TSCHERNOBYL - Magazin zur Atompolitik - Schul-Physik
TSCHERNOBYL - Magazin zur Atompolitik - Schul-Physik
TSCHERNOBYL - Magazin zur Atompolitik - Schul-Physik
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<strong>TSCHERNOBYL</strong><br />
<strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong><br />
Bundesumweltministerium<br />
Die schwierige<br />
Katastrophen-Bilanz<br />
Die nukleare Talfahrt<br />
Deutschland wird<br />
erneuerbar<br />
Schwarze Eier und<br />
Energiesparbücher
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
vor 20 Jahren, am 26. April 1986,<br />
ereignete sich die folgenschwerste<br />
Katastrophe in der Geschichte der<br />
zivilen Nutzung der Atomkraft: Der<br />
Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerkes<br />
Tschernobyl explodierte.<br />
Technische Unzulänglichkeiten<br />
und menschliche Fehlhandlungen<br />
hatten zu der Katastrophe geführt.<br />
Niemand hielt einen solchen<br />
Unfall damals für möglich. Für uns<br />
in Deutschland wurde schnell klar,<br />
wie groß die Gefahr war, als erste<br />
Warnungen ausgesprochen wurden:<br />
vor dem Verzehr von Milch,<br />
Wildfleisch oder Pilzen.<br />
Die Folgen des Atomunfalls reichen<br />
räumlich und zeitlich weit<br />
über das Jahr 1986 und über die<br />
Ukraine hinaus. 500 Millionen<br />
Europäer wurden mit radioaktivem<br />
Fallout berieselt. Viele Tausend<br />
Menschen starben und sterben<br />
noch an den Folgen der Strahlung,<br />
350.000 Menschen mussten<br />
evakuiert und umgesiedelt werden.<br />
Mit dem Blick auf den zerfetzten<br />
Reaktor und die radioaktiven<br />
Trümmer, die von „Liquidatoren“<br />
mit bloßen Händen eingesammelt<br />
wurden, schwand das letzte Vertrauen<br />
in die Zukunft der Atomindustrie.<br />
Tschernobyl wurde zum<br />
Symbol der energiepolitischen<br />
Wende. Die SPD beschloss noch<br />
1986 den Ausstieg aus der Atomenergie.<br />
Eine Reihe von Ländern<br />
stoppte ihre Atompläne oder verkündete<br />
Moratorien.<br />
20 Jahre danach stehen wir vor<br />
einer neuen energiepolitischen<br />
Herausforderung. Die Bekämpfung<br />
des weltweiten Klimawandels<br />
ist eine der zentralen Schlüsselfragen<br />
des 21. Jahrhunderts. Deshalb<br />
müssen wir einen zukunftsfähigen<br />
Energiemix auf die Beine stellen –<br />
weitgehend unabhängig von fossilen<br />
und nuklearen Energieträgern<br />
wie Öl, Gas und Uran. Einen Energiemix,<br />
der nukleare Risiken minimiert<br />
und keinen zusätzlichen<br />
Atommüll hinterlässt, denn diese<br />
strahlende Last muss für Zehntausende<br />
von Jahren von der Biosphäre<br />
abgeschlossen werden.<br />
Atomkraft macht uns unendlich<br />
verletzlich. Sie ist keine Zukunftstechnologie,<br />
sondern hemmt Investitionen<br />
in effiziente und erneuerbare<br />
Energietechnologien.<br />
Sie erschwert den Umstieg auf ein<br />
modernes Energiesystem und<br />
blockiert Innovationen.<br />
Erneuerbare Energien, Energieeffizienz<br />
und Energieeinsparung, dazu<br />
moderne, hocheffiziente und<br />
bald auch kohlendioxidfreie Gasund<br />
Kohlekraftwerke: Dieser Energiemix<br />
hat Zukunft. Und er sichert<br />
Arbeitsplätze. Deutschland ist auf<br />
dem Weltmarkt der erneuerbaren<br />
Energien, aber auch bei modernen<br />
Gas- und Dampfkraftwerken<br />
führend. Nutzen wir diese Chance.<br />
Dieses Jahrhundert gehört der<br />
Energieinnovation. Damit Deutschlands<br />
Energieerzeugung zukunftsfähig<br />
wird.<br />
Sigmar Gabriel<br />
Bundesminister für Umwelt,<br />
Naturschutz und Reaktorsicherheit<br />
2<br />
Tschernobyl <strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong>
Die schwierige Katastrophen-Bilanz<br />
Auch 20 Jahre nach Tschernobyl sind noch viele Fragen offen / Schilddrüsenkrebs bei Kindern bleibt<br />
auffälligstes Symptom / Mehr als 350.000 Menschen evakuiert und entwurzelt / Ein neuer<br />
Sarkophag wird gebaut<br />
Entwurzelung: Ein Mann wehrt sich<br />
gegen die Evakuierung.<br />
Unsere Kernkraftwerke stellen keinerlei<br />
Risiko dar. Man könnte sie sogar<br />
auf den Roten Platz bauen. Sie<br />
sind sicherer als unsere Samoware.<br />
(Anatoli Alexandrow, Akademie<br />
der Wissenschaften, 1979)<br />
Die Explosion von Tschernobyl am<br />
26. April 1986 wirbelte nicht nur<br />
die 3.000 Tonnen schwere Abdeckplatte<br />
des Reaktors durch die Luft.<br />
Sie zerstörte auch das letzte Vertrauen<br />
vieler Menschen in die<br />
Atomtechnologie. Das Bild des zerfetzten<br />
Reaktors hat sich tief in das<br />
Bewusstsein der Moderne eingegraben.<br />
Tschernobyl ist nicht nur<br />
der Ort der größten Industriekatastrophe,<br />
sondern auch Synonym<br />
für eine antiquierte Verschleierungs-<br />
und Geheimhaltungspolitik<br />
der ehemaligen Sowjetunion.<br />
Widersprüchliche Angaben<br />
Die Strahlenwolke von Tschernobyl<br />
steht zugleich für die weltumspannenden<br />
Gefahren der Atomenergie,<br />
deren Unfallfolgen sich nicht regional<br />
begrenzen lassen. Tschernobyl<br />
stürzte die Atomindustrie weltweit<br />
in ihre größte Legitimationskrise.<br />
Heute, 20 Jahre danach, werden<br />
noch einmal die Krebsopfer und<br />
Toten gezählt, die Evakuierten<br />
und Traumatisierten. Es ist eine<br />
schwierige Bilanz, weil zeitnah zu<br />
Tschernobyl auch die alte Sowjetunion<br />
zusammenbrach, mit dramatischen<br />
sozialen und wirtschaftlichen<br />
Auswirkungen, die nicht<br />
immer leicht zu trennen sind von<br />
den Folgen der Reaktorkatastrophe.<br />
Die Würde der Toten verlangt Aufrichtigkeit<br />
bei der Berechnung der<br />
Opfer. Doch es liegen viele widersprüchliche<br />
Angaben vor, und niemand<br />
weiß genau, wie viel radioaktives<br />
Inventar tatsächlich aus<br />
dem Reaktor geschleudert wurde.<br />
Die UN haben jetzt in ihrem gemeinsamen<br />
Report mit der Weltgesundheitsorganisation<br />
und der<br />
Internationalen Atomenergiebehörde<br />
IAEO die Zahl der Opfer auf<br />
4.000 für die Gruppe der höher<br />
belasteten Menschen geschätzt.<br />
Bei der großen Zahl der niedrig<br />
belasteten Personen in den kontaminierten<br />
Gebieten erwarten die<br />
UN zusätzlich 5.000 Opfer. Andere<br />
Organisationen sprechen von<br />
einer fünfstelligen Opferzahl. Eine<br />
endgültige Ziffer zu nennen ist<br />
schon deshalb problematisch, weil<br />
die gesundheitlichen Spätfolgen<br />
zum Teil erst nach Jahrzehnten<br />
sichtbar werden. Das Leid der Betroffenen<br />
lässt sich ohnehin nicht<br />
in nackten Zahlen ausdrücken.<br />
Tiefe traumatische Erfahrung<br />
Die Entwurzelung von Hunderttausenden,<br />
die evakuiert wurden,<br />
gehört zu den gravierendsten Folgen.<br />
In der Ukraine wurden in den<br />
ersten Monaten nach dem Unfall<br />
zunächst 75 Städte und Dörfer mit<br />
91.406 Menschen evakuiert, in<br />
Weißrussland waren es 108 Sied-<br />
<strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong> Tschernobyl 3
Zu den auffälligsten gesundheitlichen<br />
Folgen gehört der sprunghafte<br />
Anstieg der Erkrankungen an<br />
Schilddrüsenkrebs. Zwischen 1986<br />
und 2002 wurden bei Kindern und<br />
Jugendlichen in Weißrussland und<br />
der Ukraine 4.590 Fälle von Schilddrüsenkrebs<br />
registriert. Zum Vergleich:<br />
In den zehn Jahren vor<br />
1986 waren in Weißrussland nur<br />
sieben Fälle dieser bei Kindern extrem<br />
seltenen Krankheit registriert<br />
worden. Auch 20 Jahre nach Tschernobyl<br />
steigt die Zahl der Fälle weiter<br />
an.<br />
Die Überlebensrate der Krebskranken<br />
ist mit 99 Prozent sehr hoch,<br />
aber die radikalen Therapiekonzepte<br />
mit der Entfernung der<br />
Schilddrüse, der Lymphknoten und<br />
anschließender Bestrahlung sind<br />
für die Kinder eine deutliche Belastung.<br />
Die Gefahr von Stimmverlust<br />
und Heiserkeit, Verlust der Zeugungsfähigkeit<br />
sowie eine gewisse<br />
Wahrscheinlichkeit (30 Prozent),<br />
dass der Krebs erneut auftritt, können<br />
mit der Erkrankung und Behandlung<br />
verbunden sein.<br />
Warnung vor Radioaktivität<br />
lungen mit 24.725 Einwohnern. Später folgten weitere Umsiedlungen, so<br />
dass nach UN-Angaben mehr als 350.000 Menschen ihre Heimat verloren<br />
– „eine tiefe traumatische Erfahrung“. Die psychisch-seelischen Folgen<br />
werden in dem UN-Report als „das größte Gesundheitsproblem der<br />
Tschernobyl-Katastrophe“ bezeichnet.<br />
Die radioaktive Wolke von Tschernobyl führte in weiten Teilen Europas<br />
zu erhöhten radioaktiven Konzentrationen. In der Ukraine, in Weißrussland<br />
und Russland wurde eine Fläche von 146.000 Quadratkilometern<br />
– mehr als das Doppelte der Fläche Bayerns – mit einer Cäsium-<br />
Konzentration kontaminiert, die höher war als 37.000 Becquerel je Quadratmeter<br />
– der von den Behörden festgelegte Grenzwert der Zone 4.<br />
Hauptbetroffene sind Kinder und Aufräumarbeiter<br />
6,8 Millionen Menschen leben nach Angaben der UN gegenwärtig in<br />
Gebieten, die noch spürbar mit Radionukliden des Unfalls belastet sind,<br />
270.000 in Regionen, die „strikter Kontrolle“ unterliegen. Ängste und<br />
eine große Verunsicherung hindern sie daran, ein gesundes, produktives<br />
Leben zu führen, heißt es in dem UN-Report. Neben der direkten Strahlenwirkung<br />
fügt diese Strahlenangst den Betroffenen erhebliches Leid<br />
zu. Erhöhter Alkoholkonsum, höhere Selbstmordraten und Ausgrenzung<br />
der Strahlenopfer bestimmen den Alltag von vielen Menschen.<br />
Hauptbetroffene von Tschernobyl<br />
sind neben den Kindern die rund<br />
600.000 registrierten „Liquidatoren“<br />
oder Aufräumarbeiter. Sie haben,<br />
teilweise mit ihren Händen,<br />
die radioaktiven Trümmer beseitigt,<br />
den Reaktor nach Tunnelgrabungen<br />
durch eine Betonwanne<br />
von unten abgesichert und später<br />
auch den Sarkophag gebaut. Auf<br />
dem Dach des Reaktors haben sie<br />
Graphitbrocken und radioaktiven<br />
Schutt beseitigt – im Rhythmus von<br />
40 Sekunden für jeden Arbeiter.<br />
Da die Aufräumarbeiter aus der<br />
gesamten Sowjetunion zusammengezogen<br />
wurden und heute verstreut<br />
in verschiedenen Nationalstaaten<br />
leben, ist eine seriöse Überwachung<br />
ihrer Gesundheit schwierig.<br />
Studien berichten über eine<br />
erhöhte Leukämie- und Krebsrate<br />
bei Aufräumarbeitern, die höhe-<br />
4<br />
Tschernobyl <strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong>
Ein „Sarkophag“ aus Stahl und<br />
Beton ummantelt den Reaktorblock<br />
4 des Atomkraftwerks Tschernobyl.<br />
ren Dosen ausgesetzt waren. Der<br />
UN-Report schätzt, dass 2.200<br />
Liquidatoren an den Folgen des<br />
Unfalls sterben werden. 47 Menschen,<br />
vor allem Reaktorpersonal,<br />
sind unmittelbar nach der Katastrophe<br />
an akuter Strahlenkrankheit<br />
gestorben, drei Mitarbeiter<br />
starben infolge ihrer schweren Unfallverletzungen<br />
durch die Explosion<br />
des Atomkraftwerks.<br />
Ein zweiter Sarkophag<br />
Schon wenige Wochen nach dem<br />
Unfall begannen Spezialkräfte, unter<br />
großem zeitlichen Druck und<br />
schwierigsten Bedingungen einen<br />
Beton- und Stahlsarg um den<br />
explodierten Reaktor zu bauen –<br />
den berühmten Sarkophag. Er war<br />
als Schutzhülle für 30 Jahre konzipiert<br />
und wurde im Oktober 1986<br />
fertig gestellt. Die Bauteile des Betonsargs<br />
wurden wegen der massiven<br />
Strahlung teilweise fernbedient<br />
montiert und konnten nicht<br />
immer präzise ihre Position erreichen.<br />
Viele Teile sind nicht verschraubt<br />
oder geschweißt, sondern<br />
lediglich aufeinander gesetzt. Bisher<br />
hat der Sarkophag standgehalten,<br />
seine Stabilität wird aber als<br />
kritisch angesehen.<br />
Ende 2008 soll deshalb über den<br />
Sarkophag eine riesige zweite<br />
Stahlhaut gezogen werden. „New<br />
Safe Confinement“ (neue, sichere<br />
Einschließung) nennen die Ingenieure<br />
die 250 Meter breite und<br />
100 Meter hohe bogenförmige<br />
Halle, die für eine Lebensdauer<br />
von 100 Jahren den Reaktor samt<br />
Sarkophag von der Umwelt isolieren<br />
soll. Der von einer internationalen<br />
Expertengruppe aufgestellte<br />
Tschernobyl-Schutzplan sieht außerdem<br />
vor, etwa <strong>zur</strong> Jahrhundertmitte<br />
den alten Sarkophag <strong>zur</strong>ückzubauen<br />
und mit der Bergung des<br />
radioaktiven Inventars zu beginnen.<br />
Die Kosten für die zusätzlichen<br />
Schutzmaßnahmen liegen<br />
bei 860 Millionen Euro.<br />
Deutsche Unterstützung<br />
Die Bundesrepublik hat sich im<br />
Rahmen der G7/8, der EU und der<br />
deutsch-französischen Initiative<br />
immer wieder für die Sicherheit in<br />
Tschernobyl und die Stilllegung<br />
aller Tschernobyl-Reaktoren enga-<br />
giert. Bundesumweltminister Sigmar<br />
Gabriel hat kürzlich weitere 12,4<br />
Millionen Euro <strong>zur</strong> Sicherung des<br />
Sarkophags bereitgestellt. Damit<br />
erhöhen sich die deutschen Beiträge<br />
in den Tschernobyl-Schutz-Fonds<br />
auf 60,5 Millionen Euro. Außerdem<br />
trägt Deutschland rund 28<br />
Prozent des EU-Beitrags von knapp<br />
240 Millionen Euro und ist damit<br />
eines der größten Geberländer.<br />
Die Region und ihre Menschen sind<br />
auch künftig auf Unterstützung<br />
angewiesen, zumal die existenzielle<br />
Not ebenfalls zu den Spätfolgen von<br />
Tschernobyl gehört. Agrarprodukte<br />
aus dieser sehr ländlichen Region<br />
sind nur schwer verkäuflich.<br />
784.000 Hektar sind aus der Produktion<br />
genommen worden. Aber<br />
selbst dort, wo die Landwirtschaft<br />
sicher ist, führt das Stigma Tschernobyl<br />
zu Marketingproblemen<br />
und sinkenden Einkünften. Und<br />
außerhalb der Landwirtschaft existieren<br />
kaum Arbeitsplätze. Zudem<br />
ist die junge Bevölkerung abgewandert.<br />
So bleibt die Armut,<br />
neben vielen anderen, eines der<br />
schlimmsten Probleme.<br />
Heimkehrerin: Trotz der hohen Strahlung kehren vor allem alte Menschen in<br />
ihre Heimat <strong>zur</strong>ück.<br />
<strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong> Tschernobyl 5
Die nukleare Talfahrt<br />
Atomkraftwerke bleiben teure Risikotechnologie / Zahl der nuklearen Stromfabriken stagniert /<br />
Fakten sprechen gegen Renaissance der Atomenergie<br />
phen in Windscale (1957), Harrisburg<br />
(1979) und Tschernobyl (1986),<br />
hat dafür gesorgt, dass sich die<br />
Energie aus gespaltenen Urankernen<br />
nie durchsetzen konnte.<br />
Kontrollraum im Reaktorblock 4 des AKW Tschernobyl, aufgenommen 2001*<br />
Atomenergie war der Zukunftsentwurf<br />
der fünfziger Jahre. Sie sollte<br />
Wüsten erblühen lassen und die<br />
Arktis bewohnbar machen. Sie<br />
sollte der Menschheit Atomflugzeuge<br />
und Autos mit Nuklearantrieb<br />
schenken. Sie sollte universell<br />
verfügbar sein und so billig, dass<br />
der Stromzähler abmontiert wird.<br />
Ein halbes Jahrhundert und drei<br />
Atomkatastrophen später sind diese<br />
Träume zerplatzt. Trotz milliardenschwerer<br />
Subventionen über Jahrzehnte<br />
hält die Atomenergie weltweit<br />
nur einen bescheidenen Anteil<br />
von sechs Prozent am Primärenergieverbrauch.<br />
Nur 31 von 191 Nationen<br />
verfügen über Atomkraftwerke,<br />
in nur fünf Staaten stehen mehr als<br />
zwei Drittel der globalen Kapazität<br />
von weltweit 443 Reaktoren.<br />
Der Rechenstift entscheidet<br />
Zugebaut wurde vor allem in Asien.<br />
In Westeuropa und den USA ist der<br />
* Das Foto ist bis 26. Juni 2006 zu<br />
sehen im Rahmen der Ausstellung<br />
„Robert Polidori – Fotografien“ im<br />
Martin-Gropius-Bau in Berlin.<br />
Ausbau der nuklearen Stromfabriken<br />
fast vollständig zum Erliegen gekommen.<br />
US-Stromversorger haben<br />
ihr letztes Atomkraftwerk 1973 bestellt.<br />
In Europa ist seit 1986 nur ein<br />
einziger Meiler geordert worden:<br />
der Reaktor Olkiluoto 3 in Finnland.<br />
Wer nach den Gründen für den<br />
abrupten Bruch des Atombooms<br />
der sechziger und siebziger Jahre<br />
fragt, wird vor allem in den kaufmännischen<br />
Bilanzen fündig. Neben<br />
heftigen Protesten, Entsorgungsnöten,<br />
Atomwaffenrisiken und vor<br />
allem dem erheblichem Unfallpotenzial<br />
war der Rechenstift entscheidend.<br />
Die Internationale Energieagentur<br />
(IEA) kalkuliert für neue<br />
Atomkraftwerke Kapitalkosten von<br />
2.000 Dollar je Kilowatt (KW) Leistung.<br />
Moderne Erdgaskraftwerke<br />
kosten nur 500 Dollar/KW. Die günstigeren<br />
Betriebskosten der Atommeiler<br />
allein können die finanziellen,<br />
technologischen und politischen<br />
Risiken nicht wettmachen.<br />
Die ökonomische Misere, verbunden<br />
mit den historischen Katastro-<br />
Atomprojekte werden aufgegeben<br />
Bereits Mitte und Ende der siebziger<br />
Jahre waren in den USA, dem<br />
wichtigsten Energiemarkt der Welt,<br />
die Versorger aus der Nuklearenergie<br />
geflüchtet. Mehr als die Hälfte<br />
der Atomprojekte wurden aufgegeben<br />
– unter großen Verlusten.<br />
Das Wirtschaftsmagazin „Forbes“<br />
sprach vom „größten Desaster der<br />
Wirtschaftsgeschichte“ und verglich<br />
das „Atomabenteuer“ mit<br />
dem Vietnamkrieg. Viele Industriestaaten<br />
folgten dem amerikanischen<br />
Beispiel.<br />
Die Stromindustrie hat zwischen<br />
1999 und 2002 in den USA neue<br />
Kraftwerke mit der gewaltigen Leistung<br />
von 144.000 Megawatt ans<br />
Netz genommen. Das entspricht<br />
mehr als 100 großen Atommeilern.<br />
Doch es befand sich kein einziges<br />
Atomkraftwerk darunter. Die Energieberater<br />
der US-Regierung schreiben<br />
in ihrem „Energie-Ausblick<br />
2005“ im Referenzszenario: „Es<br />
wird nicht erwartet, dass bis 2025<br />
neue Nuklear-Reaktoren ans Netz<br />
gehen.“<br />
Zu den hohen Kapitalkosten addieren<br />
sich unkalkulierbare technologische<br />
und politische Risiken. So rückte<br />
nach den Attentaten des 11. September<br />
die Gefahr eines gezielten<br />
Flugzeugabsturzes auf Atomkraftwerke<br />
in den Blickpunkt. Auch die<br />
Haftungsfrage hat sich verschärft.<br />
Und ein einziger schwerer Unfall<br />
kann die gesamte Atomindustrie in<br />
eine neue Legitimationskrise stürzen<br />
– egal, wo der Unfall passiert.<br />
6<br />
Tschernobyl <strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong>
Unkalkulierbare Risiken<br />
Schon Harrisburg und Tschernobyl<br />
hatten die Sicherheitskonzepte<br />
umgekrempelt. Die Kosten galoppierten,<br />
die Bauzeiten wurden<br />
immer länger: In den sechziger<br />
Jahren vergingen in den USA weniger<br />
als fünf Jahre, bis ein Meiler<br />
fertig gestellt war, für den Zeitraum<br />
ab 1984 dauerte es im<br />
Schnitt zwölf Jahre. Gift für eine<br />
Branche, die auf schnellen Kapital-<br />
Rückfluss fixiert ist. Jetzt setzen<br />
die Betreiber auf längere Laufzeiten.<br />
Die Flucht in Laufzeitverlängerungen<br />
ändert aber nichts an<br />
der grundsätzlichen Skepsis der<br />
Energieversorger gegenüber neuen<br />
Atom-Investments. Stattdessen<br />
soll mit veralteten, technisch überholten<br />
Reaktoren möglichst lange<br />
Geld verdient werden.<br />
Verlängerte Laufzeiten verzögern<br />
zugleich das sprichwörtliche „dicke<br />
Ende des Atomzeitalters“. Gemeint<br />
sind Stilllegung und Abriss der<br />
großen Atommeiler. Ihr Abwracken<br />
könnte zu einem neuen dramatischen<br />
Kostenschub führen.<br />
Leonardo Maugeri, Vizepräsident<br />
des Energiekonzerns Eni, schrieb<br />
im <strong>Magazin</strong> „Newsweek“: „Ein<br />
Atomkraftwerk zu schließen kostet<br />
ungefähr dasselbe, wie es zu errichten;<br />
das ist der Grund, warum die<br />
Betreiber weltweit versuchen, die<br />
Stilllegungen hinauszuzögern.“<br />
Auch die Internationale Energieagentur<br />
(IEA) ist besorgt: Der Rückbau<br />
der Riesenblöcke könne unvorhersehbare<br />
Probleme mit sich<br />
bringen. Die Situation sei „ähnlich<br />
wie in der Frühzeit beim Bau der<br />
ersten Reaktoren“.<br />
Technologie ohne Zukunft<br />
Inzwischen steigt das Durchschnittsalter<br />
des weltweiten Reaktorparks.<br />
79 Kraftwerke sind bereits<br />
seit mehr als 30 Jahren am<br />
Netz. Um die Zahl der Atommeiler<br />
auch nur konstant zu halten,<br />
müsste in den nächsten beiden Dekaden<br />
ein sprunghafter Zubau<br />
erfolgen. Der ist nicht erkennbar.<br />
Selbst die Prognosen der Internationalen<br />
Atomenergiebehörde IAEO<br />
werden kleinlauter. Immer wieder<br />
hatte sie ein goldenes Atomzeitalter<br />
heraufdämmern sehen, immer<br />
wieder entlarvte die Realität<br />
ihre Hochrechnungen als schieres<br />
Wunschdenken. Bis zum magischen<br />
Jahr 2000 sollten 4.500 Gigawatt<br />
in Betrieb sein – zwölfmal<br />
so viel, wie heute tatsächlich am<br />
Netz sind. Die aktuellen Vorhersagen<br />
sind wenig euphorisch: „Die<br />
Zukunft der Atomenergie hängt<br />
davon ab, ob die wirtschaftliche<br />
Wettbewerbsfähigkeit, ob Management<br />
und Lagerung des Atommülls<br />
sowie die Sicherheit verbessert<br />
und die Proliferationsrisiken<br />
reduziert werden können“, heißt<br />
es im Jahresbericht 2004 ungewohnt<br />
selbstkritisch.<br />
Gleichwohl wird jedes neue<br />
Atomkraftwerk, das in Indien oder<br />
China gebaut werden soll, stürmisch<br />
begrüßt und eine „Atom-Renaissance“<br />
beschworen. Doch der<br />
Blick in die Kraftwerksstatistik<br />
zeigt die nackte Wirklichkeit. Die<br />
wichtigste Zutat einer Renaissance<br />
fehlt: der reale Zubau neuer Reaktoren.<br />
Die Zahl der Atomkraftwerke<br />
stagniert seit Ende der achtziger<br />
Jahre, die Zahl der im Bau<br />
befindlichen Meiler geht sogar<br />
<strong>zur</strong>ück: 1990 waren weltweit noch<br />
83 Reaktoren im Bau, 1998 waren<br />
es noch 36, heute sind es 25.<br />
<strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong> Tschernobyl 7
Deutschland wird erneuerbar<br />
Sonne, Wind und Biokraftstoffe geben Gas / Wachstumssprünge in der Branche sichern 170.000<br />
Arbeitsplätze / 83 Millionen Tonnen Kohlendioxid vermieden<br />
Solarstromanlage<br />
Sie waren die Börsenstars des Jahres<br />
2005, und sie galten auch zu Beginn<br />
dieses Jahres als heißeste Wette<br />
am deutschen Aktienmarkt. Solaraktien<br />
haben Flügel bekommen.<br />
Mittelständische Unternehmen wie<br />
„Solarworld“ – 1998 gegründet,<br />
heute drittgrößter Solarhersteller<br />
der Welt – haben sich innerhalb<br />
weniger Jahre zu global aufgestellten<br />
Konzernen gemausert, die Milliardenumsätze<br />
anpeilen. Die Branche<br />
boomt. Das gilt auch für Wind,<br />
Biomasse oder Biokraftstoffe. Der<br />
gesamte Sektor der erneuerbaren<br />
Energien hat sich zu einem Wachstums-<br />
und Jobmotor entwickelt mit<br />
einer Dynamik, die staunen macht.<br />
Die Deutsche Bank vergleicht die<br />
Situation auf dem Solarmarkt mit<br />
dem Durchbruch der Autoindustrie<br />
in den zwanziger Jahren.<br />
Von Jahr zu Jahr günstiger<br />
Die Energiequellen der Zukunft<br />
sind die natürlichen Energieströme<br />
der Sonne, die Kraft der Gezeiten<br />
und die Wärme aus dem Inneren<br />
unseres Erdballs. In diesen „Brennstoffen“<br />
stecken keine Klimagefahren<br />
und kein Atommüll. Erneuerbare<br />
Energien stehen dauerhaft <strong>zur</strong><br />
Verfügung, sie können im Einklang<br />
mit Natur und Umwelt genutzt werden.<br />
Sie machen uns unabhängig<br />
von fossilen und nuklearen Energiequellen,<br />
deren Ende absehbar<br />
und deren Preisentwicklung kaum<br />
beeinflussbar ist. Und im Gegensatz<br />
zu fossilen und nuklearen Energien<br />
werden sie jedes Jahr günstiger.<br />
Noch ist ihr Anteil am Primärenergieverbrauch<br />
in Deutschland mit<br />
rund 4,6 Prozent relativ bescheiden.<br />
Aber er steigt rasant, die Potenziale<br />
sind gewaltig. Bis 2020 sollen<br />
mindestens zehn Prozent des<br />
gesamten Energieverbrauchs aus<br />
erneuerbaren Quellen kommen. Bis<br />
Mitte des Jahrhunderts sollen sie<br />
sogar die Hälfte des gesamten Ver-<br />
brauchs decken. Bei der Stromversorgung<br />
soll ihr Anteil bis 2020<br />
auf mindestens 20 Prozent steigen.<br />
Auch Energieriesen wie Shell und<br />
BP streben weltweit einen Anteil<br />
dieser Energieträger von 50 Prozent<br />
bis <strong>zur</strong> Jahrhundertmitte an.<br />
Millionen Tonnen CO 2 eingespart<br />
Mit den drei Elementen der Energiewende,<br />
der deutlichen Verringerung<br />
des Energieverbrauches durch<br />
mehr Effizienz und energisches<br />
Energiesparen sowie dem massiven<br />
Ausbau der erneuerbaren Energien,<br />
können die beiden großen<br />
umweltpolitischen Ziele erreicht<br />
werden: auf die Nutzung der Atomenergie<br />
zu verzichten und dennoch<br />
bis Mitte des Jahrhunderts den Ausstoß<br />
von Treibhausgasen stark zu<br />
reduzieren. Allein im vergangenen<br />
Jahr haben die erneuerbaren Energien<br />
den CO 2 -Ausstoß um 83 Millionen<br />
Tonnen gesenkt. Eine neue<br />
Bestmarke.<br />
8<br />
Tschernobyl <strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong>
170.000 Arbeitsplätze<br />
Deutschland ist Spitzenreiter auf<br />
dem wachstumsstarken Markt<br />
der erneuerbaren Energien. 2005<br />
erzielte die Branche einen Umsatz<br />
von 16 Milliarden Euro. Und<br />
noch wichtiger: Sie beschäftigt<br />
fast 170.000 Menschen. Sowohl<br />
bei der Fotovoltaik als auch bei<br />
der Windkraft dürfen wir die<br />
weltweite technologische Marktführerschaft<br />
beanspruchen. Das<br />
bietet beste Chancen für Exportgeschäfte<br />
mit dem Charme umweltfreundlicher<br />
Technologien.<br />
Sehen wir uns die Entwicklung<br />
genauer an.<br />
Sonne<br />
Schon 2004 lag die Bundesrepublik<br />
mit einem Zubau von 450 Megawatt<br />
(2003: 150 MW) bei der<br />
Fotovoltaik erstmals vor Japan.<br />
2005 wurden rund 600 Megawatt<br />
neu in Betrieb genommen. Damit<br />
sind in Deutschland Fotovoltaikanlagen<br />
mit einer Leistung von mehr<br />
als 1.400 Megawatt am Netz. Der<br />
Markt für Solarkollektoren hat in<br />
der Bundesrepublik um fast 30<br />
Prozent zugelegt. 950.000 Quadratmeter<br />
neu installierte Kollektorfläche<br />
sind 2005 dazugekommen<br />
(2004: 750.000).<br />
Wind<br />
2.020 Megawatt im vergangenen<br />
Jahr entspricht der Leistung von<br />
zwei großen Atomkraftwerken.<br />
Zum Vergleich: Das 2003 stillgelegte<br />
Atomkraftwerk Stade hatte eine<br />
Leistung von 672 Megawatt. Auf<br />
deutschem Festland wird die Zahl<br />
neu errichteter Windräder <strong>zur</strong>ückgehen,<br />
denn viele der besonders<br />
geeigneten Standorte werden bereits<br />
genutzt. Dafür kommt der<br />
Ausbau auf hoher See („Offshore“)<br />
voran. Seit 14. Februar produziert<br />
vor Rostock Deutschlands erste Offshore-Windkraftanlage<br />
Strom für<br />
1.800 Haushalte. Gleichzeitig werden<br />
die deutschen Windmüller im<br />
Export immer stärker. Konzerne<br />
wie Enercon, Nordex oder Repower<br />
erhalten inzwischen mehr als die<br />
Hälfte ihrer Aufträge aus dem<br />
Ausland, sie verkaufen Windräder<br />
rund um die Welt. Unter den Top<br />
Ten der erfolgreichsten Windkraftfirmen<br />
befinden sich vier deutsche<br />
Hersteller. Auch hier haben sich<br />
mittelständische Unternehmen zu<br />
Global Playern gemausert.<br />
Biokraftstoffe und Biogas<br />
Immer mehr Fahrer füllen Rapsöl<br />
und andere nachwachsende Rohstoffe<br />
in den Tank. Der Absatz von<br />
Biokraftstoffen stieg 2005 von 1,1<br />
auf 2 Millionen Tonnen. Neue Herstellungskapazitäten<br />
gingen in Betrieb,<br />
und die Steuerbefreiung sorgte<br />
für den richtigen Anschub. Der<br />
Einsatz von Biomasse in der Stromerzeugung<br />
legte ebenfalls kräftig<br />
zu. Im Jahr 2005 kamen rund zehn<br />
Milliarden Kilowattstunden (2004:<br />
7,4 Milliarden) aus Biomasse. Besonders<br />
stark zugenommen hat die<br />
Verstromung aus Biogas, die sich<br />
mehr als verdoppelte.<br />
Lob aus Brüssel<br />
Der entscheidende Durchbruch für<br />
Sonne, Wind und Biomasse kam<br />
vom Erneuerbare-Energien-Gesetz<br />
(EEG). Seine Regelungen <strong>zur</strong> Stromeinspeisung<br />
sind die effektivste und<br />
preiswerteste Methode, um den<br />
Ausbau der Erneuerbaren zu fördern.<br />
Dies ist das Ergebnis einer<br />
Untersuchung der EU-Kommission.<br />
Sie hat Deutschland für seine<br />
Vorreiterrolle ausdrücklich gelobt.<br />
Von den 25 EU-Mitgliedstaaten orientieren<br />
sich bereits 17 an unserem<br />
Gesetz und fördern nach deutschem<br />
Vorbild den Ausbau durch<br />
entsprechende Vergütungen des<br />
eingespeisten Stroms.<br />
<strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong> Tschernobyl 9
Schwarze Eier und Energiesparbücher<br />
Ukrainische und deutsche Design- und Kunststudenten präsentieren ihre Arbeiten zu Tschernobyl /<br />
Kulturprogramm und Energietagung zum Jahrestag<br />
Spurensuche in einer verlassenen<br />
Stadt: Die ukrainische Kunststudentin<br />
Alexandra Samokhina lässt<br />
in ihrem Projekt einen virtuellen<br />
„Helden“ durch leere Straßen laufen.<br />
Die Struktur der Stadt ist<br />
unverändert, es gibt sogar noch<br />
Aufzeichnungen von Temperatur,<br />
Niederschlag und Luftfeuchtigkeit.<br />
Nur die Menschen fehlen. Mehr als<br />
350.000 Einwohner sind nach der<br />
Tschernobyl-Katastrophe evakuiert<br />
worden, fast 200 Städte und Dörfer<br />
wurden aufgegeben.<br />
Comics, Plakate, Videoclips<br />
Evgenia Khomenko bemalt Ostereier,<br />
ein Brauch, der die Ukraine<br />
mit Deutschland verbindet. Nur:<br />
Ihre Eier sind schwarz, tragen den<br />
Namen Tschernobyl oder sind mit<br />
gelben, teilweise verfremdeten Radioaktivitätszeichen<br />
geschmückt,<br />
die uns förmlich ins Gesicht springen.<br />
Heimeliges Brauchtum wird<br />
<strong>zur</strong> verstörenden Aktion. Die Berliner<br />
Designstudenten Charlotte<br />
Kasche und Andreas Dimmler haben<br />
die Sperrzonen von Tschernobyl<br />
auf den Berliner Stadtplan<br />
übertragen. Antje Heyn hat ein<br />
Arbeit von Studierenden aus Charkiw<br />
Arbeit von Studierenden aus Charkiw<br />
Energiesparbuch erfunden, Malte<br />
Euler einen Videoclip komponiert:<br />
Ein junger Mann rast mit röhrendem<br />
Sportwagen durch die Landschaft.<br />
Bis plötzlich der Tank leer<br />
ist. Die Befüllung mit „Bio-Diesel“<br />
organisiert er auf ebenso originelle<br />
wie natürliche Art und Weise.<br />
Mehr wird nicht verraten.<br />
Die Arbeiten sind alle Teil eines<br />
ungewöhnlichen Projekts: Designund<br />
Kunststudenten der Kunsthochschule<br />
Berlin-Weißensee und<br />
der ukrainischen Stadt Charkiw,<br />
des Zentrums der Liquidatorenbewegung,<br />
haben sich ein Semester<br />
lang mit Tschernobyl beschäftigt,<br />
mit Energie- und Klimapolitik und<br />
uns Menschen. Sie haben sich<br />
wechselseitig besucht und ausgetauscht.<br />
Ihre künstlerischen Arbeiten<br />
sind noch bis zum 30. April im<br />
Berliner Kunsthaus „Tacheles“ zu<br />
sehen: „Visual Energy. Nach Tschernobyl<br />
– Ressourcen, Energien und<br />
wir.“ Carola Dürr, Leiterin der Europäischen<br />
Ost-West-Akademie für<br />
Kultur und Medien und Initiatorin<br />
der ukrainisch-deutschen Kunstwerkstatt,<br />
glaubt, dass Kunst „helfen<br />
kann, das Unfassbare fassbar<br />
zu machen, erst recht bei einer Katastrophe,<br />
wo es kaum verlässliche<br />
Angaben zu den Folgen und der<br />
Zahl der Opfer gibt.“<br />
10<br />
Tschernobyl <strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong>
Heiter und verspielt<br />
Die studentischen Arbeiten zeigen<br />
Plakate und Bücher, Kinospots,<br />
Comics, Lehrfilme, Web-Seiten<br />
und Videoclips. Aber auch Installationen<br />
und Animationsprojekte<br />
wurden konzipiert. Als „Happening“<br />
sieht Yurek Yakubow seinen<br />
Entwurf: Er streut frisch gemähtes<br />
Gras als schmalen Grünstreifen<br />
quer über belebte Plätze und Straßen.<br />
Yakubow will „Natur <strong>zur</strong>ückbringen“.<br />
Natur ist auch in den<br />
Arbeiten der Berliner Studenten<br />
ein Hauptdarsteller, die Arbeiten<br />
gehen weit über die enge Tschernobyl-Thematik<br />
hinaus. Und sie<br />
sind oft erstaunlich heiter und verspielt.<br />
Die ukrainischen Studenten<br />
orientierten sich enger an der<br />
Reaktorkatastrophe, man spürt die<br />
räumliche Nähe zu Tschernobyl.<br />
Im Tschernobyl-Museum in Kiew, fotografiert von Luca Bogoni<br />
Seit 1986 haben Künstler und<br />
Kulturschaffende immer wieder<br />
versucht, sich der Katastrophe von<br />
Tschernobyl zu nähern: Der 20.<br />
Jahrestag ist jetzt Anlass für eine<br />
Zwischenbilanz. Das Bundesumweltministerium<br />
hat mit mehreren<br />
Partnern eine Veranstaltungsreihe<br />
konzipiert. „Tschernobyl +20<br />
Kultur“ heißt das künstlerische<br />
Dach, unter dem neben den Studenten<br />
aus Charkiw und Berlin<br />
weitere Künstler, Fotografen,<br />
Schauspieler und Schriftsteller<br />
Arbeit von Studierenden aus Berlin<br />
ihre Arbeiten präsentieren, darunter<br />
Lesungen, Hörstücke, Performance-Aktionen,<br />
Foto-Ausstellungen<br />
und Dokumentarfilme. Daneben<br />
finden wissenschaftliche Tagungen<br />
und auch eine Schüler-Uni<br />
statt, die einen ungewöhnlich gro-<br />
Umfrage:<br />
Atomkraftwerke<br />
sind ziemlich uncool<br />
20 Jahre Tschernobyl: Was wissen<br />
eigentlich Kinder und Jugendliche,<br />
die nach 1986 auf die Welt<br />
kamen, über die Reaktorkatastrophe.<br />
Und wie stehen sie <strong>zur</strong> Atomenergie?<br />
Eine repräsentative Umfrage<br />
von „Forsa“ bei Jugendlichen<br />
zwischen 12 und 16 Jahren brachte<br />
Erstaunliches zutage.<br />
Nur jeder dritte Jugendliche weiß,<br />
wofür der Name „Tschernobyl“<br />
steht und was dort passiert ist. Von<br />
den 12-Jährigen wissen sogar nur<br />
elf Prozent Bescheid, von den 16-<br />
Jährigen immerhin 59 Prozent.<br />
Ostdeutsche Jugendliche sind etwas<br />
besser informiert als westdeutsche.<br />
Zwischen denen, die Bescheid<br />
wissen, und denen, die mit<br />
dem Begriff Tschernobyl nichts<br />
anfangen können, zeigen sich<br />
ßen Ansturm ausgelöst hat. Die<br />
Universitätsvorlesung „20 Jahre<br />
Tschernobyl“ lief während des<br />
Wintersemesters an der Freien<br />
Universität Berlin.<br />
Weitere Informationen:<br />
www.tschernobyl2006.de<br />
allerdings keine Unterschiede bei<br />
der Einschätzung des Risikopotenzials<br />
von Atomkraftwerken. Die Jugendlichen<br />
haben dazu und <strong>zur</strong><br />
Entsorgungsfrage eine deutlich<br />
kritische Meinung: Zwei Drittel<br />
der Befragten glauben, dass Atomkraftwerke<br />
heute zwar sicherer als<br />
vor 20 Jahren sind, sie halten aber<br />
das Risiko weiterhin für zu hoch.<br />
Mädchen haben stärkere Sicherheitsbedenken<br />
als Jungen.<br />
Die große Mehrheit der Jugendlichen<br />
meint, das Tempo des Atomausstiegs<br />
sollte beibehalten (45<br />
Prozent) oder noch beschleunigt<br />
werden (36 Prozent). Nur zehn<br />
Prozent sprechen sich gegen den<br />
Atomausstieg aus. Dagegen haben<br />
47 Prozent der Jugendlichen Angst,<br />
dass ihrer Generation durch Atomenergie<br />
und Atommüll Probleme<br />
aufgebürdet werden, die sie später<br />
nicht mehr lösen können.<br />
<strong>Magazin</strong> <strong>zur</strong> <strong>Atompolitik</strong> Tschernobyl 11
„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen<br />
Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen ...“<br />
Grundgesetz, Artikel 20 A<br />
Impressum<br />
Herausgeber:<br />
Text:<br />
Redaktion:<br />
Fachl. Durchsicht:<br />
Gestaltung:<br />
Druck:<br />
Bildrechte:<br />
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU)<br />
Referat Öffentlichkeitsarbeit<br />
D-11055 Berlin<br />
E-Mail: service@bmu.bund.de<br />
Internet: www.bmu.de<br />
Journalistenbüro Contrapunkt, Berlin<br />
Alexandra Liebing, Ingrid Müller, Jürgen <strong>Schul</strong>z (alle BMU)<br />
Uwe Büsgen, Regina Raguse (beide BMU)<br />
heimbüchel pr, Berlin<br />
Bonifatius, Paderborn<br />
Titelseite: Ullstein/Nowosti, Strahlenmessungen auf dem Gelände des<br />
Atomkraftwerkes Tschernobyl, 1986<br />
Seite 2: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit<br />
Seite 3: Verlag Antje Kunstmann/Igor Kostin<br />
Seite 4: Adim Pohl/Das Fotoarchiv<br />
Seite 5 oben: dpa-Fotoreport<br />
Seite 5 unten: Caroline Penn/Corbis<br />
Seite 6: Robert Polidori<br />
Seite 7 oben: Ulrich Baumgarten/vario-press<br />
Seite 7 unten: BMU/Brigitte Hiss<br />
Seite 8: Paul Langrock<br />
Seite 9 oben: Paul Langrock<br />
Seite 9 unten: plainpicture/Olma. G.<br />
Seite 10 oben: Deregus<br />
Seite 10 unten: Evgenija Khomenko<br />
Seite 11 oben: Foto Museum von Luca Bogoni<br />
Seite 11 unten: Fides Maria Sigeneger<br />
Stand: März 2006<br />
1. Auflage: 1.450.000 Stück<br />
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