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poesie des verlierens - Schott Music

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kunst versus chaos<br />

Der Künstler als Grenzgänger<br />

zwischen Leben und Tod und als Bezwinger<br />

der Naturgesetze, so überliefern<br />

Ovid und Vergil den thrakischen<br />

Sänger. Seine Musik hat Macht, einen<br />

Fluss in seinem Lauf und Winde im<br />

Flug zu hemmen (Horaz), sein Leierspiel<br />

bringt Steine dazu, sich zum Bauwerk<br />

zusammenzufügen (Euripi<strong>des</strong>).<br />

Das frühe Christentum erblickt<br />

eine Analogie zum Heilsgeschehen:<br />

Während Orpheus wilde Tiere bezwingt,<br />

zähmt Christus das wil<strong>des</strong>te<br />

von ihnen, nämlich den Menschen.<br />

Wie Christus schlägt der Sänger die<br />

Brücke zwischen Leben und Tod. Das<br />

Kreuzesholz wird in frühchristlichen<br />

Zeugnissen oft als Leier bezeichnet.<br />

Heiligenlegenden wie die von Antonius,<br />

der den Fischen predigt, haben orphische<br />

Wurzeln. Die mittelalterliche Vagantenlyrik<br />

(Hugo von Orléans) integriert<br />

Orpheus und Eurydike in ihren<br />

Themenkanon als universale «love<br />

story» und postuliert die Emotion als<br />

Triebmoment der Überwindung existenzieller<br />

Gesetzmäßigkeiten.<br />

Erst die Renaissance entdeckt<br />

die orphische Trauer für sich. Der Verlust<br />

der Geliebten wird bei Dante und<br />

Petrarca zum dichterischen Leitmotiv.<br />

In der Divina Commedia steigt Dante<br />

– wie einst Orpheus – in die Unterwelt<br />

hinab, in Convivio fokussiert er die<br />

Macht <strong>des</strong> Musischen, das – quasi das<br />

Zepter der Zivilisation – die Grausamkeit<br />

wilder Herzen bezwingt. Orpheus<br />

besitzt «scienza ed arte» (Wissen und<br />

Können), er bringt ethische Erhellung<br />

in die Seelendüsternis. Ausgehend von<br />

Petrarcas Orpheus-Bild (der Sänger als<br />

Vertreter der Beredsamkeit) positioniert<br />

ihn Boccaccio im Traktat «De<br />

Genealogiis Deorum» als Vertreter der<br />

Weisheit und <strong>des</strong> Wohlklangs und<br />

nimmt damit eine für das Trecento und<br />

sein Zivilisationsbedürfnis typische<br />

geistesgeschichtliche Definition vor:<br />

Die Kunst ist in der Lage, eine Gegenwirklichkeit<br />

zum Chaos der Natur zu<br />

erzeugen. Dem Produkt <strong>des</strong> menschlichen<br />

Geistes hat sich alles Wilde und<br />

Triebhafte unterzuordnen.<br />

Orpheus stellt Stefano Landi in La<br />

Morte d’Orfeo (1619) aus, geht aber –<br />

wie auch die Orpheus-Opern von<br />

Herzog Anton Ulrich von Braunschweig<br />

(1659), Sartorio (1672) oder<br />

Lully (1690) – über die von Monteverdi<br />

gesteckten Grenzen nicht hinaus.<br />

Allegorien nehmen dem Stoff wieder<br />

die existenzielle Schärfe. Die Poesie<br />

<strong>des</strong> Verlierens steht über der Poetik<br />

<strong>des</strong> unabänderlichen Verlusts.<br />

In diesem Spannungsfeld erscheint<br />

Orfeo ed Euridice von Christoph<br />

Willibald Gluck (1762) als eine<br />

Art Synthese. Die Handlung setzt mit<br />

einem «hard cut» ein: Eurydike ist tot.<br />

Der Trauernde wird innerhalb eines<br />

monumentalen Totenrituals exponiert<br />

als Wesen, dem die Wurzeln seiner<br />

Existenz entzogen sind. Das Walten<br />

der Götter ist auf ein Minimum reduziert.<br />

Mehr dramatischen Raum erhält<br />

dagegen Orpheus’ Gang in die Unterwelt,<br />

die als psychischer Zustand<br />

begreifbar wird: Furien als Symbole<br />

der Angst, das Gefilde der Seligen als<br />

Ort <strong>des</strong> Einklangs. Nicht auf Geheiß<br />

der Götter kehrt Eurydike ins Leben<br />

zurück, sondern sie flieht mit Orpheus.<br />

Ihre Zweifel an seiner Liebe lassen ihn<br />

den tödlichen Blick werfen.<br />

An das Moment <strong>des</strong> Zweifels<br />

knüpft 1792 Jewstignei Ipatowitsch<br />

Fomins Melodrama Orfei an. Jedoch<br />

kein Deus ex machina biegt die Tragödie<br />

zum glücklichen Ende. Orpheus<br />

will sich das Leben nehmen, die Götter<br />

untersagen es ihm. Er will an den<br />

Ufern <strong>des</strong> Styx ausharren, bis er wieder<br />

mit Eurydike vereint ist, doch die<br />

Furien vertreiben ihn und behaupten<br />

selbst den Platz. Durch die Konzentration<br />

auf die mythologische Kernszene<br />

erscheint die Unterwelt als Spiegelbild<br />

von Orpheus’ Innenleben wie<br />

unter starker Vergrößerung. Gefühlsmomente<br />

dehnen sich aus, flüchtigste<br />

Regungen halten inne und werden<br />

betrachtbar. Der alles vernichtende<br />

Blick <strong>des</strong> Orpheus zurück ist weit<br />

mehr als ein Augenblick: Die Zeit hält<br />

inne; alle Tragik <strong>des</strong> Verlierens und<br />

aller Schmerz <strong>des</strong> Verlusts offenbaren<br />

sich. Orfei transferiert den Mythos<br />

zum Abbild <strong>des</strong> absolutistischen Herrarchetyp<br />

<strong>des</strong> verlusts<br />

Polizianos Fabula d’Orfeo (zwischen<br />

1471 und 1484 entstanden) ist<br />

Ausgangspunkt für Ottavio Rinuccinis<br />

Libretto zu Jacopo Peris Euridice<br />

(1600). Verweigert Poliziano den «Lieto<br />

fine», so passt sich Rinuccini den Gepflogenheiten<br />

höfischen Amüsements<br />

an: Orpheus und Eurydike erreichen<br />

unbeschadet die Oberwelt. Johann<br />

Joseph Fux beschreitet in Orfeo ed<br />

Euridice (1715) denselben Weg. Die<br />

Geschichte endet glücklich, die «Licenca»<br />

definiert die Handlung als Lobpreis<br />

der alles überwindenden Liebe<br />

und vergleicht Karl VI., zu <strong>des</strong>sen 30.<br />

Geburtstag das Werk aufgeführt wird,<br />

mit Jupiter, <strong>des</strong>sen Geburt im Stück<br />

Pluto zum Entscheid bewegt, Eurydike<br />

wieder ins Leben zu entlassen.<br />

Erst Claudio Monteverdis L’<br />

Orfeo (1607) schält den Stoff aus dem<br />

höfischen Rahmen. Orpheus befürchtet,<br />

die Furien könnten ihm Eurydike<br />

entreißen. Da wendet er sich um. Der<br />

Blick zurück wird zum irreversiblen<br />

Moment. Und somit existenziell. Zwar<br />

hat Orpheus die Natur, nicht aber<br />

seine Gefühle bezwungen. Die Diskrepanz<br />

zwischen virtute und affetto verurteilt<br />

ihn zum ewigen Verlust der<br />

Geliebten.<br />

Orpheus – Archetyp <strong>des</strong> Verlusts.<br />

Seine Existenz erschöpft sich in<br />

der pathologischen Wiederbeschwörung<br />

der Toten. Der Schmerz geht einher<br />

mit einer sukzessiven Trübung der<br />

Wahrnehmung. Orpheus verliert alle<br />

sozialen Bindungen, schließlich die<br />

existenzielle Orientierung und seine<br />

Persönlichkeit, indem er seine Leier<br />

und seinen Gesang der Toten opfert.<br />

Erst durch seine allegorische Aufnahme<br />

in den Himmel wird er mit<br />

Eurydike vereint und seiner freudlosen<br />

Existenz entbunden.<br />

<strong>poesie</strong> <strong>des</strong> <strong>verlierens</strong><br />

Monteverdi erschließt dem Mythos<br />

den menschlichen Aspekt, erdet<br />

den Stoff und begründet so den Topos<br />

menschlicher Trauer. Den trauernden<br />

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