Berechnung des Regelsatzes vorgelegt [PDF ... - NachDenkSeiten
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Menschenwürde, Teilhabe und die scheinbare Objektivität von<br />
Zahlen<br />
Fachliche Stellungnahme <strong>des</strong> Frankfurter Arbeitskreises Armutsforschung<br />
zum Entwurf für ein Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen<br />
und zur Änderung <strong>des</strong> Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch<br />
(Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz – RBEG)<br />
Mitglieder <strong>des</strong> Frankfurter Arbeitskreises Armutsforschung:<br />
Dr. Irene Becker, Prof. Dr. Dr. h. c. Roland Eisen, Prof. Dr. Bernhard Emunds, Dr. Jürgen Faik,<br />
Prof. Dr. Walter Hanesch, Prof. Dr. Richard Hauser, Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach, Beate Hock,<br />
Gerda Holz, Prof. Dr. Andreas Klocke, Dr. Karl Koch, Prof. Dr. Anne Lenze, Prof. Dr. Gero Lipsmeier,<br />
Dr. Monika Ludwig, Prof. Dr. Alfons Schmid, Prof. Dr. Franz Segbers, Dr. Wolfgang Strengmann-<br />
Kuhn, Dr. Thomas Wagner<br />
1 Vorbemerkung<br />
In seinem Urteil vom 9. Februar 2010 hat das Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht (BVerfG)<br />
die derzeitigen Regelleistungen nach dem SGB II für unvereinbar mit dem nach Artikel<br />
1 Grundgesetz (GG) gebotenen Schutz der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip<br />
<strong>des</strong> Artikel 20 GG erklärt (BVerfG, 1 BvL 1/09). Die ausführlich begründete<br />
Entscheidung betrifft sowohl das Arbeitslosengeld II für Erwachsene (ALG II) als<br />
auch das Sozialgeld für Kinder sowie die derzeitige Anpassung an die Entwicklung<br />
<strong>des</strong> aktuellen Rentenwerts, die als „sachwidriger Maßstabswechsel“ bezeichnet wird<br />
(Absatz 184), und das Fehlen einer „Öffnungsklausel“ für nicht nur einmalige Sonderbedarfe.<br />
Das Gericht hat zudem spezifiziert, dass das Grundrecht auf Gewährleistung<br />
eines menschenwürdigen Daseins sich nicht auf ein physisches, sondern auf<br />
ein soziokulturelles Existenzminimum bezieht; „denn der Mensch als Person existiert<br />
notwendig in sozialen Bezügen“ – so das Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht in Rn. 135. Im<br />
Folgenden wird geprüft, inwieweit der vorliegende Entwurf für ein Gesetz zur Ermittlung<br />
von Regelbedarfen und zur Änderung <strong>des</strong> Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch<br />
(Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz – RBEG) den verfassungsgerichtlichen<br />
Vorgaben entspricht und welche normativen Setzungen der Regierung eingeflossen<br />
sind.<br />
2 Methodik und normative Elemente <strong>des</strong> Gesetzentwurfs vor dem Hintergrund<br />
<strong>des</strong> Urteils <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verfassungsgerichts<br />
a) Ein wesentlicher Kritikpunkt <strong>des</strong> BVerfG bezieht sich auf den bisherigen Entscheidungsträger,<br />
der über das, was als Existenzminimum zu gelten habe, bestimmt.<br />
Auf der Basis <strong>des</strong> Rechtsstaats- und Demokratieprinzips erklären die<br />
Richterinnen und Richter die Festlegung der Höhe <strong>des</strong> menschenwürdigen Existenzminimums<br />
auf dem Verordnungswege (Regelsatzverordnung) für nicht verfassungsgemäß<br />
und fordern für die Zukunft dafür ein Parlamentsgesetz. Im Zusammenhang<br />
mit dem gleichzeitig formulierten Transparenzgebot sollen Entscheidungsprozess<br />
und -findung also von der Exekutive auf die Legislative verlagert<br />
werden. Diesem Tenor <strong>des</strong> Urteils hätte entsprochen, das Parlament bereits<br />
vor der Vergabe von Aufträgen für Sonderauswertungen der Einkommens- und
2<br />
Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 an das Statistische Bun<strong>des</strong>amt einzubeziehen.<br />
Denn mit der Konzipierung der erforderlichen <strong>Berechnung</strong>en erfolgen implizit eine<br />
Ausfüllung <strong>des</strong> vom Gericht anerkannten politischen Gestaltungsspielraums und<br />
entscheidende inhaltliche Festlegungen für das soziokulturelle Existenzminimum,<br />
die allein dem Gesetzgeber zukommen (BVerfG, Rn. 136). Mit dem bisherigen<br />
Verfahren wurden die Informations- und Eingriffsmöglichkeiten <strong>des</strong> Parlaments<br />
beschränkt.<br />
b) Die Umgehung <strong>des</strong> Parlaments bei der Konkretisierung <strong>des</strong> Auftrags an das Statistische<br />
Bun<strong>des</strong>amt schränkt insbesondere das Gestaltungsrecht <strong>des</strong> Gesetzgebers<br />
bei der Abgrenzung der Referenzgruppe, aus deren Ausgabeverhalten das<br />
soziokulturelle Existenzminimum abzuleiten ist, ein. Zwar hat das Bun<strong>des</strong>ministerium<br />
für Arbeit und Soziales (BMAS) auch die Ergebnisse von Alternativrechnungen<br />
veröffentlicht, die neben den in den Gesetzentwurf eingeflossenen <strong>Berechnung</strong>en<br />
durchgeführt worden sind. Allen bisherigen Sonderauswertungen der<br />
EVS 2008 liegen aber Referenzgruppen zugrunde, für die von einer konsequenten<br />
Vermeidung von Zirkelschlüssen – von den Ausgaben der Leistungsberechtigten<br />
auf deren Bedarf – nicht ausgegangen werden kann. Zur Vermeidung derartiger<br />
Zirkelschlüsse ist es nämlich nicht hinreichend, lediglich Grundsicherungsbeziehende<br />
aus der Referenzgruppe auszuschließen. Darüber hinaus müssten auch<br />
Haushalte, die einen Grundsicherungsanspruch nicht wahrnehmen und demnach<br />
noch unterhalb <strong>des</strong> Grundsicherungsniveaus leben (verdeckte Armut), ausgeklammert<br />
werden. Dies wurde auch vom BVerfG angemahnt: „Der Gesetzgeber<br />
bleibt freilich entsprechend seiner Pflicht zur Fortentwicklung seines Bedarfsermittlungssystems<br />
verpflichtet, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und<br />
Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen<br />
unter dem Niveau der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch<br />
und dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch inklusive der Leistungen für Unterkunft<br />
und Heizung liegt, aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden.“ (BVerfG, Rn.<br />
169). Dem wird der vorliegende Gesetzentwurf nicht gerecht.<br />
c) Selbst die Grundsicherungsbeziehenden wurden bei den bisher durchgeführten<br />
Sonderauswertungen nur insofern ausgeklammert, als sie nicht infolge von Sonderregelungen<br />
(Erwerbstätigenfreibeträge, nicht anzurechnende Einkommensarten,<br />
übergangsweise gewährte Zuschläge) ein Gesamteinkommen knapp oberhalb<br />
der Regelleistungen zur Sicherung <strong>des</strong> Lebensunterhalts (inklusive der Leistungen<br />
für Unterkunft und Heizung) erreichten. Diese Abgrenzung <strong>des</strong> Referenzeinkommensbereichs<br />
ist unter methodischen Gesichtspunkten problematisch,<br />
- da auch das Ausgabeverhalten von Haushalten mit einem Gesamteinkommen<br />
knapp oberhalb der Regelleistungssumme maßgeblich vom gegebenen<br />
Grundsicherungsniveau geprägt ist;<br />
- da die Vermeidung von Zirkelschlüssen ohnehin nur rudimentär mit Bezug auf<br />
das bisherige und damit nicht verfassungsgerecht ermittelte Grundsicherungsniveau<br />
erfolgen kann.<br />
Ein Antrag im Bun<strong>des</strong>tagsausschuss für Arbeit und Soziales, <strong>Berechnung</strong>en auf<br />
der Basis von unterschiedlich abgegrenzten Referenzgruppen, insbesondere ohne<br />
„Aufstocker“ und ohne Haushalte in verdeckter Armut, durchführen zu lassen,<br />
wurde durch die Mehrheit der Regierungsfraktionen abgelehnt.<br />
d) Die dem Gesetzentwurf zugrunde liegende Ableitung kindspezifischer Bedarfe ist<br />
auf der Basis <strong>des</strong> Ausgabeverhaltens der Paare mit einem Kind erfolgt und entspricht<br />
insoweit den Vorgaben <strong>des</strong> BVerfG. Der elterliche Bedarf wird aber ebenso<br />
wie der Erwachsenenbedarf generell aus den durchschnittlichen Konsumausgaben<br />
<strong>des</strong> unteren Einkommensbereichs der Alleinstehenden abgeleitet. Dies ist
3<br />
methodisch inkonsequent. Denn der Bemessung <strong>des</strong> kindlichen Existenzminimums<br />
liegt eine Aufteilung von Haushaltsausgaben auf Kind und Eltern unter Berücksichtigung<br />
von Haushaltsgrößenersparnissen zugrunde; Letztere sind nur gerechtfertigt,<br />
wenn die den Eltern zugerechneten Fixkosten tatsächlich gedeckt<br />
sind. Dies ist infolge der Bezugnahme auf den anderen Referenzhaushaltstyp der<br />
Alleinstehenden aber nicht gewährleistet. Damit ist nicht gesichert, dass der Familienbedarf<br />
ausreichend gedeckt wird. Für das alternative Verfahren, Kin<strong>des</strong>und<br />
Erwachsenenbedarfe nur auf der Basis der nur einen Referenzgruppe der<br />
Paare mit einem Kind abzuleiten, liegt mittlerweile eine erste empirische Schätzung<br />
vor (siehe unter Punkt 3).<br />
e) Bei den dem Entwurf <strong>des</strong> RBEG zugrunde liegenden Sonderauswertungen wurden<br />
für Alleinstehende einerseits und Familien andererseits unterschiedliche Referenzeinkommensbereiche<br />
herangezogen – zum Einen die unteren 15%, zum<br />
Anderen die unteren 20%. Dies ist methodisch nicht begründbar und erscheint als<br />
willkürlich. Die Ausführung in der Begründung zum Gesetzentwurf, damit erfolge<br />
jeweils eine Betrachtung <strong>des</strong> reichlich unteren Quintils entsprechend dem Urteil<br />
<strong>des</strong> BVerfG, bezieht sich auf eine Gruppe einschließlich der vorab ausgeklammerten<br />
Haushalte und ist damit weder stichhaltig noch urteilskonform. Es ist nicht<br />
sachgerecht, die Größe <strong>des</strong> Referenzeinkommensbereichs und damit auch die<br />
Bandbreite der Einkommen oberhalb <strong>des</strong> Grundsicherungsniveaus von der relativen<br />
Häufigkeit der Leistungsbeziehenden beim jeweiligen Haushaltstyp abhängig<br />
zu machen; Mit diesem dem Gesetzentwurf zugrunde liegenden Ansatz wird implizit<br />
der Referenzeinkommensbereich umso stärker begrenzt, je größer das<br />
(sichtbare) Ausmaß von Unterstützungsbedürftigkeit ist.<br />
f) Mit dem Entwurf <strong>des</strong> RBEG ist durch vielfältige Ausklammerungen einzelner Güter<br />
als „nicht regelbedarfsrelevant“ eine weit reichende Vermischung von Statistikund<br />
Warenkorbmodell angelegt, die methodisch wie normativ problematisch ist.<br />
Denn von der mit jedweder Herausnahme einzelner Güter verbundenen Kürzung<br />
sind alle Haushalte, auch diejenigen ohne die entsprechende „nicht regelleistungsrelevante“<br />
Ausgabe, betroffen. Grundsätzlich räumt das BVerfG dem Gesetzgeber<br />
zwar einen Spielraum ein bei wertenden Entscheidungen, welche Ausgaben<br />
zum Existenzminimum zählen (BVerfG, Rn. 171). Derartige normative Setzungen<br />
dürfen aber der Funktionsweise <strong>des</strong> Statistikmodells nicht zuwider laufen,<br />
so dass der Ermessensspielraum begrenzt ist. Dementsprechend betont das<br />
BVerfG in seiner Urteilsbegründung, dass der Pauschalbetrag so zu bestimmen<br />
ist, dass ein Ausgleich zwischen verschiedenen Bedarfspositionen möglich ist und<br />
der Hilfebedürftige sein Verbrauchsverhalten so gestalten kann, dass er mit dem<br />
Festbetrag auskommt (BVerfG; Rn. 205, s. a. Rn. 172). Zudem sind die zu erbringenden<br />
Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand <strong>des</strong> Gemeinwesens<br />
und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten (Pressemitteilung <strong>des</strong><br />
BVerfG vom 09.02.2010). Dem wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht<br />
ausreichend Rechnung getragen. Mit dem wiederkehrenden Hinweis, dass einzelne<br />
Güter nicht zum physischen Existenzminimum zählen, wird der Aspekt der<br />
soziokulturellen Teilhabe als einem Bestandteil <strong>des</strong> Existenzminimums tendenziell<br />
vernachlässigt. Dies sei an einigen Beispielen verdeutlicht.<br />
- Die Ausklammerung jeglicher Ausgaben für Alkohol und Tabak schränkt die<br />
Bedarfsdeckung auch derjenigen ohne Kauf dieser – gesellschaftlich durchaus<br />
üblichen – Güter erheblich gegenüber der Referenzgruppe ein. Die Beträge<br />
belaufen sich auf 19,27 € (19,86 €) bei Bezugnahme auf die unteren 15%<br />
(20%) der Alleinstehenden. Zudem entspricht diese Vorgehensweise einer
4<br />
Bevormundung der Grundsicherungsbeziehenden, die auch ihre sozialen Kontakte<br />
tangiert.<br />
- Aus dem Güterbereich „Bildung“ und „sonstige Dienstleistungen“ (EVS 2008)<br />
wurden die Ausgaben für Kinderbetreuung (einschließlich Kinderfreizeiten)<br />
ausgeklammert, obwohl es bisher keinen allgemeinen Rechtsanspruch von<br />
Grundsicherungsbeziehenden auf kostenfreie Nutzung von Kinderbetreuungseinrichtungen<br />
gibt. Vielmehr sind die entsprechenden Regelungen<br />
regional sehr unterschiedlich. In Regionen mit Gebührenbefreiungen gelten<br />
diese zudem teilweise nicht nur für Familien im Grundsicherungsbezug, vielmehr<br />
generell für Geringverdiener – und damit auch für einen Teil der Familien<br />
der Referenzgruppe. Dementsprechend haben nur 22,5% der Familien in<br />
der Referenzgruppe mit einem Kind unter 6 Jahren Ausgaben für Kinderbetreuung<br />
in Kindergärten angeschrieben. Die Streichung <strong>des</strong> insgesamt ermittelten<br />
Durchschnittsbetrages von 16,25 € bedeutet eine deutlich spürbare Einschränkung<br />
der Familien im Grundsicherungsbezug gegenüber der Referenzgruppe.<br />
- Aus der Gütergruppe „Nachrichtenübermittlung“ wurden die Mobilfunkkosten<br />
ausgeklammert. Die Verfügbarkeit eines Mobilfunktelefons entspricht mittlerweile<br />
aber der gesellschaftlichen Normalität. Dies spiegelt sich in der EVS<br />
2008 insofern, als sich kaum noch Familien ohne ein Mobiltelefon finden und<br />
dementsprechend die Ergebnisse von Sonderauswertungen für diese kleine<br />
Teilgruppe, auf die sich die Bedarfsbemessungen durch das BMAS stützen,<br />
statistisch wenig bzw. nicht signifikant sind. Im Ergebnis führen die Sonderauswertungen<br />
zu einem Minderbetrag beispielsweise von 6,90 € (7,48 €) bei<br />
Alleinstehenden auf der Basis der unteren 15% (20%) und 6,76 € bei Jugendlichen<br />
von 14 bis unter 18 Jahren.<br />
- Aus der Gütergruppe „Verkehr“ wurden die Ausgaben für Kraftstoffe und<br />
Schmiermittel ausgeklammert, indem die Mobilitätskosten nur der Teilgruppe<br />
ohne Ausgaben für Kraftstoff einbezogen wurden. Dies erweist sich als nicht<br />
sachgerecht, da damit – wie bei den Kommunikationsdienstleistungen – von<br />
der gesellschaftlichen Normalität abstrahiert und auf statistisch wenig bzw.<br />
nicht signifikante Ergebnisse Bezug genommen wird. Zudem besteht die Gefahr<br />
einer Strukturverzerrung der verbleibenden Referenzgruppe dahingehend,<br />
dass überproportional Haushalte mit meist nur kurzen Wegen einbezogen<br />
werden. Dies spiegelt sich in unrealistisch niedrigen Durchschnittsausgaben<br />
der den Sonderauswertungen zugrunde liegenden Teilgruppe für den<br />
ÖPNV von z. B. 18,41 € (23,63 €) bei den unteren 15% (20%) der Alleinstehenden.<br />
Letztlich implizieren die Sonderauswertungen eine Verminderung der<br />
Beträge gegenüber den Ausgaben für Mobilität der Referenzgruppe beispielsweise<br />
um 15,35 € (12,38 €) bei den unteren 15% (20%) der Alleinstehenden<br />
und um ca. 10 € bei Kindern und Jugendlichen.<br />
Vor diesem Hintergrund und angesichts <strong>des</strong> Transparenzgebots wäre es schließlich<br />
angebracht, die Durchschnittsausgaben für die ausgeklammerten Güterpositionen<br />
auszuweisen, um das implizit vorgesehene Zurückbleiben der Leistungsbeziehenden<br />
hinter dem Lebensstandard der Referenzgruppe bewerten zu können.<br />
Dies ist weder im Gesetzentwurf noch in der Begründung dazu thematisiert<br />
worden, so dass jeder Versuch einer Bewertung <strong>des</strong> vorliegenden Entwurfs mit<br />
mühsamen Detailberechnungen auf der Basis der tabellarisch veröffentlichten Ergebnisse<br />
<strong>des</strong> Statistischen Bun<strong>des</strong>amtes verbunden ist. Für die unteren 15% der<br />
Alleinstehenden summieren sich die Kürzungen auf etwa 135 €, das entspricht<br />
27% der Ausgaben der Referenzgruppe.
5<br />
3 Ein alternativer Ansatz der Regelleistungsberechnung<br />
Wegen der aufgezeigten Schwächen der dem Gesetzentwurf zugrunde liegenden<br />
<strong>Berechnung</strong>en ist jüngst ein alternatives Verfahren entwickelt und umgesetzt worden,<br />
das die Vorgaben <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verfassungsgerichts in methodisch stringenter weise<br />
umsetzt. 1 Dabei musste allerdings auf die vorliegenden Sonderauswertungen der<br />
EVS 2008 und damit auf eine unzureichende Abgrenzung <strong>des</strong> Referenzeinkommensbereichs<br />
zurückgegriffen werden; denn eine auch in dieser Hinsicht verbesserte<br />
Analyse ist auf die Mikrodaten in Form eines scientific use files angewiesen, das<br />
aber erst seit Ende Oktober beantragt werden kann. Die wesentlichsten Unterschiede<br />
gegenüber der Regelleistungsberechnung, die vom Bun<strong>des</strong>ministerium für Arbeit<br />
und Soziales (BMAS) <strong>vorgelegt</strong> wurde, bestehen in folgenden Punkten:<br />
– Ermittlung auch <strong>des</strong> Elternbedarfes bzw. generell <strong>des</strong> Erwachsenenbedarfes aus<br />
dem Ausgabeverhalten der Paare mit einem Kind;<br />
– Verwendung modifizierter Aufteilungsschlüssel für die personelle Zurechnung von<br />
Haushaltsausgaben;<br />
– vergleichsweise wenige Herausnahmen von Güterpositionen mit zwei Varianten:<br />
- Variante 1 mit weitestgehenden Umsetzung <strong>des</strong> Statistikmodells.<br />
- Variante 2 mit eingeschränkter Umsetzung <strong>des</strong> Statistikmodells.<br />
Tabelle: Regelbedarfe nach alternativen <strong>Berechnung</strong>en auf Basis der EVS 2008,<br />
vorläufiges Ergebnis 1 [- 28 (- 8%)]<br />
Regelbedarfe in € p. M.<br />
Statistikmodell weitgehend<br />
umgesetzt<br />
Statistikmodell, eingeschränkte<br />
Umsetzung<br />
1. Erwachsener<br />
478<br />
431<br />
[- 47 (-10%)]<br />
2. Erwachsener<br />
359<br />
314<br />
[- 45 (-13%)]<br />
Kind, u6<br />
245<br />
224<br />
[- 21 (- 9%)]<br />
Kind, 6 - 13<br />
314<br />
287<br />
[- 27 (- 9%)]<br />
Kind, 13 - 17<br />
344<br />
316<br />
Beispiel: Paarfamilie,<br />
Kind 6 - 13<br />
1.151<br />
1.032<br />
[-119 (-10%)]<br />
Beispiel: Alleinerziehende,<br />
Kind u6<br />
895<br />
810<br />
[- 85 (- 9%)]<br />
1 Referenzgruppen der Paare mit einem Kind unter 18 Jahren in der Abgrenzung, die den bisher vorliegenden<br />
Sonderauswertungen zugrunde liegt. Die Herausnahme von Familien in verdeckter Armut<br />
vor Bildung <strong>des</strong> Referenzeinkommensbereichs (untere 20%) konnte nicht umgesetzt werden, da die<br />
1 Becker, Irene (2010): Regelleistungsbemessung auf der Basis <strong>des</strong> „Hartz IV-Urteils“ <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verfassungsgerichts<br />
und der normativen Vorgaben im Positionspapier der Diakonie, Projektbericht an das Diakonische Werk<br />
Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland e. V., Riedstadt.
6<br />
dafür erforderlichen Mikrodaten in Form eines scientific use files erst seit Ende Oktober beantragt<br />
werden können. Insofern sind die Ergebnisse vorläufig.<br />
Wie die vorstehende Tabelle zeigt, ergeben sich bei methodisch konsequenter Umsetzung<br />
<strong>des</strong> Urteils <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 wesentlich<br />
höhere Beträge als nach den vom BMAS konzipierten <strong>Berechnung</strong>en. Um die Funktionsweise<br />
<strong>des</strong> Statistikmodells nicht auszuhebeln, wurde der Ermessensspielraum<br />
<strong>des</strong> Gesetzgebers als begrenzt angesehen; dementsprechend summieren sich die in<br />
der restriktiven Variante, also bei eingeschränkter Umsetzung <strong>des</strong> Statistikmodells,<br />
vorgenommenen Kürzungen auf nur etwa 10% der Ausgaben der Referenzgruppe.<br />
Zwar wäre selbst dies eine merkliche Minderung <strong>des</strong> Lebensstandards der Grundsicherungsbeziehenden<br />
gegenüber dem unteren Einkommensbereich. Die Differenz<br />
bewegt sich aber in einem Rahmen, der als Kompromiss zwischen den Strukturprinzipien<br />
<strong>des</strong> Statistikmodells einerseits und dem gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum<br />
andererseits angesehen werden kann, dementsprechend kann angenommen<br />
werden, dass der Hilfebedürftige sein Verbrauchsverhalten so gestalten kann, dass<br />
er mit dem Festbetrag auskommt (BVerfG; Rn. 205, s. a. Rn. 172).<br />
4 Leistungen für Bildung und Teilhabe<br />
Gemäß der Vorgabe <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verfassungsgerichts sind im Gesetzentwurf für Kinder,<br />
Jugendliche und junge Erwachsene neben dem Regelbedarf die Bedarfe nach<br />
Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft als eigenständige<br />
Bedarfe anerkannt, die künftig im § 28 SGB II geregelt sind.<br />
Die Leistungen für Bildung, die für Kinder und Jugendliche bis zum 25. Lebensjahr<br />
gewährt werden, umfassen die folgenden Komponenten: Neben der Übernahme der<br />
tatsächlichen Aufwendungen für Schulausflüge und Klassenfahrten gehört dazu die<br />
Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf (das bisherige Schulbasispaket), die<br />
Übernahme der Aufwendungen für angemessene Lernförderung sowie der Aufwendungen<br />
für gemeinschaftliche Mittagsverpflegung in Schulen und Kindertagesstätten.<br />
Leistungen zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben werden Kindern und Jugendlichen<br />
bis zum 18. Lebensjahr erbracht. Der Höchstbetrag von 10 Euro pro Monat<br />
kann für die Mitgliedschaft in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit,<br />
für Musikunterricht, für kulturelle Bildung oder die Teilnahme an Freizeiten verwendet<br />
werden.<br />
Ministerin von der Leyen hat von Anfang an besonderen Wert darauf gelegt, Leistungen<br />
zur Bildungs- und Teilhabeförderung nicht den Familien auszuzahlen, sondern<br />
sie über die Jobcenter an den Familien vorbei direkt den Kindern zugute kommen zu<br />
lassen. Insofern wurde gegenüber Hartz IV-Leistungen beziehenden Eltern ein genereller<br />
Missbrauchsvorbehalt formuliert, für den es - von Einzelfällen abgesehen - keine<br />
empirisch fundierte Begründung gibt. Studien zur Kinderarmut zeigen vielmehr,<br />
dass Eltern in der Regel alles unternehmen, um ihre Kinder die materiell deprivierte<br />
Situation möglichst wenig spüren zu lassen, und eher ihren eigenen Konsum einschränken,<br />
als die Leistungen für Kinder missbräuchlich einzusetzen. Durch die ausschließliche<br />
Gewährung der Leistungen zur Bildungs- und Teilhabeförderung als<br />
Sachleistung wird zudem die Entscheidungsautonomie der Eltern im Hinblick auf die<br />
Pflege und Erziehung ihrer Kinder in unvertretbarer Weise eingeschränkt. Trotz dieser<br />
Bedenken war die Ministerin bereit, zur Missbrauchsvermeidung ein aufwendiges<br />
bürokratisches Verfahren für die vorgesehenen Sachleistungen einzuführen, das zu<br />
neuen Ungerechtigkeiten und zu einem unvertretbar hohen Verwaltungsaufwand führen<br />
wird.
7<br />
Die zunächst vorgesehene Leistungsform einer Chipkarte hatte dazu beigetragen,<br />
dass nicht mehr über Höhe und Zusammensetzung dieser Leistungen, sondern nur<br />
noch über die Form der Leistungserbringung diskutiert wurde. Im Gesetzentwurf<br />
werden die Leistungen zur Bildung und Teilhabe mit Ausnahme <strong>des</strong> Schulbasispakets<br />
durch personalisierte Gutscheine oder Kostenübernahmeerklärungen erbracht.<br />
Die bereits im Vorfeld <strong>des</strong> Gesetzentwurfs heftig diskutierte und kritisierte Chipkarte -<br />
als elektronisches System der Leistungserbringung und Abrechnung - ist zwar nur<br />
noch als Möglichkeit für die Zukunft vorgesehen. Sie kann aber vom BMAS ohne Zustimmung<br />
<strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>rats auf dem Verordnungsweg eingeführt werden.<br />
Grundsätzlich könnten die Leistungen zur Bildungs- und Teilhabeförderung als Teil<br />
der monetären Regelleistungen für Kinder definiert und festgesetzt werden. Dies<br />
würde am ehesten dem Prinzip der Elternautonomie entsprechen. Allerdings wäre<br />
die Höhe solcher Regelleistungen schwer zu bemessen, da die örtliche Infrastruktur<br />
an Bildungs- und Fördereinrichtungen sehr unterschiedlich ausgebaut ist und die<br />
damit verbundenen Kosten für die Familien stark divergieren. Wählt man daher den<br />
Weg der Bereitstellung von Sachleistungen, wäre ein Rechtsanspruch auf soziokulturelle<br />
Förderung am ehesten im SGB VIII und damit im Zuständigkeitsbereich der<br />
Kinder- und Jugendhilfe zu verankern. Nur durch den flächendeckenden Ausbau der<br />
Infrastruktur an Bildungs- und Förderleistungen kann künftig sichergestellt werden,<br />
dass alle Kinder und Jugendlichen die Unterstützung bekommen, die sie brauchen.<br />
Und nur im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe kann erwartet werden, dass die entsprechenden<br />
Entscheidungen fachlich begründet sind.<br />
Die Förderung von eintägigen Schulausflügen, Lernförderung, Schulmittagessen und<br />
Teilhabeleistungen wird künftig in Form von personalisierten Gutscheinen erbracht.<br />
Darin ist die Gefahr angelegt, dass die Kinder und ihre Familien einer sozialen Stigmatisierung<br />
ausgesetzt werden. Das Risiko, als Hartz IV-Leistungsempfänger erkannt<br />
und negativ bewertet zu werden, wird dazu führen, dass nicht wenige Familien<br />
auf die Inanspruchnahme der entsprechenden Leistungen verzichten werden. Eine<br />
solche Unterausschöpfung der Leistungsansprüche wäre nur dadurch zu vermeiden,<br />
dass die Leistungen allen Familien oder zumin<strong>des</strong>t einem erheblich breiteren Kreis<br />
von Anspruchsberechtigten zugänglich wären. Auf eine solche Ausweitung <strong>des</strong> Kreises<br />
der Anspruchsberechtigten ist jedoch aus fiskalischen Gründen verzichtet worden.<br />
Zur Leistungserbringung schließen die Grundsicherungsträger mit Leistungsträgern<br />
Vereinbarungen ab. Sind vor Ort keine Leistungsträger vorhanden, entfallen die Leistungen.<br />
Die bisherigen Erfahrungen mit der Vergabe von Bildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen<br />
durch die Bun<strong>des</strong>agentur für Arbeit lassen erwarten, dass nur<br />
bestimmte, insbes. große Anbieter als Vertragspartner ausgewählt werden und dass<br />
es dadurch zu erheblichen Verwerfungen in den örtlichen Anbieter- und Trägerstrukturen<br />
kommen wird. Zu erwarten ist ebenfalls, dass bei den abzuschließenden Vereinbarungen<br />
der Preisaspekt den Qualitätsaspekt einer Bildungs- und Teilhabeförderung<br />
dominieren wird. Zwar ist auf Druck der Bun<strong>des</strong>länder im Gesetzentwurf nunmehr<br />
vorgesehen, dass auch die Kommunen mit dieser Aufgabe betraut werden<br />
können, wenn sie dies wünschen, die Zuständigkeit bleibt jedoch auch in diesem Falle<br />
bei den Arbeitsagenturen.<br />
Die Leistungen für gesellschaftliche Teilhabe sind in § 28 Abs. 6 SBG II-E abschließend<br />
aufgezählt. Da Fahrtkosten nicht zu diesen Bedarfen gehören, findet die Schülerbeförderung<br />
keine Erwähnung. Gerade in ländlichen Regionen ist die Inanspruchnahme<br />
von Bildungs- und Teilhabeleistungen (wie etwa der Besuch einer weiterführenden<br />
Schule, der Besuch von Kulturveranstaltungen etc.) jedoch stark davon abhängig,<br />
dass die notwendigen Beförderungsaufwendungen getragen werden können.
8<br />
Da diese in den monetären Regelleistungen nicht ausreichend abgedeckt sind,<br />
müssten die Differenzbeträge im Bildungspaket zusätzlich übernommen werden, da<br />
sonst die Einlösung <strong>des</strong> Rechtsanspruchs auf Bildung und Teilhabe nicht möglich ist.<br />
Im Gesetzentwurf der Bun<strong>des</strong>regierung ist für das Bildungspaket im Jahr 2011 ein<br />
Mittelvolumen von 500 Mio. Euro (sowie weitere 135 Mio. Euro Verwaltungskosten)<br />
vorgesehen. Als Konzession gegenüber kritischen Einwänden sollen nunmehr davon<br />
neben den Kindern in Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften auch Kinder von Niedrigverdienern<br />
mit Kinderzuschlagsanspruch profitieren. Aus dem geplanten Bildungspaket<br />
werden die rund 2 Mio. Kinder eine Förderung im Wert von 250 Euro pro Jahr oder<br />
knapp 21 Euro pro Monat erhalten. Diese Höhe <strong>des</strong> Bildungspakets ist durch keinerlei<br />
<strong>Berechnung</strong> begründet bzw. abgeleitet worden, sie ist vielmehr das Ergebnis politisch-fiskalischer<br />
Erwägungen, die nicht offen gelegt wurden. Insgesamt ist das Mittelvolumen<br />
so dimensioniert, dass die Einlösung eines weitreichenden Bildungs- und<br />
Teilhabeanspruchs dadurch ausgeschlossen ist. Insofern handelt es sich beim Bildungspaket<br />
um eine Mogelpackung, die davon ablenken soll, wie wenig eine angemessene<br />
Bedarfsdeckung mit den unveränderten Kinderegelleistungen eingelöst<br />
wird.<br />
5 Kosten der Unterkunft<br />
Im Gesetzentwurf werden kreisfreie Städte und Landkreise nach §§ 22a - c SGB II-E<br />
und §§ 35 und 35a SGB XII-E ermächtigt, die Angemessenheit von Wohnkosten,<br />
auch unterhalb der Vorgaben höchstrichterlicher Rechtsprechung, selbst festzulegen.<br />
Die vom Bun<strong>des</strong>sozialgericht entwickelten Schutzbestimmungen zur Sicherung der<br />
Wohnung werden als Rahmenvorgaben bzw. Min<strong>des</strong>tbestimmungen nicht aufgenommen.<br />
Auch die von dort vorgegebene Unzulässigkeit pauschaler Begrenzungen<br />
von Heizkosten wird aufgehoben und nach § 22b (1) SGB II kann nun eine Gesamtangemessenheitsgrenze<br />
für die Bruttowarmmiete gebildet werden, ohne dass dafür<br />
Näheres bestimmt wird. Schlussendlich darf die große Bandbreite von Mieten und<br />
Heizkosten mit einer Pauschale abgegolten werden. Die vollständige Übergabe der<br />
Festlegungen der Wohnkosten an die Kommunen spiegelt sich im Wegfall <strong>des</strong> bisherigen<br />
§ 27 SGB II, die dem Bun<strong>des</strong>gesetzgeber bisher die Möglichkeit gab, entsprechende<br />
Regelungen durch Rechtsverordnung zu treffen. Eine Sicherstellung einheitlicher<br />
Lebensbedingungen im Bereich Wohnen wird damit aufgegeben.<br />
Indem den Bun<strong>des</strong>ländern das Recht eingeräumt wird, durch Gesetze die Kommunen<br />
zu ermächtigen, durch eigene Satzungen zu bestimmen, welche Aufwendungen<br />
für Unterkunft und Heizung in ihrem Gebiet angemessen sind, reicht der Gesetzgeber<br />
damit eine ganz wesentliche Gestaltung <strong>des</strong> Grundrechts auf Existenzsicherung<br />
ohne ausreichende Vorgaben nach unten durch. Dadurch entsteht die Gefahr, dass<br />
kreisfreie Städte und Landkreise in finanzieller Not künftig die Angemessenheitsgrenzen<br />
so tief festlegen, dass Menschen in andere Kreise vertrieben werden, in<br />
prekäre Lebensverhältnisse geraten oder daraus Obdachlosigkeit entsteht. Zudem ist<br />
zu befürchten, dass die bereits bestehende sozialräumliche Konzentration prekärer<br />
Wohn- und Lebensverhältnisse weiter verschärft wird.<br />
Das Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht hatte in seinem Urteil vom 9.2.2010 die folgende<br />
wichtige Feststellung getroffen (RZ 136): "Die verfassungsrechtliche Gewährleistung<br />
eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen,<br />
das einen konkreten Leistungsanspruch <strong>des</strong> Bürgers […] enthält. […] Schon<br />
aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergibt sich die Pflicht <strong>des</strong> Gesetzgebers,<br />
die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu tref-
9<br />
fen." Genau diese Regelungen werden nun vor einer Weiterreichung an untere Ebenen<br />
aber nicht getroffen. Der Verstoß gegen das verfassungsrechtlich geforderte Bestimmtheitsgebot<br />
kann somit zu unterschiedlichsten örtlichen Regelungen führen, die<br />
mit den Wohnkosten eine zentrale Säule der Existenzsicherung treffen.<br />
Vorgaben zur Bestimmung von Angemessenheitsgrenzen finden sich in § 22a Abs. 3<br />
SGB II-E. Neben der bisherigen Orientierung an den Verhältnissen <strong>des</strong> einfachen<br />
Standards auf dem örtlichen Wohnungsmarkt (ohne nähere Konkretisierung) sollen<br />
die Auswirkung der Regelungen auf den Wohnungsmarkt berücksichtigt werden. Die<br />
Auswirkungen auf die Situation der Leistungsberechtigten bleiben dabei außer Betracht,<br />
die Gefahr eine Gettobildung wird dadurch nicht ausgeschlossen. In § 22c<br />
SGB II-E werden als Grundlagen zur Bestimmung von Angemessenheitsgrenzen<br />
verschiedenste Datenquellen ohne Prioritätensetzung benannt, die auch kombiniert<br />
verwendet werden können, Auswertungskriterien bleiben unbenannt. Weiterhin fehlen<br />
jegliche Regelungen zur Festlegung der Angemessenheit, wenn von der Satzungsermächtigung<br />
kein Gebrauch gemacht wird oder eine Satzung rechtswidrig ist.<br />
Eine Pauschalierung der Heizkosten erscheint schon aus der Betrachtung <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>sozialgerichts<br />
unsinnig: Für die klimatischen Bedingungen der Zukunft, wechselnde<br />
Energiepreise, unterschiedliche Gebäu<strong>des</strong>tandards, Differenzen im technischen<br />
Stand von Heizungsanlagen oder für das als angemessen anzusehende Heizverhalten<br />
können keine pauschalen Größenordnungen festgelegt werden.<br />
Eine Pauschalierung von Wohnkosten erscheint rein ökonomisch nur sinnvoll, wenn<br />
die allen zu gewährende Pauschale unter der bisherigen Angemessenheitsgrenze<br />
liegt. Damit aber würde eine große Zahl von Menschen mit der Gefahr <strong>des</strong> Wohnungsverlusts<br />
konfrontiert, die in bislang angemessenen Wohnungen leben. Zudem<br />
würde sich das Mietniveau in angespannten Wohnungsmärkten schnell auf die Pauschalen<br />
einpendeln. Eine Pauschalierung der höchst unterschiedlichen Wohnkosten<br />
erscheint daher nicht sinnvoll.<br />
Um rechtswidrige kommunale Satzungen rechtlich angreifen zu können, wurde die<br />
Möglichkeit einer Normenkontrollklage im Sozialgerichtsgesetz durch einen neuen §<br />
55a eingefügt. Da solche Normenkontrollverfahren eine hohe Hürde für Betroffene<br />
bilden, war im Referentenentwurf noch die Möglichkeit einer Verbandsklage vorgesehen.<br />
Diese wichtige Intervention wurde jedoch im Kabinettsentwurf gestrichen. Die<br />
Verbandsklage sollte nicht zuletzt <strong>des</strong>halb wieder aufgenommen werden, um eine<br />
Flut von Einzelklagen zu vermeiden.<br />
Gemäß Prof. Uwe Berlit, Richter am BVerwG, fordert das Machtgefälle zwischen Betroffenen<br />
und Behörden eine weitere wichtige Regelung: "Ohne eine Verpflichtung,<br />
bei rechtswidrig zu niedrig festgesetzten Unterkunftskosten von Amts wegen allen<br />
Betroffenen eine Nachzahlung zu gewähren, besteht die Gefahr, dass einige Kommunen<br />
die Unterkunftskosten aus Einspargründen "strategisch" bewusst zu niedrig<br />
festlegen und darauf setzen, dass die meisten Betroffenen (und in der Tendenz auch<br />
die Gerichte) auf den Bestand der Satzung vertrauen und bei Beanstandung durch<br />
das Lan<strong>des</strong>sozialgericht nur wenige Betroffene nach § 44 SGB X eine Nachzahlung<br />
fordern werden."<br />
Bereits in der derzeitigen gesetzlichen Regelung verweist eine große Zahl marktfremder<br />
Mietobergrenzen auf einseitige kommunale Festlegungen unter dem Diktat<br />
<strong>des</strong> Spardrucks. Bei der Festlegung örtlicher Angemessenheitsgrenzen müssen<br />
<strong>des</strong>halb die örtlichen Organisationen der Mieter und Vermieter – analog dem Mietspiegelverfahren<br />
– beteiligt werden.
10<br />
6 Menschenwürdiges Existenzminimum und Lohnabstandsgebot<br />
Das Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht hat am 9.2.2010 entschieden, dass der deutsche<br />
Sozialstaat ein menschenwürdiges Existenzminimum für jeden Menschen gewährleisten<br />
muss, der sich legal in Deutschland aufhält. Zusätzlich zu dem zum Überleben<br />
Notwendigen (physisches Existenzminimum) müssen die Leistungen für dieses<br />
menschenwürdige (soziokulturelle) Existenzminimum auch einen Leistungsteil enthalten,<br />
der eine (bescheidene) Teilhabe am Leben der Gesellschaft ermöglicht. Damit<br />
ist ein Bezugspunkt festgelegt, der bei der Ermittlung der Regelsätze nunmehr<br />
Priorität gegenüber dem in § 28 Abs. 4 SGB XII statuierten Lohnabstandsgebot hat.<br />
Auch wenn das vom Verfassungsgericht gebilligte Verfahren zur Ermittlung der Regelsätze<br />
zu einem Leistungsanspruch führt, der oberhalb der im Lohnabstandsgebot<br />
bestimmten Grenze liegt, so ist dies hinzunehmen. Die bisher im Lohnabstandsgebot<br />
formulierte Beschränkung, dass das Nettoeinkommen eines vollzeitbeschäftigten Alleinverdieners<br />
in unteren Lohngruppen zuzüglich Kindergeld und Wohngeld, der eine<br />
fünfköpfige Familie zu ernähren hat, höher sein muss, als der Anspruch einer solchen<br />
Familie auf Min<strong>des</strong>tleistungen, ist seit dieser Entscheidung obsolet geworden.<br />
Argumente, die gegen höhere Regelsätze mit Verweis auf das Lohnabstandsgebot<br />
vorgebracht werden, haben keine rechtliche Grundlage.<br />
Diese Verschiebung der Prioritäten ist umso bedeutsamer, als die in den letzten Jahren<br />
eingetretene Lohnspreizung auch die Lohnabstandsgrenze gesenkt hat. Der Anteil<br />
der Stundenlöhne, die unter zwei Dritteln <strong>des</strong> Durchschnittslohns liegen, stieg von<br />
ca. 20 % (1998) auf ca. 25 % (2008) an. Durch die vom Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht<br />
veränderten Prioritäten können nunmehr die von Arbeitgebern auf unterschiedliche<br />
Weise herbeigeführten Niedriglöhne kaum noch auf die Höhe <strong>des</strong> nach einem verfassungsgemäßen<br />
Verfahren berechneten menschenwürdigen Existenzminimums<br />
durchschlagen.<br />
Löhne sind Individuallöhne für die Arbeitsleistung eines Arbeitnehmers, die unterschiedlichen<br />
familiären Unterhaltsverpflichtungen eines Arbeitnehmers spielen dabei<br />
keine Rolle. Deren Ausgleich ist Aufgabe <strong>des</strong> Familienlastenausgleichs. Die Leistungen<br />
<strong>des</strong> Familienlastenausgleichs für Kinder decken jedoch deren menschenwürdiges<br />
Existenzminimum nicht in vollem Umfang ab. Es bleibt ein ungedeckter Bedarf,<br />
der zu hoher Kinderarmut im Niedrigeinkommensbereich führt. Diese Differenz liegt –<br />
gemessen am Min<strong>des</strong>tleistungsanspruch von Kindern – zwischen € 150 und € 200<br />
pro Monat (unter Einschluss eines Miet- und Heizkostenanteils). Für Anspruchsberechtigte<br />
auf ALG II-Leistungen kann der Kinderzuschlag diese Differenz nahezu<br />
ausgleichen, sofern er in Anspruch genommen wird. In dem darüber liegenden Niedrigeinkommensbereich<br />
belastet diese Unterdeckung aber viele Familien sehr stark.<br />
Legt man gar die maximale Steuerersparnis zugrunde, die sich aufgrund der im Einkommensteuergesetz<br />
festgelegten Kinderfreibeträge (einschließlich <strong>des</strong> Erziehungsund<br />
Betreuungsfreibetrags) ergibt, so liegt das staatlich akzeptierte menschenwürdige<br />
Existenzminimum von Kindern noch deutlich höher. Nach gegenwärtiger Rechtslage<br />
muss also jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin mit Kindern einen Teil<br />
von deren Existenzminimum aus seinem/ihrem Nettoarbeitseinkommen bestreiten.<br />
Da dies bei den heutigen Niedriglöhnen nicht mehr möglich scheint, ist ein Lohnabstandsgebot,<br />
das sich an dem Referenzhaushalt einer fünfköpfigen Familie orientiert,<br />
überholt. Wenn überhaupt, kann ein Lohnabstandsgebot sich nur auf eine/n alleinstehende/n<br />
vollzeitbeschäftigte/n Arbeitnehmer/in in unteren Lohngruppen beziehen.<br />
Daher ist eine Aufhebung oder Änderung <strong>des</strong> § 28 Abs. 4 SGB XII erforderlich, wobei<br />
eine solche Reglung im SGB XII ohnehin deplatziert ist, wo es um Leistungen für<br />
nicht Erwerbsfähige geht.
11<br />
Ein angemessener gesetzlicher Min<strong>des</strong>tlohn würde für alleinstehende Arbeitnehmer/innen<br />
den Konflikt zwischen ausreichenden Arbeitsanreizen und einem menschenwürdigen<br />
Existenzminimum beseitigen. Der unterste Bereich der Lohnverteilung<br />
und die Leistungshöhe aller Grundsicherungssysteme wären aber erst dann<br />
konsistent gestaltet, wenn der Familienlastenausgleich das menschenwürdige Existenzminimum<br />
von Kindern voll decken würde. Diese Trias von Min<strong>des</strong>tlohn, Grundsicherung<br />
und existenzsicherndem Kinderlastenausgleich stellt eine Zukunftsaufgabe<br />
der Sozialpolitik dar.<br />
7 Ausblick<br />
Das Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht hat für die Entscheidung <strong>des</strong> Gesetzgebers über die<br />
Regelleistungen und Regelsätze <strong>des</strong> SGB II und XII nur eine kurze Frist bis zum<br />
31.12.2010 gesetzt. Daher stehen Bun<strong>des</strong>tag und Bun<strong>des</strong>rat unter starkem zeitlichem<br />
Druck, die von der Regierung <strong>vorgelegt</strong>en Zahlen zu übernehmen, obwohl berechtigte<br />
Zweifel bestehen, dass alle Vorgaben <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verfassungsgerichts für<br />
die <strong>Berechnung</strong> der Regelleistungen eingehalten wurden.<br />
Der „Frankfurter Arbeitskreis Armutsforschung“ regt daher an, dass eine Revisionsklausel<br />
in den Gesetzesbeschluss aufgenommen wird. Sie soll vorsehen, dass im<br />
Jahr 2011 weitere Alternativrechnungen unter Beachtung der Vorgaben <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verfassungsgerichts<br />
vorgenommen und die zunächst beschlossenen Regelleistungen<br />
revidiert werden können.<br />
Der Text ist abrufbar unter: www.diakonie-hessen-nassau.de<br />
Kontakt:<br />
Frankfurter Arbeitskreis Armutsforschung<br />
Prof. Dr. Franz Segbers<br />
Diakonisches Werk in Hessen und Nassau<br />
Ederstr. 12<br />
60486 Frankfurt / Main<br />
069 7947-242<br />
Franz.Segbers@dwhn.de