23.07.2014 Aufrufe

Learning from Digital Photography. Heutige Perspektiven auf Helen ...

Learning from Digital Photography. Heutige Perspektiven auf Helen ...

Learning from Digital Photography. Heutige Perspektiven auf Helen ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Simon Bieling<br />

<strong>Learning</strong> <strong>from</strong> <strong>Digital</strong> <strong>Photography</strong>. <strong>Heutige</strong> <strong>Perspektiven</strong> <strong>auf</strong> <strong>Helen</strong> Levitt und ihre Zeitgenossen<br />

<strong>Helen</strong> Levitts Fotografien sind nicht nur in internationalen Fotografiesammlungen zu finden, einige haben<br />

mittlerweile auch bei flickr ihren Platz, wie die Eingabe ihres Namens dort jedem schnell beweist. Dies<br />

kann man als wichtiges Indiz dafür werten, dass die Verknüpfung der digitalen Kameratechnik mit dem<br />

Verbreitungsmedium Internet in den letzten Jahren an einen Punkt gelangt ist, an dem sie nicht mehr nur<br />

als eine einfache technische Neuerung gelten kann. Sie stellt uns vor theoretische Herausforderungen, weil<br />

die neuartigen Bildpraxen auch als Gelegenheit gedeutet werden können, <strong>auf</strong> Dauer auch die Art und<br />

Weise, wie wir üblicherweise historische Fotografien bewerten, zu verändern.<br />

Ich stütze mich im Titel <strong>auf</strong> das 1971 erschienene klassische Buch der Architekten Venturi, Scott Brown<br />

und Yzenour <strong>Learning</strong> <strong>from</strong> Las Vegas. Es soll hier als Modell dafür dienen, sich der zeitgenössischen<br />

visuellen Kultur gegenüber unvoreingenommen zu verhalten und sie sich verständlich zu machen, um auch<br />

historische Bildphänomene unter anderen Voraussetzungen zu analysieren.<br />

Ich möchte mich angesichts der digitalen Fotografie heute <strong>auf</strong> zwei Fragen konzentrieren, von denen aus<br />

ich Fotografien von <strong>Helen</strong> Levitt, Henri Cartier-Bresson und Walker Evans näher betrachten möchte:<br />

erstens, welche Folgen es hat, dass die einzelne Fotografie im Rahmen der digitalen Fotografie derzeit<br />

einen erheblichen Bedeutungsverlust erfährt, und der Schwerpunkt der Umgangsweise mit Fotografie sich<br />

stärker zur Serialität und Vielzähligkeit der Bilder verlagert. Zweitens, was es heißt, wenn die im Internet<br />

<strong>auf</strong>kommenden Bildpraxen die Interaktion zwischen Fotografen beim Herstellen von Fotografien in den<br />

Mittelpunkt stellen.<br />

Die Veränderungen der digitalen Aufnahmetechnologie in der Technikgeschichte der Fotografie beruhen<br />

bekanntlich <strong>auf</strong> einer doppelten Zerlegung: Durch den Einsatz von Bildsensoren statt<br />

Silberhalogenidfilmen wird einerseits das fotografische Bild in diskrete Bildpunkte zerlegt, andererseits die<br />

Belichtung in diskrete Werte für jeden Bildpunkt für drei Farben übersetzt, die dann in einer Bilddatei<br />

abgespeichert werden können. Wenn man analysiert, welche Folgen dies für den Umgang mit Fotografie<br />

hat, so kann man zunächst feststellen, dass die digitale Fotografie feinere, genauere und variantenreichere<br />

Einflussmöglichkeiten in das Bild bietet. Denn offensichtlich ist nun jede Form der Nachbearbeitung in


Rechenoperationen übersetzbar, die die Lichtwerte der einzelnen Bildpunkte in einem pixelgenau<br />

bestimmbaren Bereich entsprechend verändern. Die Literatur über digitale Fotografie konzentrierte sich<br />

denn auch zu Beginn der neunziger Jahre vor allem <strong>auf</strong> die zwei naheliegendsten Thesen: Sie sei einerseits<br />

eine fundamentale technologische Revolution, ein disruptives Ereignis in der technischen Geschichte der<br />

Fotografie. Andererseits sei die bildtheoretische Frage der Referentialität des fotografischen Bildes durch<br />

die <strong>Digital</strong>isierung der Fotografie völlig neu gestellt. (1)<br />

Mittlerweile sind diese Thesen nüchterneren Betrachtungsweisen gewichen. (2) Nicht nur haben sich viele<br />

Befürchtungen nicht bewahrheitet. Auch sind einige entscheidende einseitige Festlegungen dieser Thesen<br />

deutlich geworden: So kann ein reiner technikgeschichtlicher Bruch schon deshalb nicht festgestellt<br />

werden, weil das foto-optische Prinzip der Camera obscura und des Linsensystems, <strong>auf</strong> deren Grundlage<br />

fotografische Bilder erzeugt werden, auch in der digitalen Fotografie fortbesteht und weiterhin erfolgreich<br />

eingesetzt wird. Besonders aber gibt es keinen Grund klassischen fotografischen Gestaltungsmitteln wie<br />

Zeit, Blende und Standpunkt, einen höheren Authentizitätsgrad zuzuschreiben. Diese sind, wie Geoffrey<br />

Batchen richtig feststellt, nicht weniger Techniken der bewussten Bildgestaltung wie die neuen Techniken<br />

der digitalen Fotografie auch. (3)<br />

Für mich ist deshalb die entscheidende Frage in Bezug <strong>auf</strong> die digitale Fotografie, welche Veränderungen<br />

bei der konkreten Herstellung von digitalen Fotografien und ihrer Verbreitung festzustellen sind. Diese<br />

lassen sich meines Erachtens zunächst darin sehen, dass von der Aufnahme bei den Kamerafunktionen bis<br />

zur Postproduktion ein größeres Spektrum für die Bildgestaltung verfügbar sind. Die Zahl möglicher<br />

Aufnahmen von einem einzigen Gegenstand ist wesentlich gestiegen.<br />

Es gibt jedoch noch eine andere wichtige Veränderung, die oft, vielleicht weil sie selbstverständlich<br />

scheint, übersehen wird. Als gespeicherter Datensatz kann jetzt jedes Foto sofort ohne Verzögerung<br />

einsehbar und Gegenstand der Beurteilung werden. Die digitale Fotografie ist damit technikgeschichtlich<br />

ein Nachfahre des Polaroid. Die digitale Fotografie erlaubt so eine weitaus höhere, weil stets zeitlich<br />

unmittelbar erfolgende Kontrolle über die Bildresultate sowohl bei der Aufnahme als auch bei der<br />

Nachbearbeitung der Bilder.<br />

Ein dritter Punkt ist schon indirekt in der Einführung angeklungen, als von einer Entwertung des einzelnen<br />

Bildes die Rede war. Der Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Rollfilm hat den entscheidenden Vorteil<br />

gebracht, mehrere Aufnahmen in Folge herzustellen. Mit der digitalen Fotografie wird die Anzahl der


Aufnahmen unbegrenzt. Dies ist eine Erklärung, warum sie zu einer ähnlichen Experimentierfreude bei<br />

Amateuren geführt hat, wie dies in der Amateurfotografie nach 1890 geschehen ist. (4)<br />

Zusammenfassend ließe sich sagen, dass die digitale Fotografie Bildpraxen ermöglicht, in denen die<br />

Fotografin, der Fotograf mehr Entscheidungen treffen kann oder sogar muss, die aber auch den Status der<br />

einzelnen Fotografie verändern: Aufgrund der Unbegrenztheit der Bildversuche und deren sofortiger<br />

Überprüfbarkeit wird sie nun stärker im Vergleich mit vor oder nach ihr angefertigten Varianten betrachtet.<br />

<strong>Digital</strong>e Fotografien sind deshalb in viel stärkerem Maße Resultate und Teile von Entwicklungsprozessen,<br />

einer Folge von varianten Positiven, deren Verl<strong>auf</strong> und Richtung, und auch deren Ende durch die<br />

korrektiven bzw. selektiven Entscheidungen von Fotografinnen und Fotografen bestimmt werden.<br />

Unter diesem Gesichtspunkt bietet sich ein erster Zugriff <strong>auf</strong> <strong>Helen</strong> Levitt und Henri Cartier-Bresson an: Es<br />

ist eine beliebte Deutung, ihre Fotografien seien vor allem einem besonderen Instinkt, einer höheren<br />

Sensibilität geschuldet, die <strong>auf</strong> einem intuitivem Wissen fuße, das nur diesen Fotografen selbst zugänglich<br />

und keinesfalls erlernbar sei. So schreibt beispielsweise Maria Morris Hambourg über Levitts Fähigkeiten:<br />

»Much of the skill lies in recognizing the underlying sense of a movement or gesture instantaneously. This<br />

recognition is wrongly termed a skill, however, for it cannot be learned. « (5) Ganz im Sinne des Credos<br />

James Agees »Looking without thinking.« (6) werden die Fotografien Levitts und Cartier-Bressons als<br />

Einzelfotografien verstanden, die zu einem Zeitpunkt <strong>auf</strong>grund einer spontanen, instinktsicheren<br />

Entscheidung entstehen. Sie werden damit als eine fotografische ‚écriture automatique‘ ausgelegt. Diese<br />

Deutungen wurde einerseits bei Cartier-Bresson durch seine Versicherungen unterstützt, er sei stets ein<br />

Amateur geblieben und hätte nie eine Karriere angestrebt (7), andererseits hatte bei Levitt die lebenslang<br />

praktizierte Zurückhaltung gegenüber kunstgeschichtlicher Einordnung ihrer Werke ähnliche Wirkung. Der<br />

Eindruck, dass nicht erlernbare und bestimmbare, also professionelle Vorgehensweisen bei beiden zu ihren<br />

Bildern geführt hätten, sondern der untrügbare Instinkt eines rein intuitiv handelnden Amateurs, wurde so<br />

bei beiden verstärkt.<br />

Die Entwicklungen der digitalen Fotografie sensibilisieren für eine diesen Auffassungen widersprechende<br />

Betrachtungsweise. Sie legen den Schwerpunkt dar<strong>auf</strong>, die Bilder der Fotografen Levitt und Cartier-<br />

Bresson als Ergebnis einer Verfahrensweise zu deuten, die einerseits <strong>auf</strong> den Möglichkeiten des präzisen<br />

Suchers der Leica fußt, dem Vorläufer des digitalen Kameradisplays, und des 35 mm Rollfilm, dessen<br />

Vorteil beinah unbegrenzter Aufnahmen die digitale Fotografie noch gesteigert hat. Für diese Sicht ist ein


2006 erschienener Aufsatz aus Anlass der Publikation und Ausstellung von Henri Cartier-Bressons<br />

Scrapbook von 1946 <strong>auf</strong>schlussreich. Frizot unternimmt es darin, »der Lehre vom ausschließlich<br />

poetischen und essentiellen Charakter einzelner Moment<strong>auf</strong>nahmen, wie sie bislang in den grundlegenden<br />

Texten über Henri Cartier-Bresson propagiert wird, pragmatische Alternativen entgegenzustellen.« (8) Er<br />

stellt die Thesen Peter Galassis über die Vorgehensweisen Cartier-Bressons in dem 1987 über Cartier-<br />

Bresson publizierten Aufsatz <strong>auf</strong> eine breiter dokumentierte historische Grundlage. (9) Das Verfahren, das<br />

Frizot und Galassi beschreiben, ist so einfach wie effizient und naheliegend: Cartier-Bresson setzt zunächst<br />

den Hintergrund, etwa eine Hauswand, fest und belichtet dar<strong>auf</strong>hin mehrere Negative in Reaktion <strong>auf</strong> die<br />

Ereignisse vor seiner Kamera, jedoch ohne seinen Standpunkt und damit den Bildausschnitt, zu verändern.<br />

Letztendlich werden dann einige Negative zur Vergrößerung ausgewählt. (10)<br />

Zwei Beispiele kann ich Ihnen hier zeigen: einmal die Fotografie bzw. Fotografien, die Cartier-Bresson<br />

1946 ausgestellt hat. Dar<strong>auf</strong> folgend die varianten Fotografien, die Cartier-Bresson zeitgleich hergestellt<br />

hat. Ganz ähnliche Vorgehensweisen, die ein Bild in mehreren Schritten erarbeiten, sind meines Erachtens<br />

auch bei <strong>Helen</strong> Levitt nachweisbar. Es wäre auch für Levitts Werk von hohem Erkenntniswert, ähnlich<br />

ausführlich anhand ihrer Kontaktbögen zu studieren, wie ihre Aufnahmen zustande gekommen sind. Einen<br />

genauen Vergleich der hier in Hannover gezeigten Fotografien halte ich jedoch schon für ausreichend, um<br />

die These zu stützen, dass sie ein ähnliches Verfahren genutzt hat. Sie wählt meist Hausfassaden als<br />

Bildhintergrund, um der Aufnahme eine lineare Komposition zugrunde legen zu können.<br />

Auch diese Beispiele legen die Vermutung nahe, dass der Erfolg dieser Fotografien vor allem dar<strong>auf</strong><br />

beruht, eben nicht alles <strong>auf</strong> einen ‚decisive moment‘ ankommen zu lassen, sondern das Herstellen der<br />

Fotografien in einzelne Entscheidungsschritte zu zerlegen und sich <strong>auf</strong> die beschriebene erlernbare Technik<br />

zu stützen. Sie hat den Vorteil, das Bild kompositorisch stark strukturieren zu können, ohne dar<strong>auf</strong><br />

verzichten zu müssen, nicht voraussagbare Ereignisse in die entstehende Aufnahme integrieren zu können.<br />

Wer <strong>auf</strong> diese Weise arbeitet, wird sich ein differenziertes Wissen darüber erwerben können, welche<br />

ästhetischen Potentiale die fotografische Abbildung eines bestimmten Gegenstandes besitzt. Ein solches<br />

Wissen ist ein gewichtiger Unterschied, der verschiedene Fotografen in ihrem Können voneinander trennt.<br />

Es hilft dabei zu entscheiden, ob es Sinn macht, einen einmal fotografierten Gegenstand oder sogar eine<br />

ganze Gruppe bestimmter Bildgegenstände immer wieder einzubeziehen, oder nicht. Obwohl es sich also<br />

bei Fotografien strenggenommen immer um Moment<strong>auf</strong>nahmen handelt, die von unberechenbaren


Ereignissen vor der Kamera abhängen, verschränken sich in ihnen genauso frühere Bilder miteinander, sie<br />

sind Ergebnisse von bewusst gesteuerten, selektiv korrigierenden Wiederholungen.<br />

Das beschriebene Verfahren ist in der digitalen Fotografie eine allgemeine Praxis: sie lässt die einzelnen<br />

Fotografien in ein Verhältnis von Ähnlichkeit treten, deren Grad sowohl durch die korrektive Entscheidung<br />

des Fotografen bestimmt ist, als auch durch Zufälle, die eine beabsichtigte Bildgestaltung durchkreuzen.<br />

Die Abbildlichkeit, die das fotografische Medium bietet, wird in der digitalen Fotografie stets Gegenstand<br />

bewusster Steuerung wie bei Levitt und Cartier-Bresson.<br />

Die dynamischen Praktiken, die durch die neue Aufnahmetechnologie sich so herausgebildet haben und<br />

weniger am einzelnen Bild als an längeren Bildentwicklungen orientiert sind, haben sich seit einigen Jahren<br />

mit einem ständig aktualisierbaren Reproduktions- bzw. Verbreitungsmedium verknüpft: dem Internet.<br />

Webseiten wie die seit 2004 existierende flickr haben neue Umgangsweisen mit der Fotografie<br />

hervorgebracht.<br />

Wenn die entscheidenden Punkte dieser Entwicklungen nun herausgearbeitet werden, werde ich mich vor<br />

allem <strong>auf</strong> flickr konzentrieren, jedoch nicht nur, weil flickr einen ernormen Erfolg hat. Auch in seinen<br />

Funktionen ist flickr von großem Interesse. Ich stütze mich hier <strong>auf</strong> Internettheoretiker wie Clay Shirky und<br />

Tim O’Reilly, aber werde versuchen ihre Beobachtungen <strong>auf</strong> Fotografie zu übertragen. Es handelt sich im<br />

Wesentlichen um drei Punkte. (11)<br />

Die Verbreitung digitaler Fotografien geschieht <strong>auf</strong>grund der Internettechnologie wesentlich schneller und<br />

einfacher. flickr kann deshalb als ein sich ständig entwickelndes Bildarchiv begreifen, das sich durch neue<br />

Beiträge der Benutzer zu jedem Zeitpunkt in Veränderung befindet. Zu jedem Zeitpunkt werden dem<br />

Bildarchiv Fotografien hinzugefügt oder entfernt.<br />

Zweitens: flickr liefert zusätzlich den Benutzern die Möglichkeit, die Fotografien in<br />

Bedeutungszusammenhänge einzubinden, indem sie ihnen Schlüsselworte, sogenannte Tags unter alleiniger<br />

Beachtung ihrer Bewertungen und Interessen zuordnen, von denen sie glauben, dass sie ihre Fotos<br />

hinreichend beschreiben.<br />

Weil es ebenso möglich ist, Fotografien anderer Fotografen mit Tags zu versehen, werden die Fotografien<br />

so in vielzählige Bedeutungszusammenhänge eingeflochten, die dazu noch nicht nur von einzelnen<br />

Benutzern, sondern von vielen Benutzern zusammen geprägt werden. Die Tags bilden damit eine<br />

Organisationsstruktur, die den ständig sich verändernden Verkehr von Bildern <strong>auf</strong> flickr effizient regelt und


handhabbar macht. Sie ermöglicht, dass die einzelnen Benutzer immer nur die Teile des Archivs einsehen,<br />

die ihren Suchbegriffen und Interessen entsprechen. (12)<br />

Durch das Verknüpfen der erstgenannten Prinzipien sowie durch verschiedene Diskussions- und<br />

Kommentarfunktionen <strong>auf</strong> flickr wird noch eine dritte Ebene ermöglicht: die Kollaboration zwischen<br />

Benutzern. Gruppen, die zu den verschiedensten Themen existieren, werden von einem oder mehreren<br />

Fotografen moderiert und beruhen <strong>auf</strong> öffentlich publizierten Regeln, nach denen die Fotos der Gruppe<br />

anzufertigen sind. Eingestellte Fotografien werden dort von den Nutzern imitiert und zur Grundlage eigener<br />

Bildgestaltungen.<br />

So lässt sich der Schluss ziehen, dass die digitale Fotografie, wie sie im Internet praktiziert wird, als ein<br />

sich stetig wandelnden Zusammenhang von Bildern zu bestimmen, dessen Bedeutungskontexte und<br />

Ästhetik durch das Zusammenwirken von Benutzergruppen geprägt werden. Dabei ist ein wesentlicher<br />

Punkt, dass die größere und einfachere Verfügbarkeit von Fotografien dadurch unterstützt wird, dass man<br />

über Tags genau die Fotografien finden kann, die für die jeweiligen Nutzer von Interesse sind. Das<br />

Nachahmen von Fotografien anderer Fotografen, die man für erfolgreich hält, nehmen deshalb einen hohen<br />

Stellenwert ein.<br />

Sucht man im Umkreis Levitts nach einer Bildpraxis, die diesen Phänomenen ähnelt, könnte man Walker<br />

Evans nennen. An seinem Lebensende hinterlässt Evans neben einer etwa neuntausend Fotografien<br />

umfassenden Sammlung von Postkarten, deren Bildgestaltung vielen seiner eigenen Fotografien<br />

außerordentlich nahe, wenn nicht mit ihnen identisch ist, unter anderem mehrere scrapbooks mit<br />

ausgeschnittenen Fotografien aus Illustrierten. Mit Ben Shahn besucht er häufig die Picture Collection der<br />

New York Public Library <strong>auf</strong> der Suche nach „vernacular photographs«, nichtkünstlerischen Fotografien.<br />

(13) Sein Interesse an solchen Fotografien, das er auch mit James Agee teilte, überstieg wohl noch das<br />

Rodchenkos und Moholy-Nagys, aber auch wohl das Le Corbusiers, Ozenfants und Malevichs, die in den<br />

20iger Jahren Publikationen veröffentlichten, die ähnliche Bilder zu ihren eigenen Zwecken gebrauchten.<br />

(14)<br />

Es ist kein Zufall, dass Evans seine Sammlung von Postkarten – er konzentrierte sich vor allem <strong>auf</strong> die<br />

Jahre 1900–1915 – mehrere Male während seiner Zeit bei Fortune zum Gegenstand von Artikeln gemacht<br />

hat: die erste picture story überhaupt, 1948 unter seiner Direktion und das Ergebnis einjähriger Recherche,<br />

macht die Postkarten bereits zum Thema, eine weitere wird 1962 veröffentlicht (15). Auch zwei Vorträge –


ein erster an der Yale University 1965, möglicherweise eine wichtige Grundlage für das spätere Angebot<br />

dort zu lehren, ein zweiter acht Jahre später am Museum of Modern Art 1973, thematisieren ausführlich<br />

seine Postkarten. Belinda Rathbone berichtet von privaten Diashows, die Evans <strong>auf</strong> Wunsch seiner Freunde<br />

gelegentlich zum Besten gab. (16)<br />

Nach dem genannten Vortrag am Museum of Modern Art 1973 bekräftigt er <strong>auf</strong> Nachfrage aus dem<br />

Publikum, wie weitgehend seine eigenen Werke mit diesen Postkarten in Beziehung stünden. (17) Er sah in<br />

ihnen zu imitierende Vorbilder. Ein früheres Projekt mit dem Museum of Modern Art, Fotografien von<br />

Evans als Postkarten herauszugeben, war gescheitert. (18)<br />

Jeff Rosenheim hat eine Postkarte reproduziert, die fast identisch ist mit einer Fotografie von Evans selbst.<br />

Darin kann man ein Indiz dafür erkennen, wie nahe auch Evans’ eigene Fotografien diesen Postkarten sind,<br />

wie stark sie für ihn nicht nur Sammlungsobjekte, sondern vor allem Gegenstand der Imitation gewesen<br />

sind. (19)<br />

Auch die Klassifizierungen, unter denen er die Postkarten geordnet hat, folgen weitestgehend den<br />

Schwerpunkten seiner eigenen Fotografien: Denkmäler, Brücken, Fabriken, Kirchen und Städte wie New<br />

Orleans oder Saratoga Springs, die er selbst besucht und in denen er fotografiert hat. (20) Diese Kategorien<br />

ähneln in ihrer Funktion nicht nur den Listen, die Evans während seines ganzen Lebens verfasst hat als<br />

Vorbereitung für seine fotografischen Arbeiten. Sie sind möglicherweise auch das, was für Benutzer von<br />

flickr heute Tags sind: sie sind genau und minutiös, bilden ein System, das nützlich ist, sich sowohl unter<br />

den fremden Fotografien, die man sich zum Vorbild nimmt, zu orientieren, als auch beim Herstellen der<br />

eigenen Fotografien thematisch zu höherer Konzentration zu gelangen.<br />

Diese Art von selektiver Imitation fremder Fotografien, wurde durch Walker Evans mit Geschick<br />

praktiziert – und dies gilt vor allem für die Postkarten aus seiner Sammlung. Verglichen mit der Fotografie,<br />

die sich heute <strong>auf</strong> flickr – entwickelt, kann man so auch fotogeschichtlich zu einem Verständnis der<br />

Fotografie gelangen, die den Schwerpunkt <strong>auf</strong> das Zusammenspiel vieler Fotografen setzt, die sich<br />

gegenseitig imitieren und verbessern, und viel weniger die Stellung einzelner Künstler berücksichtigt. In<br />

diesem Sinne erschiene Evans eher als Teilhabender an einer größeren visuellen Kultur, in der Atget,<br />

Brady, er selbst und die Fotografen der Postkarten unter vielen anderen Fotografen, deren Namen keiner<br />

kennt, einen jeweils minimalen, dennoch wichtigen Platz einnahmen, weil sie diese Kultur gestalteten.<br />

Evans sticht in seiner Praxis des Sammelns und Fotografierens sich als ein Imitant besonders hoher


visueller Intelligenz hervor und einer besonders ausgeprägten Kontrolle der Bildgestaltung, die <strong>auf</strong> der<br />

Fähigkeit beruht, in den Bildersammlungen der Fotografie besonders gut zu navigieren. Dies könnte das<br />

Ergebnis einer näheren, noch ausstehenden vergleichenden Untersuchung der Geschichte der Postkarten,<br />

denen Evans so viel Interesse entgegengebracht hat, mit seinen eigenen Fotografien erbringen. (21)<br />

Ob Walker Evans flickr genutzt hätte, bleibt nur spekulativ beantwortbar. Er hätte es aber wohl zu schätzen<br />

gewusst, sich nicht mehr mit der zwar großen, aber weniger einfach zu durchsuchenden Masse von Bildern<br />

in der Picture Collection der New York Public Library, einer mühsam zusammengetragenen<br />

Postkartensammlung und den eigenen Cutouts von Fotografien aus Illustrierten begnügen zu müssen.<br />

Gleiches gilt wohl für die künftig zur Verfügung stehende Technologie, die ermöglicht, nicht mehr nur<br />

nach mit Bildern verlinkten Begriffen, sondern Bildmustern selbst suchen zu können.<br />

Es wird meines Erachtens aber <strong>auf</strong>schlussreich sein, in Zukunft Fotografien auch der Vergangenheit noch<br />

viel stärker als Prozesse, also als Bildentwicklungen zu betrachten, in denen das einzelne Bild lediglich<br />

einen temporären Status besitzt.<br />

Ein zweiter Punkt ist mir jedoch noch wichtiger: Das beschriebene Bildmedium, das zukünftig Fotografie<br />

und Film miteinander vereint, wird vor allem dadurch geprägt sein, dass fotografische Bilder zukünftig in<br />

einem sehr viel höheren Maße das Produkt von Austauschprozessen zwischen einer großen Zahl von<br />

Bildagenten sein werden. Ein wesentlicher Schritt ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung der<br />

Library of Congress in einem Pilotprojekt im Januar diesen Jahres dreitausend Fotografien ihrer Bestände<br />

<strong>auf</strong> flickr einzustellen, und sie damit zu einem Teil des Bilderarchivs von flickr zu machen.<br />

Wenn sich eine solche Entwicklung fortsetzen wird, werden in Zukunft auch die Bilder, die als Teil der<br />

Fotografiegeschichte betrachtet werden etwa von Levitt, Evans und Cartier-Bresson – sich in den ständig<br />

wandelnden Bildarchiven behaupten müssen als zu imitierende Vorbilder. Damit wird die digitale<br />

Fotografie zur Gelegenheit, der Art und Weise, wie die Geschichte der Fotografie gedeutet und verstanden<br />

wird, einige ergänzende Alternativen beiseite zu stellen. Diese würden sich weniger <strong>auf</strong> einzelne<br />

Fotografen und Fotografien konzentrieren, sondern Nachahmungsprozesse zwischen Fotografen in den<br />

Mittelpunkt stellen.


Endnoten:<br />

(1) Siehe William J. T. Mitchell, The Reconfigured Eye: visual truth in the post-photographic era,<br />

Cambridge 1992; Amelunxen, Hubertus von, Fotografie nach der Fotografie, Dresden, Basel 1996 sowie<br />

Fred Rifkin, In Our Own Image. The Coming Revolution in <strong>Photography</strong>, New York 2006. Auf ähnlichen<br />

Argumenten <strong>auf</strong>bauend warnt Martha Rosler noch darüber hinaus vor der politischen Verführungskraft<br />

digital manipulierter Fotografien: Martha Rosler. »Image simulations, computer manipulations: some<br />

considerations.«, in: Afterimage, 17, 4, 1989, S. 7-11.<br />

(2) Zur Kontinuität des fotooptischen Prinzips siehe Wolf, Herta. »Objekt objektiv: Zu den technologischen<br />

Implikationen von Fotografie«, in: Kristina Hasenpflug, <strong>Digital</strong>e Bildverarbeitung, eine Erweiterung oder<br />

radikale Veränderung der Fotografie?: Dokumentation des Symposiums am 12./13. November 2004 im<br />

Museum Folkwang Essen, Ludwigsburg 2005, S. 18-27.<br />

(3) Geoffrey Batchen sieht höhere Manipulierbarkeit schon deshalb nicht als Charakteristikum der digitalen<br />

Fotografie, weil sie die Fotografie schon seit Beginn bestimmt: »[...] every photograph involves practices<br />

of intervention and manipulation of some kind. After all, what else is photography but the knowing<br />

manipulation of light levels, exposure times, chemical concentrations, tonal ranges, and so on? In the mere<br />

act of transcribing world into picture, three dimensions into two, photographers necessarily manufacture the<br />

image they make.« Ein Argument mit ähnlicher Zielrichtung geht davon aus, dass die digitale Manipulation<br />

von Fotografien nur dann erfolgreich sein kann, wenn diese sich der Ästhetik der ihr vorausgehenden<br />

Fotografietechnik angleicht. Vgl. hierzu etwa Steven Skopnik, »<strong>Digital</strong> photography: truth, meaning,<br />

aesthetics.«, in: History of <strong>Photography</strong> 27, 3, Herbst 2003, S. 264-71, und Jens Schroter. »Virtuelle<br />

Kamera: zum Fortbestand fotografischer Medien in computergenerierten Bildern. «, in: Fotogeschichte 23,<br />

88, 2003, S. 3-16. Eine weitere Betrachtungsweise liefert Wolfgang Ullrich, wenn er davon spricht, dass<br />

die Bezüglichkeit von fotografiertem Gegenstand und seiner Abbildung im Bild durch die digitale<br />

Fotografie nun komplexer und vielschichtiger, und in feineren Gradationen steuerbar geworden ist, aber<br />

dennoch nicht vollständig <strong>auf</strong>gehoben. Vgl. Wolfgang Ullrich, »<strong>Digital</strong>er Nominalismus: zum Status der<br />

Computerfotografie.«, in: Fotogeschichte 17, 64, 1997, S. 63-73.<br />

(4) Siehe dazu André Gunthert, Sylvie Aubenas, La Révolution de la photographie instantanée, 1880-1900.<br />

Paris 1996. und André Gunthert. »Esthétique de l'occasion. Naissance de la photographie instantanée<br />

comme genre«, in: Études photographiques, 9, Mai 2001, S. 65-87.


(5) Sandra S. Phillips; Maria Morris Hambourg, <strong>Helen</strong> Levitt. San Francisco 1991, S. 59.<br />

(6) <strong>Helen</strong> Levitt; James Agee. A Way of Seeing. New York 1965.<br />

(7) Siehe die Einführung in Henri Cartier-Bresson. The Decisive Moment. New York 1952. n. p.: »I regard<br />

myself still as an amateur, though I am no longer a dilettante.«, siehe auch Peter Galassi. Henri Cartier-<br />

Bresson. The early work. New York 1987, S. 17. Dort wird Cartier-Bresson zitiert mit der Feststellung über<br />

sich und seine Freunde, dass sie ein »total desinterest in pursuing a career.« gehabt hätten.<br />

(8) Martine Franck, Agnes Sire, Michel Frizot. Henri Cartier-Bresson. Scrapbook. München 2006, S. 33<br />

(9) siehe Peter Galassi. Henri Cartier-Bresson. The early work. New York 1987, S. 41<br />

(10) Franck 2006 (wie Anm. 8), S. 43: »Diese Fotografien sind teilweise ‚vorausgesehen’, insofern als<br />

innerhalb einer im Vorfeld festgelegten geometrischen Struktur eine nicht vorhersehbare, aber wesentliche<br />

Ergänzung abgewartet wird.« Das Scrapbook von 1946, das Cartier-Bresson für die Ausstellung im<br />

Museum of Modern Art (Eröffnung 1947) für Beaumont Newhall zusammenstellt enthält noch für viele<br />

Aufnahmen verschiedenste Varianten, die von Cartier-Bresson später nicht mehr publiziert wurden. Michel<br />

Frizot konstatiert: »HCB weicht der Entscheidung aus, indem er 20 Doppel- 7 Dreifach- und eine<br />

Fünffach<strong>auf</strong>nahme präsentiert (so nennt man unmittelbar nacheinander vom selben Standpunkt, mit nahezu<br />

unveränderter Einstellung <strong>auf</strong>genommene Bilder, die in den Augen des Fotografen nahezu gleichwertig<br />

sind, so dass er ad hoc keine Auswahl treffen möchte). 6 Dubletten und 4 Tripletten unterscheiden sich<br />

hinsichtlich des gewählten Formats – vertikal oder horizontal –, das die geometrischen Strukturen innerhalb<br />

des Bildausschnittes beeinflusst.«, siehe Franck 2006 (wie Anm. 8), S. 63. Ergänzend hierzu ist zu<br />

bemerken, dass sowohl Walker Evans und <strong>Helen</strong> Levitt das Negativ nicht als absolut angesehen haben,<br />

sondern als etwas, was so sehr der Variation unterworfen werden kann, wie die Aufnahme selbst. So<br />

enthalten zum Beispiel die verschiedenen Ausgaben von Levitts A Way of Seeing verschiedene<br />

Ausschnittvergrößerungen der gleichen Negative, je nachdem was Levitt zum jeweiligen Zeitpunkt<br />

vorgezogen hat. Vgl. Sandra Phillips. »<strong>Helen</strong> Levitt's cropping.« in: History of <strong>Photography</strong>. 17, 1, 1993, S.<br />

121-125.<br />

(11) Clay Shirky. Here Comes Everybody. The Power of Organizing without Organizations. New York<br />

2008. Clay Shirky. »Ontology is Overrated – Categories, Links, and Tags. «<br />

http://www.shirky.com/writings/ontology_overrated.html, Zugriff 14. April 2008. O’Reilly, Tim. »What Is<br />

Web 2.0. Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software.«


www.oreillynet.com/pub/a/oreilly/tim/news/2005/09/30/what-is-web-20.html, Zugriff 14. April 2008.<br />

(12) Siehe www.flickr.com/groups/<br />

(13) Belinda Rathbone. Walker Evans: A biography. New York 2000, S. 83.<br />

(14) James Agee schreibt in seiner Einführung zu A Way of Seeing: »Some of the best photographs we are<br />

ever likely to see are innocent domestic snapshots, city postcards, and news and scientific photographs.”<br />

Levitt 1965 (wie Anm. 6)<br />

(15) Maria Morris Hambourg; Jeff Rosenheim; Douglas Eklund; Mia Fineman. Walker Evans. New York<br />

2000, S. 124. Walker Evans. »Main Street Looking North <strong>from</strong> Courthouse Square«, in: Fortune, 37, Mai<br />

1948, S. 102-106; Walker Evans. »When ‚Downtown’ Was A Beautiful Mess.«, in: Fortune, 65, Januar<br />

1962), S. 100-106.<br />

(16) Rathbone 2000 (wie Anm. 13), S. 255.<br />

(17) Transkription des Vortrags und der anschließend gestellten Fragen. »Walker Evans lecture –<br />

November 7, 1973 – <strong>Photography</strong>: Points of View«, Museum of Modern Art Library, <strong>Photography</strong> bio file,<br />

Evans, Walker, S. 16.<br />

(18) Hambourg 2000 (wie Anm. 15), S. 85: «The next potential money-making venture, conceived with<br />

Tom Mabry of the Museum of Modern Art, was a plan to copublish a series of postcards printed <strong>from</strong><br />

carefully selected details of Evans’s photographs for the RA.” Siehe für die Reproduktion einiger <strong>auf</strong><br />

Fotopostkartenpapier durch Evans angefertigter Fotografien: Gilles Mora; John T. Hill, Walker Evans. Der<br />

unstillbare Blick. München 1993, S. 322-331.<br />

(19) Hambourg 2000 (wie Anm. 15), S. 66-7 und Abb. 75-76. Siehe auch: Jeff Rosenheim; Douglas<br />

Eklund. Unclassified. A Walker Evans Anthology. New York, Zürich 2000, S. 201-2. Erwähnenswert ist<br />

auch, dass seinen frühen Cubafotografien 1933 als Portfolio von Carleton Beals Buch The Crime of Cuba<br />

reproduziert, drei Newsfotografien hinzugefügt sind. Evans stellt damit seine Fotografien mit den<br />

Newsfotografien in einen Zusammenhang.<br />

(20) Rosenheim 2000 (wie Anm. 19), S. 198 und S. 202.<br />

(21) Vgl. Rosamond B. Vaule; Richard Benson. As We Were. American Photographic Postcards 1905-<br />

1930. Boston 2004.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!