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Worin unsere Stärke besteht - Nord-Süd-Netz

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Gewerkschaftspolitik<br />

<strong>Worin</strong> <strong>unsere</strong> Stärke <strong>besteht</strong> –<br />

Weltweite Kooperationen in Zeiten der Globalisierung<br />

DGB BILDUNGSWERK 1


Solidarität heißt Interessen fair ausgleichen Seite 04<br />

Ein Interview mit dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer<br />

I<br />

N<br />

H<br />

Strukturen der internationalen Arbeit<br />

Unterwegs zur weltweiten Vereinigung Seite 08<br />

Kurze Geschichte der internationalen Gewerkschaftsorganisationen<br />

Die globale Gewerkschaftspolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Seite 10<br />

Ein Interview mit Erwin Schweisshelm<br />

Beispiele für die Arbeit von Einzelgewerkschaften<br />

Hausverbot für Gewerkschafter Seite 14<br />

ver.di-Bezirk engagiert sich im Konfl ikt bei Metro in der Türkei<br />

Internationale Gewerkschaftskooperation vor Ort Seite 16<br />

Global – lokal: internationale Arbeit vor Ort<br />

Containerweise Beziehungen Seite 20<br />

Hamburger GEW pfl egt Partnerschaft mit Nicaragua<br />

Lernen mit Herz und Hand Seite 22<br />

IG Metalljugendliche bereisen Brasilien und Kuba<br />

Veränderung durch Kopf und Konto Seite 24<br />

„publik“-Leser spenden für Kinderarbeiter in Indien<br />

Kernarbeitsnormen Seite 26<br />

Anschriften und Webseiten der globalen Gewerkschaftorganisationen Seite 28<br />

A<br />

L<br />

T<br />

Internationale Gewerkschaftsarbeit auf betrieblicher Ebene<br />

Solidarität mit den Deutschen Seite 32<br />

DGB-Arbeitskreis treibt Austausch mit Brasilien bei Mercedes und BASF voran<br />

„Wir sollten nicht um Produkte kämpfen“ Seite 36<br />

Ein Interview mit Valter Sanches von der Metallgewerkschaft in Brasilien<br />

„Man trifft so tolle Menschen“ Seite 38<br />

Intersoli-Kreis der IG Metall ergänzt globale Betriebsratsarbeit<br />

„Als Arbeiter sind wir eins“ Seite 40<br />

Ein Interview mit Misumzi Chiliwe, Vertrauensleutevertretung VW, South Africa<br />

Globale Arbeitsbeziehungen auf Unternehmensebene<br />

Benimmregeln für Konzerne Seite 44<br />

Über Internationale Rahmenvereinbarungen<br />

Globale Dialogstruktur – Seite 46<br />

<strong>Netz</strong>werke bei Global Playern<br />

Eurobetriebsräte wollen nicht nur reden Seite 50<br />

Praktiker schlagen Verbesserungen der EU-Richtlinie vor<br />

Die Vision einer sozialen Welt im Focus Seite 52<br />

Projekte, Vernetzung und Bildungsarbeit beim <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong><br />

Weltweite Solidaritätsarbeit – Seite 54<br />

Der Solifonds der Hans-Böckler-Stiftung<br />

3


„Solidarität heißt<br />

Interessen fair ausgleichen“<br />

Ein Interview mit dem<br />

DGB-Vorsitzenden Michael Sommer<br />

Warum sollte sich eine Verkäuferin im Supermarkt<br />

oder ein Postangestellter für die<br />

internationale Solidarität interessieren?<br />

Sommer: Weil es nur eine Arbeitswelt<br />

gibt: Internationale Prozesse haben heute<br />

auch Auswirkungen auf Arbeitsplätze und<br />

-bedingungen in Deutschland. Wenn hier<br />

Zechen dicht gemacht werden und die<br />

Kohle stattdessen aus Australien kommt,<br />

spürt der Kumpel erstmal wenig von<br />

internationaler Solidarität. Da müssen<br />

wir ansetzen. Klar machen, dass internationale<br />

Gewerkschaftsarbeit keine Form<br />

von Gutmenschentum ist, sondern auch<br />

etwas mit eigenen Interessen zu tun hat.<br />

Ich gebe allerdings zu, dass diese Arbeit bei<br />

vielen Mitgliedern nicht im Mittelpunkt des<br />

Interesses steht.<br />

Wann war internationale Solidarität in<br />

Ihrem Leben zum ersten Mal wichtig?<br />

Sommer: Das war 1973 beim Putsch in<br />

Chile und der Aufnahme vieler Exilchilenen<br />

in Westberlin; mit der Regierung Allende<br />

hatten wir ja große politische Hoffnungen<br />

verbunden. Organisierte internationale Gewerkschaftsarbeit<br />

lernte ich das erste Mal<br />

kennen, als ich 1982 zum Hauptvorstand<br />

der Postgewerkschaft kam. Wir hatten<br />

sehr gute Kontakte zu den Schwestergewerkschaften<br />

in den hoch industrialisierten<br />

Ländern, besonders USA und Japan. Außerdem<br />

haben wir konkrete Entwicklungshilfe<br />

gemacht; zum Beispiel in Ägypten und Sri<br />

Lanka mitgeholfen, Post- und Fernmeldegewerkschaften<br />

aufzubauen. Im Zuge der<br />

Privatisierungsdebatte um die Bundespost<br />

gab es dann Anfang der neunziger Jahre<br />

Kontakte mit Kanada, Großbritannien und<br />

Neuseeland. Dort hatten die Kolleginnen<br />

und Kollegen die Privatisierung schon<br />

hinter sich.<br />

In Chile waren Sie im Frühjahr 2005 bei<br />

einer Lateinamerikareise wieder. Wie ist<br />

die Situation heute?<br />

Sommer: In Chile habe ich einen gewerkschaftspolitischen<br />

Aufbruch erlebt; dort<br />

stellen ja die Sozialisten die Regierung.<br />

Ähnlich war es in Uruguay, wo die erste<br />

sozialdemokratische Regierung die Tarifautonomie<br />

jetzt auf Landarbeiter und<br />

Hauspersonal ausgedehnt hat. Das hat<br />

dem Gewerkschaftsbund allein in diesem<br />

Jahr 250 000 neue Mitglieder beschert, und<br />

das macht ihn stolz. In Uruguay wurden<br />

Gewerkschaften lange unterdrückt. Es ging<br />

mir schon recht nahe, als der Arbeitsminister<br />

nach einem Mittagessen auf ein großes<br />

Gebäude zeigte, das Hauptquartier der<br />

Streitkräfte, und den Raum ausmachte, in<br />

dem er einst gefoltert worden war. Ich habe<br />

auch bewusst Kolumbien besucht. Dort<br />

kämpfen Kolleginnen und Kollegen noch<br />

heute um ihr Leben. Allein in diesem Jahr<br />

wurden dort 45 aktive Gewerkschafterinnen<br />

und Gewerkschafter von Paramilitärs<br />

ermordet. Wenn man das Gefühl hat,<br />

Gewalt ist allgegenwärtig - das geht schon<br />

sehr an die Nieren. Dem kolumbianischen<br />

Arbeitsminister habe sehr deutlich gesagt:<br />

Wir beobachten euch!<br />

Hat sich internationale Gewerkschaftsarbeit<br />

von einem eher helfenden Ansatz<br />

zur wechselseitigen Unterstützung<br />

gewandelt?<br />

Sommer: Der Wandel vollzieht sich gerade,<br />

und dabei ist Fairness ein ganz zentraler<br />

Begriff. Die Beziehungen zwischen der<br />

Europäischen Union und der südamerikanischen<br />

Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur<br />

sind ein Beispiel: Wir fördern den Austausch<br />

darüber, wie man soziale Belange verankert.<br />

Die sind dort schon weiter als wir; es gibt<br />

im Mercosur eine Art Wirtschafts- und<br />

Sozialausschuss, der nicht nur Anhörungsrechte<br />

hat, sondern auch tatsächlich etwas<br />

durchsetzen kann. Wir werben dafür, dass<br />

Arbeitnehmerrechte und die Entwicklung<br />

von Beschäftigung beim Austausch EU-Mercosur<br />

in den Mittelpunkt gestellt werden.<br />

4


Sie sind im Dezember 2004 zum ersten<br />

stellvertretenden Vorsitzenden des<br />

Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften<br />

gewählt worden. Der IBFG<br />

hat beschlossen, die Methoden und<br />

Strukturen der internationalen Arbeit den<br />

Herausforderungen der Globalisierung<br />

anzupassen. Was bedeutet das?<br />

Sommer: Wir brauchen eine Verstärkung<br />

der Branchenarbeit, die heute über die<br />

Global Unions läuft. Am Beispiel der<br />

Textilindustrie wird das sehr deutlich: Die<br />

Aufhebung des Welttextilabkommens hat<br />

für einige Länder die Situation dramatisch<br />

geändert, zum Beispiel für Bangladesh:<br />

Alles ist nach China abgewandert, mit<br />

Millionen Arbeitslosen. Dort müssen wir<br />

Strukturen aufbauen. Außerdem müssen<br />

wir die Regionalorganisationen stärken.<br />

In der tarifpolitischen Zusammenarbeit<br />

beispielsweise sind wir noch nicht sehr<br />

weit. Auf der anderen Seite haben wir den<br />

Einfluss von multinationalen Konzernen<br />

überall auf der Welt. Und wir wollen den<br />

Solidaritätsfonds neu gestalten. Das Geld<br />

soll in Zukunft für gezielte Kampagnen<br />

eingesetzt werden, zum Beispiel gegen<br />

Sweatshops, Sonderwirtschaftszonen oder<br />

Kinderarbeit.<br />

Das Verbot von Kinderarbeit gehört zu<br />

den Kernarbeitsnormen der Internationalen<br />

Arbeitsorganisation, ebenso das<br />

Recht auf kollektive Verhandlungen.<br />

Welche Rolle spielen diese Normen in der<br />

internationalen Gewerkschaftsarbeit?<br />

Sommer: Mit der Durchsetzung von<br />

Kernarbeitsnormen müssen wir auf der<br />

ganzen Welt weiterkommen. Da ist uns<br />

etwas gelungen, auf das ich stolz bin: Beim<br />

Treffen der Arbeitsminister der G-8-Staaten<br />

in Stuttgart im Dezember 2003 wurde in<br />

der Abschlusserklärung festgehalten, dass<br />

ein gemeinsames Konsultationsgremium<br />

zwischen der Welthandelsorganisation und<br />

der Internationalen Arbeitsorganisation ILO<br />

gegründet werden soll, um Kernarbeitsnormen<br />

weltweit zu verankern. So weitgehend<br />

ist keine andere internationale Erklärung.<br />

Wir nehmen das als zentrales Anliegen<br />

mit in die nächste Welthandelskonferenz.<br />

Allerdings gibt es ein Problem: Manche<br />

Gewerkschaften in Schwellenländern, wie<br />

Südafrika, halten das für einen miesen<br />

Trick. Sie vermuten, die Industrieländer<br />

wollten ihnen die Kernarbeitsnormen<br />

aufdrängen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />

zu schwächen. Darüber müssen wir<br />

miteinander reden.<br />

Müssen Gewerkschaften bei der Konkurrenz<br />

um Produktionsstandorte den<br />

Wettlauf nach unten bei Löhnen und<br />

Arbeitsbedingungen mitmachen?<br />

Sommer: Die Herausforderungen fangen<br />

beim Aufbau und der Stärkung gewerkschaftlicher<br />

Strukturen an. Wir unterstützen<br />

beispielsweise gerade den Aufbau eines<br />

Trainingslagers für Vertrauensleute in Vietnam.<br />

Aber noch fehlen uns die schlagkräftigen<br />

Organisationen, mit denen wir auf Politik<br />

und Wirtschaft einwirken könnten, auch<br />

in Europa. Was wir allerdings haben, und<br />

das kommt vornehmlich aus Deutschland,<br />

sind hoch entwickelte Strukturen bei einigen<br />

großen Konzernen, Euro- und Weltbetriebsräte.<br />

In der Metallindustrie klappt die<br />

Zusammenarbeit schon sehr gut. Allerdings<br />

sollte man sich nichts vormachen: Wenn<br />

es um Standortfragen geht, sind erstmal<br />

nationale Gesichtspunkte entscheidend.<br />

Da müssen wir Solidarität auch als fairen<br />

Interessensausgleich verstehen.<br />

Auf der Ebene von Konzernen werden<br />

Rahmenabkommen und Verhaltenskodices<br />

verhandelt, um Unternehmen<br />

in die gesellschaftliche Verantwortung<br />

zu nehmen. Wäre das nicht Sache von<br />

Regierungen?<br />

Sommer: Ja, aber viele tun es nicht. Selbst<br />

in den USA sind Kernarbeitsnormen nicht<br />

überall garantiert, und auch deutsche<br />

Manager gucken manchmal weg und ziehen<br />

sich auf die nationale Gesetzgebung<br />

zurück. Da müssen wir dann nachhaken.<br />

Rahmenabkommen müssen auf Unternehmensebene<br />

geschlossen und im zweiten<br />

Schritt weltweit verbindlich gemacht<br />

werden. Im dritten Schritt brauchen wir internationale<br />

Organisationen mit Sanktionsund<br />

Regulierungsmöglichkeiten. In den<br />

Entwicklungsländern geht es oft erstmal<br />

um die Anerkennung der Vereinigungsfreiheit,<br />

gerade im informellen Sektor der<br />

Wirtschaft. In Ghana zum Beispiel arbeiten<br />

85 Prozent der Menschen ohne formale<br />

Beschäftigung, da ist Vereinigungsfreiheit<br />

ein riesiges Problem. In dieser Frage arbeiten<br />

wir eng mit der katholischen Kirche<br />

zusammen.<br />

Mehr Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen<br />

gehört auch zu den<br />

Empfehlungen des letzten IBFG-Kongresses.<br />

Mit wem wird da sonst gearbeitet?<br />

Zunächst einmal sind Nichtregierungsorganisationen<br />

keine Ersatzgewerkschaften.<br />

Ihre Hilfe ist in der Regel sehr konkret. Und<br />

auf dieser Ebene arbeiten wir zusammen.<br />

Ich habe jedoch den Eindruck, dass die<br />

Zivilgesellschaft in anderen Ländern eine<br />

höhere Bedeutung als in Deutschland hat.<br />

In Chile zum Beispiel habe ich erfahren,<br />

dass es ohne die Zusammenarbeit von<br />

Gewerkschaften und Studentenbewegung<br />

nicht gelungen wäre, Pinochet zu verjagen.<br />

Auf internationaler Ebene haben wir das<br />

Weltsozialforum. Die meisten, die sich<br />

da engagieren, meinen es ernst mit der<br />

Emanzipation der Armen und Schwachen.<br />

Bei der politischen Sicht auf die Dinge<br />

scheiden sich dann manchmal die Geister.<br />

Aber insgesamt werden wir nur weiter<br />

kommen, wenn wir solche internationalen<br />

Prozesse stärken.<br />

Das Gespräch führte Sigrid Thomsen<br />

5


Strukturen der<br />

internationalen Arbeit<br />

7


Jürgen Eckl (DGB)<br />

Unterwegs zur weltweiten Vereinigung<br />

Kurze Geschichte der internationalen Gewerkschaftsorganisationen<br />

1889 1891 1902 1913<br />

Die Geschichte der internationalen<br />

Gewerkschaftsarbeit<br />

und ihrer Organisationen war<br />

jahrzehntelang vom Ost-West-Konflikt<br />

geprägt. Seit dem Fall der Mauer<br />

gewinnen weltweite Verbindungen<br />

an Macht.<br />

Noch bevor in den meisten Ländern nationale<br />

Dachverbände gegründet wurden,<br />

gab es bei einigen Berufsgruppen schon<br />

internationale Strukturen. Das waren die<br />

Vorläufer der Internationalen Berufssekretariate,<br />

der heutigen Global Union<br />

Federations (GUFs). 1889 wurde zum<br />

Gründungsjahr der Internationalen Bünde<br />

der Schuhmacher, der Tabakarbeiter und<br />

der Drucker. Der von sozialistischen Parteien<br />

1891 nach Brüssel einberufene „Internationale<br />

Arbeiterkongress“ bot Gewerkschaften<br />

der Branchen Holz, Metall und Textil<br />

eine Plattform für grenzüberschreitende<br />

Kooperationsabkommen. Von dort kamen<br />

die Anstöße zur Bildung einer internationalen<br />

Organisation auch innerhalb der<br />

nationalen Dachverbände. 1902 wurde<br />

ein Internationales Sekretariat der Gewerkschaftsbünde<br />

gegründet, das sich 1913 in<br />

Internationaler Gewerkschaftsbund IFTU<br />

(International Federation of Trade Unions)<br />

umtaufte. Gleichzeitig ging der Aufbau von<br />

Internationalen Berufssekretariaten voran:<br />

bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs hatten<br />

sich 33 Berufssekretariate gebildet. Die<br />

Mehrheit hatte ihren Sitz in Berlin, das war<br />

damals so etwas wie die Welthauptstadt<br />

der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung<br />

mit der größten Sozialdemokratischen Partei<br />

und dem weltweit mitgliederstärksten<br />

Gewerkschaftsbund.<br />

Im Krieg kam die internationale Gewerkschaftszusammenarbeit<br />

zum Erliegen; die<br />

internationalen Gewerkschaftszentren<br />

wanderten nach London, Amsterdam<br />

und Genf ab. Die zwanziger Jahre waren<br />

geprägt von Fusionen bei den Berufssekretariaten.<br />

Das alte Prinzip des Berufsverbandes<br />

wurde von Branchenstrukturen<br />

abgelöst. Konträr zu dieser Entwicklung<br />

standen Spaltungsversuche auf Grund der<br />

ideologischen Differenz von Sozialdemokraten<br />

und Kommunisten.<br />

Am Ende des Zweiten Weltkrieges etablierte<br />

sich der Weltgewerkschaftsbund WGB,<br />

der mit Beginn des Kalten Krieges unter<br />

Einfluss der Sowjetunion geriet. Die Ablehnung<br />

des Marshallplans durch das WGB-<br />

Generalsekretariat führte zum Auszug der<br />

eher westlich orientierten Gewerkschaften<br />

und 1949 in London zur Gründung des<br />

Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften<br />

IBFG (International Confederation<br />

of Free Trade Unions) mit Sitz in Brüssel.<br />

Als Grundprinzip des IBFG gilt, dass seine<br />

Organisationen ausschließlich durch die eigenen<br />

Mitglieder kontrolliert werden, nicht<br />

durch eine Regierung, die Arbeitgeber oder<br />

politische Parteien. Der IBFG ist heute mit<br />

weitem Abstand der größte Internationale<br />

Gewerkschaftsdachverband.<br />

Die Internationalen Berufssekretariate<br />

bewahrten in diesem Prozess ihre volle<br />

Eigenständigkeit und Unabhängigkeit.<br />

Sie fühlten sich in ihrer großen Mehrheit<br />

der IBFG-Familie zugehörig, ohne sich<br />

bei gelegentlichen Abgrenzungspolitiken<br />

des IBFG in ihrer eigenen Organisationspolitik<br />

gebunden zu sehen. Bei der<br />

Rekrutierung von Mitgliedern leisteten<br />

sie daher oft Pionierarbeit, erarbeiteten<br />

sich eine Vertrauensbasis bei Branchengewerkschaften,<br />

deren Dachverbände noch<br />

lange an der Distanz zum IBFG und seinen<br />

Regionalorganisationen festhielten. Diese<br />

pragmatische Flexibilität bei der internationalen<br />

Zusammenarbeit bewährte<br />

sich vor allem bei der Entstehung neuer<br />

Gewerkschaftsbewegungen in Brasilien,<br />

Südafrika, Südkorea und anderswo. Die<br />

Berufssekretariate nutzten ihre Vorreiterrolle<br />

auch nach der Aufl ösung des Ostblocks,<br />

zum Beispiel bei den Beziehungen<br />

zur arabischen Gewerkschaftswelt.<br />

8


Bis zum Fall der Berliner Mauer konnte sich<br />

der WGB auf die Staatsgewerkschaften des<br />

Ostblocks und kommunistisch geführte<br />

Gewerkschaften in der Dritten Welt und<br />

Westeuropa stützen. Mit Ende des Kalten<br />

Krieges verlor er fast alle seine Mitglieder.<br />

Seither führt er eine Schattenexistenz mit<br />

Büroadresse in Prag.<br />

Die Internationalen Berufssekretariate<br />

haben noch keine endgültige Position<br />

bezüglich ihrer institutionellen Einbindung<br />

in diesen Prozess gefunden. Sie haben sich<br />

2000 bereits einen neuen Sammelbegriff<br />

gegeben, den der globalen Gewerkschaftsföderationen<br />

(Global Union Federations,<br />

GUFs). Nach den teils traumatischen<br />

Erfahrungen in den beschleunigten Fusionsprozessen<br />

seit Ende der 90er Jahre – oft<br />

ausgelöst durch den Zusammenschluss von<br />

deutschen Einzelgewerkschaften – wollen<br />

sie so viel Souveränität wie möglich für sich<br />

behalten. Zugleich wissen sie, dass sie sich<br />

auf Dauer der Sogwirkung und Integrationskraft<br />

eines Projektes nicht entziehen<br />

erarbeitet in Abstimmung mit IBFG und<br />

GUFs Stellungnahmen zu einer Reihe von<br />

Politikfeldern und entwickelt die gemeinsamen<br />

Positionen der Gewerkschaften,<br />

etwa zu den G8-Gipfeln und den Treffen<br />

der Fachminister der OECD.<br />

GUFs und TUAC, sowie der Europäische<br />

Gewerkschaftsbund EGB wirken mit beratender<br />

Stimme in den Vorstandssitzungen<br />

1949 1968 2000<br />

1968 wurde unter Berufung auf die Katholische<br />

Soziallehre von einigen christlichen<br />

Gewerkschaften der Weltverband der<br />

Arbeit WVA gegründet, der aber ein relativ<br />

kleiner Verband mit einer hohen Zahl von<br />

Mitgliedern ohne Beitragsleistung blieb.<br />

Nennenswerte politische Präsenz erreichte<br />

er nur in Lateinamerika.<br />

Im letzten Jahrzehnt hat sich die internationale<br />

Zusammenarbeit zwischen IBFG<br />

und WVA zusehends verbessert, sei es in<br />

der Internationalen Arbeitsorganisation<br />

(International Labour Organisation ILO),<br />

sei es auf europäischer Ebene und gegenüber<br />

den Institutionen der Globalisierung.<br />

Deshalb haben beide Weltverbände auf<br />

ihren letzten Kongressen den Beschluss<br />

gefasst, einen gemeinsamen Internationalen<br />

Bund zu gründen. Der neue Verband<br />

soll ausdrücklich auch bisher ungebundene<br />

nationale Gewerkschaften in dieses gemeinsame<br />

Vorhaben einbeziehen, um die<br />

Vertretungsmacht der Gewerkschaften der<br />

Welt Ende 2006 durch eine gemeinsame<br />

Organisation zu stärken.<br />

können, dessen Ziel die Herstellung der<br />

internationalen Gewerkschaftseinheit ist.<br />

Die heute zehn GUFs (siehe Seite 28) erweiterten<br />

ihre Bedeutung mit der Globalisierung,<br />

da nationale Branchengewerkschaften<br />

angesichts der Multinationalen Konzerne<br />

immer mehr auf internationale Solidarität<br />

und Zusammenarbeit angewiesen sind.<br />

Ähnlich gewachsen in der Internationalen<br />

Gewerkschaftsarbeit ist die Bedeutung des<br />

Gewerkschaftlichen Beratungsausschusses<br />

bei der OECD, der TUAC mit Sitz in<br />

Paris, als Organisation der Dachverbände<br />

der OECD-Mitgliedsstaaten. Der TUAC<br />

des IBFG mit. Gegenwärtig noch in der<br />

Diskussion ist die Art von Integration und<br />

künftigem Status des EGB, wenn er nach<br />

der Vereinigung von IBFG und WVA auch<br />

die Aufgaben einer Regionalorganisation<br />

des neuen internationalen Bundes für Europa<br />

übernehmen sollte, vergleichbar mit<br />

der ORIT für beide Amerikas, der APRO für<br />

Asien und AFRO für Afrika. Wenn der Vereinigungsprozess<br />

der internationalen Bünde<br />

auf einem gemeinsamen Kongress im Oktober<br />

2006 beschlossen sein wird, beginnen<br />

erst die organisationspolitischen Mühen<br />

der Ebene, damit aus dieser Vereinigung<br />

auch wirklich die Stärkung der globalen<br />

Gewerkschaftsbewegung erwächst.<br />

9


Die globale Gewerkschaftspolitik der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

Ein Interview mit Erwin Schweisshelm<br />

Die Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

(FES) ist mit der Sozialdemokratischen<br />

Partei verbunden<br />

und betreibt im In- und Ausland<br />

politische Bildung. Ihre Auslandsbüros<br />

unterstützen und beraten<br />

Gewerkschaften in anderen Ländern<br />

auch im Namen des DGB. Erwin<br />

Schweisshelm von der internationalen<br />

Abteilung der FES in Bonn erklärt<br />

die Grundzüge dieser Arbeit:<br />

Wie ist die internationale Gewerkschaftsarbeit<br />

der Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung einzuordnen?<br />

Schweisshelm: Die internationale Gewerkschaftsarbeit<br />

ist in die internationale<br />

Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung eingebettet.<br />

Kernziele der internationalen<br />

Arbeit sind die Förderung von Demokratie,<br />

die Vermeidung von Konflikten<br />

und die Verwirklichung von sozialer<br />

Gerechtigkeit. Gewerkschaften sind zum<br />

Erreichen dieser Ziele unverzichtbar. Sie<br />

vertreten nicht nur die Interessen der<br />

Arbeitnehmer, sondern gehören in vielen<br />

Staaten zu den demokratischen, zivilgesellschaftlichen<br />

Organisationen.<br />

Ist dies nicht die Aufgabe der<br />

deutschen Gewerkschaften selbst,<br />

sich um die internationale Gewerkschaftsarbeit<br />

zu kümmern?<br />

Schweisshelm: Hier gibt es etwas Besonderes:<br />

Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist mit<br />

dem expliziten Mandat des DGB ausgestattet,<br />

die deutschen Gewerkschaften<br />

im Ausland zu vertreten. Dies lässt sich<br />

mit der gemeinsamen Geschichte von<br />

Gewerkschaften und Friedrich-Ebert-Stiftung,<br />

wie auch mit <strong>unsere</strong>r weltweiten<br />

Infrastruktur erklären. Die Stiftung wird<br />

als glaubwürdiger und vertrauenswürdiger<br />

Partner wahrgenommen!<br />

Wie sieht die Arbeit konkret aus?<br />

Schweisshelm: Die internationale Gewerkschaftsarbeit<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

hat zwei zentrale Ebenen: Die Länderprogramme,<br />

in denen Arbeitnehmervertretungen<br />

auf nationaler Ebene gefördert<br />

werden und das Projekt Globale Gewerkschaftspolitik,<br />

das eine soziale Gestaltung<br />

der Globalisierung zum Ziel hat und in<br />

der Bonner Zentrale koordiniert wird.<br />

Die Länderprogramme unterstützen Gewerkschaften<br />

sowohl als politische und<br />

zivilgesellschaftliche Akteure als auch in<br />

ihrer Funktion als Interessensvertreter<br />

der Arbeitnehmer. Die Länderprogramme<br />

werden von den Auslandsvertretungen<br />

der Stiftung koordiniert. Themen sind<br />

etwa die Qualifizierung für den sozialen<br />

Dialog, Tarifpolitik, Privatisierung und<br />

Fragen des Arbeitsrechts.<br />

Wie ist das zu verstehen und mit wem<br />

arbeitet ihr zusammen, um diese<br />

Projektziele zu verwirklichen?<br />

10


Schweisshelm: Wie der Name schon<br />

vermuten lässt, konzentriert sich das<br />

Projekt globale Gewerkschaftspolitik auf<br />

die Stärkung der Gewerkschaften und die<br />

bessere Vertretung der Arbeitnehmer auf<br />

globaler Ebene. Die wichtigsten Partner<br />

in diesem Projekt sind die Global Union<br />

Federations (GUFs) und der Internationale<br />

Bund Freier Gewerkschaften<br />

(IBFG), aber auch Organisationen wie<br />

die Internationale Arbeitsorganisation<br />

(IAO oder ILO), der gewerkschaftliche<br />

Beratungsausschuss der OECD (TUAC),<br />

regionale Gewerkschaftsstrukturen und<br />

Nichtregierungsorganisationen (NROs).<br />

Die Förderung durch das Projekt ist<br />

vielfältig. Im Jahre 2004 wurden mehr<br />

als 100 Einzelprojekte in 45 Ländern<br />

unterstützt. Dabei war die Stiftung in<br />

Vietnam genauso vertreten wie etwa in<br />

Brasilien, Aserbaidschan oder dem afrikanischen<br />

Mali. In jedem dieser Länder<br />

existieren andere Bedingungen für die<br />

Gewerkschaftsarbeit.<br />

Wo setzt die Arbeit an?<br />

Schweisshelm: Bei der Förderung sind<br />

drei Ebenen von besonderer Bedeutung:<br />

Die gewerkschaftspolitische, die Unternehmensebene<br />

und die entwicklungspolitische<br />

Ebene.<br />

Auf gewerkschaftspolitischer Ebene werden<br />

Publikationen zu sozialpolitischen<br />

Themen erstellt, Workshops und Trainings<br />

für Gewerkschaftsmitglieder organisiert<br />

und die Verwirklichung von Menschenund<br />

Gewerkschaftsrechten unterstützt.<br />

Auf Unternehmensebene fördert die<br />

Stiftung die Vernetzung von Arbeitnehmerinteressen<br />

in multi-nationalen<br />

Unternehmen, die Vereinbarung von<br />

Rahmenabkommen oder die Anwendung<br />

von Verhaltenskodizes in multinationalen<br />

Unternehmen.<br />

Auf entwicklungspolitischer Ebene steht<br />

die Integration von Sozialstandards in<br />

die deutsche und internationale Entwicklungszusammenarbeit<br />

im Vordergrund.<br />

Zudem unterstützt die Stiftung<br />

die Mitarbeit von Gewerkschaften in den<br />

sogenannten „Fairen Handel“, wie die<br />

Flower Label Campaign der NRO FIAN<br />

und die Clean Clothes Campaign. Seit<br />

Oktober des Jahres 2004 wird zudem<br />

ein Masterstudiengang zu Arbeitsmarktpolitik<br />

und Globalisierung gefördert,<br />

der an der Universität Kassel und der<br />

Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin<br />

durchgeführt wird und sich an junge Gewerkschafter<br />

aus Entwicklungsländern<br />

richtet. International ist das Projekt mit<br />

anderen Geberorganisationen in den<br />

USA und Europa vernetzt. Diese Verbindungen<br />

ermöglichen den Austausch<br />

und die Koordinierung der Arbeit. Die<br />

Unterstützung kann so zielgenauer und<br />

politisch effektiver gesteuert werden.<br />

Bei soviel Globalität, findet denn beim<br />

Exportweltmeister Deutschland auch<br />

noch etwas statt?<br />

Schweisshelm: Natürlich, in Deutschland<br />

ist das Projekt in einer Vielzahl von Gremien<br />

eingebunden. Dazu gehören die<br />

internationalen Arbeitskreise beim DGB,<br />

der Runde Tisch für Verhaltenskodizes<br />

und das Thementeam WTO der Friedrich-<br />

Ebert-Stiftung.<br />

Ist es denn den Aufwand wert?<br />

Schweisshelm: Ich denke schon. Gerade<br />

die aktuellen Diskussionen zeigen, dass<br />

soziale Gerechtigkeit in einem Land<br />

allein nicht mehr zu verwirklichen ist.<br />

Das gegenseitige Ausspielen der Belegschaften<br />

wird auch Dank der Arbeit der<br />

FES schwieriger.<br />

Mit freundlicher Genehmigung entnommen<br />

aus der FES-Broschüre „Globalisierung und<br />

Soziale Gerechtigkeit“, Bonn 2005.<br />

11


Beispiele für die Arbeit von<br />

Einzelgewerkschaften<br />

13


Sigrid Thomsen (Journalistin)<br />

Hausverbot für Gewerkschafter<br />

ver.di-Bezirk engagiert sich im Konflikt bei Metro in der Türkei<br />

In der Türkei setzte der Metro-<br />

Konzern eine ihm genehme<br />

Gewerkschaft in seinen Cashund-Carry-Märkten<br />

durch – gegen<br />

den Willen der Beschäftigten und<br />

trotz internationaler Solidarität aus<br />

Deutschland.<br />

Auf den ersten Blick sieht es nach Urlaub<br />

aus, wo türkische und deutsche Beschäftigte<br />

des Metro-Konzerns vor Strand und<br />

Palmen ihre Köpfe zusammenstecken<br />

– die Gewerkschaftsschule der türkischen<br />

Handelsgewerkschaft Tez-Koop-Is liegt<br />

direkt am Meer. Tatsächlich werden hier<br />

harte Nüsse geknackt: der Metro-Konzern,<br />

zu dem unter anderem Kaufhof, Saturn,<br />

Real und die Metro Cash-und Carry-<br />

Märkte gehören, bekämpft in der Türkei<br />

die gewerkschaftliche Organisierung<br />

seiner Beschäftigten nach einem ausgefeilten<br />

Plan. Um die Tariffähigkeit der Tez<br />

Koop-Is rückgängig zu machen, für die<br />

ein Organisationsgrad von mindestens 51<br />

Prozent Voraussetzung ist, schreckte die<br />

Firmenleitung vor massiver Einschüchterung<br />

und Kündigungen nicht zurück.<br />

Deutsche Gewerkschafter waren auf diese<br />

Situation erstmals aufmerksam geworden,<br />

als ein türkischer Kollege aus der Region<br />

Mannheim-Heidelberg in seine Heimat zurückging<br />

und ihnen von den Bedingungen<br />

dort schrieb. 1999 begannen türkische<br />

und deutsche Gewerkschafter einander<br />

zu besuchen und über die jeweiligen<br />

Zusammenhänge zu informieren.<br />

Ein Jahr später erklärten die Bezirksverwaltung<br />

Mannheim/Heidelberg der<br />

Gewerkschaft Handel Banken Versicherungen<br />

und die Gewerkschaft Tez Koop-Is<br />

Istanbul einander die Partnerschaft: Sie<br />

gelobten die Stärkung ihrer Gewerkschaften<br />

gegenüber internationalen Konzernen,<br />

Erfolge im Kampf um Mindeststandards<br />

– und den Aufbau einer demokratischen<br />

und sozialen Europäischen Union. Anton<br />

Kobel, der die Erklärung damals als Geschäftsführer<br />

für die HBV unterzeichnet<br />

hat, erinnert sich an die Diskussionen<br />

darüber: „Alle türkischen Kollegen wollten<br />

das, und die deutschen kamen ins Nachdenken,<br />

nachdem sie die Bedingungen vor<br />

Ort kennen gelernt hatten“.<br />

Die sind hart: Der Arbeitgeber Metro<br />

nötigte Gewerkschaftsmitglieder zum<br />

Austritt aus der Tez Koop-Is, der vor einem<br />

Notar vollzogen werden musste, mit<br />

der Kündigungsdrohung – und kündigte<br />

auch, wenn der Austritt verweigert wurde.<br />

Zwischen 1999 und 2002 sind etwa 1500<br />

Beschäftigte entlassen worden, gab der<br />

Generaldirektor von Metro Türkei nach<br />

Angaben der Gewerkschaft selbst zu.<br />

14


Wer sich diesem Vorgehen widersetzte<br />

und zu Aussagen gegen die Firmenleitung<br />

bereit war, bekam Hausverbot, Zwangsurlaub<br />

oder wurde willkürlich versetzt. Die<br />

Firmenleitung wollte den Organisationsgrad<br />

unter die Hälfte drücken, um die Anerkennung<br />

der Gewerkschaft rückgängig<br />

zu machen und die Arbeitsbedingungen<br />

verschlechtern zu können. Entlassungen<br />

können in der Türkei ohne Grund ausgesprochen<br />

werden.<br />

– der Sosyal Is, die als weniger aktiv und<br />

kampfbereit gilt. Sie gehört allerdings dem<br />

als fortschrittlicher bekannten Gewerkschaftsbund<br />

an und wird, wie Anton Kobel<br />

weiß, inzwischen auch von Linken genutzt.<br />

Als innerhalb der befreundeten Gewerkschaft<br />

Auseinandersetzungen über eine<br />

mehr oder weniger kämpferische Linie<br />

gegenüber dem Konzern ausbrachen und<br />

ein Vorstandsmitglied nicht wieder gewählt<br />

und dann entlassen wurde, kamen<br />

die Kontakte zwischen türkischen und<br />

deutschen Kollegen ins Stocken. Auch die<br />

deutschen waren mit innergewerkschaftlichen<br />

Prozessen befasst, als die alte HBV<br />

in die neue Dienstleistungsgewerkschaft<br />

überführt werden musste.<br />

In der Türkei hat die Tez Koop-Is das Arbeitsgericht<br />

angerufen und verloren: die<br />

Tariffähigkeit der neuen Gewerkschaft<br />

bei Metro wurde bestätigt, obwohl sie<br />

unter so viel Zwang hergestellt wurde. In<br />

Deutschland sind die Beschäftigten bei<br />

der Metro ins Nachdenken gekommen, ob<br />

ihr scheinbar gewerkschaftsfreundlicher<br />

Arbeitgeber in der Türkei eine neue Linie<br />

ausprobiert. „Es ist immerhin derselbe<br />

Konzern“, sagt Anton Kobel, der sich<br />

mittlerweile in den Ruhestand begeben<br />

hat. „Der Anspruch muss gelten, dass<br />

der sich überall korrekt verhält. Metro ist<br />

in 40 Ländern tätig. Das nächste Thema<br />

sind weltweite Mindeststandards und ein<br />

internationaler Tarifvertrag.“<br />

Die deutschen Kolleginnen und Kollegen<br />

machten diese Methoden zunächst im<br />

Bezirk und dann bundesweit über die<br />

inzwischen gegründete Dienstleistungsgewerkschaft<br />

ver.di bekannt. Für die entlassenen<br />

Mitarbeiter in der Türkei wurde<br />

immer wieder Geld gesammelt. 2003<br />

griff der Vorsitzende Frank Bsirske ein.<br />

Er erreichte bei der Konzernzentrale von<br />

Metro in Düsseldorf die Zusage, dass sich<br />

die Firmenleitung in Istanbul gegenüber<br />

den in ihrem Bereich tätigen Gewerkschaften<br />

neutral verhalten werde.<br />

Das sah zunächst wie ein Erfolg aus.<br />

Aber die Arbeitgeber in der Türkei hatten<br />

bereits eine neue List ersonnen, um die<br />

Tez Koop-Is zu schwächen und trotzdem<br />

formal davon zu kommen: sie nötigte ihre<br />

Beschäftigten, einer anderen Gewerkschaft<br />

beizutreten, wenn sie unbedingt<br />

Gewerkschaftsmitglied sein wollten<br />

15


Nihat Öztürk (IG Metall)<br />

Internationale Gewerkschaftskooperation<br />

vor Ort<br />

Global – lokal: internationale Arbeit vor Ort<br />

Der Traum vieler Unternehmer,<br />

„dort zu investieren und zu<br />

produzieren, wo die Steuern<br />

und Löhne am niedrigsten sind,<br />

dort Waren und Dienstleistungen<br />

abzusetzen, wo die Kaufkraft am<br />

höchsten ist, und dort zu leben, wo<br />

es am schönsten ist“ (Ulrich Beck),<br />

ist dank der Globalisierung der<br />

Märkte Wirklichkeit geworden.<br />

Die Umsetzung solcher „Träume“ geht<br />

mit Erpressung von Arbeitnehmer/innen<br />

einher.<br />

Jeder IG Metaller kann sich mit Grausen<br />

daran erinnern, wie die Siemens AG im<br />

Frühjahr 2004 versuchte, die Belegschaften<br />

der Handyproduktion in Bocholt und<br />

Kamp-Lintfort in die Geiselhaft zu nehmen.<br />

Die Siemens AG drohte: Entweder arbeiten<br />

die Belegschaften fünf Stunden pro Woche<br />

länger – natürlich unentgeltlich – und<br />

nehmen weitere Einkommensverluste um<br />

20 Prozent zusätzlich hin, oder das Unternehmen<br />

wird die Produktion komplett<br />

nach Ungarn verlagern. Denn in Ungarn<br />

warten Bedingungen auf Siemens, wovon<br />

Konzerne träumen: Eine moderne Fabrik<br />

auf der grünen Wiese, das Gelände für einen<br />

Euro von der Regierung überlassen; für<br />

mindestens zehn Jahre garantiert niedrigste<br />

Steuersätze; Übernahme der Investitionskosten<br />

seitens der Ungarischen Regierung<br />

zwischen 25 und 37 Prozent, finanziert<br />

aus dem Strukturfonds der Europäischen<br />

Union; und niedrige Löhne und schwache<br />

Gewerkschaften. Selbst die Verlagerungskosten<br />

wären für Siemens vorteilhaft, da<br />

sie als Betriebsausgaben steuermindernd<br />

angezeigt werden können.<br />

Der Fall Siemens ist nur die Spitze des<br />

Eisbergs. Diese Strategie der Konzerne<br />

beschränkt sich nicht auf Deutschland.<br />

Überall in Europa und in der fernen<br />

Welt werden Belegschaften erpresst,<br />

um Arbeitnehmer/innen und ihre Gewerkschaften<br />

zum Verzicht auf tarifliche<br />

Leistungen zu zwingen. Regierungen und<br />

Parlamente werden mit Kapitalflucht und<br />

Verlagerung von Arbeitsplätzen unter<br />

Druck gesetzt.<br />

Man stelle sich vor, Unternehmen würden<br />

weltweit nicht nur optimale Produktionsbedingungen<br />

finden, sondern sie<br />

könnten sich „ihre“ Gewerkschaften<br />

selbst aussuchen! Reibungsloser kann<br />

der globale Kapitalismus nicht funk-<br />

tionieren. Das ist kein Horrorszenario.<br />

Exemplarisches Beispiel hierfür ist der Fall<br />

Grammer in der Türkei. Dort versuchte<br />

die Geschäftsführung des deutschen<br />

Automobilzulieferers Grammer, mit<br />

Hilfe der konservativen Türkmetal die<br />

vereinigte Metallarbeitergewerkschaft<br />

Birlesik-Metal auszugrenzen. In einer<br />

Nacht- und Nebelaktion wurde Mitgliedern<br />

von Birlesik-Metal gekündigt<br />

und industriell unerfahrene Menschen<br />

eingestellt. Diese nahm man dann in die<br />

Türkmetal auf, damit die arbeitgebernahe<br />

Gewerkschaft Türkmetal den Vortritt als<br />

zuständige Gewerkschaft bekommt. Nur<br />

Dank Engagement und Einsatz der internationalen<br />

Abteilung der IG Metall, des<br />

EMB, der Betriebs- und Aufsichtsräte von<br />

Grammer und DaimlerChrysler konnte<br />

dieses selbstherrliche Verhalten der Geschäftsführung<br />

von Grammer rückgängig<br />

16


gemacht werden. Doch ausgemerzt ist<br />

dieser Fall von Refeudalisierung von<br />

industriellen Beziehungen und Gewerkschaftskannibalismus<br />

keineswegs. Und<br />

der Fall Grammer ist mit Sicherheit kein<br />

Einzel-, sondern lediglich ein prominenter<br />

Fall.<br />

Gewerkschaften sind bei Strafe ihres<br />

Untergangs gezwungen, sich international<br />

aufzustellen. Dabei geht es<br />

nicht allein um den bei Sonntagsreden<br />

grenzüberschreitender Konferenzen<br />

gepflegten Internationalismus, der zur<br />

Routine geworden ist und allmählich<br />

überwunden werden muss. Denn, so<br />

genuin internationalistisch und altruistisch<br />

sind Gewerkschaftsvertreter doch<br />

nicht, da sie unmittelbar und konkret die<br />

Interessen ihrer zahlenden Mitglieder zu<br />

vertreten haben. Es ist schon schwierig<br />

genug, die Interessen deutscher Standorte<br />

eines Unternehmens auszugleichen.<br />

Wenn es um die Arbeitsplätze deutscher<br />

Arbeitnehmer/innen geht, sind Gewerkschafter<br />

nicht selten „nationalistisch“<br />

(Michael Sommer), manchmal sogar<br />

„lokalpatriotisch“. Da Betriebsräte in<br />

erster Linie „ihren“ Belegschaften verpflichtet<br />

sind, setzen sie in Gelsenkirchen<br />

oder Bochum andere Prioritäten als ihre<br />

Betriebsratskollegen in Ludwigsburg<br />

oder Rüsselsheim.<br />

Dieses Verhalten scheint moralisch<br />

vertretbar und politisch alternativlos<br />

zu sein. Gewerkschafter werden immer<br />

gezwungen sein, die unmittelbaren<br />

Interessen der von ihnen vertretenen<br />

Arbeitnehmer/innen zu verteidigen.<br />

Doch diese Politik ist und bleibt perspektivlos,<br />

sofern sie im lokalen Rahmen<br />

verhaftet bleibt.<br />

Eine internationale Verankerung der<br />

Gewerkschaftsarbeit ist unerlässlich, will<br />

man die erpresserische Verlagerungsdrohung<br />

überwinden. Die deutschen<br />

Industriestandorte können nicht gegen<br />

niedrige Löhne und Steuern, Missachtung<br />

von Arbeits- und Umweltschutz,<br />

marktwidrige Subventionen und repressive<br />

Politik gegen Gewerkschaften im<br />

Ausland konkurrieren. Wenn deutsche Industrieunternehmen<br />

annähernd gleiche<br />

Produktivitäts- und Qualitätsstandards<br />

sowie zuverlässige rechtliche Rahmenbedingungen<br />

für deutlich niedrigere<br />

Produktionskosten im Ausland vorfinden,<br />

werden sie Arbeitsplätze verlagern. Wenn<br />

sie sich dazu noch „ihre“ Gewerkschaften<br />

selbst aussuchen und formen können,<br />

werden sie zusätzlich motiviert sein,<br />

verstärkt im Ausland zu investieren bzw.<br />

Produktion ins Ausland zu verlagern.<br />

Damit dürfte klar sein, dass eine Internationalisierung<br />

der Gewerkschaftsarbeit<br />

keine einseitige, altruistisch<br />

motivierte Solidarität der deutschen<br />

Gewerkschaften mit ihren ausländischen<br />

Schwestergewerkschaften ist, sondern<br />

perspektivisches Handeln im Eigeninteresse.<br />

International abgestimmte Gewerkschaftsarbeit<br />

bedeutet also sowohl<br />

konkrete internationale Solidarität als<br />

auch wirksame Interessenvertretung auf<br />

nationaler und lokaler Ebene. Sie ist vor<br />

allem ein Beitrag zum Schutz und zur<br />

Stärkung der eigenen Mitglieder bzw.<br />

der eigenen (Ver-)Handlungsposition und<br />

in zweiter Linie ein Solidaritätsbeitrag<br />

mit den Schwestergewerkschaften im<br />

Ausland.<br />

Die Unterstützung ausländischer Gewerkschaften<br />

gegen mächtige Kapitalinteressen,<br />

das Eintreten für eine<br />

Harmonisierung von Arbeitsrecht und<br />

Durchsetzung von Mindestarbeitsnormen<br />

der ILO, Kampf für soziale und ökologische<br />

Mindeststandards und Mindestunternehmenssteuern<br />

– das alles darf<br />

nicht mit paternalistischem Gehabe und<br />

besserwisserischer Arroganz erfolgen,<br />

sondern unter Beachtung kultureller und<br />

nationaler Besonderheiten, Entwicklungen<br />

und Erfahrungen.<br />

17


Internationale Gewerkschaftsarbeit ist<br />

mühselig, braucht einen langen Atem<br />

und Sensibilität:<br />

Sprach- und Verständigungsprobleme,<br />

besondere historisch-politisch-kulturelle<br />

Prägungen, unterschiedliche ökonomisch-soziale<br />

Standards, verschiedene<br />

Ziele, Prioritäten und Orientierungen,<br />

ungleiche rechtliche Rahmenbedingungen<br />

und die Existenz mehrerer ideologisch-politisch<br />

konkurrierender Gewerkschaften<br />

erschweren die operative Kooperation<br />

und Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften<br />

auf internationaler Ebene.<br />

Wirksame internationale Gewerkschaftsarbeit<br />

muss neben Vorständen und<br />

Bezirksleitungen natürlich auch die Verwaltungsstellen<br />

mit einbeziehen.<br />

Die Verwaltungsstellen könnten mit eigenen<br />

Bordmitteln und ihren ehrenamtlichen<br />

Funktionären eine Kooperation organisieren<br />

und langfristig am Leben halten.<br />

Dabei müssten Kooperationen zwischen<br />

Wirtschaftsregionen die Priorität haben.<br />

Viele IG Metall-Verwaltungsstellen<br />

haben enorme Manpower und brachliegendes<br />

Potential, um internationale<br />

Gewerkschaftskooperationen zu starten<br />

und langfristig zu pflegen: Erfahrene,<br />

qualifizierte, motivierte Funktionäre<br />

– darunter zahlreiche Kollegen/innen<br />

mit Migrationshintergrund. Diese beherrschen<br />

in der Regel mehrere Sprachen,<br />

haben Kontakte zu den Ländern Süd-,<br />

Ost- und Südosteuropas und zu Gewerkschaften<br />

ihrer Herkunftsländer. Solche IG<br />

Metall-Funktionäre mit Basiserfahrungen<br />

können als „Grenzgänger“ oder als<br />

„Brücke“ helfen, Verständigungsprobleme<br />

sprachlicher, kultureller und<br />

politischer Art zu überwinden.<br />

Zudem wissen wir aus internationalen<br />

bzw. binationalen Seminaren, dass <strong>unsere</strong><br />

ehrenamtlichen Funktionäre in vielen<br />

Feldern tätig sind, wie zum Beispiel:<br />

Arbeits-, Umwelt- und<br />

Gesundheitsschutz<br />

Lohnfindung und<br />

Lohngestaltung<br />

Arbeitszeitgestaltung und<br />

Arbeitszeitmodelle<br />

Berufliche Bildung und<br />

Qualifikation<br />

Sozial-, Steuer- und<br />

Verteilungspolitik<br />

Globale Unternehmensstrategien<br />

und Zukunft der Arbeit<br />

Gestaltung der Arbeitsbedingungen<br />

und ILO-Standards<br />

Über Kompetenzen verfügen,<br />

die in den internationalen<br />

Gewerkschaftskooperationen<br />

gefragt sind.<br />

18


Argumente für Gewerkschaftskooperationen<br />

mit der Türkei<br />

Folgende Gründe sprechen z. B. dafür,<br />

die Kooperation mit der Türkei zu vertiefen:<br />

Das Volumen der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen<br />

zwischen Deutschland<br />

und der Türkei ist beachtlich und wächst<br />

kontinuierlich.<br />

Mehr als 1.200 deutsche Unternehmen<br />

mit ihren Produktions- und/oder<br />

Vertriebsstätten sind in der Türkei<br />

operativ tätig, Tendenz steigend. Davon<br />

sind fast ein Drittel dem Organisationsbereich<br />

der IG Metall zuzuordnen,<br />

nämlich der Metallwirtschaft sowie der<br />

Textil- und Bekleidungsindustrie.<br />

Die türkische Wirtschaft steht weltweit<br />

auf Platz 20, mit hohen Wachstumsraten<br />

und Perspektiven als Produktions- und<br />

Absatzmarkt. Diese wirtschaftliche<br />

Entwicklungsdynamik wartet auf ihre<br />

Freisetzung.<br />

Die Türkei – selbst wenn sie erst in<br />

zehn bis fünfzehn Jahren EU-Mitglied<br />

wird oder selbst wenn die Aufnahmeverhandlungen<br />

scheitern sollten – hat<br />

bereits privilegierte Beziehungen zur EU,<br />

da sie seit 1963 assoziiertes Mitglied<br />

und das einzige Land ist mit einem<br />

Zollabkommen.<br />

Die Türkei ist bereits in Europa: Über<br />

vier Millionen türkischstämmige Bürger/innen<br />

leben bereits seit Jahrzehnten<br />

in Europa. Und: Die über 2,5 Millionen<br />

türkischstämmigen Bürger/innen,<br />

davon rund 700.000 mit deutscher<br />

Staatsbürgerschaft - bilden die größte<br />

ethnische Minderheit in Deutschland.<br />

Diese Minderheit stellt nicht nur eine<br />

wichtige Brücke zur Türkei dar, zu<br />

dieser Minderheit gehören mehr als<br />

500.000 sozialversicherungspflichtige<br />

abhängig Beschäftigte, also Steuer- und<br />

Beitragszahler, sowie ca. 60.000 türkische<br />

Selbständige, die rund 300.000<br />

Arbeitnehmer/innen beschäftigen.<br />

(Nach einer Prognose des Zentrums für<br />

Türkeistudien werden im Jahre 2015<br />

rund 120.000 türkische Selbständige in<br />

Deutschland 720.000 Mitarbeiter/innen<br />

beschäftigen.)<br />

Rund 120.000 IG Metall-Mitglieder<br />

türkischer Herkunft machen fast 50<br />

Prozent aller nichtdeutschen Mitglieder<br />

der IG Metall aus.<br />

Nihat Öztürk, 2. Bevollmächtigter der<br />

IGM in Düsseldorf/Neuss<br />

19


Sannah Koch (Journalistin)<br />

Containerweise Beziehungen<br />

Hamburger GEW pflegt Partnerschaft mit Nicaragua<br />

Seit zwei Jahrzehnten beteiligen<br />

sich auf Betreiben der<br />

GEW in Hamburg etliche Bildungseinrichtungen<br />

daran, jedes<br />

Jahr einen großen Container mit<br />

Schulmaterialien und Werkzeug<br />

für Nicaragua zu füllen. Aus der<br />

anfänglichen Spendenaktion entwickelte<br />

sich eine lebendige Partnerschaft.<br />

Ein privater Anlass hatte den Lehrer und<br />

Gewerkschafter Horst Stöterau 1984 in<br />

das mittelamerikanische Land gelockt.<br />

„Eine ehemalige Kollegin arbeitete dort<br />

und lud mich ein, mir vor Ort ein Bild<br />

von der politischen Lage zu machen“,<br />

erzählt Stöterau. Und die war für die<br />

deutsche Linke damals hochinteressant:<br />

die Sandinisten hatten Ende 1979 den<br />

Diktator Somoza gestürzt, im Nachbarland<br />

El Salvador versuchten Rebellen<br />

es den Sandinisten nachzutun. Viele<br />

politisch Interessierte identifizierten sich<br />

mit den Befreiungsbewegungen in Mittelamerika.<br />

Als Stöterau 1984 in die Hauptstadt<br />

Managua flog, hatte er 60 Kilogramm<br />

gespendetes Spielzeug für Kindergärten<br />

im Gepäck. „Im Flughafen haben sie<br />

mich mit dem Übergewicht problemlos<br />

durch den Zoll gelassen,“ erinnert er sich<br />

schmunzelnd, „das war damals die Zeit,<br />

da sind viele mit Sachspenden im Gepäck<br />

dorthin geflogen.“ Mit im Rucksack hatte<br />

der Lehrer Kontaktadressen zu drei Schulen<br />

in León, denn die Hamburger GEW<br />

war an Schulpartnerschaften interessiert.<br />

Die Regierung der Sandinisten hatte eine<br />

ehrgeizige Alphabetisierungskampagne<br />

im Land gestartet, aber ein großer Teil<br />

der Bevölkerung war zu arm, um sich<br />

Lernmaterial zu kaufen. „Unsere Idee<br />

war damals, jeden Schüler zumindest<br />

mit Bleistift und Papier auszustatten“,<br />

so Horst Stöterau.<br />

1984 wurde eine Mittelamerika-Gruppe<br />

innerhalb der GEW gegründet, die<br />

gemeinsam mit dem Nicaragua-Verein<br />

Hamburg das erste Schulmaterial nach<br />

León auf den Weg brachte. Der Container<br />

wurde 1985 im Rahmen einer Aktions-<br />

20


woche „Hamburger tun was für León“<br />

gefüllt; schon an dieser ersten Sammlung<br />

waren 25 Schulen beteiligt. Ergebnis: 16<br />

Kubikmeter Unterrichtsmaterialien im<br />

Wert von 43.000 Mark. Seitdem rühren<br />

die Hamburger GEWler jedes Jahr die<br />

Werbetrommeln für die Befüllung des<br />

Nicaragua-Containers.<br />

Auch der gewerkschaftliche Kontakt<br />

über die Kontinente verstärkte sich. Die<br />

über die Jahre gewachsene Zusammenarbeit<br />

der Hamburger GEW und der<br />

nicaraguensichen Gewerkschaft ANDEN<br />

ermöglicht heute die reibungslose Organisation<br />

der Spendenverteilung. In den<br />

Anfangsjahren der Solidaritätsarbeit,<br />

so erinnert sich Stöterau, hat sich der<br />

Bundesvorstand der GEW gegenüber<br />

den Sandinisten eher reserviert verhalten.<br />

Nach Treffen mit sandinistischen Gewerkschaftsführern<br />

habe sich das Verständnis<br />

füreinander jedoch schnell verbessert, so<br />

dass man den Austausch zwischen den<br />

Vorständen der GEW und der ANDEN<br />

heute als freundschaftlich, ja geradezu<br />

als vorbildhaft für das Verhältnis von<br />

Gewerkschaftern der Ersten und Dritten<br />

Welt bezeichnen könne.<br />

Immerhin spendet die Hamburger GEW<br />

seit Jahren auch noch jährlich 25.000<br />

Euro für Gewerkschaftsarbeit der AN-<br />

DEN. Damit werden dort nicht nur eine<br />

Vollzeitstelle, Gewerkschaftstreffen und<br />

Fortbildungen in León bezahlt. Im Frühjahr<br />

2005 wurde auch ein landesweiter<br />

Streik der Lehrer für eine lange angekündigte,<br />

aber nicht erfolgte Lohnerhöhung<br />

finanziell unterstützt. Er hatte Erfolg:<br />

nach 15 Jahren bekommen die Kollegen<br />

in Nicaragua jetzt erstmals 30 Dollar<br />

mehr im Monat.<br />

Die Zahl der Schulkontakte und Partnerschaften<br />

ist stetig gewachsen. Bildungsreisen<br />

von Hamburger Lehren nach<br />

León gehören inzwischen zum festen<br />

Repertoire der Zusammenarbeit. „Dabei<br />

steht weniger der Austausch über didaktische<br />

Methodik oder Lerninhalte im<br />

Vordergrund, sondern die Diskussion und<br />

Information über die jeweiligen Bildungssysteme<br />

und Arbeitsbedingungen“, sagt<br />

Horst Stöterau. Nicht zuletzt aufgrund<br />

des regen Gewerkschaftsengagements<br />

beschloss die Hansestadt Hamburg<br />

1989 offiziell, eine Städtepartnerschaft<br />

mit León zu schließen. Seitdem können<br />

Schüler und Jugendliche an einem<br />

Austausch teilnehmen, der von den<br />

Jugendorganisationen Leóns und der<br />

Arbeitsgemeinschaft Freier Jugendverbände<br />

in Hamburg organisiert und vom<br />

Hamburger Senat finanziert wird.<br />

„Ich habe mich unheimlich gefreut, in<br />

León zu sehen, wie nützlich <strong>unsere</strong> Spenden<br />

für <strong>unsere</strong> Partnerschule dort sind,“<br />

erzählt Natalja Rudi. Die 18 jährige Hamburgerin<br />

hat im Sommer 2005 an einem<br />

vierwöchigen Jugendaustauschprogramm<br />

teilgenommen. Ihre Schule schickt schon<br />

lange Spendenmaterialien im Container in<br />

die Partnerstadt. In León hat Natalja aber<br />

nicht nur Urlaub gemacht, sondern auch<br />

beim Bau eines neues Gasthauses für den<br />

Jugendaustausch mitgeholfen. Besonders<br />

beeindruckt war sie von der Lebensfreude<br />

ihrer Gastgeber. „Die Menschen sind dort<br />

wirklich arm, aber es ist einmalig anzusehen,<br />

mit welch strahlenden Gesichtern sie<br />

schon morgens aufstehen“, sagt Natalja.<br />

Sie ist mit einem Bündel neuer Freundschaften<br />

heimgekehrt und schickt jeden<br />

Tag Nachrichten per Mail nach León.<br />

Mittlerweile pflegen in der Hansestadt<br />

30 Bildungseinrichtungen Partnerschaften<br />

mit Einrichtungen in Nicaragua:<br />

Sie unterstützen Grundschulen, Sekundarschulen,<br />

Kindertagesstätten, eine<br />

Schule für handwerkliche Ausbildung,<br />

kommunale Vorschulen, Landschulzentren,<br />

Schulen des zweiten Bildungswegs<br />

sowie verschiedene Einrichtungen an<br />

der Universität. In Nicaragua bildet jede<br />

Partnerschule ein Solidaritätskomitee aus<br />

Lehrern, Schülern und Elternvertretung.<br />

Diese Komitees treffen sich regelmäßig<br />

bei der Lehrergewerkschaft, werden dort<br />

über die Hamburger Partnerschulen informiert<br />

und organisieren den Briefwechsel<br />

nach Hamburg. Schüler der Hansestadt<br />

werden unterdessen von ihren Lehrern<br />

über die Arbeitsbedingungen an Schulen<br />

in León, über die dortigen Lebensbedingungen<br />

sowie über die Verwendung ihrer<br />

Spenden auf dem Laufenden gehalten.<br />

Inzwischen gibt es sogar Arbeitsbesuche:<br />

„Hamburger Schüler haben in Nicaragua<br />

auch schon bei der Installation von Solarsystemen<br />

und Bewässerungsanlagen<br />

geholfen“, erzählt Stöterau.<br />

Mit den Kollegen in der Mittelamerika-<br />

Gruppe der GEW hat er Höhen und Tiefen<br />

erlebt – vor allem nach der Abwahl der<br />

Sandinisten im Jahr 1990. Doch mit<br />

der nächsten Generation gewinnt die<br />

Partnerschaft an Boden. Und, da ist sich<br />

Horst Stöterau sicher, die Nicaragua-Container<br />

werden auch noch in den nächsten<br />

Jahren gut gefüllt in die Ferne verschickt<br />

werden können.<br />

21


Sannah Koch<br />

Lernen mit Herz und Hand<br />

IG Metalljugendliche bereisen Brasilien und Kuba<br />

Auf Augenhöhe voneinander<br />

lernen – das ist der Grundgedanke<br />

des Jugendaustauschprogramms<br />

der IG Metall. Andrea<br />

und Marc haben diese Erfahrung<br />

bereits machen können, Romana<br />

steht sie noch bevor. Die drei sind<br />

Teilnehmer dieses Austauschprogramms,<br />

das regelmäßig Delegationen<br />

nach Nicaragua, Brasilien, Kuba<br />

und Südafrika organisiert.<br />

Die jungen Gewerkschafter bekommen<br />

auf ihren Reisen Einblicke in fremde Arbeits-<br />

und Lebensbedingungen, treffen<br />

auf andere engagierte Menschen, können<br />

sich vor Ort selber ein Bild machen und<br />

gleichzeitig aktiv Unterstützung leisten.<br />

Die politischen Umwälzungen in Mittelamerika<br />

Mitte der achtziger Jahre<br />

waren für die IG Metall-Jugend der<br />

erste Anstoß, über die Entsendung von<br />

Arbeitsbrigaden nachzudenken. Nach<br />

dem Sturz des Diktators Somoza durch<br />

die Sandinisten in Nicaragua wollte die<br />

Gewerkschaftsjugend dort aktiv bei der<br />

Umgestaltung der Gesellschaft in eine<br />

Demokratie helfen. Es sollten nicht nur<br />

Spenden oder Solidaritätserklärungen<br />

sein, sondern direkte, praktische Unterstützung<br />

vor Ort. In ideeller Anlehnung<br />

an die Brigaden des Spanischen Bürgerkriegs<br />

der dreißiger Jahre entsandten die<br />

Metaller 1985 die erste Brigade nach<br />

Nicaragua. 26 Kollegen flogen damals<br />

während ihres Jahresurlaubs für vier<br />

Wochen in das mittelamerikanische Land<br />

und stellten ihr technisches Know-how<br />

in drei Staatsbetrieben für Stahlhochbau<br />

und Personenverkehr zur Verfügung.<br />

Die praktische Unterstützungsarbeit<br />

gefiel beiden Seiten: Im folgenden Jahr<br />

reiste die zweite Brigade in das kleine<br />

Land und brachte gleichzeitig gespendete<br />

Werkzeuge und Maschinen im Wert<br />

von 60.000 Euro mit. In den Folgejahren<br />

wurde die Arbeit noch erweitert: Zwei<br />

deutsche Kollegen blieben in Nicaragua,<br />

um für die nächsten Jahre ein Ausbildungsprojekt<br />

zum Maschinenschlosser<br />

und Elektriker anzuleiten.<br />

Doch dann kam das Jahr 1990. Eine<br />

konservative Regierung löste damals die<br />

Sandinisten ab, die bislang unterstützten<br />

Betriebe wurden reprivatisiert. „Die<br />

Wahlniederlage der Sandinisten hat uns<br />

in große Ratlosigkeit gestürzt“, räumt der<br />

Leipziger IG Metall-Gewerkschaftssekretär<br />

Thomas Steinhäuser ein. „Es war eine<br />

Zeit der Desillusionierung. Es war schwer,<br />

Kollegen für internationale Themen zu interessieren“.<br />

Ein Umdenken war notwendig.<br />

Schließlich wurden neue Kontakte<br />

zu Nichtregierungsorganisationen in Nicaragua<br />

aufgebaut, die Arbeitsbrigaden<br />

wandelten sich in Gewerkschaftsdelegationen,<br />

die sich heute bei ihren Besuchen<br />

vor allem mit den Arbeitsbedingungen<br />

der Textilarbeiterinnen in den unzähligen<br />

freien Produktionszonen Nicaraguas<br />

auseinandersetzen.<br />

1995 wurde Brasilien ins das Repertoire<br />

des Programms aufgenommen, 1999<br />

folgte Südafrika und 2001 schließlich<br />

Kuba. Heute ist es ein echter Austausch:<br />

es reisen nicht mehr jedes Jahr Brigaden<br />

ins Ausland, sondern es werden im jährlichen<br />

Wechsel Delegationen aus den<br />

Partnerländern in Deutschland empfangen.<br />

Dabei findet, so Steinhäuser, „kein<br />

karitatives Bemitleiden statt“, sondern es<br />

werde ausgetauscht, wie und wo beide<br />

Seiten voneinander profitieren könnten.<br />

Gewonnen hat beispielsweise Andrea<br />

Puhlmann von ihrer Reise – vor zwei<br />

Jahren kehrte sie hoch motiviert aus<br />

Brasilien zurück. Die junge Berlinerin<br />

hatte vor dem Austausch keine Erfahrung<br />

in der Internationalismusarbeit. „In<br />

meinem Betrieb gab es einen Aushang,<br />

dass man sich für eine Brigade bewerben<br />

kann, und ich war einfach neugierig“,<br />

gibt sie freimütig zu. In Brasilien hat die<br />

IG Metall in den vergangen Jahren ein<br />

funktionierendes <strong>Netz</strong>werk zu Gewerkschaftern<br />

und zur Landlosenbewegung<br />

aufgebaut. Auf ihren Reisen besuchen<br />

die deutschen Brigadisten meist Camps<br />

der Landlosen, helfen dort beim Bau von<br />

Schulen und treffen außerdem zahlreiche<br />

Gewerkschafter. “Mir ist da unheimlich<br />

klar geworden, wie wichtig Gewerkschaftsarbeit<br />

ist“, erzählt Andrea, „die<br />

Probleme der Arbeiter sind denen der<br />

Arbeiter in Deutschland sehr ähnlich.“<br />

Seit ihrer Rückkehr engagiert sich Andrea<br />

aktiv bei der IG Metall, begleitet nun<br />

auch Brigaden ins Ausland und betreut<br />

Besucherdelegationen.<br />

22


Die Berliner Studentin Romana Dietzold<br />

sieht ihrer Reise mit sehr konkreten<br />

Erwartungen entgegen. Sie zählt sich<br />

schon lange zu den Globalisierungskritikern<br />

und möchte mit den brasilianischen<br />

Gewerkschaftern darüber reden,<br />

wie diese ihre Politik unter einer linken<br />

Regierung durchsetzen. „Ihre Situation<br />

ist ähnlich kompliziert wie die <strong>unsere</strong>r<br />

Gewerkschaften unter einer Regierung<br />

Schröder“, meint Romana.<br />

Marc Warlich haben die zwischenmenschlichen<br />

Aspekte seines Kubabesuchs<br />

nachhaltig beeindruckt. An der<br />

Möglichkeit nach Kuba zu reisen hat<br />

ihn besonders interessiert, sich diese<br />

Form des Sozialismus einmal „live“<br />

anzuschauen. Er half mit seiner Brigade<br />

in Havanna bei der Renovierung einer<br />

Arztpraxis. „Ich fand es unglaublich,<br />

wie zufrieden die Menschen dort trotz<br />

ihres begrenzten Wohlstands sind“. Ihm<br />

sei dort bewusst geworden, wie wichtig<br />

Motivation für einen gesellschaftlichen<br />

Wandel ist.<br />

Das Jugendaustauschprogramm ist<br />

mittlerweile ein fester Bestandteil der<br />

Arbeit der IG Metall. „Internationale<br />

Solidarität war schon immer ein Teil der<br />

gewerkschaftlichen Arbeit“, sagt Thomas<br />

Steinhäuser. Das habe sich zwar immer<br />

noch nicht in allen Gewerkschaftsköpfen<br />

festgesetzt, doch in der Bildungsarbeit<br />

nehme dieses Thema einen wachsenden<br />

Stellenwert ein. Damit ein zu niedriges<br />

Einkommen kein Hindernis für die Teilnahme<br />

an dem Programm ist, können die<br />

Jugendlichen einen Zuschuss bekommen.<br />

Einzige Voraussetzung ist ein Höchstalter<br />

von 25 und Mitgliedschaft in der Gewerkschaft.<br />

„Schließlich werden die Teilnehmer<br />

im Ausland als Gewerkschaftsrepräsentanten<br />

wahrgenommen“, so Steinhäuser.<br />

Deshalb müssen sie auch an den Vorbereitungsseminaren<br />

teilnehmen, in denen sie<br />

über Land und Leute sowie ihre Rolle dort<br />

unterwiesen werden. Zurück kommen sie<br />

nicht nur mit politischen Erfahrungen. Die<br />

Freundschaften und Beziehungen, die aus<br />

den Treffen erwachsen, sind mindestens<br />

ebenso bedeutsam.<br />

23


Sannah Koch<br />

Veränderung durch Kopf<br />

und Konto<br />

„publik“-Leser spenden für Kinderarbeiter in Indien<br />

Solidaritätsbekundungen mit<br />

dem Portemonnaie sind eine<br />

eher indirekte Form der internationalen<br />

Gewerkschaftsarbeit. In<br />

Verbindung mit Information können<br />

sie aber auch auf der Geberseite<br />

Veränderung bewirken, glauben<br />

Journalisten bei ver.di.<br />

Die Redaktion der ver.di-Zeitung „publik“<br />

setzte im Jahr 2004 auf ihre Auflagenstärke,<br />

als sie Mitglieder und Leserinnen um<br />

finanzielle Unterstützung für ein Projekt<br />

der Hilfsorganisation „terre des hommes“<br />

bat. Es ging um ein Vorhaben, das darauf<br />

abzielte, junge Menschen auf der anderen<br />

Hälfte der Erde von der Lohnarbeit<br />

abzubringen. Als Gewerkschaft? Ja, denn<br />

das Motto des Projekts lautete „Schule<br />

statt schuften!“ und richtete sich gegen<br />

Kinderarbeit in Indien.<br />

Martin Kempe, Chefredakteur von „publik“,<br />

wollte „etwas für die Menschen auf<br />

der untersten Stufe der Ausbeutung tun,<br />

für die Arbeiter in den Billiglohnländern“.<br />

24


Zugleich aber ging es ihm mit dem vom<br />

ver.di-Bundesvorstand abgesegneten<br />

Spendenaufruf um die Stärkung eines<br />

internationalen Bewusstseins: „Auch<br />

die Menschen hier beginnen langsam<br />

den Druck der Globalisierung auf ihre<br />

Arbeitsplätze zu spüren“, sagt er. Zwar<br />

sei im Dienstleistungssektor der Internationalismus-Begriff<br />

noch sehr auf die<br />

EU focussiert, so Kempe, weil die großen<br />

Unternehmen sich noch eher auf dem<br />

europäischen als auf dem internationalen<br />

Parkett bewegten. Doch auch hier ist<br />

nach seiner Einschätzung der Schritt zur<br />

Globalisierung der Konzerne nur noch<br />

eine Frage der Zeit. „Und da ver.di derzeit<br />

aktiv nach Bündnispartnern jenseits des<br />

gewerkschaftlichen Tellerrands sucht“,<br />

erklärt Kempe, „lag eine Zusammenarbeit<br />

mit einer Organisation aus dem Bereich<br />

Entwicklungspolitik nahe.“<br />

Bei dem dafür ausgewählten „terre des<br />

hommes“-Projekt „Psychotrust“ stehen<br />

bessere Zukunftschancen für Schulkinder<br />

in Indien im Mittelpunkt der Bemühungen.<br />

Kinderarbeit ist per Gesetz in fast<br />

allen Ländern der Erde verboten, auch<br />

in Indien. Trotzdem gehen weltweit über<br />

200 Millionen Kinder einer Lohnarbeit<br />

nach, um ihr eigenes und das Überleben<br />

ihrer Familie zu sichern. Im südindischen<br />

Bundesstaat Tamil Nadu beschert eine<br />

florierende Textilindustrie und zahllose<br />

Edelsteinschleifereien nicht nur Erwachsenen,<br />

sondern auch tausenden Kindern<br />

unter 14 Jahren Lohnarbeit. Zehn bis<br />

zwölf Stunden schuften die Kleinen<br />

hier, ihr Lohn fließt in die Familienkasse.<br />

Umgerechnet etwa acht Euro beträgt<br />

das Monatsgehalt eines kindlichen<br />

Edelsteinschleifers. Das reicht immerhin<br />

für die monatliche Reisration einer fünfköpfigen<br />

Familie.<br />

Die Kinder wollen und müssen ihren<br />

Familien helfen. Deswegen hätte ein<br />

schlichtes Beharren auf das in Indien<br />

herrschende Kinderarbeitsverbot wenig<br />

Sinn. Das Projekt „Psychotrust“ pocht aus<br />

diesem Grund auch nicht auf das Gesetz,<br />

sondern investiert in Bildung – und zwar<br />

in eine Form, die mit der Kinderarbeit<br />

kombinierbar ist. „Psychotrust“ betreibt<br />

in dem südindischen Bundesstaat zwölf<br />

Abendschulen, in denen Kinder nach<br />

der Arbeit etwas für ihre Zukunft lernen<br />

können. Denn viele von ihnen träumen<br />

von einer Ausbildung und einem richtigen<br />

Job. In diesen Schulen werden sie in ihren<br />

Träumen und Zielen bestärkt.<br />

Das Konzept von „Psychotrust“ überzeugte<br />

offensichtlich auch die publik-Leserinnen:<br />

Einen Monat nach der Berichterstattung<br />

verzeichnete das Spendenkonto<br />

einen Eingang von knapp 15.000 Euro.<br />

„Ich hatte mir ehrlich gesagt noch ein<br />

bisschen mehr erhofft“, räumt Martin<br />

Kempe ein. Allerdings wurde bewusst<br />

darauf verzichtet, gefühlsbetont über<br />

die Situation der Kinder zu berichten.<br />

Tränenrühriger Boulevardstil könne zwar<br />

die Spendenbereitschaft erhöhen, doch für<br />

ihn stehe sachliche Aufklärung im Vordergrund.<br />

Schließlich müssen Veränderungen<br />

langfristig in den Köpfen stattfinden und<br />

nicht nur im Geldbeutel.<br />

25


Kernarbeitsnormen<br />

Die Grundprinzipien der Internationalen<br />

Arbeitsorganisation - IAO<br />

Vier Grundprinzipien bestimmen Selbstverständnis und Handeln der IAO seit ihrer<br />

Gründung:<br />

Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen<br />

Beseitigung der Zwangsarbeit<br />

Abschaffung der Kinderarbeit<br />

Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf<br />

Diese Grundprinzipien haben in acht Übereinkommen, die auch als Kernarbeitsnormen<br />

bezeichnet werden, ihre konkrete Ausgestaltung erfahren:<br />

Übereinkommen 87 Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechtes, 1948<br />

Übereinkommen 98 Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen, 1949<br />

Übereinkommen 29 Zwangsarbeit, 1930<br />

Übereinkommen 105 Abschaffung der Zwangsarbeit, 1957<br />

Übereinkommen 100 Gleichheit des Entgelts, 1951<br />

Übereinkommen 111 Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf), 1958<br />

Übereinkommen 138 Mindestalter, 1973<br />

Übereinkommen 182 Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der<br />

schlimmsten Formen der Kinderarbeit, 1999<br />

Die vier Grundprinzipien beschränken sich allerdings nicht auf die acht Kernarbeitnormen;<br />

als tragende Orientierungs- und Handlungsmaximen der IAO durchziehen<br />

sie eine Vielzahl anderer Übereinkommen und Empfehlungen.<br />

Die IAO-Erklärung über<br />

grundlegende Rechte<br />

bei der Arbeit<br />

Die IAO-Kernarbeitsnormen haben im<br />

Juni 1998 eine besondere politische<br />

Aufwertung erfahren, als die „Erklärung<br />

über die grundlegenden Prinzipien und<br />

Rechte bei der Arbeit“ auf der 86. Tagung<br />

der Internationalen Arbeitskonferenz<br />

ohne Gegenstimme angenommen wurde.<br />

Damit bekennen sich alle Mitgliedstaaten<br />

der Organisation ausdrücklich<br />

zu den Kernarbeitsnormen.<br />

Die Erklärung beginnt mit einer eindeutigen<br />

Positionsbestimmung. Sie<br />

betont, dass die Gründung der IAO in<br />

der Überzeugung erfolgte, dass soziale<br />

Gerechtigkeit eine wesentliche Voraussetzung<br />

für einen dauerhaften Weltfrieden<br />

ist; dass wirtschaftliches Wachstum<br />

wesentlich ist, aber nicht ausreicht, um<br />

Gerechtigkeit, sozialen Fortschritt und die<br />

Beseitigung von Armut zu gewährleisten;<br />

dass die IAO dafür sorgen muss, dass<br />

im Rahmen einer globalen Strategie für<br />

wirtschaftliche und soziale Entwicklung<br />

sich die Wirtschafts- und Sozialpolitiken<br />

gegenseitig verstärken, damit eine breit<br />

angelegte dauerhafte Entwicklung geschaffen<br />

wird.<br />

Die Erklärung ist eine Konsequenz<br />

daraus, dass die internationale Gemeinschaft<br />

auf dem Weltsozialgipfel in<br />

Kopenhagen 1995 universelle soziale<br />

Regeln zur Begleitung der Globalisierung<br />

einforderte. Die IAO leitete daraufhin<br />

zunächst eine intensive Kampagne ein,<br />

um die Zahl der Ratifikationen der Kernarbeitnormen<br />

zu erhöhen. Zwar konnte<br />

sich das Ergebnis durchaus sehen lassen,<br />

gleichwohl gab es weiterhin eine große<br />

26


Zahl von Mitgliedstaaten, die weit von<br />

der Ratifizierung der Kernarbeitsnormen<br />

entfernt waren. Aus dieser Situation heraus<br />

entstand dann wenige Jahre später<br />

die Überlegung, den Prozess mit der<br />

feierlichen Erklärung über die grundlegenden<br />

Rechte bei der Arbeit verstärkt<br />

voranzutreiben.<br />

Der Erfolg blieb nicht aus. Bislang haben<br />

über 100 IAO-Mitgliedsstaaten alle<br />

Kern- oder Menschenrechtsübereinkommen<br />

ratifiziert. Zu ihnen gehört auch<br />

Deutschland.<br />

Bei dem 1999 verabschiedeten Übereinkommen<br />

zur Kinderarbeit (Ü 182), das<br />

den Kernübereinkommen zugerechnet<br />

wird, ist die Intensität des Ratifizierungsgeschehens<br />

in der Geschichte der IAO<br />

ohne Beispiel. Bisher haben mehr als 150<br />

Mitgliedsstaaten dieses Übereinkommen<br />

ratifiziert.<br />

Folgemechanismus<br />

Die Fortschritte der Mitgliedstaaten<br />

bei der Erfüllung ihrer Pflichten sollen<br />

durch einen regelmäßigen Folgemechanismus<br />

überprüft werden. Dazu<br />

müssen die Mitgliedstaaten jährlich über<br />

ihre Aktivitäten zur Durchsetzung der<br />

Grundprinzipien berichten. Aus diesen<br />

Berichten erstellt der Generaldirektor<br />

der IAO einen Gesamtbericht, der die<br />

Situation weltweit wiedergibt und der<br />

Internationalen Arbeitskonferenz zur<br />

Beratung vorgelegt wird. Dabei soll auch<br />

die technische Hilfe der IAO in diesem<br />

Bereich dargelegt und erörtert werden.<br />

Die laufende Berichterstattung soll mithin<br />

„als Grundlage für die Bewertung der<br />

Wirksamkeit der von der Organisation<br />

geleisteten Unterstützung und für die<br />

Festlegung von Prioritäten dienen“, wie<br />

es in der Erklärung heißt.<br />

Mit diesem Folgemechanismus greift die<br />

Erklärung auf Bewährtes zurück. Schon<br />

die Verfassung der IAO erlegt den Mitgliedstaaten<br />

bestimmte Berichtspflichten<br />

auf. Zu unterscheiden sind Berichte über<br />

die Anwendung ratifizierter Übereinkommen<br />

und solche, die sich mit der Frage<br />

befassen, warum ein Land ein Übereinkommen<br />

noch nicht ratifiziert hat.<br />

Für Staaten, die die Kernarbeitnsormen<br />

nicht ratifiziert haben, wird die Berichterstattung<br />

durch die Erklärung deutlich<br />

erweitert. Auch müssen sie sich künftig<br />

einer konkreten Überwachung ihrer Gesetzgebung<br />

und Praxis unterziehen.<br />

Kein Instrument des Protektionismus<br />

Die Erklärung ist als Appell an die<br />

Mitgliedstaaten der IAO und an die Organisation<br />

selbst zu verstehen. Sie will<br />

ermutigen, fördern, Handlungsimpulse<br />

geben. Sanktionsmöglichkeiten können<br />

aus ihr nicht abgeleitet werden. In der<br />

Erklärung wird vielmehr hervorgehoben,<br />

dass die Normen der IAO , die Erklärung<br />

selbst und ihre Folgemaßnahmen nicht<br />

für handelsprotektionistische Zwecke<br />

verwendet werden dürfen. Diese eindeutige<br />

Feststellung war eine entscheidende<br />

Voraussetzung dafür, dass die feierliche<br />

Erklärung ohne Gegenstimme angenommen<br />

wurde.<br />

27


Anschriften und Webseiten der globalen Gew<br />

G l o b a l U n i o n s F e d e r a t i o n s<br />

Internationale Transportarbeiter-<br />

Föderation (ITF)<br />

624 Mitgliedsgewerkschaften mit über<br />

4,5 Millionen Mitgliedern in 142 Ländern.<br />

49-60 Borough Road,<br />

London SE1 1DR, Großbritannien<br />

Tel: +44 (020) 7403 2733<br />

Fax: +44 (020) 7357 7871<br />

www.itf.org.uk<br />

GU<br />

Bildungsinternationale (BI)<br />

348 Mitgliedsorganisationen in 166<br />

Ländern mit 29 Mio. Mitgliedern<br />

5 Bd du Roi Albert II, B-1210 Brüssel, Belgien<br />

Tel: +32 (0)2 224 0611<br />

Fax: +32 (0)2 224 0606<br />

www.ei-ie.org<br />

GU<br />

Intern. Föderation von Chemie-, Energie-,<br />

Bergbau- und Fabrikarbeiterverbänden<br />

(ICEM)<br />

403 Mitgliedsgewerkschaften, über<br />

20 Millionen Mitgliedern in 122 Ländern.<br />

Avenue Emile de Béco, 109<br />

B-1050 Brüssel, Belgien<br />

Tel: +32 (0)2 6262020<br />

Fax: +32 (0)2 6484316<br />

www.icem.org<br />

GU<br />

Bau- und Holzarbeiter Internationale<br />

– BHI<br />

350 Mitgliedsgewerkschaften, über<br />

12 Millionen Mitgliedern in 135 Ländern.<br />

54, Route des Acacias,<br />

CH-1227 Carouge (GE), Schweiz<br />

Tel: +41 22 827 37 77<br />

Fax: +41 22 827 37 70<br />

www.bwint.org<br />

GU<br />

Internationale Journalisten-Föderation<br />

(IJF)<br />

164 Mitgliedsgewerkschaften, über<br />

500.000 Mitgliedern in 117 Ländern.<br />

IPC-Residence Palace, Bloc C , Rue de la<br />

Loi 155, B-1040 Brüssel, Belgien<br />

Tel +32 (0)2 235 22 00<br />

Fax +32 (0)2 235 22 19<br />

www.ifj.org<br />

GU<br />

Internationaler Metallgewerkschaftsbund<br />

(IMB)<br />

200 Mitgliedsgewerkschaften mit über<br />

25 Millionen Mitgliedern in 100 Ländern.<br />

54bis, route des Acacias, Case Postale 1516<br />

CH-1227 Genf, Schweiz<br />

Tel: +41 22 308 50 50<br />

Fax: +41 22 308 50 55<br />

www.imfmetal.org<br />

GU<br />

Internationale Textil-, Bekleidungsund<br />

Lederarbeiter-Vereinigung<br />

(ITBLAV)<br />

216 Mitgliedsgewerkschaften mit über<br />

10 Millionen Mitgliedern in 106 Ländern.<br />

8 rue Joseph Stevens,<br />

B-1000 Brüssel, Belgien<br />

Tel: +32 (0)2 512 2606<br />

Fax: +32 (0)2 511 0904<br />

www.itglwf.org<br />

GU<br />

Gewerkschaftlicher Beratungsausschuss<br />

bei der OECD (TUAC)<br />

15, rue la Perouse, F-75016 Paris, Frankreich<br />

Tel: +33 (0)1 55 37 37 37<br />

Fax: +33 (0)1 47 54 98 28<br />

www.tuac.org<br />

Internationale Union der Lebensmittel-, Landwirtschafts-,<br />

Hotel-, Restaurant-, Café- und<br />

Genussmittelarbeiter-Gewerkschaften (IUL)<br />

Rampe du Pont-Rouge, 8<br />

CH-1213 Petit-Lancy, Schweiz<br />

Tel: +41 22 793 22 33<br />

Fax: +41 22 793 22 38<br />

www.iuf.org<br />

GU<br />

GU<br />

Global Unions<br />

www.global-unions.org<br />

Union Network International (UNI)<br />

900 Mitgliedsgewerkschaften mit über 15,5 Millionen<br />

Mitgliedern in 124 Ländern.<br />

8-10 Avenue Reverdil<br />

CH-1260 Nyon, Schweiz<br />

Tel: +41 22 365 2100<br />

Fax: +41 22 365 2121<br />

www.union-network.org<br />

GU<br />

Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD)<br />

650 Mitgliedsgewerkschaften mit über 20 Millionen<br />

Mitgliedern in 150 Ländern.<br />

45, avenue Voltaire, BP 9<br />

F-01211 Ferney-Voltaire Cedex, Frankreich<br />

Tel: +33 (0)4 50 40 64 64<br />

Fax: +33 (0)4 50 40 73 20<br />

www.world-psi.org<br />

GU<br />

28


erkschaftorganisationen<br />

Internationaler Bund Freier<br />

Gewerkschaften (IBFG)<br />

236 Mitgliedsorganisationen in 154 Ländern mit<br />

155 Mio. Mitgliedern<br />

Boulevard du Roi Albert II, 5<br />

B-1210 Brüssel, Belgien<br />

Tel: +32 (0)2 224 0211<br />

Fax: +32 (0)2 201 5815<br />

www.icftu.org<br />

GU<br />

Regionalorganisation AFRO (Afrika)<br />

P.O. Box 67273, Nairobi, Kenya<br />

Tel: +254 (0)20 244336/340046/717308/717324<br />

Fax:+254 (0)20 215072<br />

E-Mail: info@icftuafro.org<br />

www.icftuafro.org<br />

Regionalorganisation APRO (Asien und Pazifik)<br />

9th Floor, NTUC Centre, One Marina Boulevard<br />

Singapore 018989, Republic of Singapore<br />

Tel:+65 63273590<br />

Fax: +65 63273576<br />

E-Mail: gs@icftu-apro.org<br />

www.icftu-apro.org<br />

Regionalorganisation ORIT (Lateinamerika)<br />

Avda. Andres Eloy Blanco (Este 2)<br />

Edifi cio Jose Vargas, Piso 15 Los Caobos<br />

Caracas, Venezuela<br />

Tel: +58 (212) 578353810922780<br />

Fax:+58 (212) 5787023349<br />

E-Mail: vbaez@cioslorit.org<br />

www.cioslorit.org<br />

Regionalorganisation BATU (Asien)<br />

SATU-Foundation, Inc., Building<br />

Block 73, Lot 11, Phase 8<br />

North Fairview 1121, Quezon City, Philippines<br />

Tel: +63 (0)2 930-7181/930-4983<br />

Fax: +63 (0)2 938-6789<br />

E-Mail: necielucero@eastern.com.ph<br />

www3.iconn.com.ph/batunorm<br />

Regionalorganisation CLAT (Lateinamerika)<br />

Apartado 6681<br />

1010 A Caracas, Venezuela<br />

Tel:+58 (0)212 3720794<br />

Fax:+58 (0)212 3720463<br />

E-Mail: clat@telcel.net.ve<br />

www.clat.org<br />

Weltverband der Arbeitnehmer (WVA)<br />

(Christliche Gewerkschaften)<br />

144 Mitgliedsorganisationen in 116 Ländern mit<br />

26 Mio. Mitgliedern<br />

Rue de Trèves 33<br />

B-1040 Brüssel, Belgien<br />

Tel: +32 (0)2 285 47 00<br />

Fax: +32 (0)2 230 87 22<br />

www.cmt-wcl.org<br />

Bis Ende 2006 ist eine Fusion mit dem<br />

IBFG angestrebt<br />

Regionalorganisation ODSTA (Afrika)<br />

Route Internationale d‘Atakpame<br />

B.P. 4401<br />

Lome-Agoenyive, Togo<br />

Tel:+228 2506087<br />

Fax:+228 2256113<br />

E-Mail: odsta@cafe.tg<br />

www.odsta.org<br />

29


Internationale Gewerkschaftsarbeit<br />

auf betrieblicher Ebene<br />

31


Sigrid Thomsen<br />

Solidarität mit den Deutschen<br />

DGB-Arbeitskreis treibt Austausch mit Brasilien bei Mercedes und BASF voran<br />

Wir wenden uns direkt an die europäischen Manager:<br />

Patrick van Klink (rechts) mit brasilianischen Kollegen<br />

Solidaritätsstreiks bei Mercedes,<br />

Sozialdialog bei der<br />

BASF – von Betrieb zu Betrieb<br />

finden Arbeitnehmer verschiedene<br />

Formen der Auseinandersetzung<br />

mit globaler Unternehmenspolitik.<br />

Den Grund legten engagierte Kolleginnen<br />

und Kollegen in einem<br />

Mannheimer Arbeitskreis.<br />

„Wir werden es nicht akzeptieren, gegen<br />

<strong>unsere</strong> Brüder und Schwestern in<br />

Deutschland ausgespielt zu werden. Wir<br />

werden deshalb einen Solidaritätsstreik<br />

von mindestens einer halben Stunde zu<br />

Beginn der Frühschicht am 6. Mai in São<br />

Bernado und am 7. Mai in Juiz de Fora<br />

durchführen. Darüber hinaus stehen wir für<br />

euch bereit, wenn ihr weitere Solidaritätsaktionen<br />

benötigt“. Über dieses Schreiben<br />

aus Brasilien waren die Streikenden bei<br />

DaimlerChrysler während der Lohnrunde<br />

2002 einigermaßen verblüfft. Und erfreut:<br />

Es war unterschrieben vom Koordinator der<br />

Fabrikkommission beim Mercedes-Werk in<br />

São Bernado. Aus vorangegangen Streiks<br />

in Brasilien und in Südafrika haben die<br />

Beschäftigten gelernt, dass DaimlerChrysler<br />

„als globalisiertes Unternehmen damit gedroht<br />

hat, einen Produktionsausfall durch<br />

Zulieferungen aus dem jeweiligen Ausland<br />

zu ersetzen“, heißt es im selben Schreiben.<br />

Da wollten sie nicht mitspielen.<br />

Die Brasilianer haben solche Solidarität<br />

auch umgekehrt erfahren: Bei der<br />

Achsenfertigung in São Bernado haben<br />

Festangestellte 2000 gegen die vorzeitige<br />

Entlassung von Kollegen mit Fristverträgen<br />

gestreikt. Ein Betriebsrat aus Kassel, der<br />

mit einer Gruppe von Mercedesarbeitern<br />

gerade zu Besuch war, half verhindern, dass<br />

die Achsen statt dessen in Deutschland<br />

hergestellt wurden. Als Mercedes 1996 in<br />

Campinas keine Busse mehr bauen wollte<br />

und Mitarbeiter für ihre Entlassungspapiere<br />

schon Schlange standen, hat eine Besuchergruppe<br />

aus Deutschland dazu beigetragen,<br />

dass die Kollegen mit Kündigungsschutz<br />

auch wirklich bleiben konnten. Im April<br />

2005 wurden beim Aktionstag in Juiz de<br />

Fora Solidaritätserklärungen aus mehreren<br />

deutschen Werken verlesen, weil sich die<br />

Brasilianer um den Fortbestand ihrer Fabrik<br />

sorgten. Kontakt und Austausch gibt es seit<br />

gut 20 Jahren, und er funktioniert gut, weil<br />

er an der Basis fest verankert ist.<br />

Der internationale Arbeitskreis, der vor<br />

20 Jahren auf eine kirchliche Initiative hin<br />

Kontakt zu Kollegen in Südafrika und Brasilien<br />

knüpfte und das Unternehmen wegen<br />

seines Südafrikaengagements kritisierte, ist<br />

seit Jahren beim DGB angesiedelt. Er hat<br />

auch Mitglieder aus dem BASF-Werk in<br />

Ludwigshafen, der GEW und der Universität<br />

Heidelberg und beschäftigt sich heute<br />

nur noch mit Brasilien. Zu den offiziellen<br />

Beziehungen der Arbeitnehmervertreter<br />

32


im Autokonzern, die nach der Fusion von<br />

Daimler und Chrysler 1998 durch ein Weltbeschäftigtenkomitee<br />

globalisiert wurden,<br />

bilden die Aktiven im Arbeitskreis eine Art<br />

Parallelstruktur an der Basis. Wegen ihrer<br />

vertrauten Beziehungen zu den Kollegen<br />

in den brasilianischen Werken sind sie<br />

manchmal besser informiert und können<br />

sowohl Impulse nach „oben“ geben als<br />

auch helfen, dass Informationen bei den<br />

Kollegen im Mannheimer Werk „unten“<br />

ankommen.<br />

An der Spitze der globalen Arbeitnehmervertretung<br />

bei DaimlerChrysler – einen<br />

Weltbetriebsrat wollte der Konzern bisher<br />

nicht akzeptieren – sitzt von brasilianischer<br />

Seite Valter Sanches, einer dieser mit dem<br />

Arbeitskreis vertrauten Kollegen. Außer<br />

Deutschland und den USA sind auf dieser<br />

Ebene auch Südafrika, Spanien und Kanada<br />

vertreten. Da die Repräsentation nach<br />

Beschäftigtenzahl geht, reden die Arbeiter<br />

aus Mexiko, Argentinien, der Türkei und<br />

Kanada hier bisher nicht direkt mit.<br />

Zeitgleich mit der Etablierung dieses<br />

Komitees wurden 2002 die „Grundsätze<br />

zur sozialen Verantwortung bei Daimler-<br />

Chrysler“ vereinbart. Das Unternehmen<br />

ging dabei vom „Global Compact“ aus,<br />

einer freiwilligen Initiative, die vom<br />

Generalsekretär der Vereinten Nationen<br />

angeregt worden war. Der Betriebsrat<br />

orientierte sich an den weiter gehenden<br />

Richtlinien der OECD und dem Musterentwurf<br />

des Internationalen Metallarbeiterbunds.<br />

In Brasilien wurde diese<br />

Vereinbarung gleich genutzt: wegen ihrer<br />

Bestimmung über die angestrebte „konstruktive<br />

Zusammenarbeit“ wurden in São<br />

Bernado mit 600 kurzfristig Entlassenen<br />

Verhandlungen aufgenommen – begleitet<br />

von Protestaktionen an der Basis.<br />

Die Gewerkschafter der CUT und die<br />

Mitglieder in den brasilianischen Fabrikkommissionen<br />

schätzen das Engagement<br />

der deutschen Kollegen. „Ihr seid fantastisch“,<br />

rief Tarcisio Secoli, Koordinator der<br />

ersten Fabrikkommission, den Mitgliedern<br />

des DGB-Arbeitskreises zu, die Ende 2004<br />

zum 20 jährigen Bestehen der Fabrikkommissionen<br />

eingeladen waren. Fritz Stahl,<br />

einst Vertrauensmann im Mannheimer<br />

Werk und von den Brasilianern als „gewerkschaftlicher<br />

Botschafter“ geehrt, ist<br />

die Schieflage in den Funktionen bewusst.<br />

Er hat den Arbeitskreis mitbegründet<br />

und ist an der Basis geblieben, während<br />

die Gastgeber inzwischen zur Gewerkschaftsspitze<br />

gehören und die betriebliche<br />

Interessenvertretung leiten. Stahl<br />

hat Portugiesisch gelernt und verbreitet<br />

Informationen aus der brasilianischen<br />

Betriebszeitung an Kollegen. „Wenn ich<br />

einen winzigen Beitrag dazu leiste, dass<br />

Arbeiter international miteinander reden<br />

– dann habe ich in meinem Leben nicht<br />

alles falsch gemacht“, sagt der kritische<br />

Gewerkschafter, der mittlerweile im<br />

Ruhestand ist.<br />

33


Fritz Stahl und Angela Hidding, nach 24<br />

Jahren als Betriebsrätin bei Daimler-Benz<br />

ebenfalls kürzlich ausgeschieden, sind im<br />

Arbeitskreis aktiv geblieben und befassen<br />

sich nicht nur mit dem Werk. Der Kreis<br />

mischt sich in Sozialforen in Diskussionen<br />

mit Nichtregierungsorganisationen ein,<br />

nimmt das „Null Hunger“-Programm der<br />

Lula-Regierung kritisch unter die Lupe und<br />

produziert zu jedem Maifeiertag ein Heft<br />

über seine Aktivitäten und Themen. Darin<br />

geht es auch um die Rechte von Straßenkindern,<br />

um Landbesetzungen und die<br />

Situation von Frauen. „Die Gewerkschaften<br />

brauchen einen neuen Begriff von Solidarität“,<br />

findet Angela Hidding, die im Betriebsrat<br />

für ihre internationale Arbeit anerkannt war.<br />

Auch dafür gibt der Austausch mit Brasilien<br />

Impulse: „Von der Solidarität der Kollegen<br />

dort mit Arbeitern von Fremdfirmen, die sie<br />

bei ihren Lohnforderungen unterstützen,<br />

können wir viel lernen“.<br />

Zum internationalen Arbeitskreis gehören<br />

auch Beschäftigte der BASF in Ludwigshafen<br />

– wie die Metaller nicht in gewerkschaftsoffizieller<br />

Funktion. Der Grund dafür<br />

liegt in der Geschichte: am Anfang der Beziehungen<br />

waren es in beiden Fällen oppositionelle<br />

Gewerkschafter in den Betrieben,<br />

die auf kirchliche Initiativen und Hilferufe<br />

aus Brasilien reagierten. Sie bezahlten<br />

Grob-Anlagen bei Mercedes stehen still<br />

Im Kampf um die betriebliche Interessenvertretung bei der Niederlassung von Grob<br />

in Brasilien hat die Fabrikkommission von Mercedes die Metallbearbeitungszentren<br />

des Maschinenbauers Grob abgeschaltet.<br />

Im Werk São Bernardo do Campo legten die Werker von Mercedes gestern Vormittag<br />

eine Stunde lang die Arbeit an Grob-Maschinen nieder und protestierten damit<br />

gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik des Maschinenbauers mit Stammsitz in<br />

Mindelheim, Deutschland. Mit ihren Aktionen unterstützen sie Luiz Sérgio Batista, ein<br />

nicht freigestelltes Mitglied des Gewerkschaftsvorstands, der von Grob auf die Straße<br />

gesetzt wurde und seit 58 Tagen vor dem Werkstor in einem Zelt Mahnwache hält.<br />

Bei Mercedes sind mehr als 50 Maschinen von Grob im Einsatz, an ihnen arbeiten<br />

etwa 100 Kollegen.<br />

Mercedes-Benz hat sich vernehmlich gegen die Arbeitsniederlegung zu wehren versucht:<br />

Aufgrund der Protestaktion in der Metallbearbeitung musste die Motorenblockfertigung<br />

für den Export in die USA unterbrochen werden. Die Fabrikkommission hat<br />

jedoch sofort reagiert: Sie <strong>besteht</strong> darauf, dass der Automobilkonzern seinen Verhaltenskodex<br />

einhält. Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen, die die Organisationsfreiheit<br />

der Arbeitnehmer missachten, sind laut diesem Verhaltenskodex unzulässig.<br />

„Mit solchen Aktionen zeigen wir Metaller, das wir uns nicht alles gefallen lassen”,<br />

erklärte José Lopes Feijóo, Vorsitzender der Gewerkschaft Metall in der Region ABC<br />

bei São Paulo. Kollegen anderer Firmen haben ähnliche Aktionen angekündigt.<br />

Aus: „Tribuna Metalurgica“ 7.10.2005; Übersetzung: Fritz Stahl<br />

Die Aktion hatte Erfolg: zwei Wochen später wurde der Kollege wieder eingestellt,<br />

34<br />

ihre Reisen selbst und knüpften eigene<br />

Kontakte, statt über die internationalen<br />

Abteilungen der Gewerkschaftszentralen<br />

zu gehen. Die jedoch betrachteten die internationale<br />

Gewerkschaftsarbeit eigentlich<br />

als ihre Sache und ihr Vorrecht. Inzwischen<br />

sind in beiden Fällen sowohl Betriebsrat wie<br />

Industriegewerkschaft Träger und Förderer<br />

der Beziehungen geworden, und die IG<br />

Metall begrüßt betriebliche Solidarität<br />

nicht nur in Wolfsburg. Die Mannheimer<br />

Initiatoren aber sind beim DGB geblieben<br />

und betreiben dort in Zusammenarbeit mit<br />

kirchlichen Einrichtungen eigene Seminare<br />

und Austauschprogramme.<br />

Beim Betriebsrat der BASF in Ludwigshafen<br />

wird die internationale Arbeit wichtiger<br />

genommen, seit der Vorsitzende in den 90er<br />

Jahren persönlich Brasilien besuchte. Auch<br />

die Chemiegewerkschaft, in deren Hauptvorstand<br />

er damals war, unterstützt seit 1999<br />

die Bildung von regionalen <strong>Netz</strong>werken der<br />

Arbeitnehmervertreter von BASF in Lateinamerika<br />

und Asien und ist dabei, sie auch<br />

auf andere Chemiekonzerne auszuweiten.<br />

Sie entsprechen dem „Euro-Dialog“ des<br />

Europäischen Betriebsrats.<br />

Heute gibt es bei BASF in Lateinamerika<br />

einen Koordinationsausschuss mit je zwei


Vertretern aus Argentinien, Brasilien und<br />

Chile. Sie haben den Sozialdialog mit der<br />

Personalleitung des Konzerns in Gang<br />

gebracht. Inzwischen hat es mehr als<br />

zehn Treffen gegeben. Sie hängen fast<br />

vollständig vom guten Willen der Beteiligten<br />

ab: es gibt noch keine Satzung und<br />

keine Anerkennungsabkommen; die Themen<br />

werden gemeinsam vereinbart und<br />

erörtert, Problemlösungen angeschoben.<br />

Immerhin ist der Koordinationsausschuss<br />

des südamerikanischen BASF-<strong>Netz</strong>werks<br />

vom Arbeitgeber als Verhandlungspartner<br />

anerkannt.<br />

Allzu viel Verbindlichkeit schätzt das Unternehmen<br />

offenbar nicht: auch ihre „Leitlinien“<br />

entsprechen nur dem Global Compact,<br />

dem unverbindlichsten der internationalen<br />

Verhaltenskodices. Dessen Einhaltung durch<br />

die BASF hat die brasilianisch-deutschniederländische<br />

Initiative „Observatório<br />

Social“, die Arbeitsbeziehungen international<br />

beobachtet, 2003 in einer Fallstudie<br />

bestätigt. In Brasilien allerdings, so heißt<br />

es im selben Bericht, gelten inzwischen<br />

die OECD-Richtlinien für multinationale<br />

Konzerne. Die verlangen von den Firmen,<br />

Entscheidungen über die Produktion vorher<br />

mit den Gewerkschaften zu verhandeln.<br />

Das Recht auf Informationen über Planungen<br />

des Unternehmens gehört zu<br />

den regelmäßig von Arbeitnehmerseite<br />

vorgebrachten Anliegen im Sozialdialog,<br />

ebenso Fragen von Gesundheit und Sicherheit<br />

am Arbeitsplatz. Dafür gibt es<br />

in allen Firmen einen eigenen Ausschuss.<br />

Der ist paritätisch besetzt, aber keineswegs<br />

immer effizient: Die Untersuchung<br />

und Aufklärung einer Explosion, bei<br />

der in Brasilien 2001 ein Kollege ums<br />

Leben kam, zog sich über Jahre hin und<br />

wurde zu einem großen Anteil von den<br />

Gewerkschaftsvertretern bestritten, die<br />

lange um die nötigen Informationen<br />

kämpfen mussten. Sie übten schließlich<br />

vehemente Kritik an der Sicherheit im<br />

Werk. Verbessert wurde die Situation<br />

erst nach erheblichem internem und<br />

öffentlichem Druck.<br />

Fritz Hofmann ist der zentrale Kontakt für<br />

die internationalen Beziehungen zu BASF-<br />

Kollegen in Lateinamerika – für den DGB-<br />

Arbeitskreis ebenso wie im Betriebsrat. Er<br />

tauscht Informationen mit dem Koordinator<br />

des südamerikanischen <strong>Netz</strong>werks aus und<br />

hat dafür Portugiesisch gelernt. Inzwischen<br />

weiß das Unternehmen, dass dieser Austausch<br />

gut funktioniert. Heute erfahren<br />

die südamerikanischen Arbeitnehmervertretungen,<br />

aber auch Gewerkschafter und<br />

Betriebsrat in Deutschland sehr schnell von<br />

Problemen und Konflikten in einem der<br />

Werke – oft schneller als das Management.<br />

Das hat den Kollegen in Lateinamerika<br />

zum Beispiel bei der Durchsetzung von<br />

betrieblichen Vertretungsstrukturen genützt,<br />

für die es in allen drei Ländern keine<br />

gesetzliche Grundlage gibt. Inzwischen<br />

lässt BASF überall Fabrikkommissionen<br />

zu, wenn die Arbeitnehmer das wünschen,<br />

weiß Hofmann und erinnert sich an die<br />

miserable Ausstattung der ersten Büros<br />

solcher Kommissionen, in denen weder<br />

Telefone noch Schreibmaschinen standen.<br />

Das hat sich heute geändert.<br />

Auch die Ludwigshafener Kollegen haben<br />

Solidarität umgekehrt erfahren: Als die<br />

Zeitungen 2004 vom Personalabbau der<br />

BASF in Deutschland berichteten, boten die<br />

Kollegen in Chile, Argentinien und Brasilien<br />

den Betroffenen jede Art Unterstützung an.<br />

„Ich musste ihnen dann schreiben, wie<br />

hoch <strong>unsere</strong> Abfindungen waren“, sagt<br />

Fritz Hofmann. „Die hätten sie auch gern<br />

selbst gehabt“.<br />

35


„Wir sollten nicht um Produkte kämpfen“<br />

Ein Interview mit Valter Sanches, Generalsekretär<br />

der Metallarbeitergewerkschaft in der CUT und<br />

Mitglied im Weltbetriebsrat von DaimlerChrysler<br />

Valter Sanches beim Aktionstag<br />

in Juiz de Fora am 8. April 2005<br />

Wie hat der Austausch zwischen<br />

Mercedes-Kollegen in Deutschland<br />

und Brasilien begonnen? Gab es eine<br />

Vertrauensbasis?<br />

Das war vor meiner Zeit; ich bin erst seit<br />

17 Jahren im Werk und wurde 1992 in die<br />

Fabrikkommission gewählt. Den Austausch<br />

haben vor 20 Jahren Leute begonnen, die<br />

mit der Kirche verbunden waren, auf beiden<br />

Seiten. Dadurch gab es von Anfang an<br />

Vertrauen. Das ist im Laufe der Erfahrungen<br />

immer weiter gewachsen.<br />

Gibt es nicht Interessenkonflikte oder<br />

Konkurrenz um Produkte zwischen<br />

den Beschäftigten in Deutschland und<br />

Brasilien?<br />

Die Firmen fördern ja generell die Konkurrenz<br />

zwischen Arbeitern. Bei Mercedes<br />

haben wir 2000 ein Weltbeschäftigtenkomitee<br />

gegründet und vereinbart, dass<br />

wir uns nicht gegeneinander ausspielen<br />

lassen. In der Wirklichkeit ist das nicht<br />

immer einfach. Unsere Fabrik hier in Juiz<br />

de Fora wäre zum Beispiel Anfang des<br />

Jahres beinahe stillgelegt worden, und in<br />

Bremen waren gleichzeitig 8500 Kollegen<br />

von Entlassung bedroht. Da haben die<br />

deutschen Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat<br />

sich natürlich für die Produktion<br />

in Bremen eingesetzt. Für Juiz de Fora aber<br />

gibt es erstmal eine Lösung bis 2007. Wir<br />

sollten nicht um die Produkte kämpfen,<br />

sondern um die Arbeitsplätze.<br />

Was waren bis heute die Höhepunkte in<br />

der gemeinsamen Geschichte?<br />

Insgesamt ist die Bilanz sehr positiv; wir<br />

helfen einander durch den Austausch, auch<br />

beim Verhandeln. Zu den Höhepunkten<br />

gehören einige wichtige Solidaritätsaktionen.<br />

2001 streikten zum Beispiel die<br />

Südafrikaner, die die C-Klasse produzieren.<br />

Die wird in Bremen und in Luiz de Fora<br />

auch hergestellt, und in beiden Werken<br />

erklärten die Kollegen, sie würden keine<br />

Extraproduktion annehmen, um den Streik<br />

36


nicht zu brechen. 2000 haben sich die Kollegen<br />

in Kassel ähnlich verhalten für uns,<br />

und 2002 haben wir in den brasilianischen<br />

Werken eine halbe Stunde die Arbeit für die<br />

deutschen Kollegen niedergelegt.<br />

Wo siehst du die Probleme?<br />

Das unterschiedliche Organisationsniveau<br />

ist ein Problem. Die Deutschen haben ja<br />

das Recht zur Mitbestimmung und können<br />

am Anfang von Entscheidungsprozessen<br />

Einfluss nehmen. Wir beschäftigen uns<br />

erst mit den Ergebnissen der Entscheidungen.<br />

Mit dem Weltbeschäftigtenkomitee<br />

hat sich die Information gebessert, aber<br />

mitbestimmen kann es nicht. Das müssen<br />

wir im Zweifelsfall über den deutschen<br />

Kollegen im Aufsichtsrat lancieren.<br />

Welche Rolle spielen denn die Beziehungen<br />

zu den Mitgliedern im internationalen<br />

Arbeitskreis noch nach der Gründung<br />

des Weltbeschäftigtenkomitees?<br />

Wir brauchen beide Ebenen. Die Gruppen<br />

helfen uns nicht nur auf der Fabrikebene; sie<br />

mobilisieren auch andere in Deutschland,<br />

zum Beispiel bei Problemen in Zuliefererfirmen<br />

wie Grob. Wir berufen uns hier auf die<br />

„Grundsätze zur sozialen Verantwortung“,<br />

wenn es Probleme bei einem Zulieferer gibt.<br />

Wir ergänzen einander.<br />

Wie sollten sich die Beziehungen in<br />

Zukunft entwickeln?<br />

Beziehungen von Betrieb zu Betrieb<br />

gewinnen auch in anderen Firmen an<br />

Bedeutung, weil die Unternehmenspolitik<br />

das erfordert. Wir beginnen jetzt mit<br />

Besuchsprogrammen zwischen Beschäftigten<br />

der Stuttgarter Firma Mahle, und<br />

auch bei Thyssen und Bosch liegt das an.<br />

Mercedes und auch VW sind wegen der<br />

langen Erfahrung ein gutes Beispiel. Aber<br />

wir sollten uns nicht nur auf die Unternehmensebene<br />

konzentrieren; wir brauchen<br />

auch gute internationale Beziehungen<br />

unter den Gewerkschaften. Für uns sind<br />

die Kontakte mit dem Internationalen<br />

Metallarbeiterbund und mit der internationalen<br />

Abteilung der IG Metall sehr<br />

wichtig.<br />

Das Gespräch führte Sigrid Thomsen<br />

37


Sigrid Thomsen<br />

„Man trifft so tolle Menschen“<br />

Persönliche Beziehungen zu Kolleginnen<br />

und Kollegen im Ausland<br />

tragen die internationale<br />

Solidarität von Betrieb zu Betrieb.<br />

Sie weiten auch Verständnis und<br />

Verantwortungsgefühl für die Welt,<br />

haben VW-Beschäftigte im IG Metall-<br />

Arbeitskreis Intersoli erfahren.<br />

„Als ich das gesehen habe, konnte ich<br />

überhaupt nicht mehr weggucken“, erzählt<br />

Renate Müller. „Das“ waren die Bedingungen,<br />

unter denen Schwarze unter der<br />

Apartheid in Südafrika lebten, getrennt und<br />

ausgesperrt vom Wohlstand und den Rechten<br />

ihrer weißen Kollegen, ohne Wahlrecht<br />

in ihrem Land - aber Kollegen wie sie. „Ich<br />

habe mich gefragt, was meine Verantwortung<br />

ist, was ich machen muss, und welche<br />

Rolle VW dort politisch spielte“, erinnert<br />

sich die Betriebsrätin im Kasseler VW-Werk<br />

an ihre erste Südafrikareise 1985.<br />

Kollegen aus Wolfsburg hatten einige<br />

Zeit zuvor bei einem Wochenendseminar<br />

im Rollenspiel erprobt, wie sich Rassendiskriminierung<br />

anfühlen kann. Die als<br />

„Schwarze“ im Spiel schlecht behandelt<br />

wurden, kriegten die Wut – und gründeten<br />

den Wolfsburger Arbeitskreis Intersoli bei<br />

der IG Metall. Der Gesamtbetriebsrat hatte<br />

Anfang der achtziger Jahre, während der<br />

zweiten weltweiten Expansionswelle des<br />

Konzerns, mit den VW-Werken in Mexiko,<br />

Brasilien und Südafrika schon Kontakt.<br />

Mit dem Arbeitskreis Intersoli wollten die<br />

Gewerkschaftsmitglieder die Basis der Solidarität<br />

verbreitern und sich auch auf die<br />

politischen Verhältnisse beziehen.<br />

In Brasilien herrschte damals das Militär,<br />

in Südafrika Apartheid. Gewerkschaften<br />

wurden nicht anerkannt, es gab keine<br />

Tarifverhandlungen und keine betrieblichen<br />

Vertretungen. Im Zusammenhang<br />

mit Südafrika war die internationale<br />

Debatte über die Verantwortung von<br />

Unternehmen heiß entbrannt: sollten sich<br />

Konzerne aus dem Land zurückziehen,<br />

wie die politischen Bewegungen es forderten,<br />

oder Vorbilder sein, wie sie selbst<br />

behaupteten? „Einerseits profitierte VW<br />

von dem niedrigen Lohnniveau dort“,<br />

sagt Renate Müller, „aber sie ernährten<br />

ja auch Familien“.<br />

Die deutschen Kolleginnen und Kollegen<br />

ließen sich auf den Widerspruch ein: sie<br />

unterstützten die Südafrikaner im Werk<br />

in Uitenhage bei der Anerkennung ihrer<br />

Gewerkschaft, bei der Gründung einer Art<br />

von Betriebsrat, der aus Vertrauensleuten<br />

bestand, und bei der Aushandlung von<br />

Verhaltenskodizes, die später international<br />

vorbildlich wurden. Darüber hinaus machten<br />

sie die politischen Zusammenhänge<br />

über das Werk hinaus bekannt und stellten<br />

sich der schwierigen Debatte über den<br />

Boykott des Apartheidregimes. „Mich hat<br />

das gelehrt, über den Tellerrand <strong>unsere</strong>r<br />

täglichen Probleme hinaus zu sehen“, sagt<br />

Renate Müller, heute zuständig für Soziales<br />

und Gleichstellung in der Geschäftsführung<br />

des Betriebsrats in Kassel.<br />

Mittlerweile gibt es eine Art Arbeitsteilung<br />

zwischen globalem Betriebsrat und Basis:<br />

ihre betrieblichen Anliegen vertreten<br />

Kolleginnen und Kollegen aus den ausländischen<br />

Werken seit 1998 selbst im<br />

Weltkonzernbetriebsrat. Hier wird auch<br />

mögliche interne Standortkonkurrenz<br />

verhandelt, damit einzelne Betriebe nicht<br />

gegeneinander ausgespielt werden können.<br />

Dass man einander bei Streiks nicht<br />

durch Überstunden in die Parade fährt, ist<br />

ausgemacht.<br />

Seit 2002 gibt es auch eine so genannte<br />

Sozialcharta bei VW, unterzeichnet vom<br />

Weltkonzernbetriebsrat, dem Internationalen<br />

Metallarbeiterbund und dem<br />

Konzern, die der sozialen und industriellen<br />

Beziehungen weltweit regeln soll. Sie<br />

orientiert sich an den Kernarbeitsnormen<br />

der ILO – keine Kinderarbeit und keine<br />

Diskriminierung, Vereinigungsfreiheit<br />

und Vergütung nicht unter nationalen<br />

Mindestlöhnen. Geschäftspartner werden<br />

darin allerdings nur „ermutigt“, sich<br />

ebenfalls dran zu halten. „Die Umsetzung<br />

der Charta wird alle zwei Jahre überprüft“,<br />

sagt Magdalena Brüning vom Konzernbetriebsrat.<br />

„Es gibt Aussagen von Kollegen,<br />

dass es schon ausreichend sein kann, die<br />

Sozialcharta hoch zu halten“.<br />

38


Beim IG Metall-Arbeitskreis Intersoli befassen<br />

sich heute Gruppen mit der Lage<br />

ihrer Kollegen in China und in Mittelund<br />

Osteuropa. Dort geht es wieder um<br />

grundlegende Fragen gewerkschaftlicher<br />

Organisation. „Arbeitszeit und Leiharbeit<br />

sind derzeit <strong>unsere</strong> Baustellen“, sagt<br />

der Wolfsburger Vertrauensmann Josef<br />

Schemainda von der MOE-Gruppe. Bei<br />

Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfen<br />

werden die Kollegen in Poznan unterstützt,<br />

die nach dem Ende des Sozialismus<br />

noch immer mit dem schlechten<br />

Image von Gewerkschaften zu kämpfen<br />

haben.<br />

Probleme gibt es auch – sprachliche,<br />

Umgangsprobleme mit anderen Gewerkschaftstraditionen<br />

oder Konflikten<br />

vor Ort. In Südafrika gab es vor einigen<br />

Jahren erbitterte innergewerkschaftliche<br />

Linienkämpfe im VW-Werk, verbunden<br />

mit wildem Streik und Entlassungen. Das<br />

hat auch die internationalen Kontakte<br />

schwer gemacht – bis sich die bekannte<br />

Gewerkschaft NUMSA, wenn auch mit<br />

neuen Personen, wieder durchgesetzt<br />

hatte.<br />

Die Sache mit der politischen Verantwortung<br />

haben viele VW-Beschäftigte<br />

persönlich genommen und „eine Stunde<br />

für die Zukunft“ der Kollegen und ihrer<br />

Gemeinschaften in Übersee gearbeitet.<br />

Denn in Brasilien und Südafrika gibt es<br />

zwar heute Demokratie, aber immer noch<br />

große Armut. Beteiligt war automatisch,<br />

wer sich nicht ausdrücklich dagegen<br />

aussprach. Gleich im ersten Anlauf 1999<br />

kamen so 2,7 Millionen Mark zusammen,<br />

die das Kinderhilfswerk terre des hommes<br />

vor allem für Straßenkinderprojekte an<br />

den VW-Standorten in Mexiko, Brasilien<br />

und Südafrika ausgibt. Inzwischen wird<br />

die Spendenaktion über Daueraufträge<br />

und die Aktion „Restgeld“ finanziert:<br />

was bei den monatlichen Lohnüberweisungen<br />

an Cent-Beträgen hinter<br />

dem Komma steht, geht in die Projekte.<br />

Insgesamt wurden in sechs Jahren<br />

etwa sechs Millionen Euro gesammelt.<br />

„Internationale Arbeit endet nicht am<br />

Werkstor“ sagt Magdalena Brüning, die<br />

für den Gesamtbetriebsrat diese Spendenaktion<br />

koordiniert. Und sie ist auch<br />

keine Einbahnstraße: Beschäftigte in<br />

Brasilien und Mexiko haben von Anfang<br />

an mitgespendet. Kürzlich sind sogar die<br />

Südafrikaner eingestiegen – ein Stück<br />

Normalisierung der Beziehung zwischen<br />

<strong>Nord</strong>en und Süden. Dazu gehört auch<br />

die punktuelle Förderung von Straßenkinderprojekten<br />

in Hannover und Berlin.<br />

„Wieviel Geld wohin geht, entscheidet<br />

terre des hommes“, erklärt Magdalena<br />

Brüning, „dafür braucht es eine professionelle<br />

Spendenorganisation.“<br />

Was sie selbst daran hält, sich über<br />

Jahre mit der Situation in fernen Ländern<br />

auseinanderzusetzen, hat auch mit Beziehungen<br />

und Reisen zu tun: „Man trifft<br />

so tolle Menschen“, sagen alle, die schon<br />

mal Kollegen im Ausland besucht haben<br />

– Menschen, die sich beim Nachbarn ein<br />

Bett für ihren Gast ausleihen, die einem<br />

ohne Skepsis ihre Kinder anvertrauen und<br />

die oft viel mehr Mut aufbringen müssen,<br />

um überhaupt Gewerkschaftsarbeit zu<br />

machen. Ihr Leben wirft ein neues Licht<br />

auf das eigene. Reisen sind nötig zum<br />

Verstehen: „Du musst die Menschen<br />

doch kennen“, sagt Renate Müller, „und<br />

du musst sie auch gern haben. Wie willst<br />

du das sonst rüberbringen“?<br />

39


„Als Arbeiter sind wir eins“<br />

Interview mit dem Vorsitzenden des VW-Vertrauensleuterats<br />

der NUMSA Misumzi Chiliwe in Südafrika<br />

40


Wie haben die Beziehungen der VW-Betriebsräte<br />

in Südafrika und Deutschland<br />

angefangen?<br />

Noch während der Apartheid sind Gewerkschaftsvertreter<br />

wie John Gomomo<br />

in Deutschland gewesen und haben die<br />

Beziehungen mit den IG Metall-Kollegen<br />

aufgebaut. Von den Ergebnissen<br />

profitieren wir noch immer. Unser Anerkennungsabkommen<br />

mit der Firma<br />

entspricht den Minimalstandards der<br />

IG- Metall. Und wenn wir einen legalen<br />

Streik führen, kann die Firma dank <strong>unsere</strong>r<br />

Vereinbarung mit der IG Metall <strong>unsere</strong><br />

Jobs nicht einfach an einen anderen<br />

Standort verlagern. Zu den internationalen<br />

Betriebsratssitzungen schicken wir<br />

Vertreter, die für uns sprechen.<br />

Bei euch sind ja alle Betriebsräte<br />

schwarz, und in Deutschland sind sie<br />

weiß. Gab es trotzdem von Anfang an<br />

eine Vertrauensbasis?<br />

Ich würde sagen ja. Als Arbeiter sind wir<br />

eins; wir haben ja die gleichen Probleme.<br />

Da wird die Farbe unwichtig. Es gibt sicher<br />

kleine Unterschiede in der Art, wie<br />

wir die Dinge betrachten oder anfassen<br />

oder miteinander umgehen, aber insgesamt<br />

erfahren Arbeiter in Südafrika und<br />

Deutschland dieselben Schwierigkeiten.<br />

Wenn zum Beispiel Arbeiter als Folge eines<br />

Streiks entlassen werden sollen, wie<br />

vor einiger Zeit in Südafrika, dann ist die<br />

Hautfarbe vollkommen gleichgültig.<br />

Gibt es verschiedene Interessen zwischen<br />

den Arbeitern bei der Mutterfirma<br />

und in der südafrikanischen<br />

Fabrik, zum Beispiel Konkurrenz um die<br />

Produktion bestimmter Fabrikate?<br />

Seit ich 2003 zum Vertrauensmann gewählt<br />

wurde, ist mir so etwas nicht begegnet. Wir<br />

sind ja mit den deutschen Kollegen seit 25<br />

Jahren ständig in Kontakt.<br />

Was bedeutet dir persönlich die Beziehung<br />

mit den Volkswagen-Kollegen in<br />

Deutschland und anderen Ländern?<br />

Wir haben gute Beziehungen mit den<br />

deutschen Kollegen. Da ist Vertrauen.<br />

Dieses Jahr wurden fünf Vertreter von uns<br />

nach Deutschland eingeladen. Bei ihrem<br />

Besuch hier gab es Diskussionen über die<br />

Zukunft von VW und wo wir uns selber<br />

sehen, welche Rolle wir innerhalb der VW<br />

AG spielen – das finde ich gut.<br />

<strong>Worin</strong> bestehen die Schwierigkeiten in<br />

den Beziehungen?<br />

Die Sprache ist natürlich ein Problem, und<br />

vielleicht auch die unterschiedliche ideologische<br />

Orientierung. NUMSA hat sich ja<br />

beim Kongress der Gewerkschaftsbundes<br />

COSATU vor einigen Jahren als erste Mitgliedsgewerkschaft<br />

für die sozialistische<br />

Option als künftige Politik für Südafrika<br />

ausgesprochen. Das ist vor dem Hintergrund<br />

der Mitbestimmung in Deutschland<br />

natürlich ein Unterschied, aber er bedeutet<br />

nicht viel, weil er sich auf die nationale<br />

Politik bezieht, nicht auf VW.<br />

Wie stellst du dir die künftigen Beziehungen<br />

der Betriebsräte zueinander vor?<br />

Sie werden enger werden. Unsere<br />

fünf Delegierten, die dieses Jahr nach<br />

Deutschland reisen, wollen zum Beispiel<br />

mit den Kollegen dort über die Ankündigung<br />

reden, dass wir hier in Südafrika<br />

Busse und Lastwagen bauen sollen. Sie<br />

sollen uns helfen, dass dieses Versprechen<br />

erfüllt wird, auch wenn es erst in<br />

einigen Jahren so weit ist.<br />

Was erwartest du darüber hinaus?<br />

Zum Erbe der Apartheid gehört, dass in<br />

Südafrika viele arbeitslos sind und unter<br />

wirklich armseligen Verhältnissen leben.<br />

Ich erwarte von den Kollegen in Deutschland,<br />

dass sie die Firma unter Druck<br />

setzen, damit sie mehr Leute einstellt und<br />

<strong>unsere</strong> Brüder und Schwestern hier, die<br />

trotz Abitur auf der Straße liegen, bei VW<br />

Arbeit finden. Auch die Zulieferindustrie<br />

würde wachsen, wenn VW wächst; es<br />

würde in der ganzen Region mehr Beschäftigung<br />

geben.<br />

Das Gespräch führte Hermann Hartmann<br />

41


Globale Arbeitsbeziehungen auf<br />

Unternehmensebene<br />

43


Robert Steiert (Internationaler Metallgewerkschaftsbund)<br />

Benimmregeln für Konzerne<br />

Über Internationale Rahmenvereinbarungen<br />

Internationale Rahmenvereinbarungen<br />

(IRV), bekannt auch als<br />

„International Framework Agreements“<br />

(IFA), werden als Instrument<br />

gewerkschaftlicher Politik gegenüber<br />

multi- oder transnationalen<br />

Unternehmen immer wichtiger.<br />

Sie erfüllen eine „alte“ Forderung<br />

in neuem Gewand und mit neuer<br />

Stoßrichtung.<br />

„Verhaltenskodices für Multis“ wurden<br />

bereits in den frühen sechziger Jahren des<br />

letzten Jahrhunderts gefordert, spätestens<br />

seit die negative Rolle des US-Multis ITT<br />

(den es heute nicht mehr gibt) im Militärputsch<br />

gegen die demokratisch gewählte<br />

Regierung Allende in Chile bekannt wurde.<br />

Das richtete sich vorrangig an die Politik.<br />

Internationale Organisationen sollten Verhaltensvorschriften<br />

für diese Unternehmen<br />

verbindlich festlegen. Bis heute gibt es drei<br />

solcher Kodices auf politischer Ebene – bei<br />

der Internationalen Arbeitsorganisation<br />

(ILO), der Organisation für wirtschaftliche<br />

Kooperation und Entwicklung (OECD) und<br />

zuletzt den Global Compact bei der UNO.<br />

Sie sind jedoch vollkommen unverbindlich.<br />

Den Unternehmen ist es überlassen, ob sie<br />

sich danach richten. Viele „Global Players“<br />

haben sich mittlerweile selbst einen<br />

Verhaltens- oder Ethik-Kodex gegeben,<br />

die jedoch meist noch unverbindlicher<br />

formuliert sind.<br />

Das hat die Gewerkschaften dazu veranlasst,<br />

die Richtung zu ändern. Statt<br />

auf die internationale Politik zu warten,<br />

nahmen sie direkte Kontakte und Verhandlungen<br />

mit dem Management von<br />

Konzernen auf, um Vereinbarungen auf<br />

freiwilliger Basis mit den Internationalen<br />

Gewerkschaftsorganisationen (Global<br />

Union Federations), wie z.B. dem Internationalen<br />

Metallgewerkschaftsbund<br />

(IMB) abzuschließen. Diese Strategie<br />

zeigt nun erste Erfolge. Unterstützt wurde<br />

sie durch die öffentliche Diskussion<br />

über die Nachteile der Globalisierung,<br />

über Corporate Governance und die<br />

soziale Verantwortung (Corporate Social<br />

Responsibility) von Konzernen gegenüber<br />

der Gesellschaft. Zur Abgrenzung von<br />

den firmeneigenen Verhaltensvorschriften<br />

wurde der Name „Internationale<br />

Rahmenvereinbarung“ gewählt.<br />

In einer IRV verpflichtet sich die Konzernleitung<br />

zur Einhaltung der Kernarbeitsnormen<br />

der ILO – einer Unterorganisation<br />

der UNO. Bei diesen Kernarbeitsnormen<br />

handelt es sich um die Vereinigungsfreiheit,<br />

d.h. das Recht eines Arbeitnehmers,<br />

Gewerkschaften beizutreten oder solche<br />

zu gründen; die Tarifvertragsfreiheit, das<br />

Verbot der Kinderarbeit, das Verbot der<br />

Zwangsarbeit und die Gleichstellung am<br />

Arbeitsplatz.<br />

Die Kernarbeitsnormen sind in Konventionen<br />

der ILO verankert, die bereits<br />

von einer Vielzahl von Staaten ratifiziert<br />

wurden, oft aber auf nationaler Ebene<br />

nicht in die Gesetzgebung umgesetzt<br />

oder nicht beachtet werden.<br />

Ein weiterer wichtiger Regelungspunkt<br />

ist die so genannte Zuliefererklausel.<br />

44


Darin verpflichtet sich der Konzern, dafür<br />

einzutreten, dass die Kernarbeitsnormen<br />

auch bei seinen Zulieferunternehmen respektiert<br />

werden oder diese Unternehmen<br />

eine eigene IRV abschließen.<br />

Oft werden die Kernarbeitsnormen durch<br />

Aussagen über Mindestbedingungen bei<br />

der Entlohnung, Arbeitszeit und Arbeitssicherheit<br />

ergänzt. Die sind jedoch oft<br />

sehr allgemein gehalten, da es hier keine<br />

international gültigen Standards wie bei<br />

den Kernarbeitsnormen gibt.<br />

Eine Regelung zum Monitoring, also zur<br />

Überwachung der Einhaltung der Prinzipien<br />

der IRV und zur Behandlung von Beschwerden<br />

über eine mögliche Verletzung<br />

runden eine solche Vereinbarung ab. Die<br />

Kernarbeitsnormen, die Zuliefererklausel<br />

und das Monitoring sind „Pflichtbestandteile“<br />

eines IRV.<br />

Bis heute haben 40 transnationale Konzerne<br />

IRVs mit den jeweiligen Global Union<br />

Federations abgeschlossen, 13 davon<br />

in der Metallindustrie mit dem IMB. Die<br />

überwiegende Mehrheit der Unternehmen<br />

stammt aus dem europäischen Raum.<br />

Lediglich ein US-Unternehmen, jedoch<br />

kein einziger japanischer Multi, sind bis<br />

jetzt unter den Vertragspartnern.<br />

Tatsächlich tun sich viele Unternehmen<br />

noch schwer mit dem Gedanken einer<br />

freiwilligen Vereinbarung, in der sie sich<br />

verpflichten (und nicht nur eine unverbindliche<br />

Zusage machen), soziale Menschenrechte<br />

wie die Kernarbeitsnormen<br />

zu respektieren und ihre Einhaltung im<br />

Unternehmen zu garantieren. Realität<br />

ist heute noch eher, dass diese sozialen<br />

Grundrechte in vielen Unternehmen<br />

– nicht nur in Entwicklungsländern, auch<br />

in Industrieländern – mit Füßen getreten<br />

werden und Arbeitnehmer, die sich kollektiv<br />

durch Gründung oder Beitritt zu einer<br />

Gewerkschaft dagegen wehren wollen,<br />

sanktioniert werden. Realität ist auch immer<br />

noch, dass viele Regierungen und Regierungsbehörden<br />

mit arbeitsrechtlichen<br />

Vorschriften den Unternehmen dazu den<br />

Weg bereiten oder bei Verstößen gegen<br />

das Arbeitsrecht wegsehen.<br />

Die Aushandlung der IRVs ist jedoch ohnehin<br />

nur der erste Schritt. Der zweite ist<br />

die Umsetzung. Darauf werden die GUFs<br />

in den nächsten Jahren das Hauptaugenmerk<br />

richten müssen. Gemeinsam mit den<br />

Konzernleitungen muss dafür Sorge getragen<br />

werden, dass die unterzeichneten<br />

Grundsätze im Konzern respektiert und<br />

„gelebt“ werden, bis in die letzte Niederlassung<br />

und bis zu den Zulieferern.<br />

IRVs sind kein „Allheilmittel“ für Ungerechtigkeiten.<br />

Sie können jedoch ein<br />

Mittel sein, die Arbeitsbedingungen<br />

und vor allem die Bedingungen für eine<br />

kollektive Interessenvertretung von<br />

Arbeitnehmern zu verbessern, wenn<br />

sie eine Umwelt schaffen, in der eine<br />

gewerkschaftliche Organisierung ohne<br />

Repressalien, ohne Benachteiligung und<br />

Diskriminierung möglich ist. Betriebe sind<br />

keine „Sonderzone“, in der Menschenrechte<br />

ausgesperrt sind.<br />

Ein Rahmen für<br />

Konflikte<br />

Im Juli 2002 sind die 400 Arbeitnehmer<br />

bei Ditas in Nidge (Türkei) in den<br />

Streik getreten. Der Hauptgrund für<br />

diese Aktion war die Weigerung des<br />

Arbeitgebers, die Gewerkschaftsrechte<br />

am Arbeitsplatz anzuerkennen und<br />

mit der Gewerkschaft zu verhandeln.<br />

Lange Zeit schien die Sache der Arbeitnehmer<br />

verloren. Doch nach einer<br />

achtmonatigen Streikaktion waren<br />

die Auseinandersetzungen beigelegt.<br />

Der Ersatzteilehersteller und die<br />

IMB-Mitgliedsgewerkschaft Birlesik<br />

Metal-Is unterzeichneten ihren ersten<br />

Tarifvertrag, der der Mehrheit der<br />

Gewerkschaftsmitglieder eine Vollzeitbeschäftigung<br />

bietet.<br />

Die Tatsache, dass einer der Kunden<br />

von Ditas, DaimlerChrysler, und der IMB<br />

ein Internationales Rahmenabkommen<br />

abgeschlossen haben, spielte bei der<br />

Einigung eine entscheidende Rolle.<br />

In diesem Internationalen Rahmenabkommen<br />

erkennt DaimlerChrysler<br />

nicht nur seine soziale Verantwortung<br />

gegenüber seinen eigenen Beschäftigten<br />

an, sondern erwartet auch von<br />

seinen Zulieferern die Anwendung<br />

vergleichbarer Grundsätze als Basis<br />

gemeinsamer Beziehungen. Als dies<br />

der Geschäftsleitung von Ditas deutlich<br />

gemacht wurde, konnte der Konflikt<br />

gelöst werden.<br />

Aus: Internationaler Metallgewerkschaftsbund<br />

– Eine Einführung, IMB,<br />

Genf 2005<br />

45


Michael Linnartz (IG Bergbau, Chemie, Energie)<br />

Globale Dialogstruktur –<br />

<strong>Netz</strong>werke bei Global Playern<br />

Warum engagiert ihr euch<br />

im Ausland, haben wir in<br />

Deutschland nicht genug<br />

Probleme? Diese Frage gehört für<br />

international tätige Gewerkschafter<br />

zum täglichen Brot. Denn trotz<br />

fortschreitender Globalisierung<br />

bleiben Gewerkschaften vornehmlich<br />

national ausgerichtet. Notwendig<br />

ist daher, über Zusammenhänge<br />

und Möglichkeiten internationaler<br />

Gewerkschaftsarbeit aufzuklären.<br />

Die Globalisierung und der Druck auf<br />

deutsche Arbeitsplätze lenkt den Blick<br />

zunehmend auf die Arbeitsbedingungen<br />

in Schwellenländern und der Dritten<br />

Welt. Standen früher in der internationalen<br />

Arbeit eher humanistische Aspekte<br />

im Vordergrund, so kommt heute immer<br />

mehr die Angst vor unfairer Konkurrenz<br />

hinzu. Der ideologisch genutzte Begriff<br />

Globalisierung ist zunehmend angstbesetzt<br />

und verstellt dadurch den Blick<br />

auf Chancen einer internationalisierten<br />

Weltwirtschaft. UN-Generalsekretär Kofi<br />

Annan hat diese Gefahr schon Ende der<br />

neunziger Jahre erkannt und versucht,<br />

mit seiner Global-Compact-Initiative ein<br />

Instrument zu schaffen, um negativen<br />

Globalisierungsfolgen entgegenzusteuern.<br />

Dort forderte er die Unternehmen<br />

auf, sich für eine soziale und ökologische<br />

Wirtschaftsführung zu engagieren.<br />

Aber auch den internationalen<br />

Gewerkschaftsföderationen und ihren<br />

Mitgliedsgewerkschaften bieten sich<br />

Möglichkeiten, um Arbeitnehmerrechten<br />

weltweit Geltung zu verschaffen. Diese<br />

sind oft unspektakulär und verursachen<br />

keine schnellen Schlagzeilen, haben aber<br />

auf lange Sicht nachhaltige Qualitäten.<br />

Es ist die pragmatische Politik der kleinen<br />

Schritte, die Lösungsmöglichkeiten<br />

aufzeigt und positive Veränderungen<br />

ermöglicht. Nach den Internationalen<br />

Rahmenvereinbarungen soll nachfolgend<br />

ein weiteres pragmatisches Instrument<br />

angesprochen werden. Es handelt sich<br />

um die „Unternehmensnetzwerke“.<br />

<strong>Netz</strong>werke<br />

Neben den Internationalen Rahmenvereinbarungen<br />

ist der Aufbau von<br />

<strong>Netz</strong>werken ein wichtiges Ziel weltweiter<br />

gewerkschaftlicher Arbeit. Der Begriff<br />

<strong>Netz</strong>werk wird inflationär gebraucht<br />

und wirkt oft sehr beliebig. In <strong>unsere</strong>m<br />

Kontext handelt es sich um <strong>Netz</strong>werke<br />

in Schwellen- oder Entwicklungsländern.<br />

Das multinationale Unternehmen ist also<br />

die Plattform des gewerkschaftlichen<br />

Handelns. Dies setzt natürlich voraus,<br />

dass die Unternehmensleitungen für den<br />

<strong>Netz</strong>werkgedanken gewonnen werden<br />

müssen. Die Unternehmen müssen erkennen,<br />

dass geordnete Arbeitsbeziehungen<br />

und ein institutionalisierter sozialer Dialog<br />

neben einem legitimen Imagegewinn<br />

auch wirtschaftliche Vorteile bieten<br />

können.<br />

Um zu verstehen, warum wir <strong>Netz</strong>werke<br />

brauchen, müssen wir kurz <strong>unsere</strong> Aufmerksamkeit<br />

auf Deutschland richten.<br />

In der Bundesrepublik ist die Konstruk-<br />

46


tion „<strong>Netz</strong>werk“ nicht notwendig, da<br />

Betriebsräte einzelner Standorte eines<br />

Unternehmens schon qua Gesetz (Betriebsverfassungsgesetz)<br />

miteinander<br />

verbunden sind (Gesamt- und Konzernbetriebsräte).<br />

Auch das Verfahren bei<br />

sozialen Belangen der Belegschaft ist<br />

weitestgehend gesetzlich geregelt. Wirtschaftliche<br />

Fragen werden in größeren<br />

Unternehmen im Wirtschaftsauschuss<br />

oder Aufsichtsrat debattiert.<br />

Diese umfassenden gesetzlichen Regelungen<br />

existieren in vielen Ländern aber<br />

nicht. So gibt es z. B. in Brasilien keine<br />

Betriebsräte, sondern nur sogenannte<br />

Fabrikkommissionen in einigen wenigen<br />

Betrieben. So auch bei Bayer do Brasil.<br />

Die nach Auseinandersetzungen mit<br />

lokalen Gewerkschaften eingerichteten<br />

Arbeitnehmervertretungen haben keine<br />

gesetzliche Grundlage und nur geringe<br />

Handlungsmöglichkeiten. Noch viel<br />

seltener sind Kontakte der einzelnen<br />

brasilianischen Unternehmensstandorte<br />

untereinander. Auch die Gewerkschaften<br />

bildeten keine einigende Klammer. Somit<br />

ist dem Ausspielen von Standorten Tür<br />

und Tor geöffnet. Dies hat zwar in diesem<br />

Fall mit den Eigenheiten des brasilianischen<br />

Gewerkschaftsrechts zu tun, gilt<br />

aber ähnlich für viele andere Länder. Es<br />

fehlt also zum einen die institutionalisierte<br />

Struktur für einen Dialog der Arbeitnehmervertreter<br />

untereinander und zum<br />

anderen existiert auch keine Plattform für<br />

den Dialog mit der Geschäftsführung.<br />

Dies führt daher oft zu einer Kultur der<br />

Sprachlosigkeit und Konfrontation.<br />

Das im Sommer 2004 gegründete brasilianische<br />

Bayer-<strong>Netz</strong>werk soll diese<br />

Mängel abstellen. Das <strong>Netz</strong>werk ist<br />

Resultat des europäisch-brasilianischen<br />

Projektes „Observatório Social Europa“<br />

(Seite 49) und der Unterstützung durch<br />

die Friedrich-Ebert-Stiftung in São Paulo.<br />

Zum ersten Mal hatten Vertreter aller<br />

Standorte von Bayer do Brasil die Möglichkeit,<br />

sich auszutauschen und über<br />

die Lage an ihren jeweiligen Standorten<br />

zu diskutieren. Neben diesem internen<br />

Gedankenaustausch kam es im Sommer<br />

2005 bereits zum zweiten Mal zu<br />

einem sozialen Dialog mit dem lokalen<br />

Management. Der Bayer-Konzern wurde<br />

diesmal aber nicht durch einen angeheuerten<br />

freien Berater in Fragen Arbeitsbeziehungen<br />

vertreten, sondern durch<br />

die Spitzenführungskräfte des Konzerns<br />

für Brasilien. Dies ist aus <strong>unsere</strong>r Sicht<br />

ein qualitativer Sprung nach vorne. Und<br />

somit kam es zu einem echten sozialen<br />

Dialog, in dem beide Seiten ihre Positionen<br />

ungeschminkt darstellen konnten.<br />

Ein für brasilianische Gewerkschafter und<br />

auch Manager neuer Vorgang. Es kann<br />

der Anfang einer neuen Vertrauenskultur<br />

sein, bei der auf gleicher Augenhöhe<br />

verhandelt wird. So befand ein Gewerkschafter<br />

am Rande der Tagung in São<br />

Paulo: „Unser <strong>Netz</strong>werk lernt gerade<br />

auch mit Unterstützung der deutschen<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung die ersten Schritte<br />

zu gehen. Vielleicht sind einige noch<br />

wacklig, aber wir glauben fest daran,<br />

dass <strong>Netz</strong>werke in der Lage sind, soziale<br />

Konflikte zu entschärfen und somit allen<br />

zu dienen - den Belegschaften wie auch<br />

dem Unternehmen“.<br />

Noch schwieriger allerdings sind Kontakte<br />

der Unternehmensstandorte über Ländergrenzen<br />

hinaus. Nur in Europa existiert<br />

mit den Europäischen Betriebsräten<br />

eine länderübergreifende gesetzliche<br />

Institution für die Arbeitnehmervertreter<br />

multinationaler Unternehmen. Doch gibt<br />

es im Bereich der chemischen Industrie<br />

mit dem BASF-Südamerika-<strong>Netz</strong>werk<br />

und dem BASF-Asien-<strong>Netz</strong>werk schon<br />

die ersten länderübergreifenden Gremien.<br />

Im Rahmen dieser <strong>Netz</strong>werke<br />

findet auch der soziale Dialog mit dem<br />

deutschen Unternehmensvorstand statt.<br />

In São Paulo konnten beispielsweise die<br />

Mitglieder des Südamerika-<strong>Netz</strong>werkes<br />

mit Vertretern des Ludwigshafener Unternehmensvorstandes,<br />

des deutschen<br />

Aufsichtsrates und des lokalen Managements<br />

über die Situation in Südamerika<br />

und auch die globale Strategie des<br />

Unternehmens diskutieren. Neben den<br />

Delegierten des südamerikanischen<br />

<strong>Netz</strong>werkes nahmen auch Vertreter<br />

der ICEM als internationale Föderation<br />

von Chemie-, Energie-, Bergbau- und<br />

Fabrikarbeitergewerkschaften, der deut-<br />

47


schen Industriegewerkschaft Bergbau,<br />

Chemie, Energie und Betriebsräte aus<br />

Ludwigshafen teil. Solche Gespräche mit<br />

verschiedensten Akteuren dienen dem<br />

Aufbau einer Vertrauenskultur und einer<br />

Struktur, in der sich die zwangsläufigen<br />

Interessenskonflikte von Kapital und<br />

Arbeit besser regeln lassen.<br />

Allerdings ist eine erfolgreiche <strong>Netz</strong>werkbildung<br />

von vielen Faktoren und Akteuren<br />

abhängig. Zum einen ist dort die<br />

Kooperationsbereitschaft der Unternehmen.<br />

Nur wenn die deutschen Unternehmenszentralen<br />

den Prozess unterstützen<br />

und auf das lokale Management in den<br />

jeweiligen Ländern Einfluss nehmen,<br />

bestehen Chancen für ein <strong>Netz</strong>werk. Das<br />

deutsche System der Mitbestimmung ist<br />

hier sehr hilfreich, da die Kontakte von<br />

Kapitalseite und Arbeitnehmervertreter<br />

im Aufsichtsrat auch für die <strong>Netz</strong>werkbildung<br />

förderlich sind. Dort kann man<br />

nämlich den Unternehmen ihren Vorteil<br />

von <strong>Netz</strong>werken bzw. geregelten sozialen<br />

Beziehungen verdeutlichen. Wenn<br />

Unternehmen diesen Vorteil aber nicht<br />

erkennen wollen und sich absolut gegen<br />

eine <strong>Netz</strong>werkbildung stemmen, wird es<br />

wirklich schwierig für die Akteure.<br />

Zum anderen bedarf es auch des koordinierten<br />

Handelns der Vertreter der<br />

Arbeitnehmerseite, bestehend aus den<br />

deutschen Gewerkschaften, Betriebsräten<br />

und den internationalen gewerkschaftlichen<br />

Föderationen.<br />

Aber die wichtigsten Akteure sind die jeweiligen<br />

Gewerkschaften vor Ort. Gerade<br />

in Ländern, in denen die Gewerkschaftsbewegung<br />

stark zersplittert ist, kann es<br />

zu ideologischen Konflikten kommen,<br />

die ein <strong>Netz</strong>werk leicht scheitern lassen.<br />

Beispiele hierfür gibt es auch aus Brasilien,<br />

wo ca. 16.000 (!) lokale Gewerkschaften<br />

existieren. Gewerkschaftliche Einheit ist<br />

auch dort die notwendige Voraussetzung<br />

erfolgreichen Handelns. Und hier liegen<br />

eindeutig die Grenzen des internationalen<br />

Engagements.<br />

Die deutschen Gewerkschafter, Betriebsräte,<br />

internationalen Föderationen<br />

und auch die FES können zwar Hilfe zur<br />

Selbsthilfe anbieten. Aber die Verantwortung<br />

für ihre Durchsetzungsfähigkeit<br />

tragen die jeweiligen nationalen Gewerkschaften<br />

selbst. Und hier müssen<br />

in vielen Ländern noch die notwendigen<br />

Hausaufgaben gemacht werden.<br />

Projekt Observatório Social<br />

Das mit Mitteln der EU geförderte<br />

Projekt Observatorio Social Europa<br />

wurde 2001 bis März 2005 durchgeführt.<br />

Unterstützt wurde das Observatorio<br />

Social Europa vom brasilianischen<br />

Gewerkschaftsbund CUT und dessen<br />

Konföderationen der Chemie- und<br />

Metallgewerkschaften CNQ und CNM.<br />

Auf europäischer Seite standen die Industriegewerkschaft<br />

Bergbau, Chemie,<br />

48


Energie, die IG Metall, die Hans-Böckler-<br />

Stiftung, das DGB-Bildungswerk sowie<br />

der niederländische Gewerkschaftsbund<br />

FNV und seine größte Mitgliedsgewerkschaft<br />

FNV Bondgenoten. Drei Kernfragen<br />

standen im Observatório Social Europa im<br />

Vordergrund: Wie verhalten sich europäische<br />

Unternehmen in Brasilien? Haben sie<br />

die gleichen sozialen Standards in ihren<br />

brasilianischen Niederlassungen wie an<br />

ihrem Stammsitz? Wie geht es brasilianischen<br />

Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften<br />

in diesen Unternehmen?<br />

Das Fundament des Projektes stellte die<br />

Kooperation mit sechs Unternehmen<br />

aus Deutschland und den Niederlanden<br />

dar. Auf deutscher Seite waren es die<br />

Bayer AG, Bosch und ThyssenKrupp,<br />

auf niederländischer Seite waren Akzo<br />

Nobel, Philips und Unilever beteiligt. Es<br />

wurden vom brasilianischen Observatório<br />

Untersuchungen in den brasilianischen<br />

Standorten durchgeführt, die Probleme<br />

in den Sozialbeziehungen aufzeigten.<br />

Trotz einiger Schwierigkeiten mit dem<br />

lokalen Management wurde begonnen,<br />

die Missstände abzubauen. Neben der<br />

Schulung von brasilianischen Gewerkschaftern<br />

war die Bildung von <strong>Netz</strong>werken<br />

ein wichtiger Erfolg des Projektes.<br />

Die <strong>Netz</strong>werke stellten sich im Januar<br />

2005 im Rahmen des Weltsozialforums<br />

im brasilianischen Porto Alegre vor und<br />

galten als praktische Beispiele für die<br />

positive Gestaltung der Globalisierung.<br />

49


Sigrid Thomsen<br />

Euro-Betriebsräte<br />

wollen nicht<br />

nur reden<br />

Praktiker schlagen<br />

Verbesserungen der<br />

EU-Richtlinie vor<br />

Wer über Europas Grenzen<br />

hinweg investiert, muss<br />

sich mit den Beschäftigten<br />

jedenfalls unterhalten: seit<br />

1994 ist in der Europäischen Union<br />

die Bildung von europäischen Betriebsräten<br />

(EBR) in Unternehmen<br />

mit mehr als tausend Mitarbeitern<br />

vorgesehen. Mitbestimmen können<br />

sie nicht; die Richtlinie der<br />

EU gewährt ihnen nur Rechte auf<br />

Information und Anhörung.<br />

Europäische Arbeitnehmervertretungen<br />

reden über die Aus- und Weiterbildung,<br />

die Arbeitssicherheit oder die Personalpolitik<br />

– Löhne und Arbeitsbedingungen<br />

verhandeln sie nicht. Was sie im Einzel-<br />

nen tun, wie oft sie tagen und wer das<br />

bezahlt, ist Verhandlungssache und wird<br />

in Vereinbarungen festgelegt. In mehr als<br />

700 Unternehmen wurden inzwischen<br />

entsprechende Komitees gebildet. Im Ausnahmefall,<br />

je nach Tradition der Arbeitsbeziehungen<br />

im Mutterkonzern, sind auch<br />

Arbeitgebervertreter beteiligt. Nach zehn<br />

Jahren Erfahrung mit dieser Art Dialog<br />

hat die EU-Kommission die Reformierung<br />

ihrer Richtlinie auf den Weg gebracht.<br />

Gewerkschafter wünschen sich mehr<br />

Verbindlichkeit bei der Unterrichtung und<br />

Anhörung, damit sie auf Unternehmensentscheidungen<br />

auch Einfluss nehmen<br />

können. Dr. Werner Altmeyer, Berater für<br />

europäische Betriebsräte in Hamburg, hat<br />

nach einem Bericht der „Mitbestimmung<br />

international edition 2004“ die Erfahrungen<br />

und Wünsche der Praktiker nach den<br />

ersten zehn Jahren erfragt:<br />

„Rund 81 Prozent aller Europäischen Betriebsräte<br />

tagen nur einmal jährlich. Für<br />

Manfred Monje, der von Mainz aus die<br />

Arbeit des EBR der britischen Hotelgruppe<br />

Hilton koordiniert, steht fest: ‚Da das<br />

Unternehmen in Quartalszahlen denkt,<br />

wird eine einzige EBR-Sitzung pro Jahr<br />

der Realität<br />

nicht gerecht.’<br />

Als die Briten unlängst die Scandic-Hotels<br />

übernahmen, wurde der EBR erst<br />

Monate später unterrichtet – damit war<br />

für Monje nicht zuletzt auch wichtige<br />

Zeit verstrichen, die für eine frühzeitige<br />

Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmervertretern<br />

des übernommenen Unternehmens<br />

hätte genutzt werden können.“<br />

Persönliche Kontakte, die nur bei Treffen<br />

entstehen und gestärkt werden, sind<br />

auch für andere besonders wichtig. Allerdings<br />

müssen dabei Sprachprobleme<br />

überwunden werden. Altmeyer: „Zwar<br />

werden die offiziellen Sitzungen simultan<br />

gedolmetscht, aber Gespräche beim<br />

Abendessen oder informelle Kontakte<br />

kommen ohne Fremdsprachenkenntnisse<br />

nur schwer zustande. Die EBR-Richtlinie<br />

sieht bislang für solche Fälle keinen<br />

Schulungsanspruch vor. So musste beispielsweise<br />

Hilton-Betriebsrat Monje<br />

seinen Englisch-Intensivkurs selbst zahlen,<br />

während andere Unternehmen auch<br />

mehrwöchige Sprachstudien im Ausland<br />

finanzieren“.<br />

50


Ganz klar ist nicht mal, wer mitreden<br />

darf, kritisiert der Hamburger Experte<br />

für internationale Arbeitsbeziehungen:<br />

„Da Gewerkschaften in der bisherigen<br />

EBR-Richtlinie nicht ausdrücklich<br />

erwähnt sind, dürfen Hauptamtliche<br />

nur als Sachverständige an den Sitzungen<br />

teilnehmen – es sei denn, ihre<br />

Teilnahme ist in der EBR-Vereinbarung<br />

festgeschrieben. Während inzwischen<br />

vielfach üblich ist, dass diese Vereinbarungen<br />

auch von den europäischen<br />

Gewerkschaftsföderationen mit unterzeichnet<br />

werden, lehnt beispielsweise<br />

das britische Hilton-Management einen<br />

Vertreter der Europäischen Föderation<br />

der Hotelgewerkschaften (EFATT) am<br />

Verhandlungstisch bislang strikt ab.“<br />

Es gibt allerdings auch betriebliche<br />

Vereinbarungen, die über die EU-Richtlinien<br />

hinausgehen. Altmeyer: „Einigen<br />

Europäischen Betriebsräten – insbesondere<br />

in der Automobilindustrie<br />

– ist es trotz der bestehenden Richtlinie<br />

gelungen, ihre Rolle über Unterrichtung<br />

und Anhörung hinaus zu erweitern. In<br />

einer Reihe von Unternehmen wurden<br />

Grundsätze sozialer Verantwortung<br />

in einer europaweiten Betriebsvereinbarung<br />

geregelt. So hat der Ford-EBR<br />

dem amerikanischen Management eine<br />

europaweite Vereinbarung über Besitzstandsschutz<br />

bei der Ausgliederung der<br />

Komponentenherstellung abgerungen<br />

(Ford-Visteon-Vereinbarung).“<br />

Erfahrungen in ihrem Organisationsbereich<br />

hat auch die IG Metall erhoben,<br />

wie Vorstandsmitglied Aline Hoffmann<br />

im September 2005 im Interview mit<br />

dem Trainings- und Beratungsnetz „eurobetriebsrat.de“<br />

berichtet: „Wir haben im<br />

März 2005 eine Umfrage bei den EBRs<br />

von deutschen Konzernen durchgeführt.<br />

Von den 70 EBRs, die in den letzten<br />

zwei Jahren von länderübergreifenden<br />

Umstrukturierungen betroffen waren,<br />

haben sich 62 auch grenzüberschreitend<br />

damit befasst – sei es durch bilaterale<br />

Kontakte oder wie in 37 Fällen im Rahmen<br />

von EBR-Sitzungen. Besonders erfreulich<br />

ist, dass in 30 dieser Fälle die EBRs die<br />

Chance nutzten, außerordentliche Sitzungen<br />

einzuberufen. Das ist ein gutes<br />

Signal: Die EBR nutzen ihre Rechte und<br />

das rechtzeitig. Sie kommunizieren miteinander<br />

und zwingen die Geschäftsleitung<br />

zur Einhaltung ihrer Informations- und<br />

Anhörungsverpflichtungen“.<br />

Aline Hofmann betreut auch den 1998<br />

gegründeten EBR beim Automobilzulieferer<br />

Bosch. Dessen Koordinator Alfred<br />

Löckle schätzt die Kommunikation mit<br />

Kolleginnen und Kollegen aus 12 anderen<br />

Ländern: „Dabei profitieren wir hier<br />

in Deutschland zum Beispiel von den<br />

Franzosen. Die Kollegen dort haben das<br />

Recht, die Wirtschaftszahlen zweimal<br />

jährlich von einem unabhängigen Institut<br />

prüfen zu lassen, diese Berichte schicken<br />

sie uns auch zu“, sagte er im Interview<br />

für die von IGM und DGB Bildungswerk<br />

2005 herausgegebene Broschüre „Soziale<br />

Verantwortung konkret“. Davon haben<br />

die Franzosen gleich bei der Gründung<br />

des Europa-Komitees profitiert: „Dort<br />

erzählten die Kollegen aus Frankreich,<br />

dass die Werksleitung sie mit einer Betriebsvereinbarung<br />

aus Bamberg unter<br />

Druck setze, wonach im deutschen Werk<br />

Samstag und Sonntag reguläre Arbeitstage<br />

seien. Es hieß dann, entweder ihr<br />

macht das auch, oder wir verlagern die<br />

Produktion. Dass die Betriebsvereinbarung<br />

in Bamberg nur für Kollegen aus der<br />

Wartung galt, konnten die französischen<br />

Kollegen nicht erkennen“.<br />

51


Werner Oesterheld (DGB Bildungswerk)<br />

Die Vision einer sozialen Welt im Focus<br />

Projekte, Vernetzung und<br />

Bildungsarbeit beim <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong><br />

im DGB Bildungswerk<br />

Eine weltweite Solidarordnung<br />

als Alternativprogramm für globale<br />

wirtschaftliche Ungerechtigkeit<br />

und soziale Spaltung – das<br />

ist die Vision des <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong>es<br />

im DGB Bildungswerk. Das erfordert<br />

nicht nur Organisierung von Gewerkschaften<br />

auf internationaler Ebene,<br />

sondern auch Kontakt und Zusammenarbeit<br />

mit anderen Akteuren der<br />

Zivilgesellschaft. Dazu gehören auch<br />

die, die am Rande stehen, weil sie in<br />

fest gefügte Strukturen nicht passen<br />

oder in die formale Arbeitswelt gar<br />

nicht mehr einbezogen sind.<br />

Das <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong> orientiert sich dabei an<br />

einer offensiven Bildungs- und Projektarbeit,<br />

die entsprechend den Fragestellungen<br />

gewerkschafts- und entwicklungspolitischer<br />

Arbeit den Diskurs fördern, Qualifikationen<br />

vermitteln und Struktur bildend wirken will.<br />

In Kooperation mit anderen Akteuren der<br />

Zivilgesellschaft werden Möglichkeiten der<br />

Einflussnahme, der sozialen Gestaltung<br />

analysiert und Aktionsschritte benannt.<br />

Dies zielt auf eine ausgewogene und nachhaltige<br />

globale Wirtschaftsentwicklung.<br />

Entwicklungspolitische Bildungsarbeit ist<br />

dabei ein wesentliches Instrument. Seit<br />

knapp 20 Jahren arbeitet das <strong>Nord</strong>-Süd-<br />

<strong>Netz</strong> als ein eigener Arbeitsbereich im DGB<br />

Bildungswerk. Die Problemlagen werden<br />

durch Arbeitstagungen, Seminare, Informationsmaterial<br />

und internationale Projekte<br />

auf der Grundlage einer entwicklungspolitischen<br />

Strategie bearbeitet. Es konnte<br />

erreicht werden, dass die Aktivitäten auch<br />

mit Mitteln des Bundesministeriums für<br />

52<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit – BMZ<br />

gefördert werden.<br />

Seit Beginn hat die Arbeit des NSN‘s an<br />

den entwicklungspolitischen Bildungs-,<br />

Informations- und Projektinitiativen von<br />

gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen<br />

und Kollegen angesetzt und die Arbeit der<br />

gewerkschaftlichen Gruppen unterstützt,<br />

die über ganz Deutschland verteilt arbeiten.<br />

Die Arbeit baut auf der grundsätzlichen<br />

Erkenntnis auf, dass eine nachhaltige<br />

entwicklungspolitische Bildungs- und Informationsarbeit<br />

für Arbeitnehmer/innen<br />

im Inland eine wichtige Grundlage in<br />

den Erfahrungen und Erkenntnissen der<br />

konkreten internationalen Entwicklungszusammenarbeit<br />

haben muss.<br />

Zu den Problemen, mit denen sich entwicklungspolitische<br />

Bildungsarbeit seither<br />

befasst, gehören die Internationalisierung<br />

der Produktion in <strong>Nord</strong> und Süd: Die Auswirkungen<br />

eines alle gesellschaftlichen,<br />

kulturellen und ökonomischen Bereiche<br />

erfassenden Prozesses der Globalisierung,<br />

die Rolle und Wirkung internationaler Arbeits-<br />

und Sozialstandards bei der sozialen<br />

Gestaltung des Globalisierungsprozesses,<br />

der Einfluss neuer Technologien, besonders<br />

der Informationstechnologien und<br />

die Entkoppelung von Wachstum und<br />

Beschäftigung, die weltweit zu immer mehr<br />

Verelendung führt.<br />

Die Arbeit vom <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong> basiert auf<br />

der Tatsache, dass Gewerkschaften auch<br />

in Ländern des Südens oft die wichtigsten<br />

gesellschaftlichen Organisationen sind,<br />

die für die Rechte der Arbeitnehmer/innen<br />

einstehen. Die Schaffung von sozialen Leitplanken<br />

im Globalisierungsprozess gehört<br />

mit zu den zentralen Voraussetzungen der<br />

Armutsbekämpfung und einer nachhaltigen<br />

Entwicklung.<br />

Seit Ende der achtziger Jahre fördert das<br />

<strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong> des DGB Bildungswerks<br />

mit Hilfe von Spendengeldern, Eigenmitteln<br />

und EU-Mitteln Kooperationsprojekte und<br />

Austauschprogramme mit Partnern in Entwicklungsländern.<br />

Bei der Arbeit standen<br />

dabei zunächst Brasilien und Südafrika im<br />

Vordergrund. In beiden Ländern <strong>besteht</strong><br />

eine starke und lange Präsenz deutscher<br />

Unternehmen.<br />

Diese Konzentration der Entwicklungszusammenarbeit<br />

auf Brasilien und Südafrika<br />

hat sich für das DGB Bildungswerk bewährt<br />

und wird seit 2001 auch mit den<br />

Mitteln aus der Sozialstrukturförderung<br />

des Bundesministeriums für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung BMZ<br />

fortgesetzt.


In Asien sind Vietnam und Indonesien die<br />

Zielländer von Projektunterstützungen. Dort<br />

wird besonders der Aufbau gewerkschaftlicher<br />

Strukturen gefördert. So fördert ein<br />

Projekt in Indonesien die direkte Rechtsberatung<br />

für Gewerkschafter. Es werden<br />

Schulungen zu Arbeitsrecht und Fragen von<br />

Arbeitsbedingungen (internationale Sozialstandards,<br />

Arbeiten im informellen Sektor,<br />

etc.), durchgeführt und der Aufbau eines<br />

Informationszentrums für Gewerkschafter<br />

gefördert. Das Projekt in Vietnam unterstützt<br />

die Einrichtung eines Bildungszentrums<br />

und fördert Qualifizierungsmaßnahmen für<br />

Multiplikatoren zu Arbeitsrecht, Rolle und<br />

Organisation von Gewerkschaften in der<br />

Marktwirtschaft, Tarifverhandlungen und<br />

Schlichtung von Arbeitskonflikten.<br />

Im südlichen Afrika werden Gewerkschafter<br />

bei der Aneignung und beim Umgang<br />

mit den neuen Informationstechnologien<br />

geschult; in den Townships wird die<br />

Information Jugendlicher durch Radiosendungen<br />

unterstützt. Auf den andauernden<br />

Ausschluss armer Bevölkerungsgruppen<br />

vom formalen Arbeitsmarkt antwortet<br />

das NSN mit der Unterstützung von Einkommen<br />

schaffenden Initiativen in armen<br />

Gegenden. Frauen sind dabei eine wichtige<br />

Zielgruppe, weil sie meist zuerst aus den<br />

Sicherungssystemen herausfallen.<br />

In Brasilien werden im Rahmen des<br />

Projektes „Observatório Social“ brasilianische<br />

Gewerkschafter/innen durch<br />

Materialien und Bildungsveranstaltungen<br />

mit dem Thema „Soziale Verantwortung<br />

von Unternehmen“ vertraut gemacht und<br />

befähigt, eine aktive und qualifizierte Rolle<br />

im sozialen Dialog zwischen Unternehmen,<br />

Arbeitnehmern und Regierung einnehmen<br />

zu können. Der Zugang und die Nutzung<br />

des Internets sollen dabei helfen, den<br />

Kenntnis- und Wissensstand von Arbeitnehmervertretern<br />

an den des Managements<br />

anzugleichen und die Kooperation und<br />

den Erfahrungsaustausch untereinander<br />

zu verbessern. Das Projekt „Jugend in<br />

Beruf und Gesellschaft“ beschäftigt sich<br />

mit gewerkschaftlicher Jugendarbeit und<br />

der Situation von Jugendlichen inner- und<br />

außerhalb des formellen Arbeitsmarktes. Im<br />

Projekt „Arbeitnehmerrechte und nachhaltige<br />

Entwicklung in Amazonien“ werden<br />

Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte und<br />

regionale Entwicklung im brasilianischen<br />

Amazonasgebiet gefördert.<br />

Mit Hilfe eines <strong>Netz</strong>werks von Fachkräften<br />

und betrieblichen Akteuren wird in Argentinien<br />

Beratung, Schulung und Expertise<br />

für selbstverwaltete Betriebe angeboten.<br />

Damit sollen Organisation, Produktivität und<br />

Vermarktung der Kooperativen verbessert<br />

werden. Gleichzeitig soll durch Gespräche<br />

und Veranstaltungen mit Wirtschaft und<br />

Wissenschaft, Politik und Regierung eine<br />

Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

dieser Betriebe erreicht werden.<br />

In weiteren Projekten in Chile, Kolumbien,<br />

Mexiko und Uruguay werden Gewerkschafter/innen<br />

ebenfalls qualifiziert, um ihre Rechte<br />

einfordern und internationale Arbeits- und<br />

Sozialstandards umsetzen zu können.<br />

Um die Förderung des sozialen Dialogs und<br />

die Umsetzung internationaler Arbeits- und<br />

Sozialstandards geht es auch in Südosteuropa,<br />

wo sich das <strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong> in der<br />

Zukunft noch stärker engagieren will. Zum<br />

Beispiel dort, wo die beiden Kontinente<br />

sich verbinden und engste Wirtschaftsbeziehungen<br />

mit Deutschland bestehen,<br />

in der Türkei, sollen zur Entwicklung des<br />

sozialen Dialogs und zur Umsetzung von<br />

Kernarbeitsnormen beitragen werden.<br />

Zentrale politische Anliegen der Projektunterstützung<br />

sind überall die Durchsetzung von<br />

internationalen Arbeits- und Sozialstandards<br />

der Internationalen Arbeitsorganisation und<br />

die Förderung des sozialen Dialogs zwischen<br />

Unternehmern, Gewerkschaften und Regierungen.<br />

Diese Themen führen auch die<br />

Projekte mit der Bildungsarbeit im <strong>Nord</strong>en<br />

wieder zusammen. Wenn sich das <strong>Nord</strong>-<br />

Süd-<strong>Netz</strong> an der „Kampagne für saubere<br />

Kleidung“ beteiligt oder zum „fairen play“<br />

bei den Olympischen Spielen auch für die<br />

aufruft, die die Sportbekleidung herstellen,<br />

geht es um gerechte Arbeitsbedingungen<br />

auf der ganzen Welt. Globale Abkommen<br />

können nur dann wirksam werden, wenn<br />

sie durch entsprechendes Engagement auf<br />

nationaler Ebene unterstützt werden.<br />

53


Weltweite Solidaritätsarbeit –<br />

Der Solifonds der Hans-Böckler-Stiftung<br />

Seit 1973 unterstützt der Solidaritätsfonds<br />

der Hans-Böckler-Stiftung<br />

(damals Stiftung<br />

Mitbestimmung) nationale und<br />

internationale Solidaritätsarbeit.<br />

Gefördert werden Projekte mit einem<br />

emanzipatorischen Ansatz.<br />

Entstehung: Als 1973 das Militär gegen<br />

die demokratisch gewählte Regierung Salvador<br />

Allendes in Chile putschte, begannen<br />

die Stipendiatinnen und Stipendiaten der<br />

Hans-Böckler-Stiftung die Solidaritätsarbeit<br />

für Chile zu unterstützen. Dafür wurde ein<br />

Solidaritätsfonds eingerichtet. Mit dem<br />

Ende der Militärdiktatur in Chile 1992<br />

veränderte der Solidaritätsfonds seine Ausrichtung.<br />

Seitdem wird mit den Mitteln des<br />

Fonds nationale und internationale Solidaritätsarbeit<br />

gefördert, die emanzipatorische<br />

Ansätze mit den Schwerpunkten Bildung,<br />

Unterstützung demokratischer Strukturen<br />

und gewerkschaftlicher Aktivitäten hat.<br />

Finanzierung: Die Finanzierung des Fonds<br />

erfolgt aus Spenden der Stipendiat/innen<br />

und Vertrauensdozent/innen. Stipendiat/innen<br />

spenden etwa 1 % ihres Stipendiums,<br />

Vertrauensdozent/innen Teile oder ihre gesamte<br />

Aufwandsentschädigung. Der Betrag<br />

aller eingegangenen Spenden der Stipendiat/innen<br />

wird durch die Hans-Böckler-Stiftung<br />

verdoppelt. Das gesamte Budget des<br />

Fonds wird zu gleichen Teilen für inländische<br />

und ausländische Solidaritätsvorhaben verwendet,<br />

sprich: alle Spenden einschließlich<br />

der Verdoppelung des Spendenbetrages<br />

durch die Hans-Böckler-Stiftung kommen<br />

zu 100% der Projektförderung zugute.<br />

Förderkriterien: Grundsätzlich sind alle<br />

Projekte, die einen emanzipatorischen<br />

Ansatz aufweisen, förderungswürdig. Bei<br />

Auslandsprojekten werden vorrangig die<br />

Bereiche Bildung, Gesundheit, Förderung<br />

demokratischer Strukturen und Gewerkschaftsarbeit<br />

unterstützt. In Deutschland<br />

werden vornehmlich Projekte aus den Bereichen<br />

Antirassismus und Antifaschismus<br />

sowie Projekte zum Thema Antisemitismus<br />

und Auseinandersetzungen mit aktuellem<br />

gesellschaftspolitischem Bezug gefördert.<br />

Erwartet wird, dass ökologisch relevante<br />

Aspekte des Projekts beachtet werden.<br />

Es wird ein gemäß der Projektplanung<br />

angemessener Zeitpunkt festgelegt, zu<br />

dem Rechenschaft über die Verwendung<br />

der Mittel und ein abschließender<br />

Bericht über den Verlauf des Vorhabens<br />

vorzulegen sind. Erfolgt dies nicht, ist<br />

der Zuschuss zurückzuzahlen. Um <strong>unsere</strong><br />

Rechenschaftspflichten zu erfüllen, wird<br />

auf eine ausführliche Dokumentation der<br />

Projekte wert gelegt. Der Solidaritätsfonds<br />

leistet mit seinem kleinen Budget hauptsächlich<br />

Anschub- und Teilfinanzierungen.<br />

Insofern ist die Vergabekommission daran<br />

interessiert, wie sich das unterstützte<br />

Projekt nach Erhalt der Förderung weiterentwickeln<br />

soll.<br />

Grundsätzlich nicht gefördert werden<br />

(Studien)-Reisen und Stipendien. Personalkosten<br />

werden ebenfalls nicht<br />

bezuschusst. Es erfolgt keine Dauerfinanzierung<br />

einzelner Projekte. Seit<br />

1992 wurden von dem Solifonds rund<br />

600 Projekte im Inland und etwa 300<br />

im Ausland unterstützt.<br />

Antragsverfahren: Jede Stipendiatin,<br />

jeder Stipendiat und jede Stipendiatlnnengruppe,<br />

aber auch andere Personen oder<br />

Organisationen können einen Projektantrag<br />

stellen. Anträge können laufend an<br />

den Solidaritätsfonds gestellt werden. Die<br />

Sitzungen der Vergabekommission finden<br />

dreimal jährlich (i.d.R. Januar, Mai und<br />

Oktober) statt.<br />

Projektbeispiele: APABIZ – Antifaschistisches<br />

Presse-Archiv und Bildungszentrum<br />

Berlin: Seit etwa zehn<br />

Jahren existiert das auf private Initiative hin<br />

gegründete antifaschistische Pressearchiv.<br />

Es sammelt Materialien zur Aktivität der<br />

extremen Rechten in Deutschland, archiviert<br />

sie und macht sie der Öffentlichkeit<br />

zugänglich. Es wird eifrig für die Erstellung<br />

wissenschaftlicher Arbeiten, für die Ausarbeitung<br />

von Unterrichtsmaterialien,<br />

Seminaren an Universitäten, Gedenkstättenarbeit<br />

oder auch politische Bildungsarbeit<br />

von Parteien und Gewerkschaften<br />

genutzt. Für die neuen Räumlichkeiten<br />

des APABIZ stellte der Solidaritätsfonds<br />

2.500 1 zur Verfügung.<br />

Givat Haviva – jüdisch-arabische<br />

Jugendarbeit: Givat Haviva ist eine der<br />

ältesten Institutionen in Israel, die sich<br />

für die jüdisch-arabische Verständigung<br />

einsetzen. In einem ehemaligen Kibbuz<br />

bietet die Organisation eine Vielzahl von<br />

Begegnungs- und Bildungsprogrammen<br />

für Schulklassen an. In sogenannten<br />

Face-to-Face-Projekten bringt Givat Haviva<br />

außerdem jüdische und arabische<br />

Jugendliche zusammen und moderiert<br />

Diskussionen, die auch zum Abbau von<br />

Aggressionen beitragen. Givat Haviva<br />

arbeitet im wesentlichen ohne staatliche<br />

Unterstützung mit Hilfe privater Unterstützerkreise<br />

im In- und Ausland. Der Solifonds<br />

unterstützte das Seminarprogramm von<br />

Givat Haviva mit ca. 5.000 1.<br />

54


Fotografen<br />

Marian Bremer, DGB<br />

Angela Hidding<br />

Cordula Kropke<br />

Christoph Heise<br />

Gerd Schumann<br />

Diese Broschüre ist fi nanziert aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

55


Impressum<br />

DGB Bildungswerk e.V.<br />

<strong>Nord</strong>-Süd-<strong>Netz</strong><br />

Hans-Böckler-Straße 39<br />

40476 Düsseldorf<br />

Tel.: 0211/4301-258<br />

Fax: 0211/4301-500<br />

e-mail: nord-sued-netz@dgb-bildungswerk.de<br />

Redaktion: Manfred Brinkmann, Werner Oesterheld<br />

Sigrid Thomsen, Hamburg<br />

Textkorrektur: Silvia Menner<br />

Layout: TRD-Design, Rubbert, Düsseldorf<br />

Druck: WAZ, Duisburg<br />

ISSN: 1615-3464<br />

56 www.nord-sued-netz.de<br />

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