<br />

revidiert, kann die Kompetenz zur situationsgerechten, doch<br />

identitätswahrenden Selbstrepräsentation und zum reflexiven inneren<br />

Dialog, <strong>der</strong> sie stützt, wie<strong>der</strong>erlangt werden. Wichtigstes Resultat <strong>der</strong><br />

Selbstanalyse für die Aufdeckung <strong>der</strong> Neurosenätiologie war die<br />

Aufgabe <strong>der</strong> Verführungstheorie. »Ich glaube an meine Neurotica<br />

nicht mehr«, schrieb Freud am 21.9. 1897 an Fließ. Als »Motive zum<br />

Unglauben« führte er an: Die Unmöglichkeit, die Analyse bei sich und<br />

an<strong>der</strong>en zu einem wirklichen Abschluß zu bringen; die Unwahrscheinlichkeit<br />

einer so außerordentlichen Verbreitung perverser<br />

Sexualbeziehungen zwischen Vätern und Kin<strong>der</strong>n, wie sie in den<br />

Patientenberichten zutage trat; schließlich die Einsicht, »daß es im<br />

Unbewußten ein Realitätszeichen nicht gibt, so daß man die<br />

Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden<br />

kann. (Demnach blieb die Lösung übrig, daß die sexuelle Phantasie<br />

sich regelmäßig des Themas <strong>der</strong> Eltern bemächtigt.)« (Anfänge, 186f.)<br />

Am 3.1. 1899 hieß es dann: »Zuerst hat sich ein Stückchen<br />

Selbstanalyse durchgerungen und mir bestätigt, daß die Phantasien<br />

Produkte späterer Zeiten sind, die sich von <strong>der</strong> damaligen Gegenwart<br />

bis in die erste Kindheit zurückprojizieren... Auf die Frage, was ist in<br />

<strong>der</strong> ersten Kindheit vorgefallen, lautet die Antwort: Nichts, aber es war<br />

ein Keim sexueller Regung da...« (Anfänge, 232) An die Stelle vorzeitiger<br />

realer Verführung traten in <strong>der</strong> Neurosenätiologie nunmehr die<br />

spontanen sexuellen Regungen <strong>der</strong> Kindheit, die in <strong>der</strong><br />

Familienkonstellation psychische Konflikte heraufbeschworen, <strong>der</strong>en<br />

mißlungene Auflösung »posthum« die Wunsch- und Angstphantasien<br />

<strong>der</strong> erwachsenen Neurotiker unablässig beschäftigte.<br />

»Alles geht auf die Reproduktion von Szenen, die einen sind direkt zu<br />

bekommen, die an<strong>der</strong>en immer über vorgelegte Phantasien. Die<br />

Phantasien stammen aus nachträglich verstandenem Gehörten, sind<br />

natürlich in all ihrem Material echt. Sie sind Schutzbauten, Sublimierungen<br />

<strong>der</strong> Fakten, Verschönerungen <strong>der</strong>selben, dienen gleichzeitig<br />

<strong>der</strong> Selbstentlastung. Ihre akzidentelle Herkunft vielleicht von den<br />

Onaniephantasien. Eine zweite wichtige Erkenntnis sagt mir, daß das<br />

psychische Gebilde, welches bei <strong>Hysterie</strong> von <strong>der</strong> Verdrängung betroffen<br />

wird, nicht eigentlich die Erinnerungen sind, denn kein Mensch<br />

ergibt sich ohne Grund einer Erinnerungstätigkeit, son<strong>der</strong>n Impulse,<br />

die sich von den Urszenen ableiten« (Anfänge, 169 f.).<br />

Die Phantasien waren demnach nicht naiv als treue Reproduktionen<br />

<strong>der</strong> Kindheitsgeschichte aufzufassen, son<strong>der</strong>n als <strong>der</strong>en interessierte<br />

Fälschung. Doch eben diese phantasievollen Fälschungen erschienen<br />

als die eigentlichen Agentien <strong>der</strong> Seelengeschichte.<br />

»Unsere Kindheitserinnerungen zeigen uns die ersten Lebensjahre, nicht<br />

wie sie waren, son<strong>der</strong>n wie sie späteren Erweckungszeiten erschienen<br />

sind. Zu diesen Zeiten <strong>der</strong> Erweckung sind die Kindheitserinnerungen<br />

nicht, wie man zu sagen gewohnt ist, aufgetaucht, son<strong>der</strong>n sie sind damals<br />

gebildet worden, und eine Reihe von Motiven, denen die Absicht<br />

historischer Treue fern liegt, hat diese Bildung sowie die Auswahl <strong>der</strong><br />

Erinnerungen mitbeeinflußt.« 118<br />

118 Freud, Über Deckerinnerungen (1899). GW I, 553 f.<br />

72 73


Die psychoanalytische Neurosentherapie tat damit den Schritt von <strong>der</strong><br />

Detektivik zur Hermeneutik. Nicht die historischgetreue<br />

Rekonstruktion <strong>der</strong> frühkindlichen traumatisierenden Szenen ist ihr<br />

Ziel, son<strong>der</strong>n die Bearbeitung ihrer lebensgeschichtlich wirksamen<br />

Interpretationen; nicht um Fakten geht es <strong>der</strong> Psychoanalyse, son<strong>der</strong>n<br />

um Bedeutungen, Reminiszenzen; und was sie von <strong>der</strong> geheimen<br />

Kränkungsgeschichte, den Triebschicksalen ihrer Patienten erfährt, ist<br />

aus dem Material <strong>der</strong> Phantasien und Assoziationen durch Konjekturen<br />

und Konstruktionen gewonnen. 119 Erst die Selbstanalyse vermittelte<br />

Freud auch die Einsicht in die Bedeutung des »ödipalen« Konflikts:<br />

»Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich<br />

habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater<br />

auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis<br />

früher Kindheit . .. Wenn das so ist, so versteht man die packende<br />

Macht des Königs Ödipus trotz aller Einwendungen, die <strong>der</strong> Verstand<br />

gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt... Je<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hörer war einmal<br />

im Keime und in <strong>der</strong> Phantasie ein solcher Ödipus und vor <strong>der</strong> hier in<br />

die Realität gezogenen Traumerfüllung schau<strong>der</strong>t je<strong>der</strong> zurück mit dem<br />

ganzen Betrag <strong>der</strong> Verdrängung, <strong>der</strong> seinen infantilen Zustand von<br />

seinem heutigen trennt.« 120<br />

Knotenpunkt menschlicher Sozialisation und darum »Kernkomplex<br />

<strong>der</strong> Neurosen« ist die Brechung <strong>der</strong> ödipalen Triebwünsche. Was aber<br />

ist die soziale Funktion des Inzest-Tabus? »Der Abscheu vor dem<br />

Inzest (ruchlos) beruht darauf, daß infolge <strong>der</strong> sexuellen Gemeinschaft<br />

(auch in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>zeit) die Familienmitglie<strong>der</strong> dauernd<br />

zusammenhalten und des Anschlusses an Fremde unfähig werden. Er<br />

ist also antisozial - Kultur besteht in diesem fortschreitenden<br />

Verzicht.« 121 Aus den erzwungenen Reaktionsbildungen gegen die<br />

ersten, heftigsten, inzestuösen Begierden werden Moral und Religion<br />

aufgebaut: »Dies entsteht<br />

also sämtlich auf Kosten untergegangener (virtueller) Sexualität.<br />

Somit ist es ersichtlich, wie mit den Entwicklungsschüben das Kind<br />

von <strong>der</strong> Frömmigkeit, Scham u. dgl. überzogen wird, und wie das<br />

Ausbleiben solchen Unterganges sexueller Zonen die Moral Insanity<br />

als Entwicklungshemmung produzieren kann.« 122 So mündet die<br />

<strong>Aufklärung</strong> <strong>der</strong> <strong>Hysterie</strong> in den Entwurf einer Sozialisations- und<br />

»Kultur«-Theorie. Die Neurotiker sind die Opfer eines kulturellen<br />

Versagungsprozesses, den zu ertragen die Vorbedingung für<br />

»Normalität« ist. Neurosen sind Wundmale mißlungener Sozialisation.<br />

119 »Es gibt kein Kriterium dafür, daß <strong>der</strong> rekonstruierte Vorgang auch wirklich so<br />

ablief, wie die Deutung ergab .. . Wir rekonstruieren nicht eigentlich den Vorgang,<br />

son<strong>der</strong>n bauen ein Modell von ihm«, schreibt Bernfeld (1932 b, 474 f.). Bei Lorenzer heißt<br />

es: »Durchgängiges Merkmal des psychoanalytischen Verstehens ist die Vernachlässigung<br />

<strong>der</strong> Faktizität< des vom Patienten Mitgeteilten« (1970 a, S. 53; entsprechend S. 200 f.).<br />

Vgl. dazu auch H.-G. Gadamer (1960), 311.<br />

120 An Fließ, 15. 10. 1897; Anfänge, 193.<br />

121 Beilage zum Brief vom 31. 5. 1897; Anfänge, 182.<br />

122 An Fließ, 14. II. 1897; Anfänge, 200. Vgl. auch Anfänge, 179,<br />

74

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!