Worin unsere Stärke besteht - Nord-Süd-Netz
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Gewerkschaftspolitik<br />
<strong>Worin</strong> <strong>unsere</strong> Stärke <strong>besteht</strong> –<br />
Weltweite Kooperationen in Zeiten der Globalisierung<br />
DGB BILDUNGSWERK 1
Solidarität heißt Interessen fair ausgleichen Seite 04<br />
Ein Interview mit dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer<br />
I<br />
N<br />
H<br />
Strukturen der internationalen Arbeit<br />
Unterwegs zur weltweiten Vereinigung Seite 08<br />
Kurze Geschichte der internationalen Gewerkschaftsorganisationen<br />
Die globale Gewerkschaftspolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Seite 10<br />
Ein Interview mit Erwin Schweisshelm<br />
Beispiele für die Arbeit von Einzelgewerkschaften<br />
Hausverbot für Gewerkschafter Seite 14<br />
ver.di-Bezirk engagiert sich im Konfl ikt bei Metro in der Türkei<br />
Internationale Gewerkschaftskooperation vor Ort Seite 16<br />
Global – lokal: internationale Arbeit vor Ort<br />
Containerweise Beziehungen Seite 20<br />
Hamburger GEW pfl egt Partnerschaft mit Nicaragua<br />
Lernen mit Herz und Hand Seite 22<br />
IG Metalljugendliche bereisen Brasilien und Kuba<br />
Veränderung durch Kopf und Konto Seite 24<br />
„publik“-Leser spenden für Kinderarbeiter in Indien<br />
Kernarbeitsnormen Seite 26<br />
Anschriften und Webseiten der globalen Gewerkschaftorganisationen Seite 28<br />
A<br />
L<br />
T<br />
Internationale Gewerkschaftsarbeit auf betrieblicher Ebene<br />
Solidarität mit den Deutschen Seite 32<br />
DGB-Arbeitskreis treibt Austausch mit Brasilien bei Mercedes und BASF voran<br />
„Wir sollten nicht um Produkte kämpfen“ Seite 36<br />
Ein Interview mit Valter Sanches von der Metallgewerkschaft in Brasilien<br />
„Man trifft so tolle Menschen“ Seite 38<br />
Intersoli-Kreis der IG Metall ergänzt globale Betriebsratsarbeit<br />
„Als Arbeiter sind wir eins“ Seite 40<br />
Ein Interview mit Misumzi Chiliwe, Vertrauensleutevertretung VW, South Africa<br />
Globale Arbeitsbeziehungen auf Unternehmensebene<br />
Benimmregeln für Konzerne Seite 44<br />
Über Internationale Rahmenvereinbarungen<br />
Globale Dialogstruktur – Seite 46<br />
<strong>Netz</strong>werke bei Global Playern<br />
Eurobetriebsräte wollen nicht nur reden Seite 50<br />
Praktiker schlagen Verbesserungen der EU-Richtlinie vor<br />
Die Vision einer sozialen Welt im Focus Seite 52<br />
Projekte, Vernetzung und Bildungsarbeit beim <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong><br />
Weltweite Solidaritätsarbeit – Seite 54<br />
Der Solifonds der Hans-Böckler-Stiftung<br />
3
„Solidarität heißt<br />
Interessen fair ausgleichen“<br />
Ein Interview mit dem<br />
DGB-Vorsitzenden Michael Sommer<br />
Warum sollte sich eine Verkäuferin im Supermarkt<br />
oder ein Postangestellter für die<br />
internationale Solidarität interessieren?<br />
Sommer: Weil es nur eine Arbeitswelt<br />
gibt: Internationale Prozesse haben heute<br />
auch Auswirkungen auf Arbeitsplätze und<br />
-bedingungen in Deutschland. Wenn hier<br />
Zechen dicht gemacht werden und die<br />
Kohle stattdessen aus Australien kommt,<br />
spürt der Kumpel erstmal wenig von<br />
internationaler Solidarität. Da müssen<br />
wir ansetzen. Klar machen, dass internationale<br />
Gewerkschaftsarbeit keine Form<br />
von Gutmenschentum ist, sondern auch<br />
etwas mit eigenen Interessen zu tun hat.<br />
Ich gebe allerdings zu, dass diese Arbeit bei<br />
vielen Mitgliedern nicht im Mittelpunkt des<br />
Interesses steht.<br />
Wann war internationale Solidarität in<br />
Ihrem Leben zum ersten Mal wichtig?<br />
Sommer: Das war 1973 beim Putsch in<br />
Chile und der Aufnahme vieler Exilchilenen<br />
in Westberlin; mit der Regierung Allende<br />
hatten wir ja große politische Hoffnungen<br />
verbunden. Organisierte internationale Gewerkschaftsarbeit<br />
lernte ich das erste Mal<br />
kennen, als ich 1982 zum Hauptvorstand<br />
der Postgewerkschaft kam. Wir hatten<br />
sehr gute Kontakte zu den Schwestergewerkschaften<br />
in den hoch industrialisierten<br />
Ländern, besonders USA und Japan. Außerdem<br />
haben wir konkrete Entwicklungshilfe<br />
gemacht; zum Beispiel in Ägypten und Sri<br />
Lanka mitgeholfen, Post- und Fernmeldegewerkschaften<br />
aufzubauen. Im Zuge der<br />
Privatisierungsdebatte um die Bundespost<br />
gab es dann Anfang der neunziger Jahre<br />
Kontakte mit Kanada, Großbritannien und<br />
Neuseeland. Dort hatten die Kolleginnen<br />
und Kollegen die Privatisierung schon<br />
hinter sich.<br />
In Chile waren Sie im Frühjahr 2005 bei<br />
einer Lateinamerikareise wieder. Wie ist<br />
die Situation heute?<br />
Sommer: In Chile habe ich einen gewerkschaftspolitischen<br />
Aufbruch erlebt; dort<br />
stellen ja die Sozialisten die Regierung.<br />
Ähnlich war es in Uruguay, wo die erste<br />
sozialdemokratische Regierung die Tarifautonomie<br />
jetzt auf Landarbeiter und<br />
Hauspersonal ausgedehnt hat. Das hat<br />
dem Gewerkschaftsbund allein in diesem<br />
Jahr 250 000 neue Mitglieder beschert, und<br />
das macht ihn stolz. In Uruguay wurden<br />
Gewerkschaften lange unterdrückt. Es ging<br />
mir schon recht nahe, als der Arbeitsminister<br />
nach einem Mittagessen auf ein großes<br />
Gebäude zeigte, das Hauptquartier der<br />
Streitkräfte, und den Raum ausmachte, in<br />
dem er einst gefoltert worden war. Ich habe<br />
auch bewusst Kolumbien besucht. Dort<br />
kämpfen Kolleginnen und Kollegen noch<br />
heute um ihr Leben. Allein in diesem Jahr<br />
wurden dort 45 aktive Gewerkschafterinnen<br />
und Gewerkschafter von Paramilitärs<br />
ermordet. Wenn man das Gefühl hat,<br />
Gewalt ist allgegenwärtig - das geht schon<br />
sehr an die Nieren. Dem kolumbianischen<br />
Arbeitsminister habe sehr deutlich gesagt:<br />
Wir beobachten euch!<br />
Hat sich internationale Gewerkschaftsarbeit<br />
von einem eher helfenden Ansatz<br />
zur wechselseitigen Unterstützung<br />
gewandelt?<br />
Sommer: Der Wandel vollzieht sich gerade,<br />
und dabei ist Fairness ein ganz zentraler<br />
Begriff. Die Beziehungen zwischen der<br />
Europäischen Union und der südamerikanischen<br />
Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur<br />
sind ein Beispiel: Wir fördern den Austausch<br />
darüber, wie man soziale Belange verankert.<br />
Die sind dort schon weiter als wir; es gibt<br />
im Mercosur eine Art Wirtschafts- und<br />
Sozialausschuss, der nicht nur Anhörungsrechte<br />
hat, sondern auch tatsächlich etwas<br />
durchsetzen kann. Wir werben dafür, dass<br />
Arbeitnehmerrechte und die Entwicklung<br />
von Beschäftigung beim Austausch EU-Mercosur<br />
in den Mittelpunkt gestellt werden.<br />
4
Sie sind im Dezember 2004 zum ersten<br />
stellvertretenden Vorsitzenden des<br />
Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften<br />
gewählt worden. Der IBFG<br />
hat beschlossen, die Methoden und<br />
Strukturen der internationalen Arbeit den<br />
Herausforderungen der Globalisierung<br />
anzupassen. Was bedeutet das?<br />
Sommer: Wir brauchen eine Verstärkung<br />
der Branchenarbeit, die heute über die<br />
Global Unions läuft. Am Beispiel der<br />
Textilindustrie wird das sehr deutlich: Die<br />
Aufhebung des Welttextilabkommens hat<br />
für einige Länder die Situation dramatisch<br />
geändert, zum Beispiel für Bangladesh:<br />
Alles ist nach China abgewandert, mit<br />
Millionen Arbeitslosen. Dort müssen wir<br />
Strukturen aufbauen. Außerdem müssen<br />
wir die Regionalorganisationen stärken.<br />
In der tarifpolitischen Zusammenarbeit<br />
beispielsweise sind wir noch nicht sehr<br />
weit. Auf der anderen Seite haben wir den<br />
Einfluss von multinationalen Konzernen<br />
überall auf der Welt. Und wir wollen den<br />
Solidaritätsfonds neu gestalten. Das Geld<br />
soll in Zukunft für gezielte Kampagnen<br />
eingesetzt werden, zum Beispiel gegen<br />
Sweatshops, Sonderwirtschaftszonen oder<br />
Kinderarbeit.<br />
Das Verbot von Kinderarbeit gehört zu<br />
den Kernarbeitsnormen der Internationalen<br />
Arbeitsorganisation, ebenso das<br />
Recht auf kollektive Verhandlungen.<br />
Welche Rolle spielen diese Normen in der<br />
internationalen Gewerkschaftsarbeit?<br />
Sommer: Mit der Durchsetzung von<br />
Kernarbeitsnormen müssen wir auf der<br />
ganzen Welt weiterkommen. Da ist uns<br />
etwas gelungen, auf das ich stolz bin: Beim<br />
Treffen der Arbeitsminister der G-8-Staaten<br />
in Stuttgart im Dezember 2003 wurde in<br />
der Abschlusserklärung festgehalten, dass<br />
ein gemeinsames Konsultationsgremium<br />
zwischen der Welthandelsorganisation und<br />
der Internationalen Arbeitsorganisation ILO<br />
gegründet werden soll, um Kernarbeitsnormen<br />
weltweit zu verankern. So weitgehend<br />
ist keine andere internationale Erklärung.<br />
Wir nehmen das als zentrales Anliegen<br />
mit in die nächste Welthandelskonferenz.<br />
Allerdings gibt es ein Problem: Manche<br />
Gewerkschaften in Schwellenländern, wie<br />
Südafrika, halten das für einen miesen<br />
Trick. Sie vermuten, die Industrieländer<br />
wollten ihnen die Kernarbeitsnormen<br />
aufdrängen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />
zu schwächen. Darüber müssen wir<br />
miteinander reden.<br />
Müssen Gewerkschaften bei der Konkurrenz<br />
um Produktionsstandorte den<br />
Wettlauf nach unten bei Löhnen und<br />
Arbeitsbedingungen mitmachen?<br />
Sommer: Die Herausforderungen fangen<br />
beim Aufbau und der Stärkung gewerkschaftlicher<br />
Strukturen an. Wir unterstützen<br />
beispielsweise gerade den Aufbau eines<br />
Trainingslagers für Vertrauensleute in Vietnam.<br />
Aber noch fehlen uns die schlagkräftigen<br />
Organisationen, mit denen wir auf Politik<br />
und Wirtschaft einwirken könnten, auch<br />
in Europa. Was wir allerdings haben, und<br />
das kommt vornehmlich aus Deutschland,<br />
sind hoch entwickelte Strukturen bei einigen<br />
großen Konzernen, Euro- und Weltbetriebsräte.<br />
In der Metallindustrie klappt die<br />
Zusammenarbeit schon sehr gut. Allerdings<br />
sollte man sich nichts vormachen: Wenn<br />
es um Standortfragen geht, sind erstmal<br />
nationale Gesichtspunkte entscheidend.<br />
Da müssen wir Solidarität auch als fairen<br />
Interessensausgleich verstehen.<br />
Auf der Ebene von Konzernen werden<br />
Rahmenabkommen und Verhaltenskodices<br />
verhandelt, um Unternehmen<br />
in die gesellschaftliche Verantwortung<br />
zu nehmen. Wäre das nicht Sache von<br />
Regierungen?<br />
Sommer: Ja, aber viele tun es nicht. Selbst<br />
in den USA sind Kernarbeitsnormen nicht<br />
überall garantiert, und auch deutsche<br />
Manager gucken manchmal weg und ziehen<br />
sich auf die nationale Gesetzgebung<br />
zurück. Da müssen wir dann nachhaken.<br />
Rahmenabkommen müssen auf Unternehmensebene<br />
geschlossen und im zweiten<br />
Schritt weltweit verbindlich gemacht<br />
werden. Im dritten Schritt brauchen wir internationale<br />
Organisationen mit Sanktionsund<br />
Regulierungsmöglichkeiten. In den<br />
Entwicklungsländern geht es oft erstmal<br />
um die Anerkennung der Vereinigungsfreiheit,<br />
gerade im informellen Sektor der<br />
Wirtschaft. In Ghana zum Beispiel arbeiten<br />
85 Prozent der Menschen ohne formale<br />
Beschäftigung, da ist Vereinigungsfreiheit<br />
ein riesiges Problem. In dieser Frage arbeiten<br />
wir eng mit der katholischen Kirche<br />
zusammen.<br />
Mehr Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen<br />
gehört auch zu den<br />
Empfehlungen des letzten IBFG-Kongresses.<br />
Mit wem wird da sonst gearbeitet?<br />
Zunächst einmal sind Nichtregierungsorganisationen<br />
keine Ersatzgewerkschaften.<br />
Ihre Hilfe ist in der Regel sehr konkret. Und<br />
auf dieser Ebene arbeiten wir zusammen.<br />
Ich habe jedoch den Eindruck, dass die<br />
Zivilgesellschaft in anderen Ländern eine<br />
höhere Bedeutung als in Deutschland hat.<br />
In Chile zum Beispiel habe ich erfahren,<br />
dass es ohne die Zusammenarbeit von<br />
Gewerkschaften und Studentenbewegung<br />
nicht gelungen wäre, Pinochet zu verjagen.<br />
Auf internationaler Ebene haben wir das<br />
Weltsozialforum. Die meisten, die sich<br />
da engagieren, meinen es ernst mit der<br />
Emanzipation der Armen und Schwachen.<br />
Bei der politischen Sicht auf die Dinge<br />
scheiden sich dann manchmal die Geister.<br />
Aber insgesamt werden wir nur weiter<br />
kommen, wenn wir solche internationalen<br />
Prozesse stärken.<br />
Das Gespräch führte Sigrid Thomsen<br />
5
Strukturen der<br />
internationalen Arbeit<br />
7
Jürgen Eckl (DGB)<br />
Unterwegs zur weltweiten Vereinigung<br />
Kurze Geschichte der internationalen Gewerkschaftsorganisationen<br />
1889 1891 1902 1913<br />
Die Geschichte der internationalen<br />
Gewerkschaftsarbeit<br />
und ihrer Organisationen war<br />
jahrzehntelang vom Ost-West-Konflikt<br />
geprägt. Seit dem Fall der Mauer<br />
gewinnen weltweite Verbindungen<br />
an Macht.<br />
Noch bevor in den meisten Ländern nationale<br />
Dachverbände gegründet wurden,<br />
gab es bei einigen Berufsgruppen schon<br />
internationale Strukturen. Das waren die<br />
Vorläufer der Internationalen Berufssekretariate,<br />
der heutigen Global Union<br />
Federations (GUFs). 1889 wurde zum<br />
Gründungsjahr der Internationalen Bünde<br />
der Schuhmacher, der Tabakarbeiter und<br />
der Drucker. Der von sozialistischen Parteien<br />
1891 nach Brüssel einberufene „Internationale<br />
Arbeiterkongress“ bot Gewerkschaften<br />
der Branchen Holz, Metall und Textil<br />
eine Plattform für grenzüberschreitende<br />
Kooperationsabkommen. Von dort kamen<br />
die Anstöße zur Bildung einer internationalen<br />
Organisation auch innerhalb der<br />
nationalen Dachverbände. 1902 wurde<br />
ein Internationales Sekretariat der Gewerkschaftsbünde<br />
gegründet, das sich 1913 in<br />
Internationaler Gewerkschaftsbund IFTU<br />
(International Federation of Trade Unions)<br />
umtaufte. Gleichzeitig ging der Aufbau von<br />
Internationalen Berufssekretariaten voran:<br />
bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs hatten<br />
sich 33 Berufssekretariate gebildet. Die<br />
Mehrheit hatte ihren Sitz in Berlin, das war<br />
damals so etwas wie die Welthauptstadt<br />
der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung<br />
mit der größten Sozialdemokratischen Partei<br />
und dem weltweit mitgliederstärksten<br />
Gewerkschaftsbund.<br />
Im Krieg kam die internationale Gewerkschaftszusammenarbeit<br />
zum Erliegen; die<br />
internationalen Gewerkschaftszentren<br />
wanderten nach London, Amsterdam<br />
und Genf ab. Die zwanziger Jahre waren<br />
geprägt von Fusionen bei den Berufssekretariaten.<br />
Das alte Prinzip des Berufsverbandes<br />
wurde von Branchenstrukturen<br />
abgelöst. Konträr zu dieser Entwicklung<br />
standen Spaltungsversuche auf Grund der<br />
ideologischen Differenz von Sozialdemokraten<br />
und Kommunisten.<br />
Am Ende des Zweiten Weltkrieges etablierte<br />
sich der Weltgewerkschaftsbund WGB,<br />
der mit Beginn des Kalten Krieges unter<br />
Einfluss der Sowjetunion geriet. Die Ablehnung<br />
des Marshallplans durch das WGB-<br />
Generalsekretariat führte zum Auszug der<br />
eher westlich orientierten Gewerkschaften<br />
und 1949 in London zur Gründung des<br />
Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften<br />
IBFG (International Confederation<br />
of Free Trade Unions) mit Sitz in Brüssel.<br />
Als Grundprinzip des IBFG gilt, dass seine<br />
Organisationen ausschließlich durch die eigenen<br />
Mitglieder kontrolliert werden, nicht<br />
durch eine Regierung, die Arbeitgeber oder<br />
politische Parteien. Der IBFG ist heute mit<br />
weitem Abstand der größte Internationale<br />
Gewerkschaftsdachverband.<br />
Die Internationalen Berufssekretariate<br />
bewahrten in diesem Prozess ihre volle<br />
Eigenständigkeit und Unabhängigkeit.<br />
Sie fühlten sich in ihrer großen Mehrheit<br />
der IBFG-Familie zugehörig, ohne sich<br />
bei gelegentlichen Abgrenzungspolitiken<br />
des IBFG in ihrer eigenen Organisationspolitik<br />
gebunden zu sehen. Bei der<br />
Rekrutierung von Mitgliedern leisteten<br />
sie daher oft Pionierarbeit, erarbeiteten<br />
sich eine Vertrauensbasis bei Branchengewerkschaften,<br />
deren Dachverbände noch<br />
lange an der Distanz zum IBFG und seinen<br />
Regionalorganisationen festhielten. Diese<br />
pragmatische Flexibilität bei der internationalen<br />
Zusammenarbeit bewährte<br />
sich vor allem bei der Entstehung neuer<br />
Gewerkschaftsbewegungen in Brasilien,<br />
Südafrika, Südkorea und anderswo. Die<br />
Berufssekretariate nutzten ihre Vorreiterrolle<br />
auch nach der Aufl ösung des Ostblocks,<br />
zum Beispiel bei den Beziehungen<br />
zur arabischen Gewerkschaftswelt.<br />
8
Bis zum Fall der Berliner Mauer konnte sich<br />
der WGB auf die Staatsgewerkschaften des<br />
Ostblocks und kommunistisch geführte<br />
Gewerkschaften in der Dritten Welt und<br />
Westeuropa stützen. Mit Ende des Kalten<br />
Krieges verlor er fast alle seine Mitglieder.<br />
Seither führt er eine Schattenexistenz mit<br />
Büroadresse in Prag.<br />
Die Internationalen Berufssekretariate<br />
haben noch keine endgültige Position<br />
bezüglich ihrer institutionellen Einbindung<br />
in diesen Prozess gefunden. Sie haben sich<br />
2000 bereits einen neuen Sammelbegriff<br />
gegeben, den der globalen Gewerkschaftsföderationen<br />
(Global Union Federations,<br />
GUFs). Nach den teils traumatischen<br />
Erfahrungen in den beschleunigten Fusionsprozessen<br />
seit Ende der 90er Jahre – oft<br />
ausgelöst durch den Zusammenschluss von<br />
deutschen Einzelgewerkschaften – wollen<br />
sie so viel Souveränität wie möglich für sich<br />
behalten. Zugleich wissen sie, dass sie sich<br />
auf Dauer der Sogwirkung und Integrationskraft<br />
eines Projektes nicht entziehen<br />
erarbeitet in Abstimmung mit IBFG und<br />
GUFs Stellungnahmen zu einer Reihe von<br />
Politikfeldern und entwickelt die gemeinsamen<br />
Positionen der Gewerkschaften,<br />
etwa zu den G8-Gipfeln und den Treffen<br />
der Fachminister der OECD.<br />
GUFs und TUAC, sowie der Europäische<br />
Gewerkschaftsbund EGB wirken mit beratender<br />
Stimme in den Vorstandssitzungen<br />
1949 1968 2000<br />
1968 wurde unter Berufung auf die Katholische<br />
Soziallehre von einigen christlichen<br />
Gewerkschaften der Weltverband der<br />
Arbeit WVA gegründet, der aber ein relativ<br />
kleiner Verband mit einer hohen Zahl von<br />
Mitgliedern ohne Beitragsleistung blieb.<br />
Nennenswerte politische Präsenz erreichte<br />
er nur in Lateinamerika.<br />
Im letzten Jahrzehnt hat sich die internationale<br />
Zusammenarbeit zwischen IBFG<br />
und WVA zusehends verbessert, sei es in<br />
der Internationalen Arbeitsorganisation<br />
(International Labour Organisation ILO),<br />
sei es auf europäischer Ebene und gegenüber<br />
den Institutionen der Globalisierung.<br />
Deshalb haben beide Weltverbände auf<br />
ihren letzten Kongressen den Beschluss<br />
gefasst, einen gemeinsamen Internationalen<br />
Bund zu gründen. Der neue Verband<br />
soll ausdrücklich auch bisher ungebundene<br />
nationale Gewerkschaften in dieses gemeinsame<br />
Vorhaben einbeziehen, um die<br />
Vertretungsmacht der Gewerkschaften der<br />
Welt Ende 2006 durch eine gemeinsame<br />
Organisation zu stärken.<br />
können, dessen Ziel die Herstellung der<br />
internationalen Gewerkschaftseinheit ist.<br />
Die heute zehn GUFs (siehe Seite 28) erweiterten<br />
ihre Bedeutung mit der Globalisierung,<br />
da nationale Branchengewerkschaften<br />
angesichts der Multinationalen Konzerne<br />
immer mehr auf internationale Solidarität<br />
und Zusammenarbeit angewiesen sind.<br />
Ähnlich gewachsen in der Internationalen<br />
Gewerkschaftsarbeit ist die Bedeutung des<br />
Gewerkschaftlichen Beratungsausschusses<br />
bei der OECD, der TUAC mit Sitz in<br />
Paris, als Organisation der Dachverbände<br />
der OECD-Mitgliedsstaaten. Der TUAC<br />
des IBFG mit. Gegenwärtig noch in der<br />
Diskussion ist die Art von Integration und<br />
künftigem Status des EGB, wenn er nach<br />
der Vereinigung von IBFG und WVA auch<br />
die Aufgaben einer Regionalorganisation<br />
des neuen internationalen Bundes für Europa<br />
übernehmen sollte, vergleichbar mit<br />
der ORIT für beide Amerikas, der APRO für<br />
Asien und AFRO für Afrika. Wenn der Vereinigungsprozess<br />
der internationalen Bünde<br />
auf einem gemeinsamen Kongress im Oktober<br />
2006 beschlossen sein wird, beginnen<br />
erst die organisationspolitischen Mühen<br />
der Ebene, damit aus dieser Vereinigung<br />
auch wirklich die Stärkung der globalen<br />
Gewerkschaftsbewegung erwächst.<br />
9
Die globale Gewerkschaftspolitik der<br />
Friedrich-Ebert-Stiftung<br />
Ein Interview mit Erwin Schweisshelm<br />
Die Friedrich-Ebert-Stiftung<br />
(FES) ist mit der Sozialdemokratischen<br />
Partei verbunden<br />
und betreibt im In- und Ausland<br />
politische Bildung. Ihre Auslandsbüros<br />
unterstützen und beraten<br />
Gewerkschaften in anderen Ländern<br />
auch im Namen des DGB. Erwin<br />
Schweisshelm von der internationalen<br />
Abteilung der FES in Bonn erklärt<br />
die Grundzüge dieser Arbeit:<br />
Wie ist die internationale Gewerkschaftsarbeit<br />
der Friedrich-Ebert-<br />
Stiftung einzuordnen?<br />
Schweisshelm: Die internationale Gewerkschaftsarbeit<br />
ist in die internationale<br />
Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung eingebettet.<br />
Kernziele der internationalen<br />
Arbeit sind die Förderung von Demokratie,<br />
die Vermeidung von Konflikten<br />
und die Verwirklichung von sozialer<br />
Gerechtigkeit. Gewerkschaften sind zum<br />
Erreichen dieser Ziele unverzichtbar. Sie<br />
vertreten nicht nur die Interessen der<br />
Arbeitnehmer, sondern gehören in vielen<br />
Staaten zu den demokratischen, zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen.<br />
Ist dies nicht die Aufgabe der<br />
deutschen Gewerkschaften selbst,<br />
sich um die internationale Gewerkschaftsarbeit<br />
zu kümmern?<br />
Schweisshelm: Hier gibt es etwas Besonderes:<br />
Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist mit<br />
dem expliziten Mandat des DGB ausgestattet,<br />
die deutschen Gewerkschaften<br />
im Ausland zu vertreten. Dies lässt sich<br />
mit der gemeinsamen Geschichte von<br />
Gewerkschaften und Friedrich-Ebert-Stiftung,<br />
wie auch mit <strong>unsere</strong>r weltweiten<br />
Infrastruktur erklären. Die Stiftung wird<br />
als glaubwürdiger und vertrauenswürdiger<br />
Partner wahrgenommen!<br />
Wie sieht die Arbeit konkret aus?<br />
Schweisshelm: Die internationale Gewerkschaftsarbeit<br />
der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />
hat zwei zentrale Ebenen: Die Länderprogramme,<br />
in denen Arbeitnehmervertretungen<br />
auf nationaler Ebene gefördert<br />
werden und das Projekt Globale Gewerkschaftspolitik,<br />
das eine soziale Gestaltung<br />
der Globalisierung zum Ziel hat und in<br />
der Bonner Zentrale koordiniert wird.<br />
Die Länderprogramme unterstützen Gewerkschaften<br />
sowohl als politische und<br />
zivilgesellschaftliche Akteure als auch in<br />
ihrer Funktion als Interessensvertreter<br />
der Arbeitnehmer. Die Länderprogramme<br />
werden von den Auslandsvertretungen<br />
der Stiftung koordiniert. Themen sind<br />
etwa die Qualifizierung für den sozialen<br />
Dialog, Tarifpolitik, Privatisierung und<br />
Fragen des Arbeitsrechts.<br />
Wie ist das zu verstehen und mit wem<br />
arbeitet ihr zusammen, um diese<br />
Projektziele zu verwirklichen?<br />
10
Schweisshelm: Wie der Name schon<br />
vermuten lässt, konzentriert sich das<br />
Projekt globale Gewerkschaftspolitik auf<br />
die Stärkung der Gewerkschaften und die<br />
bessere Vertretung der Arbeitnehmer auf<br />
globaler Ebene. Die wichtigsten Partner<br />
in diesem Projekt sind die Global Union<br />
Federations (GUFs) und der Internationale<br />
Bund Freier Gewerkschaften<br />
(IBFG), aber auch Organisationen wie<br />
die Internationale Arbeitsorganisation<br />
(IAO oder ILO), der gewerkschaftliche<br />
Beratungsausschuss der OECD (TUAC),<br />
regionale Gewerkschaftsstrukturen und<br />
Nichtregierungsorganisationen (NROs).<br />
Die Förderung durch das Projekt ist<br />
vielfältig. Im Jahre 2004 wurden mehr<br />
als 100 Einzelprojekte in 45 Ländern<br />
unterstützt. Dabei war die Stiftung in<br />
Vietnam genauso vertreten wie etwa in<br />
Brasilien, Aserbaidschan oder dem afrikanischen<br />
Mali. In jedem dieser Länder<br />
existieren andere Bedingungen für die<br />
Gewerkschaftsarbeit.<br />
Wo setzt die Arbeit an?<br />
Schweisshelm: Bei der Förderung sind<br />
drei Ebenen von besonderer Bedeutung:<br />
Die gewerkschaftspolitische, die Unternehmensebene<br />
und die entwicklungspolitische<br />
Ebene.<br />
Auf gewerkschaftspolitischer Ebene werden<br />
Publikationen zu sozialpolitischen<br />
Themen erstellt, Workshops und Trainings<br />
für Gewerkschaftsmitglieder organisiert<br />
und die Verwirklichung von Menschenund<br />
Gewerkschaftsrechten unterstützt.<br />
Auf Unternehmensebene fördert die<br />
Stiftung die Vernetzung von Arbeitnehmerinteressen<br />
in multi-nationalen<br />
Unternehmen, die Vereinbarung von<br />
Rahmenabkommen oder die Anwendung<br />
von Verhaltenskodizes in multinationalen<br />
Unternehmen.<br />
Auf entwicklungspolitischer Ebene steht<br />
die Integration von Sozialstandards in<br />
die deutsche und internationale Entwicklungszusammenarbeit<br />
im Vordergrund.<br />
Zudem unterstützt die Stiftung<br />
die Mitarbeit von Gewerkschaften in den<br />
sogenannten „Fairen Handel“, wie die<br />
Flower Label Campaign der NRO FIAN<br />
und die Clean Clothes Campaign. Seit<br />
Oktober des Jahres 2004 wird zudem<br />
ein Masterstudiengang zu Arbeitsmarktpolitik<br />
und Globalisierung gefördert,<br />
der an der Universität Kassel und der<br />
Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin<br />
durchgeführt wird und sich an junge Gewerkschafter<br />
aus Entwicklungsländern<br />
richtet. International ist das Projekt mit<br />
anderen Geberorganisationen in den<br />
USA und Europa vernetzt. Diese Verbindungen<br />
ermöglichen den Austausch<br />
und die Koordinierung der Arbeit. Die<br />
Unterstützung kann so zielgenauer und<br />
politisch effektiver gesteuert werden.<br />
Bei soviel Globalität, findet denn beim<br />
Exportweltmeister Deutschland auch<br />
noch etwas statt?<br />
Schweisshelm: Natürlich, in Deutschland<br />
ist das Projekt in einer Vielzahl von Gremien<br />
eingebunden. Dazu gehören die<br />
internationalen Arbeitskreise beim DGB,<br />
der Runde Tisch für Verhaltenskodizes<br />
und das Thementeam WTO der Friedrich-<br />
Ebert-Stiftung.<br />
Ist es denn den Aufwand wert?<br />
Schweisshelm: Ich denke schon. Gerade<br />
die aktuellen Diskussionen zeigen, dass<br />
soziale Gerechtigkeit in einem Land<br />
allein nicht mehr zu verwirklichen ist.<br />
Das gegenseitige Ausspielen der Belegschaften<br />
wird auch Dank der Arbeit der<br />
FES schwieriger.<br />
Mit freundlicher Genehmigung entnommen<br />
aus der FES-Broschüre „Globalisierung und<br />
Soziale Gerechtigkeit“, Bonn 2005.<br />
11
Beispiele für die Arbeit von<br />
Einzelgewerkschaften<br />
13
Sigrid Thomsen (Journalistin)<br />
Hausverbot für Gewerkschafter<br />
ver.di-Bezirk engagiert sich im Konflikt bei Metro in der Türkei<br />
In der Türkei setzte der Metro-<br />
Konzern eine ihm genehme<br />
Gewerkschaft in seinen Cashund-Carry-Märkten<br />
durch – gegen<br />
den Willen der Beschäftigten und<br />
trotz internationaler Solidarität aus<br />
Deutschland.<br />
Auf den ersten Blick sieht es nach Urlaub<br />
aus, wo türkische und deutsche Beschäftigte<br />
des Metro-Konzerns vor Strand und<br />
Palmen ihre Köpfe zusammenstecken<br />
– die Gewerkschaftsschule der türkischen<br />
Handelsgewerkschaft Tez-Koop-Is liegt<br />
direkt am Meer. Tatsächlich werden hier<br />
harte Nüsse geknackt: der Metro-Konzern,<br />
zu dem unter anderem Kaufhof, Saturn,<br />
Real und die Metro Cash-und Carry-<br />
Märkte gehören, bekämpft in der Türkei<br />
die gewerkschaftliche Organisierung<br />
seiner Beschäftigten nach einem ausgefeilten<br />
Plan. Um die Tariffähigkeit der Tez<br />
Koop-Is rückgängig zu machen, für die<br />
ein Organisationsgrad von mindestens 51<br />
Prozent Voraussetzung ist, schreckte die<br />
Firmenleitung vor massiver Einschüchterung<br />
und Kündigungen nicht zurück.<br />
Deutsche Gewerkschafter waren auf diese<br />
Situation erstmals aufmerksam geworden,<br />
als ein türkischer Kollege aus der Region<br />
Mannheim-Heidelberg in seine Heimat zurückging<br />
und ihnen von den Bedingungen<br />
dort schrieb. 1999 begannen türkische<br />
und deutsche Gewerkschafter einander<br />
zu besuchen und über die jeweiligen<br />
Zusammenhänge zu informieren.<br />
Ein Jahr später erklärten die Bezirksverwaltung<br />
Mannheim/Heidelberg der<br />
Gewerkschaft Handel Banken Versicherungen<br />
und die Gewerkschaft Tez Koop-Is<br />
Istanbul einander die Partnerschaft: Sie<br />
gelobten die Stärkung ihrer Gewerkschaften<br />
gegenüber internationalen Konzernen,<br />
Erfolge im Kampf um Mindeststandards<br />
– und den Aufbau einer demokratischen<br />
und sozialen Europäischen Union. Anton<br />
Kobel, der die Erklärung damals als Geschäftsführer<br />
für die HBV unterzeichnet<br />
hat, erinnert sich an die Diskussionen<br />
darüber: „Alle türkischen Kollegen wollten<br />
das, und die deutschen kamen ins Nachdenken,<br />
nachdem sie die Bedingungen vor<br />
Ort kennen gelernt hatten“.<br />
Die sind hart: Der Arbeitgeber Metro<br />
nötigte Gewerkschaftsmitglieder zum<br />
Austritt aus der Tez Koop-Is, der vor einem<br />
Notar vollzogen werden musste, mit<br />
der Kündigungsdrohung – und kündigte<br />
auch, wenn der Austritt verweigert wurde.<br />
Zwischen 1999 und 2002 sind etwa 1500<br />
Beschäftigte entlassen worden, gab der<br />
Generaldirektor von Metro Türkei nach<br />
Angaben der Gewerkschaft selbst zu.<br />
14
Wer sich diesem Vorgehen widersetzte<br />
und zu Aussagen gegen die Firmenleitung<br />
bereit war, bekam Hausverbot, Zwangsurlaub<br />
oder wurde willkürlich versetzt. Die<br />
Firmenleitung wollte den Organisationsgrad<br />
unter die Hälfte drücken, um die Anerkennung<br />
der Gewerkschaft rückgängig<br />
zu machen und die Arbeitsbedingungen<br />
verschlechtern zu können. Entlassungen<br />
können in der Türkei ohne Grund ausgesprochen<br />
werden.<br />
– der Sosyal Is, die als weniger aktiv und<br />
kampfbereit gilt. Sie gehört allerdings dem<br />
als fortschrittlicher bekannten Gewerkschaftsbund<br />
an und wird, wie Anton Kobel<br />
weiß, inzwischen auch von Linken genutzt.<br />
Als innerhalb der befreundeten Gewerkschaft<br />
Auseinandersetzungen über eine<br />
mehr oder weniger kämpferische Linie<br />
gegenüber dem Konzern ausbrachen und<br />
ein Vorstandsmitglied nicht wieder gewählt<br />
und dann entlassen wurde, kamen<br />
die Kontakte zwischen türkischen und<br />
deutschen Kollegen ins Stocken. Auch die<br />
deutschen waren mit innergewerkschaftlichen<br />
Prozessen befasst, als die alte HBV<br />
in die neue Dienstleistungsgewerkschaft<br />
überführt werden musste.<br />
In der Türkei hat die Tez Koop-Is das Arbeitsgericht<br />
angerufen und verloren: die<br />
Tariffähigkeit der neuen Gewerkschaft<br />
bei Metro wurde bestätigt, obwohl sie<br />
unter so viel Zwang hergestellt wurde. In<br />
Deutschland sind die Beschäftigten bei<br />
der Metro ins Nachdenken gekommen, ob<br />
ihr scheinbar gewerkschaftsfreundlicher<br />
Arbeitgeber in der Türkei eine neue Linie<br />
ausprobiert. „Es ist immerhin derselbe<br />
Konzern“, sagt Anton Kobel, der sich<br />
mittlerweile in den Ruhestand begeben<br />
hat. „Der Anspruch muss gelten, dass<br />
der sich überall korrekt verhält. Metro ist<br />
in 40 Ländern tätig. Das nächste Thema<br />
sind weltweite Mindeststandards und ein<br />
internationaler Tarifvertrag.“<br />
Die deutschen Kolleginnen und Kollegen<br />
machten diese Methoden zunächst im<br />
Bezirk und dann bundesweit über die<br />
inzwischen gegründete Dienstleistungsgewerkschaft<br />
ver.di bekannt. Für die entlassenen<br />
Mitarbeiter in der Türkei wurde<br />
immer wieder Geld gesammelt. 2003<br />
griff der Vorsitzende Frank Bsirske ein.<br />
Er erreichte bei der Konzernzentrale von<br />
Metro in Düsseldorf die Zusage, dass sich<br />
die Firmenleitung in Istanbul gegenüber<br />
den in ihrem Bereich tätigen Gewerkschaften<br />
neutral verhalten werde.<br />
Das sah zunächst wie ein Erfolg aus.<br />
Aber die Arbeitgeber in der Türkei hatten<br />
bereits eine neue List ersonnen, um die<br />
Tez Koop-Is zu schwächen und trotzdem<br />
formal davon zu kommen: sie nötigte ihre<br />
Beschäftigten, einer anderen Gewerkschaft<br />
beizutreten, wenn sie unbedingt<br />
Gewerkschaftsmitglied sein wollten<br />
15
Nihat Öztürk (IG Metall)<br />
Internationale Gewerkschaftskooperation<br />
vor Ort<br />
Global – lokal: internationale Arbeit vor Ort<br />
Der Traum vieler Unternehmer,<br />
„dort zu investieren und zu<br />
produzieren, wo die Steuern<br />
und Löhne am niedrigsten sind,<br />
dort Waren und Dienstleistungen<br />
abzusetzen, wo die Kaufkraft am<br />
höchsten ist, und dort zu leben, wo<br />
es am schönsten ist“ (Ulrich Beck),<br />
ist dank der Globalisierung der<br />
Märkte Wirklichkeit geworden.<br />
Die Umsetzung solcher „Träume“ geht<br />
mit Erpressung von Arbeitnehmer/innen<br />
einher.<br />
Jeder IG Metaller kann sich mit Grausen<br />
daran erinnern, wie die Siemens AG im<br />
Frühjahr 2004 versuchte, die Belegschaften<br />
der Handyproduktion in Bocholt und<br />
Kamp-Lintfort in die Geiselhaft zu nehmen.<br />
Die Siemens AG drohte: Entweder arbeiten<br />
die Belegschaften fünf Stunden pro Woche<br />
länger – natürlich unentgeltlich – und<br />
nehmen weitere Einkommensverluste um<br />
20 Prozent zusätzlich hin, oder das Unternehmen<br />
wird die Produktion komplett<br />
nach Ungarn verlagern. Denn in Ungarn<br />
warten Bedingungen auf Siemens, wovon<br />
Konzerne träumen: Eine moderne Fabrik<br />
auf der grünen Wiese, das Gelände für einen<br />
Euro von der Regierung überlassen; für<br />
mindestens zehn Jahre garantiert niedrigste<br />
Steuersätze; Übernahme der Investitionskosten<br />
seitens der Ungarischen Regierung<br />
zwischen 25 und 37 Prozent, finanziert<br />
aus dem Strukturfonds der Europäischen<br />
Union; und niedrige Löhne und schwache<br />
Gewerkschaften. Selbst die Verlagerungskosten<br />
wären für Siemens vorteilhaft, da<br />
sie als Betriebsausgaben steuermindernd<br />
angezeigt werden können.<br />
Der Fall Siemens ist nur die Spitze des<br />
Eisbergs. Diese Strategie der Konzerne<br />
beschränkt sich nicht auf Deutschland.<br />
Überall in Europa und in der fernen<br />
Welt werden Belegschaften erpresst,<br />
um Arbeitnehmer/innen und ihre Gewerkschaften<br />
zum Verzicht auf tarifliche<br />
Leistungen zu zwingen. Regierungen und<br />
Parlamente werden mit Kapitalflucht und<br />
Verlagerung von Arbeitsplätzen unter<br />
Druck gesetzt.<br />
Man stelle sich vor, Unternehmen würden<br />
weltweit nicht nur optimale Produktionsbedingungen<br />
finden, sondern sie<br />
könnten sich „ihre“ Gewerkschaften<br />
selbst aussuchen! Reibungsloser kann<br />
der globale Kapitalismus nicht funk-<br />
tionieren. Das ist kein Horrorszenario.<br />
Exemplarisches Beispiel hierfür ist der Fall<br />
Grammer in der Türkei. Dort versuchte<br />
die Geschäftsführung des deutschen<br />
Automobilzulieferers Grammer, mit<br />
Hilfe der konservativen Türkmetal die<br />
vereinigte Metallarbeitergewerkschaft<br />
Birlesik-Metal auszugrenzen. In einer<br />
Nacht- und Nebelaktion wurde Mitgliedern<br />
von Birlesik-Metal gekündigt<br />
und industriell unerfahrene Menschen<br />
eingestellt. Diese nahm man dann in die<br />
Türkmetal auf, damit die arbeitgebernahe<br />
Gewerkschaft Türkmetal den Vortritt als<br />
zuständige Gewerkschaft bekommt. Nur<br />
Dank Engagement und Einsatz der internationalen<br />
Abteilung der IG Metall, des<br />
EMB, der Betriebs- und Aufsichtsräte von<br />
Grammer und DaimlerChrysler konnte<br />
dieses selbstherrliche Verhalten der Geschäftsführung<br />
von Grammer rückgängig<br />
16
gemacht werden. Doch ausgemerzt ist<br />
dieser Fall von Refeudalisierung von<br />
industriellen Beziehungen und Gewerkschaftskannibalismus<br />
keineswegs. Und<br />
der Fall Grammer ist mit Sicherheit kein<br />
Einzel-, sondern lediglich ein prominenter<br />
Fall.<br />
Gewerkschaften sind bei Strafe ihres<br />
Untergangs gezwungen, sich international<br />
aufzustellen. Dabei geht es<br />
nicht allein um den bei Sonntagsreden<br />
grenzüberschreitender Konferenzen<br />
gepflegten Internationalismus, der zur<br />
Routine geworden ist und allmählich<br />
überwunden werden muss. Denn, so<br />
genuin internationalistisch und altruistisch<br />
sind Gewerkschaftsvertreter doch<br />
nicht, da sie unmittelbar und konkret die<br />
Interessen ihrer zahlenden Mitglieder zu<br />
vertreten haben. Es ist schon schwierig<br />
genug, die Interessen deutscher Standorte<br />
eines Unternehmens auszugleichen.<br />
Wenn es um die Arbeitsplätze deutscher<br />
Arbeitnehmer/innen geht, sind Gewerkschafter<br />
nicht selten „nationalistisch“<br />
(Michael Sommer), manchmal sogar<br />
„lokalpatriotisch“. Da Betriebsräte in<br />
erster Linie „ihren“ Belegschaften verpflichtet<br />
sind, setzen sie in Gelsenkirchen<br />
oder Bochum andere Prioritäten als ihre<br />
Betriebsratskollegen in Ludwigsburg<br />
oder Rüsselsheim.<br />
Dieses Verhalten scheint moralisch<br />
vertretbar und politisch alternativlos<br />
zu sein. Gewerkschafter werden immer<br />
gezwungen sein, die unmittelbaren<br />
Interessen der von ihnen vertretenen<br />
Arbeitnehmer/innen zu verteidigen.<br />
Doch diese Politik ist und bleibt perspektivlos,<br />
sofern sie im lokalen Rahmen<br />
verhaftet bleibt.<br />
Eine internationale Verankerung der<br />
Gewerkschaftsarbeit ist unerlässlich, will<br />
man die erpresserische Verlagerungsdrohung<br />
überwinden. Die deutschen<br />
Industriestandorte können nicht gegen<br />
niedrige Löhne und Steuern, Missachtung<br />
von Arbeits- und Umweltschutz,<br />
marktwidrige Subventionen und repressive<br />
Politik gegen Gewerkschaften im<br />
Ausland konkurrieren. Wenn deutsche Industrieunternehmen<br />
annähernd gleiche<br />
Produktivitäts- und Qualitätsstandards<br />
sowie zuverlässige rechtliche Rahmenbedingungen<br />
für deutlich niedrigere<br />
Produktionskosten im Ausland vorfinden,<br />
werden sie Arbeitsplätze verlagern. Wenn<br />
sie sich dazu noch „ihre“ Gewerkschaften<br />
selbst aussuchen und formen können,<br />
werden sie zusätzlich motiviert sein,<br />
verstärkt im Ausland zu investieren bzw.<br />
Produktion ins Ausland zu verlagern.<br />
Damit dürfte klar sein, dass eine Internationalisierung<br />
der Gewerkschaftsarbeit<br />
keine einseitige, altruistisch<br />
motivierte Solidarität der deutschen<br />
Gewerkschaften mit ihren ausländischen<br />
Schwestergewerkschaften ist, sondern<br />
perspektivisches Handeln im Eigeninteresse.<br />
International abgestimmte Gewerkschaftsarbeit<br />
bedeutet also sowohl<br />
konkrete internationale Solidarität als<br />
auch wirksame Interessenvertretung auf<br />
nationaler und lokaler Ebene. Sie ist vor<br />
allem ein Beitrag zum Schutz und zur<br />
Stärkung der eigenen Mitglieder bzw.<br />
der eigenen (Ver-)Handlungsposition und<br />
in zweiter Linie ein Solidaritätsbeitrag<br />
mit den Schwestergewerkschaften im<br />
Ausland.<br />
Die Unterstützung ausländischer Gewerkschaften<br />
gegen mächtige Kapitalinteressen,<br />
das Eintreten für eine<br />
Harmonisierung von Arbeitsrecht und<br />
Durchsetzung von Mindestarbeitsnormen<br />
der ILO, Kampf für soziale und ökologische<br />
Mindeststandards und Mindestunternehmenssteuern<br />
– das alles darf<br />
nicht mit paternalistischem Gehabe und<br />
besserwisserischer Arroganz erfolgen,<br />
sondern unter Beachtung kultureller und<br />
nationaler Besonderheiten, Entwicklungen<br />
und Erfahrungen.<br />
17
Internationale Gewerkschaftsarbeit ist<br />
mühselig, braucht einen langen Atem<br />
und Sensibilität:<br />
Sprach- und Verständigungsprobleme,<br />
besondere historisch-politisch-kulturelle<br />
Prägungen, unterschiedliche ökonomisch-soziale<br />
Standards, verschiedene<br />
Ziele, Prioritäten und Orientierungen,<br />
ungleiche rechtliche Rahmenbedingungen<br />
und die Existenz mehrerer ideologisch-politisch<br />
konkurrierender Gewerkschaften<br />
erschweren die operative Kooperation<br />
und Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften<br />
auf internationaler Ebene.<br />
Wirksame internationale Gewerkschaftsarbeit<br />
muss neben Vorständen und<br />
Bezirksleitungen natürlich auch die Verwaltungsstellen<br />
mit einbeziehen.<br />
Die Verwaltungsstellen könnten mit eigenen<br />
Bordmitteln und ihren ehrenamtlichen<br />
Funktionären eine Kooperation organisieren<br />
und langfristig am Leben halten.<br />
Dabei müssten Kooperationen zwischen<br />
Wirtschaftsregionen die Priorität haben.<br />
Viele IG Metall-Verwaltungsstellen<br />
haben enorme Manpower und brachliegendes<br />
Potential, um internationale<br />
Gewerkschaftskooperationen zu starten<br />
und langfristig zu pflegen: Erfahrene,<br />
qualifizierte, motivierte Funktionäre<br />
– darunter zahlreiche Kollegen/innen<br />
mit Migrationshintergrund. Diese beherrschen<br />
in der Regel mehrere Sprachen,<br />
haben Kontakte zu den Ländern Süd-,<br />
Ost- und Südosteuropas und zu Gewerkschaften<br />
ihrer Herkunftsländer. Solche IG<br />
Metall-Funktionäre mit Basiserfahrungen<br />
können als „Grenzgänger“ oder als<br />
„Brücke“ helfen, Verständigungsprobleme<br />
sprachlicher, kultureller und<br />
politischer Art zu überwinden.<br />
Zudem wissen wir aus internationalen<br />
bzw. binationalen Seminaren, dass <strong>unsere</strong><br />
ehrenamtlichen Funktionäre in vielen<br />
Feldern tätig sind, wie zum Beispiel:<br />
Arbeits-, Umwelt- und<br />
Gesundheitsschutz<br />
Lohnfindung und<br />
Lohngestaltung<br />
Arbeitszeitgestaltung und<br />
Arbeitszeitmodelle<br />
Berufliche Bildung und<br />
Qualifikation<br />
Sozial-, Steuer- und<br />
Verteilungspolitik<br />
Globale Unternehmensstrategien<br />
und Zukunft der Arbeit<br />
Gestaltung der Arbeitsbedingungen<br />
und ILO-Standards<br />
Über Kompetenzen verfügen,<br />
die in den internationalen<br />
Gewerkschaftskooperationen<br />
gefragt sind.<br />
18
Argumente für Gewerkschaftskooperationen<br />
mit der Türkei<br />
Folgende Gründe sprechen z. B. dafür,<br />
die Kooperation mit der Türkei zu vertiefen:<br />
Das Volumen der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen<br />
zwischen Deutschland<br />
und der Türkei ist beachtlich und wächst<br />
kontinuierlich.<br />
Mehr als 1.200 deutsche Unternehmen<br />
mit ihren Produktions- und/oder<br />
Vertriebsstätten sind in der Türkei<br />
operativ tätig, Tendenz steigend. Davon<br />
sind fast ein Drittel dem Organisationsbereich<br />
der IG Metall zuzuordnen,<br />
nämlich der Metallwirtschaft sowie der<br />
Textil- und Bekleidungsindustrie.<br />
Die türkische Wirtschaft steht weltweit<br />
auf Platz 20, mit hohen Wachstumsraten<br />
und Perspektiven als Produktions- und<br />
Absatzmarkt. Diese wirtschaftliche<br />
Entwicklungsdynamik wartet auf ihre<br />
Freisetzung.<br />
Die Türkei – selbst wenn sie erst in<br />
zehn bis fünfzehn Jahren EU-Mitglied<br />
wird oder selbst wenn die Aufnahmeverhandlungen<br />
scheitern sollten – hat<br />
bereits privilegierte Beziehungen zur EU,<br />
da sie seit 1963 assoziiertes Mitglied<br />
und das einzige Land ist mit einem<br />
Zollabkommen.<br />
Die Türkei ist bereits in Europa: Über<br />
vier Millionen türkischstämmige Bürger/innen<br />
leben bereits seit Jahrzehnten<br />
in Europa. Und: Die über 2,5 Millionen<br />
türkischstämmigen Bürger/innen,<br />
davon rund 700.000 mit deutscher<br />
Staatsbürgerschaft - bilden die größte<br />
ethnische Minderheit in Deutschland.<br />
Diese Minderheit stellt nicht nur eine<br />
wichtige Brücke zur Türkei dar, zu<br />
dieser Minderheit gehören mehr als<br />
500.000 sozialversicherungspflichtige<br />
abhängig Beschäftigte, also Steuer- und<br />
Beitragszahler, sowie ca. 60.000 türkische<br />
Selbständige, die rund 300.000<br />
Arbeitnehmer/innen beschäftigen.<br />
(Nach einer Prognose des Zentrums für<br />
Türkeistudien werden im Jahre 2015<br />
rund 120.000 türkische Selbständige in<br />
Deutschland 720.000 Mitarbeiter/innen<br />
beschäftigen.)<br />
Rund 120.000 IG Metall-Mitglieder<br />
türkischer Herkunft machen fast 50<br />
Prozent aller nichtdeutschen Mitglieder<br />
der IG Metall aus.<br />
Nihat Öztürk, 2. Bevollmächtigter der<br />
IGM in Düsseldorf/Neuss<br />
19
Sannah Koch (Journalistin)<br />
Containerweise Beziehungen<br />
Hamburger GEW pflegt Partnerschaft mit Nicaragua<br />
Seit zwei Jahrzehnten beteiligen<br />
sich auf Betreiben der<br />
GEW in Hamburg etliche Bildungseinrichtungen<br />
daran, jedes<br />
Jahr einen großen Container mit<br />
Schulmaterialien und Werkzeug<br />
für Nicaragua zu füllen. Aus der<br />
anfänglichen Spendenaktion entwickelte<br />
sich eine lebendige Partnerschaft.<br />
Ein privater Anlass hatte den Lehrer und<br />
Gewerkschafter Horst Stöterau 1984 in<br />
das mittelamerikanische Land gelockt.<br />
„Eine ehemalige Kollegin arbeitete dort<br />
und lud mich ein, mir vor Ort ein Bild<br />
von der politischen Lage zu machen“,<br />
erzählt Stöterau. Und die war für die<br />
deutsche Linke damals hochinteressant:<br />
die Sandinisten hatten Ende 1979 den<br />
Diktator Somoza gestürzt, im Nachbarland<br />
El Salvador versuchten Rebellen<br />
es den Sandinisten nachzutun. Viele<br />
politisch Interessierte identifizierten sich<br />
mit den Befreiungsbewegungen in Mittelamerika.<br />
Als Stöterau 1984 in die Hauptstadt<br />
Managua flog, hatte er 60 Kilogramm<br />
gespendetes Spielzeug für Kindergärten<br />
im Gepäck. „Im Flughafen haben sie<br />
mich mit dem Übergewicht problemlos<br />
durch den Zoll gelassen,“ erinnert er sich<br />
schmunzelnd, „das war damals die Zeit,<br />
da sind viele mit Sachspenden im Gepäck<br />
dorthin geflogen.“ Mit im Rucksack hatte<br />
der Lehrer Kontaktadressen zu drei Schulen<br />
in León, denn die Hamburger GEW<br />
war an Schulpartnerschaften interessiert.<br />
Die Regierung der Sandinisten hatte eine<br />
ehrgeizige Alphabetisierungskampagne<br />
im Land gestartet, aber ein großer Teil<br />
der Bevölkerung war zu arm, um sich<br />
Lernmaterial zu kaufen. „Unsere Idee<br />
war damals, jeden Schüler zumindest<br />
mit Bleistift und Papier auszustatten“,<br />
so Horst Stöterau.<br />
1984 wurde eine Mittelamerika-Gruppe<br />
innerhalb der GEW gegründet, die<br />
gemeinsam mit dem Nicaragua-Verein<br />
Hamburg das erste Schulmaterial nach<br />
León auf den Weg brachte. Der Container<br />
wurde 1985 im Rahmen einer Aktions-<br />
20
woche „Hamburger tun was für León“<br />
gefüllt; schon an dieser ersten Sammlung<br />
waren 25 Schulen beteiligt. Ergebnis: 16<br />
Kubikmeter Unterrichtsmaterialien im<br />
Wert von 43.000 Mark. Seitdem rühren<br />
die Hamburger GEWler jedes Jahr die<br />
Werbetrommeln für die Befüllung des<br />
Nicaragua-Containers.<br />
Auch der gewerkschaftliche Kontakt<br />
über die Kontinente verstärkte sich. Die<br />
über die Jahre gewachsene Zusammenarbeit<br />
der Hamburger GEW und der<br />
nicaraguensichen Gewerkschaft ANDEN<br />
ermöglicht heute die reibungslose Organisation<br />
der Spendenverteilung. In den<br />
Anfangsjahren der Solidaritätsarbeit,<br />
so erinnert sich Stöterau, hat sich der<br />
Bundesvorstand der GEW gegenüber<br />
den Sandinisten eher reserviert verhalten.<br />
Nach Treffen mit sandinistischen Gewerkschaftsführern<br />
habe sich das Verständnis<br />
füreinander jedoch schnell verbessert, so<br />
dass man den Austausch zwischen den<br />
Vorständen der GEW und der ANDEN<br />
heute als freundschaftlich, ja geradezu<br />
als vorbildhaft für das Verhältnis von<br />
Gewerkschaftern der Ersten und Dritten<br />
Welt bezeichnen könne.<br />
Immerhin spendet die Hamburger GEW<br />
seit Jahren auch noch jährlich 25.000<br />
Euro für Gewerkschaftsarbeit der AN-<br />
DEN. Damit werden dort nicht nur eine<br />
Vollzeitstelle, Gewerkschaftstreffen und<br />
Fortbildungen in León bezahlt. Im Frühjahr<br />
2005 wurde auch ein landesweiter<br />
Streik der Lehrer für eine lange angekündigte,<br />
aber nicht erfolgte Lohnerhöhung<br />
finanziell unterstützt. Er hatte Erfolg:<br />
nach 15 Jahren bekommen die Kollegen<br />
in Nicaragua jetzt erstmals 30 Dollar<br />
mehr im Monat.<br />
Die Zahl der Schulkontakte und Partnerschaften<br />
ist stetig gewachsen. Bildungsreisen<br />
von Hamburger Lehren nach<br />
León gehören inzwischen zum festen<br />
Repertoire der Zusammenarbeit. „Dabei<br />
steht weniger der Austausch über didaktische<br />
Methodik oder Lerninhalte im<br />
Vordergrund, sondern die Diskussion und<br />
Information über die jeweiligen Bildungssysteme<br />
und Arbeitsbedingungen“, sagt<br />
Horst Stöterau. Nicht zuletzt aufgrund<br />
des regen Gewerkschaftsengagements<br />
beschloss die Hansestadt Hamburg<br />
1989 offiziell, eine Städtepartnerschaft<br />
mit León zu schließen. Seitdem können<br />
Schüler und Jugendliche an einem<br />
Austausch teilnehmen, der von den<br />
Jugendorganisationen Leóns und der<br />
Arbeitsgemeinschaft Freier Jugendverbände<br />
in Hamburg organisiert und vom<br />
Hamburger Senat finanziert wird.<br />
„Ich habe mich unheimlich gefreut, in<br />
León zu sehen, wie nützlich <strong>unsere</strong> Spenden<br />
für <strong>unsere</strong> Partnerschule dort sind,“<br />
erzählt Natalja Rudi. Die 18 jährige Hamburgerin<br />
hat im Sommer 2005 an einem<br />
vierwöchigen Jugendaustauschprogramm<br />
teilgenommen. Ihre Schule schickt schon<br />
lange Spendenmaterialien im Container in<br />
die Partnerstadt. In León hat Natalja aber<br />
nicht nur Urlaub gemacht, sondern auch<br />
beim Bau eines neues Gasthauses für den<br />
Jugendaustausch mitgeholfen. Besonders<br />
beeindruckt war sie von der Lebensfreude<br />
ihrer Gastgeber. „Die Menschen sind dort<br />
wirklich arm, aber es ist einmalig anzusehen,<br />
mit welch strahlenden Gesichtern sie<br />
schon morgens aufstehen“, sagt Natalja.<br />
Sie ist mit einem Bündel neuer Freundschaften<br />
heimgekehrt und schickt jeden<br />
Tag Nachrichten per Mail nach León.<br />
Mittlerweile pflegen in der Hansestadt<br />
30 Bildungseinrichtungen Partnerschaften<br />
mit Einrichtungen in Nicaragua:<br />
Sie unterstützen Grundschulen, Sekundarschulen,<br />
Kindertagesstätten, eine<br />
Schule für handwerkliche Ausbildung,<br />
kommunale Vorschulen, Landschulzentren,<br />
Schulen des zweiten Bildungswegs<br />
sowie verschiedene Einrichtungen an<br />
der Universität. In Nicaragua bildet jede<br />
Partnerschule ein Solidaritätskomitee aus<br />
Lehrern, Schülern und Elternvertretung.<br />
Diese Komitees treffen sich regelmäßig<br />
bei der Lehrergewerkschaft, werden dort<br />
über die Hamburger Partnerschulen informiert<br />
und organisieren den Briefwechsel<br />
nach Hamburg. Schüler der Hansestadt<br />
werden unterdessen von ihren Lehrern<br />
über die Arbeitsbedingungen an Schulen<br />
in León, über die dortigen Lebensbedingungen<br />
sowie über die Verwendung ihrer<br />
Spenden auf dem Laufenden gehalten.<br />
Inzwischen gibt es sogar Arbeitsbesuche:<br />
„Hamburger Schüler haben in Nicaragua<br />
auch schon bei der Installation von Solarsystemen<br />
und Bewässerungsanlagen<br />
geholfen“, erzählt Stöterau.<br />
Mit den Kollegen in der Mittelamerika-<br />
Gruppe der GEW hat er Höhen und Tiefen<br />
erlebt – vor allem nach der Abwahl der<br />
Sandinisten im Jahr 1990. Doch mit<br />
der nächsten Generation gewinnt die<br />
Partnerschaft an Boden. Und, da ist sich<br />
Horst Stöterau sicher, die Nicaragua-Container<br />
werden auch noch in den nächsten<br />
Jahren gut gefüllt in die Ferne verschickt<br />
werden können.<br />
21
Sannah Koch<br />
Lernen mit Herz und Hand<br />
IG Metalljugendliche bereisen Brasilien und Kuba<br />
Auf Augenhöhe voneinander<br />
lernen – das ist der Grundgedanke<br />
des Jugendaustauschprogramms<br />
der IG Metall. Andrea<br />
und Marc haben diese Erfahrung<br />
bereits machen können, Romana<br />
steht sie noch bevor. Die drei sind<br />
Teilnehmer dieses Austauschprogramms,<br />
das regelmäßig Delegationen<br />
nach Nicaragua, Brasilien, Kuba<br />
und Südafrika organisiert.<br />
Die jungen Gewerkschafter bekommen<br />
auf ihren Reisen Einblicke in fremde Arbeits-<br />
und Lebensbedingungen, treffen<br />
auf andere engagierte Menschen, können<br />
sich vor Ort selber ein Bild machen und<br />
gleichzeitig aktiv Unterstützung leisten.<br />
Die politischen Umwälzungen in Mittelamerika<br />
Mitte der achtziger Jahre<br />
waren für die IG Metall-Jugend der<br />
erste Anstoß, über die Entsendung von<br />
Arbeitsbrigaden nachzudenken. Nach<br />
dem Sturz des Diktators Somoza durch<br />
die Sandinisten in Nicaragua wollte die<br />
Gewerkschaftsjugend dort aktiv bei der<br />
Umgestaltung der Gesellschaft in eine<br />
Demokratie helfen. Es sollten nicht nur<br />
Spenden oder Solidaritätserklärungen<br />
sein, sondern direkte, praktische Unterstützung<br />
vor Ort. In ideeller Anlehnung<br />
an die Brigaden des Spanischen Bürgerkriegs<br />
der dreißiger Jahre entsandten die<br />
Metaller 1985 die erste Brigade nach<br />
Nicaragua. 26 Kollegen flogen damals<br />
während ihres Jahresurlaubs für vier<br />
Wochen in das mittelamerikanische Land<br />
und stellten ihr technisches Know-how<br />
in drei Staatsbetrieben für Stahlhochbau<br />
und Personenverkehr zur Verfügung.<br />
Die praktische Unterstützungsarbeit<br />
gefiel beiden Seiten: Im folgenden Jahr<br />
reiste die zweite Brigade in das kleine<br />
Land und brachte gleichzeitig gespendete<br />
Werkzeuge und Maschinen im Wert<br />
von 60.000 Euro mit. In den Folgejahren<br />
wurde die Arbeit noch erweitert: Zwei<br />
deutsche Kollegen blieben in Nicaragua,<br />
um für die nächsten Jahre ein Ausbildungsprojekt<br />
zum Maschinenschlosser<br />
und Elektriker anzuleiten.<br />
Doch dann kam das Jahr 1990. Eine<br />
konservative Regierung löste damals die<br />
Sandinisten ab, die bislang unterstützten<br />
Betriebe wurden reprivatisiert. „Die<br />
Wahlniederlage der Sandinisten hat uns<br />
in große Ratlosigkeit gestürzt“, räumt der<br />
Leipziger IG Metall-Gewerkschaftssekretär<br />
Thomas Steinhäuser ein. „Es war eine<br />
Zeit der Desillusionierung. Es war schwer,<br />
Kollegen für internationale Themen zu interessieren“.<br />
Ein Umdenken war notwendig.<br />
Schließlich wurden neue Kontakte<br />
zu Nichtregierungsorganisationen in Nicaragua<br />
aufgebaut, die Arbeitsbrigaden<br />
wandelten sich in Gewerkschaftsdelegationen,<br />
die sich heute bei ihren Besuchen<br />
vor allem mit den Arbeitsbedingungen<br />
der Textilarbeiterinnen in den unzähligen<br />
freien Produktionszonen Nicaraguas<br />
auseinandersetzen.<br />
1995 wurde Brasilien ins das Repertoire<br />
des Programms aufgenommen, 1999<br />
folgte Südafrika und 2001 schließlich<br />
Kuba. Heute ist es ein echter Austausch:<br />
es reisen nicht mehr jedes Jahr Brigaden<br />
ins Ausland, sondern es werden im jährlichen<br />
Wechsel Delegationen aus den<br />
Partnerländern in Deutschland empfangen.<br />
Dabei findet, so Steinhäuser, „kein<br />
karitatives Bemitleiden statt“, sondern es<br />
werde ausgetauscht, wie und wo beide<br />
Seiten voneinander profitieren könnten.<br />
Gewonnen hat beispielsweise Andrea<br />
Puhlmann von ihrer Reise – vor zwei<br />
Jahren kehrte sie hoch motiviert aus<br />
Brasilien zurück. Die junge Berlinerin<br />
hatte vor dem Austausch keine Erfahrung<br />
in der Internationalismusarbeit. „In<br />
meinem Betrieb gab es einen Aushang,<br />
dass man sich für eine Brigade bewerben<br />
kann, und ich war einfach neugierig“,<br />
gibt sie freimütig zu. In Brasilien hat die<br />
IG Metall in den vergangen Jahren ein<br />
funktionierendes <strong>Netz</strong>werk zu Gewerkschaftern<br />
und zur Landlosenbewegung<br />
aufgebaut. Auf ihren Reisen besuchen<br />
die deutschen Brigadisten meist Camps<br />
der Landlosen, helfen dort beim Bau von<br />
Schulen und treffen außerdem zahlreiche<br />
Gewerkschafter. “Mir ist da unheimlich<br />
klar geworden, wie wichtig Gewerkschaftsarbeit<br />
ist“, erzählt Andrea, „die<br />
Probleme der Arbeiter sind denen der<br />
Arbeiter in Deutschland sehr ähnlich.“<br />
Seit ihrer Rückkehr engagiert sich Andrea<br />
aktiv bei der IG Metall, begleitet nun<br />
auch Brigaden ins Ausland und betreut<br />
Besucherdelegationen.<br />
22
Die Berliner Studentin Romana Dietzold<br />
sieht ihrer Reise mit sehr konkreten<br />
Erwartungen entgegen. Sie zählt sich<br />
schon lange zu den Globalisierungskritikern<br />
und möchte mit den brasilianischen<br />
Gewerkschaftern darüber reden,<br />
wie diese ihre Politik unter einer linken<br />
Regierung durchsetzen. „Ihre Situation<br />
ist ähnlich kompliziert wie die <strong>unsere</strong>r<br />
Gewerkschaften unter einer Regierung<br />
Schröder“, meint Romana.<br />
Marc Warlich haben die zwischenmenschlichen<br />
Aspekte seines Kubabesuchs<br />
nachhaltig beeindruckt. An der<br />
Möglichkeit nach Kuba zu reisen hat<br />
ihn besonders interessiert, sich diese<br />
Form des Sozialismus einmal „live“<br />
anzuschauen. Er half mit seiner Brigade<br />
in Havanna bei der Renovierung einer<br />
Arztpraxis. „Ich fand es unglaublich,<br />
wie zufrieden die Menschen dort trotz<br />
ihres begrenzten Wohlstands sind“. Ihm<br />
sei dort bewusst geworden, wie wichtig<br />
Motivation für einen gesellschaftlichen<br />
Wandel ist.<br />
Das Jugendaustauschprogramm ist<br />
mittlerweile ein fester Bestandteil der<br />
Arbeit der IG Metall. „Internationale<br />
Solidarität war schon immer ein Teil der<br />
gewerkschaftlichen Arbeit“, sagt Thomas<br />
Steinhäuser. Das habe sich zwar immer<br />
noch nicht in allen Gewerkschaftsköpfen<br />
festgesetzt, doch in der Bildungsarbeit<br />
nehme dieses Thema einen wachsenden<br />
Stellenwert ein. Damit ein zu niedriges<br />
Einkommen kein Hindernis für die Teilnahme<br />
an dem Programm ist, können die<br />
Jugendlichen einen Zuschuss bekommen.<br />
Einzige Voraussetzung ist ein Höchstalter<br />
von 25 und Mitgliedschaft in der Gewerkschaft.<br />
„Schließlich werden die Teilnehmer<br />
im Ausland als Gewerkschaftsrepräsentanten<br />
wahrgenommen“, so Steinhäuser.<br />
Deshalb müssen sie auch an den Vorbereitungsseminaren<br />
teilnehmen, in denen sie<br />
über Land und Leute sowie ihre Rolle dort<br />
unterwiesen werden. Zurück kommen sie<br />
nicht nur mit politischen Erfahrungen. Die<br />
Freundschaften und Beziehungen, die aus<br />
den Treffen erwachsen, sind mindestens<br />
ebenso bedeutsam.<br />
23
Sannah Koch<br />
Veränderung durch Kopf<br />
und Konto<br />
„publik“-Leser spenden für Kinderarbeiter in Indien<br />
Solidaritätsbekundungen mit<br />
dem Portemonnaie sind eine<br />
eher indirekte Form der internationalen<br />
Gewerkschaftsarbeit. In<br />
Verbindung mit Information können<br />
sie aber auch auf der Geberseite<br />
Veränderung bewirken, glauben<br />
Journalisten bei ver.di.<br />
Die Redaktion der ver.di-Zeitung „publik“<br />
setzte im Jahr 2004 auf ihre Auflagenstärke,<br />
als sie Mitglieder und Leserinnen um<br />
finanzielle Unterstützung für ein Projekt<br />
der Hilfsorganisation „terre des hommes“<br />
bat. Es ging um ein Vorhaben, das darauf<br />
abzielte, junge Menschen auf der anderen<br />
Hälfte der Erde von der Lohnarbeit<br />
abzubringen. Als Gewerkschaft? Ja, denn<br />
das Motto des Projekts lautete „Schule<br />
statt schuften!“ und richtete sich gegen<br />
Kinderarbeit in Indien.<br />
Martin Kempe, Chefredakteur von „publik“,<br />
wollte „etwas für die Menschen auf<br />
der untersten Stufe der Ausbeutung tun,<br />
für die Arbeiter in den Billiglohnländern“.<br />
24
Zugleich aber ging es ihm mit dem vom<br />
ver.di-Bundesvorstand abgesegneten<br />
Spendenaufruf um die Stärkung eines<br />
internationalen Bewusstseins: „Auch<br />
die Menschen hier beginnen langsam<br />
den Druck der Globalisierung auf ihre<br />
Arbeitsplätze zu spüren“, sagt er. Zwar<br />
sei im Dienstleistungssektor der Internationalismus-Begriff<br />
noch sehr auf die<br />
EU focussiert, so Kempe, weil die großen<br />
Unternehmen sich noch eher auf dem<br />
europäischen als auf dem internationalen<br />
Parkett bewegten. Doch auch hier ist<br />
nach seiner Einschätzung der Schritt zur<br />
Globalisierung der Konzerne nur noch<br />
eine Frage der Zeit. „Und da ver.di derzeit<br />
aktiv nach Bündnispartnern jenseits des<br />
gewerkschaftlichen Tellerrands sucht“,<br />
erklärt Kempe, „lag eine Zusammenarbeit<br />
mit einer Organisation aus dem Bereich<br />
Entwicklungspolitik nahe.“<br />
Bei dem dafür ausgewählten „terre des<br />
hommes“-Projekt „Psychotrust“ stehen<br />
bessere Zukunftschancen für Schulkinder<br />
in Indien im Mittelpunkt der Bemühungen.<br />
Kinderarbeit ist per Gesetz in fast<br />
allen Ländern der Erde verboten, auch<br />
in Indien. Trotzdem gehen weltweit über<br />
200 Millionen Kinder einer Lohnarbeit<br />
nach, um ihr eigenes und das Überleben<br />
ihrer Familie zu sichern. Im südindischen<br />
Bundesstaat Tamil Nadu beschert eine<br />
florierende Textilindustrie und zahllose<br />
Edelsteinschleifereien nicht nur Erwachsenen,<br />
sondern auch tausenden Kindern<br />
unter 14 Jahren Lohnarbeit. Zehn bis<br />
zwölf Stunden schuften die Kleinen<br />
hier, ihr Lohn fließt in die Familienkasse.<br />
Umgerechnet etwa acht Euro beträgt<br />
das Monatsgehalt eines kindlichen<br />
Edelsteinschleifers. Das reicht immerhin<br />
für die monatliche Reisration einer fünfköpfigen<br />
Familie.<br />
Die Kinder wollen und müssen ihren<br />
Familien helfen. Deswegen hätte ein<br />
schlichtes Beharren auf das in Indien<br />
herrschende Kinderarbeitsverbot wenig<br />
Sinn. Das Projekt „Psychotrust“ pocht aus<br />
diesem Grund auch nicht auf das Gesetz,<br />
sondern investiert in Bildung – und zwar<br />
in eine Form, die mit der Kinderarbeit<br />
kombinierbar ist. „Psychotrust“ betreibt<br />
in dem südindischen Bundesstaat zwölf<br />
Abendschulen, in denen Kinder nach<br />
der Arbeit etwas für ihre Zukunft lernen<br />
können. Denn viele von ihnen träumen<br />
von einer Ausbildung und einem richtigen<br />
Job. In diesen Schulen werden sie in ihren<br />
Träumen und Zielen bestärkt.<br />
Das Konzept von „Psychotrust“ überzeugte<br />
offensichtlich auch die publik-Leserinnen:<br />
Einen Monat nach der Berichterstattung<br />
verzeichnete das Spendenkonto<br />
einen Eingang von knapp 15.000 Euro.<br />
„Ich hatte mir ehrlich gesagt noch ein<br />
bisschen mehr erhofft“, räumt Martin<br />
Kempe ein. Allerdings wurde bewusst<br />
darauf verzichtet, gefühlsbetont über<br />
die Situation der Kinder zu berichten.<br />
Tränenrühriger Boulevardstil könne zwar<br />
die Spendenbereitschaft erhöhen, doch für<br />
ihn stehe sachliche Aufklärung im Vordergrund.<br />
Schließlich müssen Veränderungen<br />
langfristig in den Köpfen stattfinden und<br />
nicht nur im Geldbeutel.<br />
25
Kernarbeitsnormen<br />
Die Grundprinzipien der Internationalen<br />
Arbeitsorganisation - IAO<br />
Vier Grundprinzipien bestimmen Selbstverständnis und Handeln der IAO seit ihrer<br />
Gründung:<br />
Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen<br />
Beseitigung der Zwangsarbeit<br />
Abschaffung der Kinderarbeit<br />
Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf<br />
Diese Grundprinzipien haben in acht Übereinkommen, die auch als Kernarbeitsnormen<br />
bezeichnet werden, ihre konkrete Ausgestaltung erfahren:<br />
Übereinkommen 87 Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechtes, 1948<br />
Übereinkommen 98 Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen, 1949<br />
Übereinkommen 29 Zwangsarbeit, 1930<br />
Übereinkommen 105 Abschaffung der Zwangsarbeit, 1957<br />
Übereinkommen 100 Gleichheit des Entgelts, 1951<br />
Übereinkommen 111 Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf), 1958<br />
Übereinkommen 138 Mindestalter, 1973<br />
Übereinkommen 182 Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der<br />
schlimmsten Formen der Kinderarbeit, 1999<br />
Die vier Grundprinzipien beschränken sich allerdings nicht auf die acht Kernarbeitnormen;<br />
als tragende Orientierungs- und Handlungsmaximen der IAO durchziehen<br />
sie eine Vielzahl anderer Übereinkommen und Empfehlungen.<br />
Die IAO-Erklärung über<br />
grundlegende Rechte<br />
bei der Arbeit<br />
Die IAO-Kernarbeitsnormen haben im<br />
Juni 1998 eine besondere politische<br />
Aufwertung erfahren, als die „Erklärung<br />
über die grundlegenden Prinzipien und<br />
Rechte bei der Arbeit“ auf der 86. Tagung<br />
der Internationalen Arbeitskonferenz<br />
ohne Gegenstimme angenommen wurde.<br />
Damit bekennen sich alle Mitgliedstaaten<br />
der Organisation ausdrücklich<br />
zu den Kernarbeitsnormen.<br />
Die Erklärung beginnt mit einer eindeutigen<br />
Positionsbestimmung. Sie<br />
betont, dass die Gründung der IAO in<br />
der Überzeugung erfolgte, dass soziale<br />
Gerechtigkeit eine wesentliche Voraussetzung<br />
für einen dauerhaften Weltfrieden<br />
ist; dass wirtschaftliches Wachstum<br />
wesentlich ist, aber nicht ausreicht, um<br />
Gerechtigkeit, sozialen Fortschritt und die<br />
Beseitigung von Armut zu gewährleisten;<br />
dass die IAO dafür sorgen muss, dass<br />
im Rahmen einer globalen Strategie für<br />
wirtschaftliche und soziale Entwicklung<br />
sich die Wirtschafts- und Sozialpolitiken<br />
gegenseitig verstärken, damit eine breit<br />
angelegte dauerhafte Entwicklung geschaffen<br />
wird.<br />
Die Erklärung ist eine Konsequenz<br />
daraus, dass die internationale Gemeinschaft<br />
auf dem Weltsozialgipfel in<br />
Kopenhagen 1995 universelle soziale<br />
Regeln zur Begleitung der Globalisierung<br />
einforderte. Die IAO leitete daraufhin<br />
zunächst eine intensive Kampagne ein,<br />
um die Zahl der Ratifikationen der Kernarbeitnormen<br />
zu erhöhen. Zwar konnte<br />
sich das Ergebnis durchaus sehen lassen,<br />
gleichwohl gab es weiterhin eine große<br />
26
Zahl von Mitgliedstaaten, die weit von<br />
der Ratifizierung der Kernarbeitsnormen<br />
entfernt waren. Aus dieser Situation heraus<br />
entstand dann wenige Jahre später<br />
die Überlegung, den Prozess mit der<br />
feierlichen Erklärung über die grundlegenden<br />
Rechte bei der Arbeit verstärkt<br />
voranzutreiben.<br />
Der Erfolg blieb nicht aus. Bislang haben<br />
über 100 IAO-Mitgliedsstaaten alle<br />
Kern- oder Menschenrechtsübereinkommen<br />
ratifiziert. Zu ihnen gehört auch<br />
Deutschland.<br />
Bei dem 1999 verabschiedeten Übereinkommen<br />
zur Kinderarbeit (Ü 182), das<br />
den Kernübereinkommen zugerechnet<br />
wird, ist die Intensität des Ratifizierungsgeschehens<br />
in der Geschichte der IAO<br />
ohne Beispiel. Bisher haben mehr als 150<br />
Mitgliedsstaaten dieses Übereinkommen<br />
ratifiziert.<br />
Folgemechanismus<br />
Die Fortschritte der Mitgliedstaaten<br />
bei der Erfüllung ihrer Pflichten sollen<br />
durch einen regelmäßigen Folgemechanismus<br />
überprüft werden. Dazu<br />
müssen die Mitgliedstaaten jährlich über<br />
ihre Aktivitäten zur Durchsetzung der<br />
Grundprinzipien berichten. Aus diesen<br />
Berichten erstellt der Generaldirektor<br />
der IAO einen Gesamtbericht, der die<br />
Situation weltweit wiedergibt und der<br />
Internationalen Arbeitskonferenz zur<br />
Beratung vorgelegt wird. Dabei soll auch<br />
die technische Hilfe der IAO in diesem<br />
Bereich dargelegt und erörtert werden.<br />
Die laufende Berichterstattung soll mithin<br />
„als Grundlage für die Bewertung der<br />
Wirksamkeit der von der Organisation<br />
geleisteten Unterstützung und für die<br />
Festlegung von Prioritäten dienen“, wie<br />
es in der Erklärung heißt.<br />
Mit diesem Folgemechanismus greift die<br />
Erklärung auf Bewährtes zurück. Schon<br />
die Verfassung der IAO erlegt den Mitgliedstaaten<br />
bestimmte Berichtspflichten<br />
auf. Zu unterscheiden sind Berichte über<br />
die Anwendung ratifizierter Übereinkommen<br />
und solche, die sich mit der Frage<br />
befassen, warum ein Land ein Übereinkommen<br />
noch nicht ratifiziert hat.<br />
Für Staaten, die die Kernarbeitnsormen<br />
nicht ratifiziert haben, wird die Berichterstattung<br />
durch die Erklärung deutlich<br />
erweitert. Auch müssen sie sich künftig<br />
einer konkreten Überwachung ihrer Gesetzgebung<br />
und Praxis unterziehen.<br />
Kein Instrument des Protektionismus<br />
Die Erklärung ist als Appell an die<br />
Mitgliedstaaten der IAO und an die Organisation<br />
selbst zu verstehen. Sie will<br />
ermutigen, fördern, Handlungsimpulse<br />
geben. Sanktionsmöglichkeiten können<br />
aus ihr nicht abgeleitet werden. In der<br />
Erklärung wird vielmehr hervorgehoben,<br />
dass die Normen der IAO , die Erklärung<br />
selbst und ihre Folgemaßnahmen nicht<br />
für handelsprotektionistische Zwecke<br />
verwendet werden dürfen. Diese eindeutige<br />
Feststellung war eine entscheidende<br />
Voraussetzung dafür, dass die feierliche<br />
Erklärung ohne Gegenstimme angenommen<br />
wurde.<br />
27
Anschriften und Webseiten der globalen Gew<br />
G l o b a l U n i o n s F e d e r a t i o n s<br />
Internationale Transportarbeiter-<br />
Föderation (ITF)<br />
624 Mitgliedsgewerkschaften mit über<br />
4,5 Millionen Mitgliedern in 142 Ländern.<br />
49-60 Borough Road,<br />
London SE1 1DR, Großbritannien<br />
Tel: +44 (020) 7403 2733<br />
Fax: +44 (020) 7357 7871<br />
www.itf.org.uk<br />
GU<br />
Bildungsinternationale (BI)<br />
348 Mitgliedsorganisationen in 166<br />
Ländern mit 29 Mio. Mitgliedern<br />
5 Bd du Roi Albert II, B-1210 Brüssel, Belgien<br />
Tel: +32 (0)2 224 0611<br />
Fax: +32 (0)2 224 0606<br />
www.ei-ie.org<br />
GU<br />
Intern. Föderation von Chemie-, Energie-,<br />
Bergbau- und Fabrikarbeiterverbänden<br />
(ICEM)<br />
403 Mitgliedsgewerkschaften, über<br />
20 Millionen Mitgliedern in 122 Ländern.<br />
Avenue Emile de Béco, 109<br />
B-1050 Brüssel, Belgien<br />
Tel: +32 (0)2 6262020<br />
Fax: +32 (0)2 6484316<br />
www.icem.org<br />
GU<br />
Bau- und Holzarbeiter Internationale<br />
– BHI<br />
350 Mitgliedsgewerkschaften, über<br />
12 Millionen Mitgliedern in 135 Ländern.<br />
54, Route des Acacias,<br />
CH-1227 Carouge (GE), Schweiz<br />
Tel: +41 22 827 37 77<br />
Fax: +41 22 827 37 70<br />
www.bwint.org<br />
GU<br />
Internationale Journalisten-Föderation<br />
(IJF)<br />
164 Mitgliedsgewerkschaften, über<br />
500.000 Mitgliedern in 117 Ländern.<br />
IPC-Residence Palace, Bloc C , Rue de la<br />
Loi 155, B-1040 Brüssel, Belgien<br />
Tel +32 (0)2 235 22 00<br />
Fax +32 (0)2 235 22 19<br />
www.ifj.org<br />
GU<br />
Internationaler Metallgewerkschaftsbund<br />
(IMB)<br />
200 Mitgliedsgewerkschaften mit über<br />
25 Millionen Mitgliedern in 100 Ländern.<br />
54bis, route des Acacias, Case Postale 1516<br />
CH-1227 Genf, Schweiz<br />
Tel: +41 22 308 50 50<br />
Fax: +41 22 308 50 55<br />
www.imfmetal.org<br />
GU<br />
Internationale Textil-, Bekleidungsund<br />
Lederarbeiter-Vereinigung<br />
(ITBLAV)<br />
216 Mitgliedsgewerkschaften mit über<br />
10 Millionen Mitgliedern in 106 Ländern.<br />
8 rue Joseph Stevens,<br />
B-1000 Brüssel, Belgien<br />
Tel: +32 (0)2 512 2606<br />
Fax: +32 (0)2 511 0904<br />
www.itglwf.org<br />
GU<br />
Gewerkschaftlicher Beratungsausschuss<br />
bei der OECD (TUAC)<br />
15, rue la Perouse, F-75016 Paris, Frankreich<br />
Tel: +33 (0)1 55 37 37 37<br />
Fax: +33 (0)1 47 54 98 28<br />
www.tuac.org<br />
Internationale Union der Lebensmittel-, Landwirtschafts-,<br />
Hotel-, Restaurant-, Café- und<br />
Genussmittelarbeiter-Gewerkschaften (IUL)<br />
Rampe du Pont-Rouge, 8<br />
CH-1213 Petit-Lancy, Schweiz<br />
Tel: +41 22 793 22 33<br />
Fax: +41 22 793 22 38<br />
www.iuf.org<br />
GU<br />
GU<br />
Global Unions<br />
www.global-unions.org<br />
Union Network International (UNI)<br />
900 Mitgliedsgewerkschaften mit über 15,5 Millionen<br />
Mitgliedern in 124 Ländern.<br />
8-10 Avenue Reverdil<br />
CH-1260 Nyon, Schweiz<br />
Tel: +41 22 365 2100<br />
Fax: +41 22 365 2121<br />
www.union-network.org<br />
GU<br />
Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD)<br />
650 Mitgliedsgewerkschaften mit über 20 Millionen<br />
Mitgliedern in 150 Ländern.<br />
45, avenue Voltaire, BP 9<br />
F-01211 Ferney-Voltaire Cedex, Frankreich<br />
Tel: +33 (0)4 50 40 64 64<br />
Fax: +33 (0)4 50 40 73 20<br />
www.world-psi.org<br />
GU<br />
28
erkschaftorganisationen<br />
Internationaler Bund Freier<br />
Gewerkschaften (IBFG)<br />
236 Mitgliedsorganisationen in 154 Ländern mit<br />
155 Mio. Mitgliedern<br />
Boulevard du Roi Albert II, 5<br />
B-1210 Brüssel, Belgien<br />
Tel: +32 (0)2 224 0211<br />
Fax: +32 (0)2 201 5815<br />
www.icftu.org<br />
GU<br />
Regionalorganisation AFRO (Afrika)<br />
P.O. Box 67273, Nairobi, Kenya<br />
Tel: +254 (0)20 244336/340046/717308/717324<br />
Fax:+254 (0)20 215072<br />
E-Mail: info@icftuafro.org<br />
www.icftuafro.org<br />
Regionalorganisation APRO (Asien und Pazifik)<br />
9th Floor, NTUC Centre, One Marina Boulevard<br />
Singapore 018989, Republic of Singapore<br />
Tel:+65 63273590<br />
Fax: +65 63273576<br />
E-Mail: gs@icftu-apro.org<br />
www.icftu-apro.org<br />
Regionalorganisation ORIT (Lateinamerika)<br />
Avda. Andres Eloy Blanco (Este 2)<br />
Edifi cio Jose Vargas, Piso 15 Los Caobos<br />
Caracas, Venezuela<br />
Tel: +58 (212) 578353810922780<br />
Fax:+58 (212) 5787023349<br />
E-Mail: vbaez@cioslorit.org<br />
www.cioslorit.org<br />
Regionalorganisation BATU (Asien)<br />
SATU-Foundation, Inc., Building<br />
Block 73, Lot 11, Phase 8<br />
North Fairview 1121, Quezon City, Philippines<br />
Tel: +63 (0)2 930-7181/930-4983<br />
Fax: +63 (0)2 938-6789<br />
E-Mail: necielucero@eastern.com.ph<br />
www3.iconn.com.ph/batunorm<br />
Regionalorganisation CLAT (Lateinamerika)<br />
Apartado 6681<br />
1010 A Caracas, Venezuela<br />
Tel:+58 (0)212 3720794<br />
Fax:+58 (0)212 3720463<br />
E-Mail: clat@telcel.net.ve<br />
www.clat.org<br />
Weltverband der Arbeitnehmer (WVA)<br />
(Christliche Gewerkschaften)<br />
144 Mitgliedsorganisationen in 116 Ländern mit<br />
26 Mio. Mitgliedern<br />
Rue de Trèves 33<br />
B-1040 Brüssel, Belgien<br />
Tel: +32 (0)2 285 47 00<br />
Fax: +32 (0)2 230 87 22<br />
www.cmt-wcl.org<br />
Bis Ende 2006 ist eine Fusion mit dem<br />
IBFG angestrebt<br />
Regionalorganisation ODSTA (Afrika)<br />
Route Internationale d‘Atakpame<br />
B.P. 4401<br />
Lome-Agoenyive, Togo<br />
Tel:+228 2506087<br />
Fax:+228 2256113<br />
E-Mail: odsta@cafe.tg<br />
www.odsta.org<br />
29
Internationale Gewerkschaftsarbeit<br />
auf betrieblicher Ebene<br />
31
Sigrid Thomsen<br />
Solidarität mit den Deutschen<br />
DGB-Arbeitskreis treibt Austausch mit Brasilien bei Mercedes und BASF voran<br />
Wir wenden uns direkt an die europäischen Manager:<br />
Patrick van Klink (rechts) mit brasilianischen Kollegen<br />
Solidaritätsstreiks bei Mercedes,<br />
Sozialdialog bei der<br />
BASF – von Betrieb zu Betrieb<br />
finden Arbeitnehmer verschiedene<br />
Formen der Auseinandersetzung<br />
mit globaler Unternehmenspolitik.<br />
Den Grund legten engagierte Kolleginnen<br />
und Kollegen in einem<br />
Mannheimer Arbeitskreis.<br />
„Wir werden es nicht akzeptieren, gegen<br />
<strong>unsere</strong> Brüder und Schwestern in<br />
Deutschland ausgespielt zu werden. Wir<br />
werden deshalb einen Solidaritätsstreik<br />
von mindestens einer halben Stunde zu<br />
Beginn der Frühschicht am 6. Mai in São<br />
Bernado und am 7. Mai in Juiz de Fora<br />
durchführen. Darüber hinaus stehen wir für<br />
euch bereit, wenn ihr weitere Solidaritätsaktionen<br />
benötigt“. Über dieses Schreiben<br />
aus Brasilien waren die Streikenden bei<br />
DaimlerChrysler während der Lohnrunde<br />
2002 einigermaßen verblüfft. Und erfreut:<br />
Es war unterschrieben vom Koordinator der<br />
Fabrikkommission beim Mercedes-Werk in<br />
São Bernado. Aus vorangegangen Streiks<br />
in Brasilien und in Südafrika haben die<br />
Beschäftigten gelernt, dass DaimlerChrysler<br />
„als globalisiertes Unternehmen damit gedroht<br />
hat, einen Produktionsausfall durch<br />
Zulieferungen aus dem jeweiligen Ausland<br />
zu ersetzen“, heißt es im selben Schreiben.<br />
Da wollten sie nicht mitspielen.<br />
Die Brasilianer haben solche Solidarität<br />
auch umgekehrt erfahren: Bei der<br />
Achsenfertigung in São Bernado haben<br />
Festangestellte 2000 gegen die vorzeitige<br />
Entlassung von Kollegen mit Fristverträgen<br />
gestreikt. Ein Betriebsrat aus Kassel, der<br />
mit einer Gruppe von Mercedesarbeitern<br />
gerade zu Besuch war, half verhindern, dass<br />
die Achsen statt dessen in Deutschland<br />
hergestellt wurden. Als Mercedes 1996 in<br />
Campinas keine Busse mehr bauen wollte<br />
und Mitarbeiter für ihre Entlassungspapiere<br />
schon Schlange standen, hat eine Besuchergruppe<br />
aus Deutschland dazu beigetragen,<br />
dass die Kollegen mit Kündigungsschutz<br />
auch wirklich bleiben konnten. Im April<br />
2005 wurden beim Aktionstag in Juiz de<br />
Fora Solidaritätserklärungen aus mehreren<br />
deutschen Werken verlesen, weil sich die<br />
Brasilianer um den Fortbestand ihrer Fabrik<br />
sorgten. Kontakt und Austausch gibt es seit<br />
gut 20 Jahren, und er funktioniert gut, weil<br />
er an der Basis fest verankert ist.<br />
Der internationale Arbeitskreis, der vor<br />
20 Jahren auf eine kirchliche Initiative hin<br />
Kontakt zu Kollegen in Südafrika und Brasilien<br />
knüpfte und das Unternehmen wegen<br />
seines Südafrikaengagements kritisierte, ist<br />
seit Jahren beim DGB angesiedelt. Er hat<br />
auch Mitglieder aus dem BASF-Werk in<br />
Ludwigshafen, der GEW und der Universität<br />
Heidelberg und beschäftigt sich heute<br />
nur noch mit Brasilien. Zu den offiziellen<br />
Beziehungen der Arbeitnehmervertreter<br />
32
im Autokonzern, die nach der Fusion von<br />
Daimler und Chrysler 1998 durch ein Weltbeschäftigtenkomitee<br />
globalisiert wurden,<br />
bilden die Aktiven im Arbeitskreis eine Art<br />
Parallelstruktur an der Basis. Wegen ihrer<br />
vertrauten Beziehungen zu den Kollegen<br />
in den brasilianischen Werken sind sie<br />
manchmal besser informiert und können<br />
sowohl Impulse nach „oben“ geben als<br />
auch helfen, dass Informationen bei den<br />
Kollegen im Mannheimer Werk „unten“<br />
ankommen.<br />
An der Spitze der globalen Arbeitnehmervertretung<br />
bei DaimlerChrysler – einen<br />
Weltbetriebsrat wollte der Konzern bisher<br />
nicht akzeptieren – sitzt von brasilianischer<br />
Seite Valter Sanches, einer dieser mit dem<br />
Arbeitskreis vertrauten Kollegen. Außer<br />
Deutschland und den USA sind auf dieser<br />
Ebene auch Südafrika, Spanien und Kanada<br />
vertreten. Da die Repräsentation nach<br />
Beschäftigtenzahl geht, reden die Arbeiter<br />
aus Mexiko, Argentinien, der Türkei und<br />
Kanada hier bisher nicht direkt mit.<br />
Zeitgleich mit der Etablierung dieses<br />
Komitees wurden 2002 die „Grundsätze<br />
zur sozialen Verantwortung bei Daimler-<br />
Chrysler“ vereinbart. Das Unternehmen<br />
ging dabei vom „Global Compact“ aus,<br />
einer freiwilligen Initiative, die vom<br />
Generalsekretär der Vereinten Nationen<br />
angeregt worden war. Der Betriebsrat<br />
orientierte sich an den weiter gehenden<br />
Richtlinien der OECD und dem Musterentwurf<br />
des Internationalen Metallarbeiterbunds.<br />
In Brasilien wurde diese<br />
Vereinbarung gleich genutzt: wegen ihrer<br />
Bestimmung über die angestrebte „konstruktive<br />
Zusammenarbeit“ wurden in São<br />
Bernado mit 600 kurzfristig Entlassenen<br />
Verhandlungen aufgenommen – begleitet<br />
von Protestaktionen an der Basis.<br />
Die Gewerkschafter der CUT und die<br />
Mitglieder in den brasilianischen Fabrikkommissionen<br />
schätzen das Engagement<br />
der deutschen Kollegen. „Ihr seid fantastisch“,<br />
rief Tarcisio Secoli, Koordinator der<br />
ersten Fabrikkommission, den Mitgliedern<br />
des DGB-Arbeitskreises zu, die Ende 2004<br />
zum 20 jährigen Bestehen der Fabrikkommissionen<br />
eingeladen waren. Fritz Stahl,<br />
einst Vertrauensmann im Mannheimer<br />
Werk und von den Brasilianern als „gewerkschaftlicher<br />
Botschafter“ geehrt, ist<br />
die Schieflage in den Funktionen bewusst.<br />
Er hat den Arbeitskreis mitbegründet<br />
und ist an der Basis geblieben, während<br />
die Gastgeber inzwischen zur Gewerkschaftsspitze<br />
gehören und die betriebliche<br />
Interessenvertretung leiten. Stahl<br />
hat Portugiesisch gelernt und verbreitet<br />
Informationen aus der brasilianischen<br />
Betriebszeitung an Kollegen. „Wenn ich<br />
einen winzigen Beitrag dazu leiste, dass<br />
Arbeiter international miteinander reden<br />
– dann habe ich in meinem Leben nicht<br />
alles falsch gemacht“, sagt der kritische<br />
Gewerkschafter, der mittlerweile im<br />
Ruhestand ist.<br />
33
Fritz Stahl und Angela Hidding, nach 24<br />
Jahren als Betriebsrätin bei Daimler-Benz<br />
ebenfalls kürzlich ausgeschieden, sind im<br />
Arbeitskreis aktiv geblieben und befassen<br />
sich nicht nur mit dem Werk. Der Kreis<br />
mischt sich in Sozialforen in Diskussionen<br />
mit Nichtregierungsorganisationen ein,<br />
nimmt das „Null Hunger“-Programm der<br />
Lula-Regierung kritisch unter die Lupe und<br />
produziert zu jedem Maifeiertag ein Heft<br />
über seine Aktivitäten und Themen. Darin<br />
geht es auch um die Rechte von Straßenkindern,<br />
um Landbesetzungen und die<br />
Situation von Frauen. „Die Gewerkschaften<br />
brauchen einen neuen Begriff von Solidarität“,<br />
findet Angela Hidding, die im Betriebsrat<br />
für ihre internationale Arbeit anerkannt war.<br />
Auch dafür gibt der Austausch mit Brasilien<br />
Impulse: „Von der Solidarität der Kollegen<br />
dort mit Arbeitern von Fremdfirmen, die sie<br />
bei ihren Lohnforderungen unterstützen,<br />
können wir viel lernen“.<br />
Zum internationalen Arbeitskreis gehören<br />
auch Beschäftigte der BASF in Ludwigshafen<br />
– wie die Metaller nicht in gewerkschaftsoffizieller<br />
Funktion. Der Grund dafür<br />
liegt in der Geschichte: am Anfang der Beziehungen<br />
waren es in beiden Fällen oppositionelle<br />
Gewerkschafter in den Betrieben,<br />
die auf kirchliche Initiativen und Hilferufe<br />
aus Brasilien reagierten. Sie bezahlten<br />
Grob-Anlagen bei Mercedes stehen still<br />
Im Kampf um die betriebliche Interessenvertretung bei der Niederlassung von Grob<br />
in Brasilien hat die Fabrikkommission von Mercedes die Metallbearbeitungszentren<br />
des Maschinenbauers Grob abgeschaltet.<br />
Im Werk São Bernardo do Campo legten die Werker von Mercedes gestern Vormittag<br />
eine Stunde lang die Arbeit an Grob-Maschinen nieder und protestierten damit<br />
gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik des Maschinenbauers mit Stammsitz in<br />
Mindelheim, Deutschland. Mit ihren Aktionen unterstützen sie Luiz Sérgio Batista, ein<br />
nicht freigestelltes Mitglied des Gewerkschaftsvorstands, der von Grob auf die Straße<br />
gesetzt wurde und seit 58 Tagen vor dem Werkstor in einem Zelt Mahnwache hält.<br />
Bei Mercedes sind mehr als 50 Maschinen von Grob im Einsatz, an ihnen arbeiten<br />
etwa 100 Kollegen.<br />
Mercedes-Benz hat sich vernehmlich gegen die Arbeitsniederlegung zu wehren versucht:<br />
Aufgrund der Protestaktion in der Metallbearbeitung musste die Motorenblockfertigung<br />
für den Export in die USA unterbrochen werden. Die Fabrikkommission hat<br />
jedoch sofort reagiert: Sie <strong>besteht</strong> darauf, dass der Automobilkonzern seinen Verhaltenskodex<br />
einhält. Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen, die die Organisationsfreiheit<br />
der Arbeitnehmer missachten, sind laut diesem Verhaltenskodex unzulässig.<br />
„Mit solchen Aktionen zeigen wir Metaller, das wir uns nicht alles gefallen lassen”,<br />
erklärte José Lopes Feijóo, Vorsitzender der Gewerkschaft Metall in der Region ABC<br />
bei São Paulo. Kollegen anderer Firmen haben ähnliche Aktionen angekündigt.<br />
Aus: „Tribuna Metalurgica“ 7.10.2005; Übersetzung: Fritz Stahl<br />
Die Aktion hatte Erfolg: zwei Wochen später wurde der Kollege wieder eingestellt,<br />
34<br />
ihre Reisen selbst und knüpften eigene<br />
Kontakte, statt über die internationalen<br />
Abteilungen der Gewerkschaftszentralen<br />
zu gehen. Die jedoch betrachteten die internationale<br />
Gewerkschaftsarbeit eigentlich<br />
als ihre Sache und ihr Vorrecht. Inzwischen<br />
sind in beiden Fällen sowohl Betriebsrat wie<br />
Industriegewerkschaft Träger und Förderer<br />
der Beziehungen geworden, und die IG<br />
Metall begrüßt betriebliche Solidarität<br />
nicht nur in Wolfsburg. Die Mannheimer<br />
Initiatoren aber sind beim DGB geblieben<br />
und betreiben dort in Zusammenarbeit mit<br />
kirchlichen Einrichtungen eigene Seminare<br />
und Austauschprogramme.<br />
Beim Betriebsrat der BASF in Ludwigshafen<br />
wird die internationale Arbeit wichtiger<br />
genommen, seit der Vorsitzende in den 90er<br />
Jahren persönlich Brasilien besuchte. Auch<br />
die Chemiegewerkschaft, in deren Hauptvorstand<br />
er damals war, unterstützt seit 1999<br />
die Bildung von regionalen <strong>Netz</strong>werken der<br />
Arbeitnehmervertreter von BASF in Lateinamerika<br />
und Asien und ist dabei, sie auch<br />
auf andere Chemiekonzerne auszuweiten.<br />
Sie entsprechen dem „Euro-Dialog“ des<br />
Europäischen Betriebsrats.<br />
Heute gibt es bei BASF in Lateinamerika<br />
einen Koordinationsausschuss mit je zwei
Vertretern aus Argentinien, Brasilien und<br />
Chile. Sie haben den Sozialdialog mit der<br />
Personalleitung des Konzerns in Gang<br />
gebracht. Inzwischen hat es mehr als<br />
zehn Treffen gegeben. Sie hängen fast<br />
vollständig vom guten Willen der Beteiligten<br />
ab: es gibt noch keine Satzung und<br />
keine Anerkennungsabkommen; die Themen<br />
werden gemeinsam vereinbart und<br />
erörtert, Problemlösungen angeschoben.<br />
Immerhin ist der Koordinationsausschuss<br />
des südamerikanischen BASF-<strong>Netz</strong>werks<br />
vom Arbeitgeber als Verhandlungspartner<br />
anerkannt.<br />
Allzu viel Verbindlichkeit schätzt das Unternehmen<br />
offenbar nicht: auch ihre „Leitlinien“<br />
entsprechen nur dem Global Compact,<br />
dem unverbindlichsten der internationalen<br />
Verhaltenskodices. Dessen Einhaltung durch<br />
die BASF hat die brasilianisch-deutschniederländische<br />
Initiative „Observatório<br />
Social“, die Arbeitsbeziehungen international<br />
beobachtet, 2003 in einer Fallstudie<br />
bestätigt. In Brasilien allerdings, so heißt<br />
es im selben Bericht, gelten inzwischen<br />
die OECD-Richtlinien für multinationale<br />
Konzerne. Die verlangen von den Firmen,<br />
Entscheidungen über die Produktion vorher<br />
mit den Gewerkschaften zu verhandeln.<br />
Das Recht auf Informationen über Planungen<br />
des Unternehmens gehört zu<br />
den regelmäßig von Arbeitnehmerseite<br />
vorgebrachten Anliegen im Sozialdialog,<br />
ebenso Fragen von Gesundheit und Sicherheit<br />
am Arbeitsplatz. Dafür gibt es<br />
in allen Firmen einen eigenen Ausschuss.<br />
Der ist paritätisch besetzt, aber keineswegs<br />
immer effizient: Die Untersuchung<br />
und Aufklärung einer Explosion, bei<br />
der in Brasilien 2001 ein Kollege ums<br />
Leben kam, zog sich über Jahre hin und<br />
wurde zu einem großen Anteil von den<br />
Gewerkschaftsvertretern bestritten, die<br />
lange um die nötigen Informationen<br />
kämpfen mussten. Sie übten schließlich<br />
vehemente Kritik an der Sicherheit im<br />
Werk. Verbessert wurde die Situation<br />
erst nach erheblichem internem und<br />
öffentlichem Druck.<br />
Fritz Hofmann ist der zentrale Kontakt für<br />
die internationalen Beziehungen zu BASF-<br />
Kollegen in Lateinamerika – für den DGB-<br />
Arbeitskreis ebenso wie im Betriebsrat. Er<br />
tauscht Informationen mit dem Koordinator<br />
des südamerikanischen <strong>Netz</strong>werks aus und<br />
hat dafür Portugiesisch gelernt. Inzwischen<br />
weiß das Unternehmen, dass dieser Austausch<br />
gut funktioniert. Heute erfahren<br />
die südamerikanischen Arbeitnehmervertretungen,<br />
aber auch Gewerkschafter und<br />
Betriebsrat in Deutschland sehr schnell von<br />
Problemen und Konflikten in einem der<br />
Werke – oft schneller als das Management.<br />
Das hat den Kollegen in Lateinamerika<br />
zum Beispiel bei der Durchsetzung von<br />
betrieblichen Vertretungsstrukturen genützt,<br />
für die es in allen drei Ländern keine<br />
gesetzliche Grundlage gibt. Inzwischen<br />
lässt BASF überall Fabrikkommissionen<br />
zu, wenn die Arbeitnehmer das wünschen,<br />
weiß Hofmann und erinnert sich an die<br />
miserable Ausstattung der ersten Büros<br />
solcher Kommissionen, in denen weder<br />
Telefone noch Schreibmaschinen standen.<br />
Das hat sich heute geändert.<br />
Auch die Ludwigshafener Kollegen haben<br />
Solidarität umgekehrt erfahren: Als die<br />
Zeitungen 2004 vom Personalabbau der<br />
BASF in Deutschland berichteten, boten die<br />
Kollegen in Chile, Argentinien und Brasilien<br />
den Betroffenen jede Art Unterstützung an.<br />
„Ich musste ihnen dann schreiben, wie<br />
hoch <strong>unsere</strong> Abfindungen waren“, sagt<br />
Fritz Hofmann. „Die hätten sie auch gern<br />
selbst gehabt“.<br />
35
„Wir sollten nicht um Produkte kämpfen“<br />
Ein Interview mit Valter Sanches, Generalsekretär<br />
der Metallarbeitergewerkschaft in der CUT und<br />
Mitglied im Weltbetriebsrat von DaimlerChrysler<br />
Valter Sanches beim Aktionstag<br />
in Juiz de Fora am 8. April 2005<br />
Wie hat der Austausch zwischen<br />
Mercedes-Kollegen in Deutschland<br />
und Brasilien begonnen? Gab es eine<br />
Vertrauensbasis?<br />
Das war vor meiner Zeit; ich bin erst seit<br />
17 Jahren im Werk und wurde 1992 in die<br />
Fabrikkommission gewählt. Den Austausch<br />
haben vor 20 Jahren Leute begonnen, die<br />
mit der Kirche verbunden waren, auf beiden<br />
Seiten. Dadurch gab es von Anfang an<br />
Vertrauen. Das ist im Laufe der Erfahrungen<br />
immer weiter gewachsen.<br />
Gibt es nicht Interessenkonflikte oder<br />
Konkurrenz um Produkte zwischen<br />
den Beschäftigten in Deutschland und<br />
Brasilien?<br />
Die Firmen fördern ja generell die Konkurrenz<br />
zwischen Arbeitern. Bei Mercedes<br />
haben wir 2000 ein Weltbeschäftigtenkomitee<br />
gegründet und vereinbart, dass<br />
wir uns nicht gegeneinander ausspielen<br />
lassen. In der Wirklichkeit ist das nicht<br />
immer einfach. Unsere Fabrik hier in Juiz<br />
de Fora wäre zum Beispiel Anfang des<br />
Jahres beinahe stillgelegt worden, und in<br />
Bremen waren gleichzeitig 8500 Kollegen<br />
von Entlassung bedroht. Da haben die<br />
deutschen Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat<br />
sich natürlich für die Produktion<br />
in Bremen eingesetzt. Für Juiz de Fora aber<br />
gibt es erstmal eine Lösung bis 2007. Wir<br />
sollten nicht um die Produkte kämpfen,<br />
sondern um die Arbeitsplätze.<br />
Was waren bis heute die Höhepunkte in<br />
der gemeinsamen Geschichte?<br />
Insgesamt ist die Bilanz sehr positiv; wir<br />
helfen einander durch den Austausch, auch<br />
beim Verhandeln. Zu den Höhepunkten<br />
gehören einige wichtige Solidaritätsaktionen.<br />
2001 streikten zum Beispiel die<br />
Südafrikaner, die die C-Klasse produzieren.<br />
Die wird in Bremen und in Luiz de Fora<br />
auch hergestellt, und in beiden Werken<br />
erklärten die Kollegen, sie würden keine<br />
Extraproduktion annehmen, um den Streik<br />
36
nicht zu brechen. 2000 haben sich die Kollegen<br />
in Kassel ähnlich verhalten für uns,<br />
und 2002 haben wir in den brasilianischen<br />
Werken eine halbe Stunde die Arbeit für die<br />
deutschen Kollegen niedergelegt.<br />
Wo siehst du die Probleme?<br />
Das unterschiedliche Organisationsniveau<br />
ist ein Problem. Die Deutschen haben ja<br />
das Recht zur Mitbestimmung und können<br />
am Anfang von Entscheidungsprozessen<br />
Einfluss nehmen. Wir beschäftigen uns<br />
erst mit den Ergebnissen der Entscheidungen.<br />
Mit dem Weltbeschäftigtenkomitee<br />
hat sich die Information gebessert, aber<br />
mitbestimmen kann es nicht. Das müssen<br />
wir im Zweifelsfall über den deutschen<br />
Kollegen im Aufsichtsrat lancieren.<br />
Welche Rolle spielen denn die Beziehungen<br />
zu den Mitgliedern im internationalen<br />
Arbeitskreis noch nach der Gründung<br />
des Weltbeschäftigtenkomitees?<br />
Wir brauchen beide Ebenen. Die Gruppen<br />
helfen uns nicht nur auf der Fabrikebene; sie<br />
mobilisieren auch andere in Deutschland,<br />
zum Beispiel bei Problemen in Zuliefererfirmen<br />
wie Grob. Wir berufen uns hier auf die<br />
„Grundsätze zur sozialen Verantwortung“,<br />
wenn es Probleme bei einem Zulieferer gibt.<br />
Wir ergänzen einander.<br />
Wie sollten sich die Beziehungen in<br />
Zukunft entwickeln?<br />
Beziehungen von Betrieb zu Betrieb<br />
gewinnen auch in anderen Firmen an<br />
Bedeutung, weil die Unternehmenspolitik<br />
das erfordert. Wir beginnen jetzt mit<br />
Besuchsprogrammen zwischen Beschäftigten<br />
der Stuttgarter Firma Mahle, und<br />
auch bei Thyssen und Bosch liegt das an.<br />
Mercedes und auch VW sind wegen der<br />
langen Erfahrung ein gutes Beispiel. Aber<br />
wir sollten uns nicht nur auf die Unternehmensebene<br />
konzentrieren; wir brauchen<br />
auch gute internationale Beziehungen<br />
unter den Gewerkschaften. Für uns sind<br />
die Kontakte mit dem Internationalen<br />
Metallarbeiterbund und mit der internationalen<br />
Abteilung der IG Metall sehr<br />
wichtig.<br />
Das Gespräch führte Sigrid Thomsen<br />
37
Sigrid Thomsen<br />
„Man trifft so tolle Menschen“<br />
Persönliche Beziehungen zu Kolleginnen<br />
und Kollegen im Ausland<br />
tragen die internationale<br />
Solidarität von Betrieb zu Betrieb.<br />
Sie weiten auch Verständnis und<br />
Verantwortungsgefühl für die Welt,<br />
haben VW-Beschäftigte im IG Metall-<br />
Arbeitskreis Intersoli erfahren.<br />
„Als ich das gesehen habe, konnte ich<br />
überhaupt nicht mehr weggucken“, erzählt<br />
Renate Müller. „Das“ waren die Bedingungen,<br />
unter denen Schwarze unter der<br />
Apartheid in Südafrika lebten, getrennt und<br />
ausgesperrt vom Wohlstand und den Rechten<br />
ihrer weißen Kollegen, ohne Wahlrecht<br />
in ihrem Land - aber Kollegen wie sie. „Ich<br />
habe mich gefragt, was meine Verantwortung<br />
ist, was ich machen muss, und welche<br />
Rolle VW dort politisch spielte“, erinnert<br />
sich die Betriebsrätin im Kasseler VW-Werk<br />
an ihre erste Südafrikareise 1985.<br />
Kollegen aus Wolfsburg hatten einige<br />
Zeit zuvor bei einem Wochenendseminar<br />
im Rollenspiel erprobt, wie sich Rassendiskriminierung<br />
anfühlen kann. Die als<br />
„Schwarze“ im Spiel schlecht behandelt<br />
wurden, kriegten die Wut – und gründeten<br />
den Wolfsburger Arbeitskreis Intersoli bei<br />
der IG Metall. Der Gesamtbetriebsrat hatte<br />
Anfang der achtziger Jahre, während der<br />
zweiten weltweiten Expansionswelle des<br />
Konzerns, mit den VW-Werken in Mexiko,<br />
Brasilien und Südafrika schon Kontakt.<br />
Mit dem Arbeitskreis Intersoli wollten die<br />
Gewerkschaftsmitglieder die Basis der Solidarität<br />
verbreitern und sich auch auf die<br />
politischen Verhältnisse beziehen.<br />
In Brasilien herrschte damals das Militär,<br />
in Südafrika Apartheid. Gewerkschaften<br />
wurden nicht anerkannt, es gab keine<br />
Tarifverhandlungen und keine betrieblichen<br />
Vertretungen. Im Zusammenhang<br />
mit Südafrika war die internationale<br />
Debatte über die Verantwortung von<br />
Unternehmen heiß entbrannt: sollten sich<br />
Konzerne aus dem Land zurückziehen,<br />
wie die politischen Bewegungen es forderten,<br />
oder Vorbilder sein, wie sie selbst<br />
behaupteten? „Einerseits profitierte VW<br />
von dem niedrigen Lohnniveau dort“,<br />
sagt Renate Müller, „aber sie ernährten<br />
ja auch Familien“.<br />
Die deutschen Kolleginnen und Kollegen<br />
ließen sich auf den Widerspruch ein: sie<br />
unterstützten die Südafrikaner im Werk<br />
in Uitenhage bei der Anerkennung ihrer<br />
Gewerkschaft, bei der Gründung einer Art<br />
von Betriebsrat, der aus Vertrauensleuten<br />
bestand, und bei der Aushandlung von<br />
Verhaltenskodizes, die später international<br />
vorbildlich wurden. Darüber hinaus machten<br />
sie die politischen Zusammenhänge<br />
über das Werk hinaus bekannt und stellten<br />
sich der schwierigen Debatte über den<br />
Boykott des Apartheidregimes. „Mich hat<br />
das gelehrt, über den Tellerrand <strong>unsere</strong>r<br />
täglichen Probleme hinaus zu sehen“, sagt<br />
Renate Müller, heute zuständig für Soziales<br />
und Gleichstellung in der Geschäftsführung<br />
des Betriebsrats in Kassel.<br />
Mittlerweile gibt es eine Art Arbeitsteilung<br />
zwischen globalem Betriebsrat und Basis:<br />
ihre betrieblichen Anliegen vertreten<br />
Kolleginnen und Kollegen aus den ausländischen<br />
Werken seit 1998 selbst im<br />
Weltkonzernbetriebsrat. Hier wird auch<br />
mögliche interne Standortkonkurrenz<br />
verhandelt, damit einzelne Betriebe nicht<br />
gegeneinander ausgespielt werden können.<br />
Dass man einander bei Streiks nicht<br />
durch Überstunden in die Parade fährt, ist<br />
ausgemacht.<br />
Seit 2002 gibt es auch eine so genannte<br />
Sozialcharta bei VW, unterzeichnet vom<br />
Weltkonzernbetriebsrat, dem Internationalen<br />
Metallarbeiterbund und dem<br />
Konzern, die der sozialen und industriellen<br />
Beziehungen weltweit regeln soll. Sie<br />
orientiert sich an den Kernarbeitsnormen<br />
der ILO – keine Kinderarbeit und keine<br />
Diskriminierung, Vereinigungsfreiheit<br />
und Vergütung nicht unter nationalen<br />
Mindestlöhnen. Geschäftspartner werden<br />
darin allerdings nur „ermutigt“, sich<br />
ebenfalls dran zu halten. „Die Umsetzung<br />
der Charta wird alle zwei Jahre überprüft“,<br />
sagt Magdalena Brüning vom Konzernbetriebsrat.<br />
„Es gibt Aussagen von Kollegen,<br />
dass es schon ausreichend sein kann, die<br />
Sozialcharta hoch zu halten“.<br />
38
Beim IG Metall-Arbeitskreis Intersoli befassen<br />
sich heute Gruppen mit der Lage<br />
ihrer Kollegen in China und in Mittelund<br />
Osteuropa. Dort geht es wieder um<br />
grundlegende Fragen gewerkschaftlicher<br />
Organisation. „Arbeitszeit und Leiharbeit<br />
sind derzeit <strong>unsere</strong> Baustellen“, sagt<br />
der Wolfsburger Vertrauensmann Josef<br />
Schemainda von der MOE-Gruppe. Bei<br />
Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfen<br />
werden die Kollegen in Poznan unterstützt,<br />
die nach dem Ende des Sozialismus<br />
noch immer mit dem schlechten<br />
Image von Gewerkschaften zu kämpfen<br />
haben.<br />
Probleme gibt es auch – sprachliche,<br />
Umgangsprobleme mit anderen Gewerkschaftstraditionen<br />
oder Konflikten<br />
vor Ort. In Südafrika gab es vor einigen<br />
Jahren erbitterte innergewerkschaftliche<br />
Linienkämpfe im VW-Werk, verbunden<br />
mit wildem Streik und Entlassungen. Das<br />
hat auch die internationalen Kontakte<br />
schwer gemacht – bis sich die bekannte<br />
Gewerkschaft NUMSA, wenn auch mit<br />
neuen Personen, wieder durchgesetzt<br />
hatte.<br />
Die Sache mit der politischen Verantwortung<br />
haben viele VW-Beschäftigte<br />
persönlich genommen und „eine Stunde<br />
für die Zukunft“ der Kollegen und ihrer<br />
Gemeinschaften in Übersee gearbeitet.<br />
Denn in Brasilien und Südafrika gibt es<br />
zwar heute Demokratie, aber immer noch<br />
große Armut. Beteiligt war automatisch,<br />
wer sich nicht ausdrücklich dagegen<br />
aussprach. Gleich im ersten Anlauf 1999<br />
kamen so 2,7 Millionen Mark zusammen,<br />
die das Kinderhilfswerk terre des hommes<br />
vor allem für Straßenkinderprojekte an<br />
den VW-Standorten in Mexiko, Brasilien<br />
und Südafrika ausgibt. Inzwischen wird<br />
die Spendenaktion über Daueraufträge<br />
und die Aktion „Restgeld“ finanziert:<br />
was bei den monatlichen Lohnüberweisungen<br />
an Cent-Beträgen hinter<br />
dem Komma steht, geht in die Projekte.<br />
Insgesamt wurden in sechs Jahren<br />
etwa sechs Millionen Euro gesammelt.<br />
„Internationale Arbeit endet nicht am<br />
Werkstor“ sagt Magdalena Brüning, die<br />
für den Gesamtbetriebsrat diese Spendenaktion<br />
koordiniert. Und sie ist auch<br />
keine Einbahnstraße: Beschäftigte in<br />
Brasilien und Mexiko haben von Anfang<br />
an mitgespendet. Kürzlich sind sogar die<br />
Südafrikaner eingestiegen – ein Stück<br />
Normalisierung der Beziehung zwischen<br />
<strong>Nord</strong>en und Süden. Dazu gehört auch<br />
die punktuelle Förderung von Straßenkinderprojekten<br />
in Hannover und Berlin.<br />
„Wieviel Geld wohin geht, entscheidet<br />
terre des hommes“, erklärt Magdalena<br />
Brüning, „dafür braucht es eine professionelle<br />
Spendenorganisation.“<br />
Was sie selbst daran hält, sich über<br />
Jahre mit der Situation in fernen Ländern<br />
auseinanderzusetzen, hat auch mit Beziehungen<br />
und Reisen zu tun: „Man trifft<br />
so tolle Menschen“, sagen alle, die schon<br />
mal Kollegen im Ausland besucht haben<br />
– Menschen, die sich beim Nachbarn ein<br />
Bett für ihren Gast ausleihen, die einem<br />
ohne Skepsis ihre Kinder anvertrauen und<br />
die oft viel mehr Mut aufbringen müssen,<br />
um überhaupt Gewerkschaftsarbeit zu<br />
machen. Ihr Leben wirft ein neues Licht<br />
auf das eigene. Reisen sind nötig zum<br />
Verstehen: „Du musst die Menschen<br />
doch kennen“, sagt Renate Müller, „und<br />
du musst sie auch gern haben. Wie willst<br />
du das sonst rüberbringen“?<br />
39
„Als Arbeiter sind wir eins“<br />
Interview mit dem Vorsitzenden des VW-Vertrauensleuterats<br />
der NUMSA Misumzi Chiliwe in Südafrika<br />
40
Wie haben die Beziehungen der VW-Betriebsräte<br />
in Südafrika und Deutschland<br />
angefangen?<br />
Noch während der Apartheid sind Gewerkschaftsvertreter<br />
wie John Gomomo<br />
in Deutschland gewesen und haben die<br />
Beziehungen mit den IG Metall-Kollegen<br />
aufgebaut. Von den Ergebnissen<br />
profitieren wir noch immer. Unser Anerkennungsabkommen<br />
mit der Firma<br />
entspricht den Minimalstandards der<br />
IG- Metall. Und wenn wir einen legalen<br />
Streik führen, kann die Firma dank <strong>unsere</strong>r<br />
Vereinbarung mit der IG Metall <strong>unsere</strong><br />
Jobs nicht einfach an einen anderen<br />
Standort verlagern. Zu den internationalen<br />
Betriebsratssitzungen schicken wir<br />
Vertreter, die für uns sprechen.<br />
Bei euch sind ja alle Betriebsräte<br />
schwarz, und in Deutschland sind sie<br />
weiß. Gab es trotzdem von Anfang an<br />
eine Vertrauensbasis?<br />
Ich würde sagen ja. Als Arbeiter sind wir<br />
eins; wir haben ja die gleichen Probleme.<br />
Da wird die Farbe unwichtig. Es gibt sicher<br />
kleine Unterschiede in der Art, wie<br />
wir die Dinge betrachten oder anfassen<br />
oder miteinander umgehen, aber insgesamt<br />
erfahren Arbeiter in Südafrika und<br />
Deutschland dieselben Schwierigkeiten.<br />
Wenn zum Beispiel Arbeiter als Folge eines<br />
Streiks entlassen werden sollen, wie<br />
vor einiger Zeit in Südafrika, dann ist die<br />
Hautfarbe vollkommen gleichgültig.<br />
Gibt es verschiedene Interessen zwischen<br />
den Arbeitern bei der Mutterfirma<br />
und in der südafrikanischen<br />
Fabrik, zum Beispiel Konkurrenz um die<br />
Produktion bestimmter Fabrikate?<br />
Seit ich 2003 zum Vertrauensmann gewählt<br />
wurde, ist mir so etwas nicht begegnet. Wir<br />
sind ja mit den deutschen Kollegen seit 25<br />
Jahren ständig in Kontakt.<br />
Was bedeutet dir persönlich die Beziehung<br />
mit den Volkswagen-Kollegen in<br />
Deutschland und anderen Ländern?<br />
Wir haben gute Beziehungen mit den<br />
deutschen Kollegen. Da ist Vertrauen.<br />
Dieses Jahr wurden fünf Vertreter von uns<br />
nach Deutschland eingeladen. Bei ihrem<br />
Besuch hier gab es Diskussionen über die<br />
Zukunft von VW und wo wir uns selber<br />
sehen, welche Rolle wir innerhalb der VW<br />
AG spielen – das finde ich gut.<br />
<strong>Worin</strong> bestehen die Schwierigkeiten in<br />
den Beziehungen?<br />
Die Sprache ist natürlich ein Problem, und<br />
vielleicht auch die unterschiedliche ideologische<br />
Orientierung. NUMSA hat sich ja<br />
beim Kongress der Gewerkschaftsbundes<br />
COSATU vor einigen Jahren als erste Mitgliedsgewerkschaft<br />
für die sozialistische<br />
Option als künftige Politik für Südafrika<br />
ausgesprochen. Das ist vor dem Hintergrund<br />
der Mitbestimmung in Deutschland<br />
natürlich ein Unterschied, aber er bedeutet<br />
nicht viel, weil er sich auf die nationale<br />
Politik bezieht, nicht auf VW.<br />
Wie stellst du dir die künftigen Beziehungen<br />
der Betriebsräte zueinander vor?<br />
Sie werden enger werden. Unsere<br />
fünf Delegierten, die dieses Jahr nach<br />
Deutschland reisen, wollen zum Beispiel<br />
mit den Kollegen dort über die Ankündigung<br />
reden, dass wir hier in Südafrika<br />
Busse und Lastwagen bauen sollen. Sie<br />
sollen uns helfen, dass dieses Versprechen<br />
erfüllt wird, auch wenn es erst in<br />
einigen Jahren so weit ist.<br />
Was erwartest du darüber hinaus?<br />
Zum Erbe der Apartheid gehört, dass in<br />
Südafrika viele arbeitslos sind und unter<br />
wirklich armseligen Verhältnissen leben.<br />
Ich erwarte von den Kollegen in Deutschland,<br />
dass sie die Firma unter Druck<br />
setzen, damit sie mehr Leute einstellt und<br />
<strong>unsere</strong> Brüder und Schwestern hier, die<br />
trotz Abitur auf der Straße liegen, bei VW<br />
Arbeit finden. Auch die Zulieferindustrie<br />
würde wachsen, wenn VW wächst; es<br />
würde in der ganzen Region mehr Beschäftigung<br />
geben.<br />
Das Gespräch führte Hermann Hartmann<br />
41
Globale Arbeitsbeziehungen auf<br />
Unternehmensebene<br />
43
Robert Steiert (Internationaler Metallgewerkschaftsbund)<br />
Benimmregeln für Konzerne<br />
Über Internationale Rahmenvereinbarungen<br />
Internationale Rahmenvereinbarungen<br />
(IRV), bekannt auch als<br />
„International Framework Agreements“<br />
(IFA), werden als Instrument<br />
gewerkschaftlicher Politik gegenüber<br />
multi- oder transnationalen<br />
Unternehmen immer wichtiger.<br />
Sie erfüllen eine „alte“ Forderung<br />
in neuem Gewand und mit neuer<br />
Stoßrichtung.<br />
„Verhaltenskodices für Multis“ wurden<br />
bereits in den frühen sechziger Jahren des<br />
letzten Jahrhunderts gefordert, spätestens<br />
seit die negative Rolle des US-Multis ITT<br />
(den es heute nicht mehr gibt) im Militärputsch<br />
gegen die demokratisch gewählte<br />
Regierung Allende in Chile bekannt wurde.<br />
Das richtete sich vorrangig an die Politik.<br />
Internationale Organisationen sollten Verhaltensvorschriften<br />
für diese Unternehmen<br />
verbindlich festlegen. Bis heute gibt es drei<br />
solcher Kodices auf politischer Ebene – bei<br />
der Internationalen Arbeitsorganisation<br />
(ILO), der Organisation für wirtschaftliche<br />
Kooperation und Entwicklung (OECD) und<br />
zuletzt den Global Compact bei der UNO.<br />
Sie sind jedoch vollkommen unverbindlich.<br />
Den Unternehmen ist es überlassen, ob sie<br />
sich danach richten. Viele „Global Players“<br />
haben sich mittlerweile selbst einen<br />
Verhaltens- oder Ethik-Kodex gegeben,<br />
die jedoch meist noch unverbindlicher<br />
formuliert sind.<br />
Das hat die Gewerkschaften dazu veranlasst,<br />
die Richtung zu ändern. Statt<br />
auf die internationale Politik zu warten,<br />
nahmen sie direkte Kontakte und Verhandlungen<br />
mit dem Management von<br />
Konzernen auf, um Vereinbarungen auf<br />
freiwilliger Basis mit den Internationalen<br />
Gewerkschaftsorganisationen (Global<br />
Union Federations), wie z.B. dem Internationalen<br />
Metallgewerkschaftsbund<br />
(IMB) abzuschließen. Diese Strategie<br />
zeigt nun erste Erfolge. Unterstützt wurde<br />
sie durch die öffentliche Diskussion<br />
über die Nachteile der Globalisierung,<br />
über Corporate Governance und die<br />
soziale Verantwortung (Corporate Social<br />
Responsibility) von Konzernen gegenüber<br />
der Gesellschaft. Zur Abgrenzung von<br />
den firmeneigenen Verhaltensvorschriften<br />
wurde der Name „Internationale<br />
Rahmenvereinbarung“ gewählt.<br />
In einer IRV verpflichtet sich die Konzernleitung<br />
zur Einhaltung der Kernarbeitsnormen<br />
der ILO – einer Unterorganisation<br />
der UNO. Bei diesen Kernarbeitsnormen<br />
handelt es sich um die Vereinigungsfreiheit,<br />
d.h. das Recht eines Arbeitnehmers,<br />
Gewerkschaften beizutreten oder solche<br />
zu gründen; die Tarifvertragsfreiheit, das<br />
Verbot der Kinderarbeit, das Verbot der<br />
Zwangsarbeit und die Gleichstellung am<br />
Arbeitsplatz.<br />
Die Kernarbeitsnormen sind in Konventionen<br />
der ILO verankert, die bereits<br />
von einer Vielzahl von Staaten ratifiziert<br />
wurden, oft aber auf nationaler Ebene<br />
nicht in die Gesetzgebung umgesetzt<br />
oder nicht beachtet werden.<br />
Ein weiterer wichtiger Regelungspunkt<br />
ist die so genannte Zuliefererklausel.<br />
44
Darin verpflichtet sich der Konzern, dafür<br />
einzutreten, dass die Kernarbeitsnormen<br />
auch bei seinen Zulieferunternehmen respektiert<br />
werden oder diese Unternehmen<br />
eine eigene IRV abschließen.<br />
Oft werden die Kernarbeitsnormen durch<br />
Aussagen über Mindestbedingungen bei<br />
der Entlohnung, Arbeitszeit und Arbeitssicherheit<br />
ergänzt. Die sind jedoch oft<br />
sehr allgemein gehalten, da es hier keine<br />
international gültigen Standards wie bei<br />
den Kernarbeitsnormen gibt.<br />
Eine Regelung zum Monitoring, also zur<br />
Überwachung der Einhaltung der Prinzipien<br />
der IRV und zur Behandlung von Beschwerden<br />
über eine mögliche Verletzung<br />
runden eine solche Vereinbarung ab. Die<br />
Kernarbeitsnormen, die Zuliefererklausel<br />
und das Monitoring sind „Pflichtbestandteile“<br />
eines IRV.<br />
Bis heute haben 40 transnationale Konzerne<br />
IRVs mit den jeweiligen Global Union<br />
Federations abgeschlossen, 13 davon<br />
in der Metallindustrie mit dem IMB. Die<br />
überwiegende Mehrheit der Unternehmen<br />
stammt aus dem europäischen Raum.<br />
Lediglich ein US-Unternehmen, jedoch<br />
kein einziger japanischer Multi, sind bis<br />
jetzt unter den Vertragspartnern.<br />
Tatsächlich tun sich viele Unternehmen<br />
noch schwer mit dem Gedanken einer<br />
freiwilligen Vereinbarung, in der sie sich<br />
verpflichten (und nicht nur eine unverbindliche<br />
Zusage machen), soziale Menschenrechte<br />
wie die Kernarbeitsnormen<br />
zu respektieren und ihre Einhaltung im<br />
Unternehmen zu garantieren. Realität<br />
ist heute noch eher, dass diese sozialen<br />
Grundrechte in vielen Unternehmen<br />
– nicht nur in Entwicklungsländern, auch<br />
in Industrieländern – mit Füßen getreten<br />
werden und Arbeitnehmer, die sich kollektiv<br />
durch Gründung oder Beitritt zu einer<br />
Gewerkschaft dagegen wehren wollen,<br />
sanktioniert werden. Realität ist auch immer<br />
noch, dass viele Regierungen und Regierungsbehörden<br />
mit arbeitsrechtlichen<br />
Vorschriften den Unternehmen dazu den<br />
Weg bereiten oder bei Verstößen gegen<br />
das Arbeitsrecht wegsehen.<br />
Die Aushandlung der IRVs ist jedoch ohnehin<br />
nur der erste Schritt. Der zweite ist<br />
die Umsetzung. Darauf werden die GUFs<br />
in den nächsten Jahren das Hauptaugenmerk<br />
richten müssen. Gemeinsam mit den<br />
Konzernleitungen muss dafür Sorge getragen<br />
werden, dass die unterzeichneten<br />
Grundsätze im Konzern respektiert und<br />
„gelebt“ werden, bis in die letzte Niederlassung<br />
und bis zu den Zulieferern.<br />
IRVs sind kein „Allheilmittel“ für Ungerechtigkeiten.<br />
Sie können jedoch ein<br />
Mittel sein, die Arbeitsbedingungen<br />
und vor allem die Bedingungen für eine<br />
kollektive Interessenvertretung von<br />
Arbeitnehmern zu verbessern, wenn<br />
sie eine Umwelt schaffen, in der eine<br />
gewerkschaftliche Organisierung ohne<br />
Repressalien, ohne Benachteiligung und<br />
Diskriminierung möglich ist. Betriebe sind<br />
keine „Sonderzone“, in der Menschenrechte<br />
ausgesperrt sind.<br />
Ein Rahmen für<br />
Konflikte<br />
Im Juli 2002 sind die 400 Arbeitnehmer<br />
bei Ditas in Nidge (Türkei) in den<br />
Streik getreten. Der Hauptgrund für<br />
diese Aktion war die Weigerung des<br />
Arbeitgebers, die Gewerkschaftsrechte<br />
am Arbeitsplatz anzuerkennen und<br />
mit der Gewerkschaft zu verhandeln.<br />
Lange Zeit schien die Sache der Arbeitnehmer<br />
verloren. Doch nach einer<br />
achtmonatigen Streikaktion waren<br />
die Auseinandersetzungen beigelegt.<br />
Der Ersatzteilehersteller und die<br />
IMB-Mitgliedsgewerkschaft Birlesik<br />
Metal-Is unterzeichneten ihren ersten<br />
Tarifvertrag, der der Mehrheit der<br />
Gewerkschaftsmitglieder eine Vollzeitbeschäftigung<br />
bietet.<br />
Die Tatsache, dass einer der Kunden<br />
von Ditas, DaimlerChrysler, und der IMB<br />
ein Internationales Rahmenabkommen<br />
abgeschlossen haben, spielte bei der<br />
Einigung eine entscheidende Rolle.<br />
In diesem Internationalen Rahmenabkommen<br />
erkennt DaimlerChrysler<br />
nicht nur seine soziale Verantwortung<br />
gegenüber seinen eigenen Beschäftigten<br />
an, sondern erwartet auch von<br />
seinen Zulieferern die Anwendung<br />
vergleichbarer Grundsätze als Basis<br />
gemeinsamer Beziehungen. Als dies<br />
der Geschäftsleitung von Ditas deutlich<br />
gemacht wurde, konnte der Konflikt<br />
gelöst werden.<br />
Aus: Internationaler Metallgewerkschaftsbund<br />
– Eine Einführung, IMB,<br />
Genf 2005<br />
45
Michael Linnartz (IG Bergbau, Chemie, Energie)<br />
Globale Dialogstruktur –<br />
<strong>Netz</strong>werke bei Global Playern<br />
Warum engagiert ihr euch<br />
im Ausland, haben wir in<br />
Deutschland nicht genug<br />
Probleme? Diese Frage gehört für<br />
international tätige Gewerkschafter<br />
zum täglichen Brot. Denn trotz<br />
fortschreitender Globalisierung<br />
bleiben Gewerkschaften vornehmlich<br />
national ausgerichtet. Notwendig<br />
ist daher, über Zusammenhänge<br />
und Möglichkeiten internationaler<br />
Gewerkschaftsarbeit aufzuklären.<br />
Die Globalisierung und der Druck auf<br />
deutsche Arbeitsplätze lenkt den Blick<br />
zunehmend auf die Arbeitsbedingungen<br />
in Schwellenländern und der Dritten<br />
Welt. Standen früher in der internationalen<br />
Arbeit eher humanistische Aspekte<br />
im Vordergrund, so kommt heute immer<br />
mehr die Angst vor unfairer Konkurrenz<br />
hinzu. Der ideologisch genutzte Begriff<br />
Globalisierung ist zunehmend angstbesetzt<br />
und verstellt dadurch den Blick<br />
auf Chancen einer internationalisierten<br />
Weltwirtschaft. UN-Generalsekretär Kofi<br />
Annan hat diese Gefahr schon Ende der<br />
neunziger Jahre erkannt und versucht,<br />
mit seiner Global-Compact-Initiative ein<br />
Instrument zu schaffen, um negativen<br />
Globalisierungsfolgen entgegenzusteuern.<br />
Dort forderte er die Unternehmen<br />
auf, sich für eine soziale und ökologische<br />
Wirtschaftsführung zu engagieren.<br />
Aber auch den internationalen<br />
Gewerkschaftsföderationen und ihren<br />
Mitgliedsgewerkschaften bieten sich<br />
Möglichkeiten, um Arbeitnehmerrechten<br />
weltweit Geltung zu verschaffen. Diese<br />
sind oft unspektakulär und verursachen<br />
keine schnellen Schlagzeilen, haben aber<br />
auf lange Sicht nachhaltige Qualitäten.<br />
Es ist die pragmatische Politik der kleinen<br />
Schritte, die Lösungsmöglichkeiten<br />
aufzeigt und positive Veränderungen<br />
ermöglicht. Nach den Internationalen<br />
Rahmenvereinbarungen soll nachfolgend<br />
ein weiteres pragmatisches Instrument<br />
angesprochen werden. Es handelt sich<br />
um die „Unternehmensnetzwerke“.<br />
<strong>Netz</strong>werke<br />
Neben den Internationalen Rahmenvereinbarungen<br />
ist der Aufbau von<br />
<strong>Netz</strong>werken ein wichtiges Ziel weltweiter<br />
gewerkschaftlicher Arbeit. Der Begriff<br />
<strong>Netz</strong>werk wird inflationär gebraucht<br />
und wirkt oft sehr beliebig. In <strong>unsere</strong>m<br />
Kontext handelt es sich um <strong>Netz</strong>werke<br />
in Schwellen- oder Entwicklungsländern.<br />
Das multinationale Unternehmen ist also<br />
die Plattform des gewerkschaftlichen<br />
Handelns. Dies setzt natürlich voraus,<br />
dass die Unternehmensleitungen für den<br />
<strong>Netz</strong>werkgedanken gewonnen werden<br />
müssen. Die Unternehmen müssen erkennen,<br />
dass geordnete Arbeitsbeziehungen<br />
und ein institutionalisierter sozialer Dialog<br />
neben einem legitimen Imagegewinn<br />
auch wirtschaftliche Vorteile bieten<br />
können.<br />
Um zu verstehen, warum wir <strong>Netz</strong>werke<br />
brauchen, müssen wir kurz <strong>unsere</strong> Aufmerksamkeit<br />
auf Deutschland richten.<br />
In der Bundesrepublik ist die Konstruk-<br />
46
tion „<strong>Netz</strong>werk“ nicht notwendig, da<br />
Betriebsräte einzelner Standorte eines<br />
Unternehmens schon qua Gesetz (Betriebsverfassungsgesetz)<br />
miteinander<br />
verbunden sind (Gesamt- und Konzernbetriebsräte).<br />
Auch das Verfahren bei<br />
sozialen Belangen der Belegschaft ist<br />
weitestgehend gesetzlich geregelt. Wirtschaftliche<br />
Fragen werden in größeren<br />
Unternehmen im Wirtschaftsauschuss<br />
oder Aufsichtsrat debattiert.<br />
Diese umfassenden gesetzlichen Regelungen<br />
existieren in vielen Ländern aber<br />
nicht. So gibt es z. B. in Brasilien keine<br />
Betriebsräte, sondern nur sogenannte<br />
Fabrikkommissionen in einigen wenigen<br />
Betrieben. So auch bei Bayer do Brasil.<br />
Die nach Auseinandersetzungen mit<br />
lokalen Gewerkschaften eingerichteten<br />
Arbeitnehmervertretungen haben keine<br />
gesetzliche Grundlage und nur geringe<br />
Handlungsmöglichkeiten. Noch viel<br />
seltener sind Kontakte der einzelnen<br />
brasilianischen Unternehmensstandorte<br />
untereinander. Auch die Gewerkschaften<br />
bildeten keine einigende Klammer. Somit<br />
ist dem Ausspielen von Standorten Tür<br />
und Tor geöffnet. Dies hat zwar in diesem<br />
Fall mit den Eigenheiten des brasilianischen<br />
Gewerkschaftsrechts zu tun, gilt<br />
aber ähnlich für viele andere Länder. Es<br />
fehlt also zum einen die institutionalisierte<br />
Struktur für einen Dialog der Arbeitnehmervertreter<br />
untereinander und zum<br />
anderen existiert auch keine Plattform für<br />
den Dialog mit der Geschäftsführung.<br />
Dies führt daher oft zu einer Kultur der<br />
Sprachlosigkeit und Konfrontation.<br />
Das im Sommer 2004 gegründete brasilianische<br />
Bayer-<strong>Netz</strong>werk soll diese<br />
Mängel abstellen. Das <strong>Netz</strong>werk ist<br />
Resultat des europäisch-brasilianischen<br />
Projektes „Observatório Social Europa“<br />
(Seite 49) und der Unterstützung durch<br />
die Friedrich-Ebert-Stiftung in São Paulo.<br />
Zum ersten Mal hatten Vertreter aller<br />
Standorte von Bayer do Brasil die Möglichkeit,<br />
sich auszutauschen und über<br />
die Lage an ihren jeweiligen Standorten<br />
zu diskutieren. Neben diesem internen<br />
Gedankenaustausch kam es im Sommer<br />
2005 bereits zum zweiten Mal zu<br />
einem sozialen Dialog mit dem lokalen<br />
Management. Der Bayer-Konzern wurde<br />
diesmal aber nicht durch einen angeheuerten<br />
freien Berater in Fragen Arbeitsbeziehungen<br />
vertreten, sondern durch<br />
die Spitzenführungskräfte des Konzerns<br />
für Brasilien. Dies ist aus <strong>unsere</strong>r Sicht<br />
ein qualitativer Sprung nach vorne. Und<br />
somit kam es zu einem echten sozialen<br />
Dialog, in dem beide Seiten ihre Positionen<br />
ungeschminkt darstellen konnten.<br />
Ein für brasilianische Gewerkschafter und<br />
auch Manager neuer Vorgang. Es kann<br />
der Anfang einer neuen Vertrauenskultur<br />
sein, bei der auf gleicher Augenhöhe<br />
verhandelt wird. So befand ein Gewerkschafter<br />
am Rande der Tagung in São<br />
Paulo: „Unser <strong>Netz</strong>werk lernt gerade<br />
auch mit Unterstützung der deutschen<br />
Friedrich-Ebert-Stiftung die ersten Schritte<br />
zu gehen. Vielleicht sind einige noch<br />
wacklig, aber wir glauben fest daran,<br />
dass <strong>Netz</strong>werke in der Lage sind, soziale<br />
Konflikte zu entschärfen und somit allen<br />
zu dienen - den Belegschaften wie auch<br />
dem Unternehmen“.<br />
Noch schwieriger allerdings sind Kontakte<br />
der Unternehmensstandorte über Ländergrenzen<br />
hinaus. Nur in Europa existiert<br />
mit den Europäischen Betriebsräten<br />
eine länderübergreifende gesetzliche<br />
Institution für die Arbeitnehmervertreter<br />
multinationaler Unternehmen. Doch gibt<br />
es im Bereich der chemischen Industrie<br />
mit dem BASF-Südamerika-<strong>Netz</strong>werk<br />
und dem BASF-Asien-<strong>Netz</strong>werk schon<br />
die ersten länderübergreifenden Gremien.<br />
Im Rahmen dieser <strong>Netz</strong>werke<br />
findet auch der soziale Dialog mit dem<br />
deutschen Unternehmensvorstand statt.<br />
In São Paulo konnten beispielsweise die<br />
Mitglieder des Südamerika-<strong>Netz</strong>werkes<br />
mit Vertretern des Ludwigshafener Unternehmensvorstandes,<br />
des deutschen<br />
Aufsichtsrates und des lokalen Managements<br />
über die Situation in Südamerika<br />
und auch die globale Strategie des<br />
Unternehmens diskutieren. Neben den<br />
Delegierten des südamerikanischen<br />
<strong>Netz</strong>werkes nahmen auch Vertreter<br />
der ICEM als internationale Föderation<br />
von Chemie-, Energie-, Bergbau- und<br />
Fabrikarbeitergewerkschaften, der deut-<br />
47
schen Industriegewerkschaft Bergbau,<br />
Chemie, Energie und Betriebsräte aus<br />
Ludwigshafen teil. Solche Gespräche mit<br />
verschiedensten Akteuren dienen dem<br />
Aufbau einer Vertrauenskultur und einer<br />
Struktur, in der sich die zwangsläufigen<br />
Interessenskonflikte von Kapital und<br />
Arbeit besser regeln lassen.<br />
Allerdings ist eine erfolgreiche <strong>Netz</strong>werkbildung<br />
von vielen Faktoren und Akteuren<br />
abhängig. Zum einen ist dort die<br />
Kooperationsbereitschaft der Unternehmen.<br />
Nur wenn die deutschen Unternehmenszentralen<br />
den Prozess unterstützen<br />
und auf das lokale Management in den<br />
jeweiligen Ländern Einfluss nehmen,<br />
bestehen Chancen für ein <strong>Netz</strong>werk. Das<br />
deutsche System der Mitbestimmung ist<br />
hier sehr hilfreich, da die Kontakte von<br />
Kapitalseite und Arbeitnehmervertreter<br />
im Aufsichtsrat auch für die <strong>Netz</strong>werkbildung<br />
förderlich sind. Dort kann man<br />
nämlich den Unternehmen ihren Vorteil<br />
von <strong>Netz</strong>werken bzw. geregelten sozialen<br />
Beziehungen verdeutlichen. Wenn<br />
Unternehmen diesen Vorteil aber nicht<br />
erkennen wollen und sich absolut gegen<br />
eine <strong>Netz</strong>werkbildung stemmen, wird es<br />
wirklich schwierig für die Akteure.<br />
Zum anderen bedarf es auch des koordinierten<br />
Handelns der Vertreter der<br />
Arbeitnehmerseite, bestehend aus den<br />
deutschen Gewerkschaften, Betriebsräten<br />
und den internationalen gewerkschaftlichen<br />
Föderationen.<br />
Aber die wichtigsten Akteure sind die jeweiligen<br />
Gewerkschaften vor Ort. Gerade<br />
in Ländern, in denen die Gewerkschaftsbewegung<br />
stark zersplittert ist, kann es<br />
zu ideologischen Konflikten kommen,<br />
die ein <strong>Netz</strong>werk leicht scheitern lassen.<br />
Beispiele hierfür gibt es auch aus Brasilien,<br />
wo ca. 16.000 (!) lokale Gewerkschaften<br />
existieren. Gewerkschaftliche Einheit ist<br />
auch dort die notwendige Voraussetzung<br />
erfolgreichen Handelns. Und hier liegen<br />
eindeutig die Grenzen des internationalen<br />
Engagements.<br />
Die deutschen Gewerkschafter, Betriebsräte,<br />
internationalen Föderationen<br />
und auch die FES können zwar Hilfe zur<br />
Selbsthilfe anbieten. Aber die Verantwortung<br />
für ihre Durchsetzungsfähigkeit<br />
tragen die jeweiligen nationalen Gewerkschaften<br />
selbst. Und hier müssen<br />
in vielen Ländern noch die notwendigen<br />
Hausaufgaben gemacht werden.<br />
Projekt Observatório Social<br />
Das mit Mitteln der EU geförderte<br />
Projekt Observatorio Social Europa<br />
wurde 2001 bis März 2005 durchgeführt.<br />
Unterstützt wurde das Observatorio<br />
Social Europa vom brasilianischen<br />
Gewerkschaftsbund CUT und dessen<br />
Konföderationen der Chemie- und<br />
Metallgewerkschaften CNQ und CNM.<br />
Auf europäischer Seite standen die Industriegewerkschaft<br />
Bergbau, Chemie,<br />
48
Energie, die IG Metall, die Hans-Böckler-<br />
Stiftung, das DGB-Bildungswerk sowie<br />
der niederländische Gewerkschaftsbund<br />
FNV und seine größte Mitgliedsgewerkschaft<br />
FNV Bondgenoten. Drei Kernfragen<br />
standen im Observatório Social Europa im<br />
Vordergrund: Wie verhalten sich europäische<br />
Unternehmen in Brasilien? Haben sie<br />
die gleichen sozialen Standards in ihren<br />
brasilianischen Niederlassungen wie an<br />
ihrem Stammsitz? Wie geht es brasilianischen<br />
Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften<br />
in diesen Unternehmen?<br />
Das Fundament des Projektes stellte die<br />
Kooperation mit sechs Unternehmen<br />
aus Deutschland und den Niederlanden<br />
dar. Auf deutscher Seite waren es die<br />
Bayer AG, Bosch und ThyssenKrupp,<br />
auf niederländischer Seite waren Akzo<br />
Nobel, Philips und Unilever beteiligt. Es<br />
wurden vom brasilianischen Observatório<br />
Untersuchungen in den brasilianischen<br />
Standorten durchgeführt, die Probleme<br />
in den Sozialbeziehungen aufzeigten.<br />
Trotz einiger Schwierigkeiten mit dem<br />
lokalen Management wurde begonnen,<br />
die Missstände abzubauen. Neben der<br />
Schulung von brasilianischen Gewerkschaftern<br />
war die Bildung von <strong>Netz</strong>werken<br />
ein wichtiger Erfolg des Projektes.<br />
Die <strong>Netz</strong>werke stellten sich im Januar<br />
2005 im Rahmen des Weltsozialforums<br />
im brasilianischen Porto Alegre vor und<br />
galten als praktische Beispiele für die<br />
positive Gestaltung der Globalisierung.<br />
49
Sigrid Thomsen<br />
Euro-Betriebsräte<br />
wollen nicht<br />
nur reden<br />
Praktiker schlagen<br />
Verbesserungen der<br />
EU-Richtlinie vor<br />
Wer über Europas Grenzen<br />
hinweg investiert, muss<br />
sich mit den Beschäftigten<br />
jedenfalls unterhalten: seit<br />
1994 ist in der Europäischen Union<br />
die Bildung von europäischen Betriebsräten<br />
(EBR) in Unternehmen<br />
mit mehr als tausend Mitarbeitern<br />
vorgesehen. Mitbestimmen können<br />
sie nicht; die Richtlinie der<br />
EU gewährt ihnen nur Rechte auf<br />
Information und Anhörung.<br />
Europäische Arbeitnehmervertretungen<br />
reden über die Aus- und Weiterbildung,<br />
die Arbeitssicherheit oder die Personalpolitik<br />
– Löhne und Arbeitsbedingungen<br />
verhandeln sie nicht. Was sie im Einzel-<br />
nen tun, wie oft sie tagen und wer das<br />
bezahlt, ist Verhandlungssache und wird<br />
in Vereinbarungen festgelegt. In mehr als<br />
700 Unternehmen wurden inzwischen<br />
entsprechende Komitees gebildet. Im Ausnahmefall,<br />
je nach Tradition der Arbeitsbeziehungen<br />
im Mutterkonzern, sind auch<br />
Arbeitgebervertreter beteiligt. Nach zehn<br />
Jahren Erfahrung mit dieser Art Dialog<br />
hat die EU-Kommission die Reformierung<br />
ihrer Richtlinie auf den Weg gebracht.<br />
Gewerkschafter wünschen sich mehr<br />
Verbindlichkeit bei der Unterrichtung und<br />
Anhörung, damit sie auf Unternehmensentscheidungen<br />
auch Einfluss nehmen<br />
können. Dr. Werner Altmeyer, Berater für<br />
europäische Betriebsräte in Hamburg, hat<br />
nach einem Bericht der „Mitbestimmung<br />
international edition 2004“ die Erfahrungen<br />
und Wünsche der Praktiker nach den<br />
ersten zehn Jahren erfragt:<br />
„Rund 81 Prozent aller Europäischen Betriebsräte<br />
tagen nur einmal jährlich. Für<br />
Manfred Monje, der von Mainz aus die<br />
Arbeit des EBR der britischen Hotelgruppe<br />
Hilton koordiniert, steht fest: ‚Da das<br />
Unternehmen in Quartalszahlen denkt,<br />
wird eine einzige EBR-Sitzung pro Jahr<br />
der Realität<br />
nicht gerecht.’<br />
Als die Briten unlängst die Scandic-Hotels<br />
übernahmen, wurde der EBR erst<br />
Monate später unterrichtet – damit war<br />
für Monje nicht zuletzt auch wichtige<br />
Zeit verstrichen, die für eine frühzeitige<br />
Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmervertretern<br />
des übernommenen Unternehmens<br />
hätte genutzt werden können.“<br />
Persönliche Kontakte, die nur bei Treffen<br />
entstehen und gestärkt werden, sind<br />
auch für andere besonders wichtig. Allerdings<br />
müssen dabei Sprachprobleme<br />
überwunden werden. Altmeyer: „Zwar<br />
werden die offiziellen Sitzungen simultan<br />
gedolmetscht, aber Gespräche beim<br />
Abendessen oder informelle Kontakte<br />
kommen ohne Fremdsprachenkenntnisse<br />
nur schwer zustande. Die EBR-Richtlinie<br />
sieht bislang für solche Fälle keinen<br />
Schulungsanspruch vor. So musste beispielsweise<br />
Hilton-Betriebsrat Monje<br />
seinen Englisch-Intensivkurs selbst zahlen,<br />
während andere Unternehmen auch<br />
mehrwöchige Sprachstudien im Ausland<br />
finanzieren“.<br />
50
Ganz klar ist nicht mal, wer mitreden<br />
darf, kritisiert der Hamburger Experte<br />
für internationale Arbeitsbeziehungen:<br />
„Da Gewerkschaften in der bisherigen<br />
EBR-Richtlinie nicht ausdrücklich<br />
erwähnt sind, dürfen Hauptamtliche<br />
nur als Sachverständige an den Sitzungen<br />
teilnehmen – es sei denn, ihre<br />
Teilnahme ist in der EBR-Vereinbarung<br />
festgeschrieben. Während inzwischen<br />
vielfach üblich ist, dass diese Vereinbarungen<br />
auch von den europäischen<br />
Gewerkschaftsföderationen mit unterzeichnet<br />
werden, lehnt beispielsweise<br />
das britische Hilton-Management einen<br />
Vertreter der Europäischen Föderation<br />
der Hotelgewerkschaften (EFATT) am<br />
Verhandlungstisch bislang strikt ab.“<br />
Es gibt allerdings auch betriebliche<br />
Vereinbarungen, die über die EU-Richtlinien<br />
hinausgehen. Altmeyer: „Einigen<br />
Europäischen Betriebsräten – insbesondere<br />
in der Automobilindustrie<br />
– ist es trotz der bestehenden Richtlinie<br />
gelungen, ihre Rolle über Unterrichtung<br />
und Anhörung hinaus zu erweitern. In<br />
einer Reihe von Unternehmen wurden<br />
Grundsätze sozialer Verantwortung<br />
in einer europaweiten Betriebsvereinbarung<br />
geregelt. So hat der Ford-EBR<br />
dem amerikanischen Management eine<br />
europaweite Vereinbarung über Besitzstandsschutz<br />
bei der Ausgliederung der<br />
Komponentenherstellung abgerungen<br />
(Ford-Visteon-Vereinbarung).“<br />
Erfahrungen in ihrem Organisationsbereich<br />
hat auch die IG Metall erhoben,<br />
wie Vorstandsmitglied Aline Hoffmann<br />
im September 2005 im Interview mit<br />
dem Trainings- und Beratungsnetz „eurobetriebsrat.de“<br />
berichtet: „Wir haben im<br />
März 2005 eine Umfrage bei den EBRs<br />
von deutschen Konzernen durchgeführt.<br />
Von den 70 EBRs, die in den letzten<br />
zwei Jahren von länderübergreifenden<br />
Umstrukturierungen betroffen waren,<br />
haben sich 62 auch grenzüberschreitend<br />
damit befasst – sei es durch bilaterale<br />
Kontakte oder wie in 37 Fällen im Rahmen<br />
von EBR-Sitzungen. Besonders erfreulich<br />
ist, dass in 30 dieser Fälle die EBRs die<br />
Chance nutzten, außerordentliche Sitzungen<br />
einzuberufen. Das ist ein gutes<br />
Signal: Die EBR nutzen ihre Rechte und<br />
das rechtzeitig. Sie kommunizieren miteinander<br />
und zwingen die Geschäftsleitung<br />
zur Einhaltung ihrer Informations- und<br />
Anhörungsverpflichtungen“.<br />
Aline Hofmann betreut auch den 1998<br />
gegründeten EBR beim Automobilzulieferer<br />
Bosch. Dessen Koordinator Alfred<br />
Löckle schätzt die Kommunikation mit<br />
Kolleginnen und Kollegen aus 12 anderen<br />
Ländern: „Dabei profitieren wir hier<br />
in Deutschland zum Beispiel von den<br />
Franzosen. Die Kollegen dort haben das<br />
Recht, die Wirtschaftszahlen zweimal<br />
jährlich von einem unabhängigen Institut<br />
prüfen zu lassen, diese Berichte schicken<br />
sie uns auch zu“, sagte er im Interview<br />
für die von IGM und DGB Bildungswerk<br />
2005 herausgegebene Broschüre „Soziale<br />
Verantwortung konkret“. Davon haben<br />
die Franzosen gleich bei der Gründung<br />
des Europa-Komitees profitiert: „Dort<br />
erzählten die Kollegen aus Frankreich,<br />
dass die Werksleitung sie mit einer Betriebsvereinbarung<br />
aus Bamberg unter<br />
Druck setze, wonach im deutschen Werk<br />
Samstag und Sonntag reguläre Arbeitstage<br />
seien. Es hieß dann, entweder ihr<br />
macht das auch, oder wir verlagern die<br />
Produktion. Dass die Betriebsvereinbarung<br />
in Bamberg nur für Kollegen aus der<br />
Wartung galt, konnten die französischen<br />
Kollegen nicht erkennen“.<br />
51
Werner Oesterheld (DGB Bildungswerk)<br />
Die Vision einer sozialen Welt im Focus<br />
Projekte, Vernetzung und<br />
Bildungsarbeit beim <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong><br />
im DGB Bildungswerk<br />
Eine weltweite Solidarordnung<br />
als Alternativprogramm für globale<br />
wirtschaftliche Ungerechtigkeit<br />
und soziale Spaltung – das<br />
ist die Vision des <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong>es<br />
im DGB Bildungswerk. Das erfordert<br />
nicht nur Organisierung von Gewerkschaften<br />
auf internationaler Ebene,<br />
sondern auch Kontakt und Zusammenarbeit<br />
mit anderen Akteuren der<br />
Zivilgesellschaft. Dazu gehören auch<br />
die, die am Rande stehen, weil sie in<br />
fest gefügte Strukturen nicht passen<br />
oder in die formale Arbeitswelt gar<br />
nicht mehr einbezogen sind.<br />
Das <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong> orientiert sich dabei an<br />
einer offensiven Bildungs- und Projektarbeit,<br />
die entsprechend den Fragestellungen<br />
gewerkschafts- und entwicklungspolitischer<br />
Arbeit den Diskurs fördern, Qualifikationen<br />
vermitteln und Struktur bildend wirken will.<br />
In Kooperation mit anderen Akteuren der<br />
Zivilgesellschaft werden Möglichkeiten der<br />
Einflussnahme, der sozialen Gestaltung<br />
analysiert und Aktionsschritte benannt.<br />
Dies zielt auf eine ausgewogene und nachhaltige<br />
globale Wirtschaftsentwicklung.<br />
Entwicklungspolitische Bildungsarbeit ist<br />
dabei ein wesentliches Instrument. Seit<br />
knapp 20 Jahren arbeitet das <strong>Nord</strong>-Süd-<br />
<strong>Netz</strong> als ein eigener Arbeitsbereich im DGB<br />
Bildungswerk. Die Problemlagen werden<br />
durch Arbeitstagungen, Seminare, Informationsmaterial<br />
und internationale Projekte<br />
auf der Grundlage einer entwicklungspolitischen<br />
Strategie bearbeitet. Es konnte<br />
erreicht werden, dass die Aktivitäten auch<br />
mit Mitteln des Bundesministeriums für<br />
52<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit – BMZ<br />
gefördert werden.<br />
Seit Beginn hat die Arbeit des NSN‘s an<br />
den entwicklungspolitischen Bildungs-,<br />
Informations- und Projektinitiativen von<br />
gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen<br />
und Kollegen angesetzt und die Arbeit der<br />
gewerkschaftlichen Gruppen unterstützt,<br />
die über ganz Deutschland verteilt arbeiten.<br />
Die Arbeit baut auf der grundsätzlichen<br />
Erkenntnis auf, dass eine nachhaltige<br />
entwicklungspolitische Bildungs- und Informationsarbeit<br />
für Arbeitnehmer/innen<br />
im Inland eine wichtige Grundlage in<br />
den Erfahrungen und Erkenntnissen der<br />
konkreten internationalen Entwicklungszusammenarbeit<br />
haben muss.<br />
Zu den Problemen, mit denen sich entwicklungspolitische<br />
Bildungsarbeit seither<br />
befasst, gehören die Internationalisierung<br />
der Produktion in <strong>Nord</strong> und Süd: Die Auswirkungen<br />
eines alle gesellschaftlichen,<br />
kulturellen und ökonomischen Bereiche<br />
erfassenden Prozesses der Globalisierung,<br />
die Rolle und Wirkung internationaler Arbeits-<br />
und Sozialstandards bei der sozialen<br />
Gestaltung des Globalisierungsprozesses,<br />
der Einfluss neuer Technologien, besonders<br />
der Informationstechnologien und<br />
die Entkoppelung von Wachstum und<br />
Beschäftigung, die weltweit zu immer mehr<br />
Verelendung führt.<br />
Die Arbeit vom <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong> basiert auf<br />
der Tatsache, dass Gewerkschaften auch<br />
in Ländern des Südens oft die wichtigsten<br />
gesellschaftlichen Organisationen sind,<br />
die für die Rechte der Arbeitnehmer/innen<br />
einstehen. Die Schaffung von sozialen Leitplanken<br />
im Globalisierungsprozess gehört<br />
mit zu den zentralen Voraussetzungen der<br />
Armutsbekämpfung und einer nachhaltigen<br />
Entwicklung.<br />
Seit Ende der achtziger Jahre fördert das<br />
<strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong> des DGB Bildungswerks<br />
mit Hilfe von Spendengeldern, Eigenmitteln<br />
und EU-Mitteln Kooperationsprojekte und<br />
Austauschprogramme mit Partnern in Entwicklungsländern.<br />
Bei der Arbeit standen<br />
dabei zunächst Brasilien und Südafrika im<br />
Vordergrund. In beiden Ländern <strong>besteht</strong><br />
eine starke und lange Präsenz deutscher<br />
Unternehmen.<br />
Diese Konzentration der Entwicklungszusammenarbeit<br />
auf Brasilien und Südafrika<br />
hat sich für das DGB Bildungswerk bewährt<br />
und wird seit 2001 auch mit den<br />
Mitteln aus der Sozialstrukturförderung<br />
des Bundesministeriums für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung BMZ<br />
fortgesetzt.
In Asien sind Vietnam und Indonesien die<br />
Zielländer von Projektunterstützungen. Dort<br />
wird besonders der Aufbau gewerkschaftlicher<br />
Strukturen gefördert. So fördert ein<br />
Projekt in Indonesien die direkte Rechtsberatung<br />
für Gewerkschafter. Es werden<br />
Schulungen zu Arbeitsrecht und Fragen von<br />
Arbeitsbedingungen (internationale Sozialstandards,<br />
Arbeiten im informellen Sektor,<br />
etc.), durchgeführt und der Aufbau eines<br />
Informationszentrums für Gewerkschafter<br />
gefördert. Das Projekt in Vietnam unterstützt<br />
die Einrichtung eines Bildungszentrums<br />
und fördert Qualifizierungsmaßnahmen für<br />
Multiplikatoren zu Arbeitsrecht, Rolle und<br />
Organisation von Gewerkschaften in der<br />
Marktwirtschaft, Tarifverhandlungen und<br />
Schlichtung von Arbeitskonflikten.<br />
Im südlichen Afrika werden Gewerkschafter<br />
bei der Aneignung und beim Umgang<br />
mit den neuen Informationstechnologien<br />
geschult; in den Townships wird die<br />
Information Jugendlicher durch Radiosendungen<br />
unterstützt. Auf den andauernden<br />
Ausschluss armer Bevölkerungsgruppen<br />
vom formalen Arbeitsmarkt antwortet<br />
das NSN mit der Unterstützung von Einkommen<br />
schaffenden Initiativen in armen<br />
Gegenden. Frauen sind dabei eine wichtige<br />
Zielgruppe, weil sie meist zuerst aus den<br />
Sicherungssystemen herausfallen.<br />
In Brasilien werden im Rahmen des<br />
Projektes „Observatório Social“ brasilianische<br />
Gewerkschafter/innen durch<br />
Materialien und Bildungsveranstaltungen<br />
mit dem Thema „Soziale Verantwortung<br />
von Unternehmen“ vertraut gemacht und<br />
befähigt, eine aktive und qualifizierte Rolle<br />
im sozialen Dialog zwischen Unternehmen,<br />
Arbeitnehmern und Regierung einnehmen<br />
zu können. Der Zugang und die Nutzung<br />
des Internets sollen dabei helfen, den<br />
Kenntnis- und Wissensstand von Arbeitnehmervertretern<br />
an den des Managements<br />
anzugleichen und die Kooperation und<br />
den Erfahrungsaustausch untereinander<br />
zu verbessern. Das Projekt „Jugend in<br />
Beruf und Gesellschaft“ beschäftigt sich<br />
mit gewerkschaftlicher Jugendarbeit und<br />
der Situation von Jugendlichen inner- und<br />
außerhalb des formellen Arbeitsmarktes. Im<br />
Projekt „Arbeitnehmerrechte und nachhaltige<br />
Entwicklung in Amazonien“ werden<br />
Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte und<br />
regionale Entwicklung im brasilianischen<br />
Amazonasgebiet gefördert.<br />
Mit Hilfe eines <strong>Netz</strong>werks von Fachkräften<br />
und betrieblichen Akteuren wird in Argentinien<br />
Beratung, Schulung und Expertise<br />
für selbstverwaltete Betriebe angeboten.<br />
Damit sollen Organisation, Produktivität und<br />
Vermarktung der Kooperativen verbessert<br />
werden. Gleichzeitig soll durch Gespräche<br />
und Veranstaltungen mit Wirtschaft und<br />
Wissenschaft, Politik und Regierung eine<br />
Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen<br />
dieser Betriebe erreicht werden.<br />
In weiteren Projekten in Chile, Kolumbien,<br />
Mexiko und Uruguay werden Gewerkschafter/innen<br />
ebenfalls qualifiziert, um ihre Rechte<br />
einfordern und internationale Arbeits- und<br />
Sozialstandards umsetzen zu können.<br />
Um die Förderung des sozialen Dialogs und<br />
die Umsetzung internationaler Arbeits- und<br />
Sozialstandards geht es auch in Südosteuropa,<br />
wo sich das <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong> in der<br />
Zukunft noch stärker engagieren will. Zum<br />
Beispiel dort, wo die beiden Kontinente<br />
sich verbinden und engste Wirtschaftsbeziehungen<br />
mit Deutschland bestehen,<br />
in der Türkei, sollen zur Entwicklung des<br />
sozialen Dialogs und zur Umsetzung von<br />
Kernarbeitsnormen beitragen werden.<br />
Zentrale politische Anliegen der Projektunterstützung<br />
sind überall die Durchsetzung von<br />
internationalen Arbeits- und Sozialstandards<br />
der Internationalen Arbeitsorganisation und<br />
die Förderung des sozialen Dialogs zwischen<br />
Unternehmern, Gewerkschaften und Regierungen.<br />
Diese Themen führen auch die<br />
Projekte mit der Bildungsarbeit im <strong>Nord</strong>en<br />
wieder zusammen. Wenn sich das <strong>Nord</strong>-<br />
Süd-<strong>Netz</strong> an der „Kampagne für saubere<br />
Kleidung“ beteiligt oder zum „fairen play“<br />
bei den Olympischen Spielen auch für die<br />
aufruft, die die Sportbekleidung herstellen,<br />
geht es um gerechte Arbeitsbedingungen<br />
auf der ganzen Welt. Globale Abkommen<br />
können nur dann wirksam werden, wenn<br />
sie durch entsprechendes Engagement auf<br />
nationaler Ebene unterstützt werden.<br />
53
Weltweite Solidaritätsarbeit –<br />
Der Solifonds der Hans-Böckler-Stiftung<br />
Seit 1973 unterstützt der Solidaritätsfonds<br />
der Hans-Böckler-Stiftung<br />
(damals Stiftung<br />
Mitbestimmung) nationale und<br />
internationale Solidaritätsarbeit.<br />
Gefördert werden Projekte mit einem<br />
emanzipatorischen Ansatz.<br />
Entstehung: Als 1973 das Militär gegen<br />
die demokratisch gewählte Regierung Salvador<br />
Allendes in Chile putschte, begannen<br />
die Stipendiatinnen und Stipendiaten der<br />
Hans-Böckler-Stiftung die Solidaritätsarbeit<br />
für Chile zu unterstützen. Dafür wurde ein<br />
Solidaritätsfonds eingerichtet. Mit dem<br />
Ende der Militärdiktatur in Chile 1992<br />
veränderte der Solidaritätsfonds seine Ausrichtung.<br />
Seitdem wird mit den Mitteln des<br />
Fonds nationale und internationale Solidaritätsarbeit<br />
gefördert, die emanzipatorische<br />
Ansätze mit den Schwerpunkten Bildung,<br />
Unterstützung demokratischer Strukturen<br />
und gewerkschaftlicher Aktivitäten hat.<br />
Finanzierung: Die Finanzierung des Fonds<br />
erfolgt aus Spenden der Stipendiat/innen<br />
und Vertrauensdozent/innen. Stipendiat/innen<br />
spenden etwa 1 % ihres Stipendiums,<br />
Vertrauensdozent/innen Teile oder ihre gesamte<br />
Aufwandsentschädigung. Der Betrag<br />
aller eingegangenen Spenden der Stipendiat/innen<br />
wird durch die Hans-Böckler-Stiftung<br />
verdoppelt. Das gesamte Budget des<br />
Fonds wird zu gleichen Teilen für inländische<br />
und ausländische Solidaritätsvorhaben verwendet,<br />
sprich: alle Spenden einschließlich<br />
der Verdoppelung des Spendenbetrages<br />
durch die Hans-Böckler-Stiftung kommen<br />
zu 100% der Projektförderung zugute.<br />
Förderkriterien: Grundsätzlich sind alle<br />
Projekte, die einen emanzipatorischen<br />
Ansatz aufweisen, förderungswürdig. Bei<br />
Auslandsprojekten werden vorrangig die<br />
Bereiche Bildung, Gesundheit, Förderung<br />
demokratischer Strukturen und Gewerkschaftsarbeit<br />
unterstützt. In Deutschland<br />
werden vornehmlich Projekte aus den Bereichen<br />
Antirassismus und Antifaschismus<br />
sowie Projekte zum Thema Antisemitismus<br />
und Auseinandersetzungen mit aktuellem<br />
gesellschaftspolitischem Bezug gefördert.<br />
Erwartet wird, dass ökologisch relevante<br />
Aspekte des Projekts beachtet werden.<br />
Es wird ein gemäß der Projektplanung<br />
angemessener Zeitpunkt festgelegt, zu<br />
dem Rechenschaft über die Verwendung<br />
der Mittel und ein abschließender<br />
Bericht über den Verlauf des Vorhabens<br />
vorzulegen sind. Erfolgt dies nicht, ist<br />
der Zuschuss zurückzuzahlen. Um <strong>unsere</strong><br />
Rechenschaftspflichten zu erfüllen, wird<br />
auf eine ausführliche Dokumentation der<br />
Projekte wert gelegt. Der Solidaritätsfonds<br />
leistet mit seinem kleinen Budget hauptsächlich<br />
Anschub- und Teilfinanzierungen.<br />
Insofern ist die Vergabekommission daran<br />
interessiert, wie sich das unterstützte<br />
Projekt nach Erhalt der Förderung weiterentwickeln<br />
soll.<br />
Grundsätzlich nicht gefördert werden<br />
(Studien)-Reisen und Stipendien. Personalkosten<br />
werden ebenfalls nicht<br />
bezuschusst. Es erfolgt keine Dauerfinanzierung<br />
einzelner Projekte. Seit<br />
1992 wurden von dem Solifonds rund<br />
600 Projekte im Inland und etwa 300<br />
im Ausland unterstützt.<br />
Antragsverfahren: Jede Stipendiatin,<br />
jeder Stipendiat und jede Stipendiatlnnengruppe,<br />
aber auch andere Personen oder<br />
Organisationen können einen Projektantrag<br />
stellen. Anträge können laufend an<br />
den Solidaritätsfonds gestellt werden. Die<br />
Sitzungen der Vergabekommission finden<br />
dreimal jährlich (i.d.R. Januar, Mai und<br />
Oktober) statt.<br />
Projektbeispiele: APABIZ – Antifaschistisches<br />
Presse-Archiv und Bildungszentrum<br />
Berlin: Seit etwa zehn<br />
Jahren existiert das auf private Initiative hin<br />
gegründete antifaschistische Pressearchiv.<br />
Es sammelt Materialien zur Aktivität der<br />
extremen Rechten in Deutschland, archiviert<br />
sie und macht sie der Öffentlichkeit<br />
zugänglich. Es wird eifrig für die Erstellung<br />
wissenschaftlicher Arbeiten, für die Ausarbeitung<br />
von Unterrichtsmaterialien,<br />
Seminaren an Universitäten, Gedenkstättenarbeit<br />
oder auch politische Bildungsarbeit<br />
von Parteien und Gewerkschaften<br />
genutzt. Für die neuen Räumlichkeiten<br />
des APABIZ stellte der Solidaritätsfonds<br />
2.500 1 zur Verfügung.<br />
Givat Haviva – jüdisch-arabische<br />
Jugendarbeit: Givat Haviva ist eine der<br />
ältesten Institutionen in Israel, die sich<br />
für die jüdisch-arabische Verständigung<br />
einsetzen. In einem ehemaligen Kibbuz<br />
bietet die Organisation eine Vielzahl von<br />
Begegnungs- und Bildungsprogrammen<br />
für Schulklassen an. In sogenannten<br />
Face-to-Face-Projekten bringt Givat Haviva<br />
außerdem jüdische und arabische<br />
Jugendliche zusammen und moderiert<br />
Diskussionen, die auch zum Abbau von<br />
Aggressionen beitragen. Givat Haviva<br />
arbeitet im wesentlichen ohne staatliche<br />
Unterstützung mit Hilfe privater Unterstützerkreise<br />
im In- und Ausland. Der Solifonds<br />
unterstützte das Seminarprogramm von<br />
Givat Haviva mit ca. 5.000 1.<br />
54
Fotografen<br />
Marian Bremer, DGB<br />
Angela Hidding<br />
Cordula Kropke<br />
Christoph Heise<br />
Gerd Schumann<br />
Diese Broschüre ist fi nanziert aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
55
Impressum<br />
DGB Bildungswerk e.V.<br />
<strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong><br />
Hans-Böckler-Straße 39<br />
40476 Düsseldorf<br />
Tel.: 0211/4301-258<br />
Fax: 0211/4301-500<br />
e-mail: nord-sued-netz@dgb-bildungswerk.de<br />
Redaktion: Manfred Brinkmann, Werner Oesterheld<br />
Sigrid Thomsen, Hamburg<br />
Textkorrektur: Silvia Menner<br />
Layout: TRD-Design, Rubbert, Düsseldorf<br />
Druck: WAZ, Duisburg<br />
ISSN: 1615-3464<br />
56 www.nord-sued-netz.de<br />
DGB BILDUNGSWERK