panische Jünglinge noch in der Schule sitzen, wenn - Sophie
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aller Schriften, wodurch <strong>der</strong> Unterricht so sehr verzögert wird, daß ja<strong>panische</strong><br />
<strong>Jüngl<strong>in</strong>ge</strong> <strong>noch</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schule</strong> <strong>sitzen</strong>, <strong>wenn</strong> ihre Altersgenossen bei<br />
uns ihrem Doktorat entgegengehen. Nach <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Charaktere, die e<strong>in</strong><br />
Japaner lesen kann, wird se<strong>in</strong>e Bildung bemessen. Das nie<strong>der</strong>e Volk br<strong>in</strong>gt es<br />
auf etwa zwei=, e<strong>in</strong> Gelehrter auf vier=, e<strong>in</strong> Weiser auf sechstausend. Im<br />
ganzen soll es ungefähr zehntausend Schriftzeichen geben. Die Zeitung<br />
beschränkt sich auf zweitausend Lettern; die neue<br />
Setzmasch<strong>in</strong>e umfaßt sechzehnhun<strong>der</strong>t, e<strong>in</strong>e Zahl, auf welche das<br />
Unterrichtsm<strong>in</strong>isterium auch den<br />
Volksschulunterricht e<strong>in</strong>dämmen<br />
will. Diese Schriftzeichen s<strong>in</strong>d<br />
se<strong>in</strong>erzeit von Ch<strong>in</strong>a übernom= men<br />
worden, so daß Ch<strong>in</strong>esen und<br />
Japaner, die e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> beim Sprechen<br />
nicht verstehen, mit= e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
schriftlich verkehren.<br />
Um auch dem e<strong>in</strong>fachsten Kuli<br />
die Lektüre <strong>der</strong> Zeitung zu<br />
ermöglichen, druckt die Zeitung<br />
jede Zeile doppelt, für die Ge=<br />
bildeten mit den ch<strong>in</strong>esischen<br />
Schriftzeichen, für die Tiefer=<br />
stehenden darunter mit den sechs=<br />
unddreißig Silbenzeichen des ja=<br />
<strong>panische</strong>n Katakana, allerd<strong>in</strong>gs nur<br />
<strong>in</strong> stecknadelkopfgroßem For= mat.<br />
(Die Frauen pflegen ihre Briefe <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er <strong>noch</strong> leichteren Schrift, dem<br />
Hirakana, zu schrei= ben.) Durch<br />
Weglassung desKa= takana bei<br />
e<strong>in</strong>zelnen Artikeln ist<br />
Gelegenheit gegeben, e<strong>in</strong>en für<br />
Höherstehende ausgewählten Inhalt<br />
zu bieten. Die Zeitung, die sonst<br />
sehr freiheitlich auftritt, gibt sich zu<br />
solcher Zensur her, weil die<br />
Bevormundung dem ganzen Volk<br />
im Blute liegt.<br />
Endlich f<strong>in</strong>det die Journalistenbegrüßung, die sich <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Nachmittagsempfang verwandelt hat, den<strong>noch</strong> statt und zwar im Imperial=<br />
Hotel. In dem kle<strong>in</strong>en Salon s<strong>in</strong>d fünfzehn jüngere Herren versammelt<br />
und je<strong>der</strong> gibt mir se<strong>in</strong>e Visitkarte, auf <strong>der</strong> Name und Adresse auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Seite <strong>in</strong> englischer, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n <strong>in</strong> ja<strong>panische</strong>r Schrift gedruckt s<strong>in</strong>d. Die<br />
Sitte <strong>der</strong> stets gezückten Visitkarte hat ihre Ursache wohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gleichartig= keit<br />
so vieler Namen, die man näher bestimmt, <strong>in</strong>dem man irgende<strong>in</strong> Wort als<br />
Vornamen wählt. Ich weiß von e<strong>in</strong>em Japaner, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e ersten vier Töchter<br />
nach den Jahreszeiten und zwei weitere Sonne und Mond nannte.<br />
Von den Herren kenne ich die meisten bereits. S<strong>in</strong>d es doch die <strong>in</strong> den<br />
Hotels verkehrenden sogenannten »Fremdenreporter«, übrigens die unterste<br />
Sorte ja<strong>panische</strong>r<br />
geläufigsten engüsehen dem<br />
Kreuzverhör<br />
Österreich fallen<br />
wieviel Gehalt<br />
sehe Präsident<br />
ziehe. Und es<br />
europäischen nen<br />
des Ent= unter<br />
me<strong>in</strong>em<br />
Zeitungen das<br />
1vIassen<strong>in</strong>ter= ich<br />
hätte Japan<br />
besucht, um e<strong>in</strong><br />
Österreich anzu=<br />
mißlungen sei. Fast<br />
sich ungefähr auf<br />
Sachkenntnis. - - - Herren<br />
ihre Blitzlicht= komisch ich<br />
dieses fort f<strong>in</strong>de, es macht<br />
mir doch<br />
Journalisten, die nur die<br />
Phrasen radebrecht. In<br />
über die Zustände <strong>in</strong><br />
Fragen, wie etwa,<br />
»<strong>der</strong> österreiehi=<br />
Masaryk« be=<br />
entlockt me<strong>in</strong>en<br />
Freunden Trä><br />
zückens, als<br />
Bilde <strong>in</strong> den<br />
Ergebnis des<br />
views steht<br />
schon e<strong>in</strong>mal<br />
Bündnis mit<br />
bieten, was aber<br />
alle Berichte halten<br />
ähnlicher Höhe <strong>der</strong><br />
Natürlich br<strong>in</strong>gen die<br />
photographen mit. So<br />
währende Photographieren<br />
e<strong>in</strong>en ziemlich tiefen E<strong>in</strong>=<br />
druck, daß uns die fertigen Abzüge <strong>noch</strong> während unseres Beisammense<strong>in</strong>s<br />
übergeben werden. Alles was mit dem Zeitungsbetrieb zusammenhängt, hat sich<br />
von ja<strong>panische</strong>r Langsamkeit losgemacht und e<strong>in</strong>em amerikanischen Tempo<br />
angepaßt. Das Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> dieser übernommenen Fixigkeit mit <strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>geborenen Gemächlichkeit zeigt sich gleich darauf, als e<strong>in</strong>e zufällig im<br />
Hotel weilende Journalist<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geladen werden soll, mit uns Tee zu tr<strong>in</strong>= ken.<br />
M<strong>in</strong>destens zehn M<strong>in</strong>uten lang dauert die Ansprache an das zierliche<br />
Mädchen im Kimono, um welches alle im Kreise halbgebeugt herumstehen.<br />
In <strong>der</strong> Hochstimmung für Österreich hat <strong>der</strong> Vertreter des »Hochi« die<br />
4 8 Alice Schalek, Japan. 4 49
Veranstaltung me<strong>in</strong>es geplanten Vortrages für Wiener Wohlfahrts=<br />
4 8 Alice Schalek, Japan. 4 49
zwecke übernommen. Das Informationsbureau telephoniert mir täglich, es sei<br />
dies o<strong>der</strong> jenes mit dem Reporter, se<strong>in</strong>em Protektionsk<strong>in</strong>d, zu be= sprechen;<br />
komme ich aber zur angegebenen Zeit h<strong>in</strong>, so ist <strong>der</strong> Journalist meist <strong>noch</strong><br />
nicht o<strong>der</strong> nicht mehr da. Stunden und Stunden, <strong>in</strong> denen Ka= wado mich bis<br />
zur Bewußtlosigi{eit ausfragt, verwarte ich nutzlos. Me<strong>in</strong>e Freunde warnen<br />
mich, ich würde schließlich nichts von all <strong>der</strong> Mühe haben, denn <strong>der</strong> Ertrag<br />
dürfte für Spesen aufgehen. Ich aber will sehen, welchen Verlauf die Sache<br />
nimmt. Auf me<strong>in</strong> gereiztes Drängen h<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> Reporter endlich nach<br />
Wochen den Vergnügungsdirektor se<strong>in</strong>es<br />
Blattes mit, <strong>der</strong> mir erklärt, daß <strong>in</strong> Japan jede Veranstaltung, bei <strong>der</strong> man<br />
E<strong>in</strong>trittsgeld erheben wolle, m<strong>in</strong>destens vier Stunden dauern müsse und daß e<strong>in</strong><br />
Vortrag ohne Musik, Tanz und Gesang ausgeschlossen sei. Den etwas<br />
weniger fahrigen und aalglatten Worten dieses wirklich zuständigen Mannes<br />
entnehme ich, daß <strong>der</strong> erste Herr sich nur wichtig ge= macht, aber gar ke<strong>in</strong><br />
Recht gehabt habe, mich aufzufor<strong>der</strong>n. Das japa= nische Auskunftsmittel:<br />
»h<strong>in</strong>halten, so lange es geht«, sollte die Ent= deckung, daß er es sich trotzdem<br />
angemaßt habe, sowohl <strong>der</strong> Redaktion wie mir gegenüber h<strong>in</strong>ausschieben.<br />
Verwun<strong>der</strong>licherweise nimmt ihm dies we<strong>der</strong> se<strong>in</strong> Kollege <strong>noch</strong> Kawado übel,<br />
nicht e<strong>in</strong>mal das Auswärtige Amt.<br />
Ich lasse mich nicht abhalten, die über Sibirien gekommenen, ehe= maligen<br />
österreichischen Kriegsgefangenen, die sich durch ihre klassischen<br />
Symphoniekonzerte im Imperial=Hotel <strong>in</strong> Tokio e<strong>in</strong>en Namen gemacht haben,<br />
so daß sie jetzt den allabendlichen Foxtrott an e<strong>in</strong> eigenes ameri= kanisches<br />
Tanzorchester abgeben durften, sowie e<strong>in</strong>en Grazer Amateur= pianisten zur<br />
unentgeltlichen Mitwirkung zu werben. Die For<strong>der</strong>ung aber, daß e<strong>in</strong>e<br />
blondlockige Dame s<strong>in</strong>gen und tanzen solle, kann ich nicht er= füllen, denn die<br />
österreichische Kolonie <strong>in</strong> Tokio ist augenblicklich frauen= los. Dieser Wunsch<br />
wird dadurch erklärlich, daß ke<strong>in</strong>e Abstufung <strong>in</strong> das tiefe Ebenholzschwarz<br />
<strong>der</strong> ja=<br />
<strong>panische</strong>n Haare, ke<strong>in</strong>e Welle <strong>in</strong><br />
ihre Glätte die ger<strong>in</strong>gste Ab=<br />
wechslung br<strong>in</strong>gt. Blonde Euro=<br />
päerk<strong>in</strong><strong>der</strong> gehen deshalb nie=<br />
mals unbeschenkt aus e<strong>in</strong>em<br />
Laden fort.<br />
Um mit den zwei Redakteur<br />
ren zu e<strong>in</strong>em Ende zu kommen,<br />
gehe ich endlich direkt <strong>in</strong> die<br />
Redaktion des »Hochi«, wo ich<br />
<strong>in</strong> das typische Wartezimmer<br />
geführt werde, das <strong>in</strong> jedem Ge=<br />
schäftslokal, auch bei Banken o<strong>der</strong><br />
Weltfirmen, aus e<strong>in</strong>er ab=<br />
getrennten, durch e<strong>in</strong>en Gas= ofen<br />
unerträglich überheizten<br />
Fensternische besteht, <strong>der</strong>en<br />
schmutziger Tisch meist waek=<br />
lige Be<strong>in</strong>e hat. Die beiden<br />
Herren setzen sich zu mir und<br />
wir warten. Worauf eigentlich?<br />
Das Englisch <strong>der</strong> beiden ist<br />
armselig, aber Japaner ver= stehen oft so viel Englisch, als ihnen eben paßt,<br />
und s<strong>in</strong>d mitunter viel weniger begriffstützig, als sie es im Augenblick gerade<br />
sche<strong>in</strong>en wollen. Mit <strong>der</strong> Zeit stellt sich heraus, daß wir auf gar nichts<br />
warten. Sie s<strong>in</strong>d gekommen, mich <strong>in</strong> den Festsaal h<strong>in</strong>aufzuführen, aber sofort<br />
nach <strong>der</strong> Begrüßung aufzustehen, gilt hier als unanständige Hast. Wir<br />
besichtigen nun die E<strong>in</strong>richtungen zur Vorführung <strong>der</strong> Lichtbil<strong>der</strong> und<br />
verbr<strong>in</strong>gen dort mit dem Mechaniker e<strong>in</strong>en ganzen Vormittag. Aber e<strong>in</strong>en<br />
bestimmten Bescheid kann ich nicht bekommen.<br />
Innigst wünschte ich zu wissen, ob die Leute me<strong>in</strong>en Vortrag wollen<br />
50 4* 5I
und bloß so unendlich schwerfällig s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> ob ich so lange <strong>in</strong>i ungewissen<br />
gehalten werden solle, bis ich von selbst zurücktrete.-Nach unseren<br />
Anschauungen wäre ja e<strong>in</strong> ehrliches: »Es geht nicht!« tausendmal höflicher<br />
als diese Beschlagnahme me<strong>in</strong>er Zeit und me<strong>in</strong>er Nerven, aber me<strong>in</strong>e<br />
Freunde behaupten, be: Abschluß jedes Geschäftes, jedes Vortrages sei<br />
dieser Schmerzensweg zu durchlaufen. Wolle <strong>der</strong> Japaner ablehnen, so<br />
verh<strong>in</strong><strong>der</strong>e ihn se<strong>in</strong>e Erziehung, geradewegs »ne<strong>in</strong>« zu sagen, ja, er nehme es<br />
den Weißen übel, daß sie ohne Herumgerede ihre Me<strong>in</strong>ung aussprechen, wolle<br />
er aber abschließen, so solle <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e erst mürbe gemacht werden.<br />
Endlich zw<strong>in</strong>ge ich den Herren die feste Zusage ab, sich bis zu e<strong>in</strong>em<br />
bestimmten Datum zu entscheiden. Wäre es doch fast vorzuziehen gewesen,<br />
das auf <strong>der</strong> Straßenbahn verfahrene Geld den Wiener K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu<br />
schicken. Am festgesetzten Tage b<strong>in</strong> ich pünktlich da, aber ich werde<br />
gebeten, am nächsten Tage wie<strong>der</strong>zukommen. Dann endlich heißt es nach<br />
längerem Achselzucken und lächelndem Bedauern: Ohne Tanz und<br />
»blondgeloekten Damengesang« gehe es nicht. Aber am meisten verblüfft<br />
mich die letzte Begründung <strong>der</strong> Ablehnung: »Wir hatten zur Vorbereitung<br />
nicht genug Zeit!«<br />
* *<br />
Die Hochachtung vor Japan ist <strong>in</strong> dem Augenblicke wie<strong>der</strong>hergestellt, da<br />
ich Herrn Matsuoka vom »Nichi Nichi« kennenlerne und unter se<strong>in</strong>er Führung<br />
das Zeitungsgebäude besichtigen darf.<br />
Ist die geistige E<strong>in</strong>richtung <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n Presse, die zur Gänze aus<br />
Amerika übernommen wurde, <strong>der</strong> unsrigen wesensfremd, so ist die<br />
technische <strong>der</strong> europäischen um viele Jahre voraus. Auch nicht annähernd<br />
können unsere Zeitungen den Vergleich mit den Schwesterzeitungen »Nichi<br />
Nichi« und »Osaka Ma<strong>in</strong>ichi« und mit dem »Asahi« aufnehmen, die jede <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Hauptstadt ihren Riesenpalast haben, trotzdem sie dort nur Filialen <strong>der</strong><br />
Hauptstellen <strong>in</strong> Osaka unterhalten.<br />
In jedem <strong>der</strong> durch mehrere Lifts und Paternosteraufzüge verbundenen<br />
Stockwerke des »Nichi Nichi«-Palastes, <strong>in</strong> dem schon am Tage nach dem<br />
Erdbeben <strong>der</strong> Betrieb wie<strong>der</strong> aufgenommen wurde, liegt e<strong>in</strong> Saal, <strong>der</strong> so groß<br />
ist, daß man von e<strong>in</strong>em Ende die Vorgänge am an<strong>der</strong>n nicht mehr deutlich<br />
beobachten kann. Im Erdgeschoß bildet er den Arbeitsraum für das<br />
Anzeigenwesen, die f<strong>in</strong>anzielle Verwaltung und den Blätterverkauf, im ersten<br />
Stock für die Redakteure, <strong>der</strong>en es je zwei für Kunst und Literatur, auswärtige<br />
Telegramme, Lokalnachrichten, Börse, Wirtschaft, Poli<br />
tik, soziale Fragen, Gesellschaftliches und Parlament gibt, für letzteres außerdem<br />
mehrere, die ihren Sitz im Reichsrat haben. Zwei halten ab. wechselnd Dienst<br />
bei e<strong>in</strong>er Riesenkarte von Tokio und haben bei je<strong>der</strong> Telephonnachricht über<br />
e<strong>in</strong> Feuer, e<strong>in</strong>en Mord, e<strong>in</strong>en Straßenskandal den Redakteur zu<br />
verständigen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> dem betreffenden Bezirke amtiert. Nur <strong>der</strong> Chefredakteur<br />
arbeitet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em abgeschlossenen Raum, die an<strong>der</strong>en haben ihre festen Plätze<br />
<strong>in</strong> dieser Mammuthalle, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es zugeht wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bahnhof. Aber Herrn<br />
Matsuoka ist dieser Betrieb so un= entbehrlich geworden, daß er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stille<br />
se<strong>in</strong>es Heimes nicht mehr arbeiten kann. Der Börsendienst<br />
hat e<strong>in</strong>e von <strong>der</strong> Zentrale un= abhängige direkte Verb<strong>in</strong>dung mit <strong>der</strong><br />
Börse, während die übrigen Fernsprecher von e<strong>in</strong>er Hauszentrale bedient<br />
werden, die mir als Triumph des Höchstbetriebes ersche<strong>in</strong>t. Nach wie=<br />
<strong>der</strong>holten Bittgesuchen ist dem 'Niehi Nichi« endlich e<strong>in</strong> Pri= vatdraht nach<br />
Osaka bewilligt worden, an dessen<br />
beiden Enden Tag und Nacht je<br />
zwei Beamte Dauerdienst haben.<br />
Der e<strong>in</strong>e hört und wie<strong>der</strong>holt, <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>e<br />
stenographiert. Der ganze<br />
»Osaka Ma<strong>in</strong>ichi« wird täglich<br />
nach Tokio herüberdiktiert,<br />
während nach Osaka, das mehr die<br />
wirtschaftlichen Inter= essen <strong>der</strong><br />
südlichen Prov<strong>in</strong>z berücksichtigen<br />
muß, nur e<strong>in</strong> Auszug aus den<br />
Tokioter Lokalnachrichten und <strong>der</strong><br />
Politik, die <strong>in</strong> dem Blatte <strong>der</strong><br />
Haupt= stadt breitere Behandlung<br />
f<strong>in</strong>den, h<strong>in</strong>übergegeben wird.<br />
Dieser Text wird auch an die<br />
Filialen <strong>in</strong> Kobe, Kyoto und Moji<br />
telephoniert und den dort hergestellten lokalen Teilen angefügt. Die beiden<br />
Hauptzentralen <strong>in</strong> Osaka und Tokio br<strong>in</strong>gen täglich sieben Ausgaben heraus und<br />
verwenden je sechs Lastautos zur Verfrachtung an die Bahn; zusammen<br />
erreichen sie e<strong>in</strong>e Auflage von e<strong>in</strong>er Million Blättern. Über zweitausend<br />
Angestellte, u von dreihun<strong>der</strong>t Redakteure, unterstehen e<strong>in</strong>em Präsidenten, <strong>der</strong><br />
nicht selbst Journalist, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> repräsentative Chef <strong>der</strong> Verwaltung ist.<br />
E<strong>in</strong> eigenes Telegraphenbureau, e<strong>in</strong>e eigene drahtlose Station, e<strong>in</strong><br />
imponierendes photographisches Atelier mit allen mo<strong>der</strong>nen Apparaten und e<strong>in</strong><br />
Heer von Fachleuten, e<strong>in</strong>e Registratur <strong>in</strong>= und ausländischer<br />
52 53
Photographien, e<strong>in</strong>e bedeutende Bibliothek, e<strong>in</strong>e Küche und e<strong>in</strong> Speise= Saal<br />
für die Angestellten - diese E<strong>in</strong>zelheiten des Betriebes können wir uns auch <strong>in</strong><br />
Europa <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit e<strong>in</strong>er Zeitung vorstellen. Aber e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>o,<br />
welches den ganzen Tag jedem Gast <strong>der</strong> Zeitung unentgeltlich geöffnet ist,<br />
mit den allerneuesten Kulturfilmen, welche die Zeitung selbst aufnehmen läßt<br />
und zu denen sie e<strong>in</strong>en Erklärer beistellt, kennt man als Reklamemittel <strong>der</strong><br />
Presse kaum irgendwo <strong>in</strong> Europa. In me<strong>in</strong>er Gegenwart legt <strong>der</strong> Sprecher die<br />
Aussichten für das all= geme<strong>in</strong>e Wahlrecht <strong>in</strong> dieser Session dar und zeigt<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Film die Köpfe <strong>der</strong> Abgeordneten, die dafür, und <strong>der</strong>jenigen, die<br />
dagegen s<strong>in</strong>d; an <strong>der</strong> nachher abrollenden Aufnahme e<strong>in</strong>er englischen Fabrik<br />
macht er auf die Raschheit <strong>der</strong> Bewegungen weißer Arbeiter aufmerksam.<br />
Außerdem gibt es weite Ausstellungshallen mit Musik<strong>in</strong>strumenten,<br />
Büchern, Handarbeiten und Bil<strong>der</strong>n <strong>in</strong> übersichtlichen, geistig geordneten<br />
Gruppen, die ebenfalls unentgeltlich zugänglich s<strong>in</strong>d und den Künstlern<br />
unübertreffliche Gelegenheiten zu Verkäufen und Bestellungen br<strong>in</strong>gen. In den<br />
großen Sälen f<strong>in</strong>den politische Versammlungen, Tanzszenen,<br />
Musikaufführungen und Lichtbil<strong>der</strong>vorträge statt -- heute wird e<strong>in</strong>er über Ch<strong>in</strong>a<br />
gehalten, nachdem das Publikum durch e<strong>in</strong>e Ausstellung von ch<strong>in</strong>esischer<br />
Kunst, Möbeln, Porzellan, Volkstrachten, Tempel= e<strong>in</strong>richtungen, Spielzeug<br />
und Stickerei geführt worden ist. An ch<strong>in</strong>e= sischen Eßtischen <strong>sitzen</strong><br />
ch<strong>in</strong>esisch kostümierte Puppen vor allerlei ch<strong>in</strong>esischen Gerichten. E<strong>in</strong><br />
Raum dient belehrenden bildlichen Darstellungen mo<strong>der</strong>ner<br />
ja<strong>panische</strong>rAnstalten und Plakaten über dasVerkehrs= Wesen, zum Beispiel wird<br />
heute hier das großartige ja<strong>panische</strong> Schnellschiff,<br />
das <strong>in</strong> vierundzwanzig Stunden von Nagasaki nach Shanghai rennt, mit<br />
allen se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>richtungen gezeigt. Und all das ohne E<strong>in</strong>trittsgebühr.<br />
Den ganzen Betrieb erhalten die Anzeigen, die <strong>in</strong>folgedessen sehr teuer<br />
s<strong>in</strong>d. Die Zeitung selbst ist als Volkslektüre außerordentlich billig.<br />
Durch e<strong>in</strong>e Bar kommt man zu <strong>der</strong> letzten Treppe, die auf den<br />
Dachgarten h<strong>in</strong>aufführt, von wo sich e<strong>in</strong>e wun<strong>der</strong>bare Aussicht über<br />
die ganze Stadt bis zum Fujiyama öffnet. Hier oben tr<strong>in</strong>ken an warmen<br />
Sommerabenden die Redakteure vom Dienst ihren Erholungssake.<br />
Diesen Vergnügungsbetrieb, für den e<strong>in</strong> eigener Konzertdirektor<br />
bestellt ist, mit e<strong>in</strong>er Zeitung zu verquicken, übersteigt europäische<br />
Vorstellungskraft. Offenbar wird durch diese Propaganda e<strong>in</strong> erhöhter<br />
Absatz erzielt, jedenfalls aber dr<strong>in</strong>gt durch sie e<strong>in</strong> Strom von Kennt=<br />
nissen und Wissen <strong>in</strong> das unterste Volk. Natürlich hätte ich hier ohne<br />
weiteres über Österreich vortragen können. Die Schwierigkeit liegt <strong>in</strong><br />
dem E<strong>in</strong>trittsgeld, das zu entrichten man hier nicht gewohnt ist und dessen<br />
Überweisung nach Wien doch <strong>der</strong> Hauptzweck <strong>der</strong> Veranstaltung gewesen<br />
wäre.<br />
Auch die Zeitung selbst ist dem Publikum zur Besichtigung offen und<br />
Gruppen von Abgeordneten, Schulk<strong>in</strong><strong>der</strong>n, Priestern und Sol= daten werden von<br />
eigens dazu angestellten Ortskundigen umhergeleitet und über das Wesen <strong>der</strong><br />
Zeitung unterrichtet. Der Besuch von Zeitungs= gebäuden gehört ebenso wie<br />
e<strong>in</strong>e Stunde des Zeitungslesens zum Lehr= plan <strong>der</strong> Volkserziehung, welche<br />
hierdurch <strong>der</strong> unsrigen um Jahre voraus= eilt. E<strong>in</strong>e <strong>in</strong> vormärzlicher Kultur<br />
wurzelnde Ethik schreibt bei uns e<strong>in</strong>e gewisse Zurückhaltung gegen die<br />
Zeitung vor und trennt sie streng von Kunst und Pädagogik, e<strong>in</strong> veralteter<br />
Standpunkt, auf den vielleicht e<strong>in</strong> Teil unserer Nie<strong>der</strong>lage zurückzuführen ist.<br />
Die Japaner aber lassen sich von <strong>der</strong> Überzeugung leiten, daß <strong>in</strong> unserer<br />
Zeit e<strong>in</strong> Volk ohne Zeitungsgeist um e<strong>in</strong> paar Punkte zurückbleiben müsse.<br />
Sie durchtränken also mit ihm ihre Jugend. Bezeichnend ist, daß <strong>der</strong> »Nichi<br />
Nichi« den großen Speisesaal des neuen Palace=Hotels mit e<strong>in</strong>em Riesend<strong>in</strong>er<br />
fürLehrer eröffnete, bei welchem Filme über das Zeitungswesen vorgeführt<br />
wurden.<br />
Dieser Großzügigkeit entsprechen die neuen gewaltigen Druckmaschi< nen,<br />
die unaufhörlich weißes Papier fressen und fertiggefaltete Zeitungen<br />
ausspeien. Fünfzehn ganz neue Setzmasch<strong>in</strong>en, äußerst komplizierte, ganz neu<br />
erfundene Schreibmasch<strong>in</strong>en mit fast viertausend verschiedenen Typen,<br />
unzählige Motorrä<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verpackungsabteilung, e<strong>in</strong>e eigene Zeitung für<br />
Bl<strong>in</strong>de - all dies würde überwältigend wirken, sähe es nicht überall <strong>in</strong> dem<br />
neuen Palast schmutzig und unordentlich aus, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Küche wie im Setzersaal,<br />
im Papierhof wie beim Photographen. Diesen E<strong>in</strong>druck von Umzug und<br />
Abgebranntse<strong>in</strong>, des Vorläufigen überhaupt, wird man <strong>in</strong> Japan nirgends los,<br />
we<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Universität <strong>noch</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fabrik o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>Schule</strong>; die<br />
übere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>getürmt auf allen Fußböden herumliegen= den Kisten, Körbe,<br />
Koffer und Truhen lassen das Gefühl, Überlegenem gegenüberzustehen, nicht<br />
aufkommen.<br />
Während <strong>der</strong> Präsident des »Hochi« Abgeordneter ist, dürfen sich die<br />
Mitarbeiter des »Nichi Nichi« nicht <strong>in</strong>s Parlament wählen lassen und<br />
nicht mit Auszeichnungen schmücken. Alle politischen Artikel erschei= nen<br />
namenlos und die Zeitung steht für sie e<strong>in</strong>. Gibt es dadurch oftmals<br />
erzwungene Färbungen <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung und <strong>in</strong>folgedessen genug Zwistig= keiten<br />
im eigenen Lager, nach außen zeigt sich die Zeitung von e<strong>in</strong>er um=<br />
durchdr<strong>in</strong>glichen Mauer e<strong>in</strong>geschlossen, e<strong>in</strong> Bild des Japanertums im<br />
54 55
kle<strong>in</strong>en. Jetzt zum erstenmal ist <strong>der</strong> Versuch gelungen, alle Zeitungen<br />
zusammen h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong>selben Mauer zu vere<strong>in</strong>igen, nämlich h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />
nach dem allgeme<strong>in</strong>en Wahlrecht, wiewä die gesamte Presse, welche diesen<br />
Kampf führt, re<strong>in</strong> bürgerlich ist. E gibt nämlich <strong>noch</strong> ke<strong>in</strong>e Arbeiterpresse, mit<br />
Ausnahme e<strong>in</strong>es Magaz<strong>in</strong>s mit sehr ger<strong>in</strong>ger Verbreitung namens<br />
»Reconstruction«. Auch dieses macht sich eigent= lieh mit dem Sozialismus<br />
nur <strong>in</strong>teressant und spielt, vielmehr kokettiert mit dieser Flagge, die es zu se<strong>in</strong>er<br />
Reklame genau so braucht wie die an<strong>der</strong>en Zeitungen ihr K<strong>in</strong>o. Der wirkliche<br />
Sozialismus hat <strong>noch</strong> fast gar ke<strong>in</strong>en Boden <strong>in</strong> Japan, <strong>der</strong> etwas unklaren,<br />
tatarmen Sozialpolitik h<strong>in</strong>= gegen, e<strong>in</strong>er Art Salondemokratie, neigt mehr als<br />
die Hälfte aller Intelli> genzler zu. Die »Reconstruction« war es übrigens, die,<br />
gleichfalls zur Reklame, E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> hat kommen lassen, was dieser vorher nicht<br />
geahnt haben soll. Er dachte, von <strong>der</strong> Wissenschaft e<strong>in</strong>geladen zu se<strong>in</strong>.<br />
Die Regierung hat ke<strong>in</strong>e nennenswerte publizistische Stütze. Die großen<br />
Tageszeitungen nennen sich »unabhängig«, die kle<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d Parteiblätter. In<br />
Tokio spielen außer dem »Nichi Nichi« (Tag fürTag> und dem »Asahi«<br />
<strong>noch</strong> <strong>der</strong> »Jiji« (Die Zeit> und <strong>der</strong> »Kokum<strong>in</strong>« (Nation> e<strong>in</strong>e<br />
Rolle, ferner <strong>der</strong> »)7omiuri« (Leser kauf michl> und <strong>der</strong> »Hochi«<br />
(Nachrichten>. Der»Miako« (DieHauptstadt> iste<strong>in</strong> niedrigesMassenblatt.<br />
Daß die Wichtigkeit <strong>der</strong> Zeitung <strong>in</strong> Japan diejenige <strong>der</strong> Presse <strong>in</strong> Ame=<br />
rika, geschweige <strong>in</strong> Europa, übertrumpft, hängt mit <strong>der</strong> Ausschaltung des<br />
Privatlebens <strong>in</strong> Japan zusammen. Jedes Familienereignis und je<strong>der</strong> Skandal, aber<br />
auch jede Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung zwischen Gelehrten und Politikern wird von den<br />
beteiligten Kreisen selbst <strong>der</strong> Zeitung zugetragen. Sie benützt ganz bewußt<br />
gleichzeitig die Eitelkeit und das Bildungsstreben zur Aufbau= arbeit, was jetzt<br />
beim wirklichen Aufbau Tokios wohl <strong>in</strong>s Gigantische ausgestaltet worden se<strong>in</strong><br />
dürfte.<br />
Es unterliegt ke<strong>in</strong>em Zweifel, daß Japan se<strong>in</strong>e erstaunliche Entwicklung<br />
über den Kopf se<strong>in</strong>er starrs<strong>in</strong>nigen, ja rückschrittlichen Regierung h<strong>in</strong>über<br />
alle<strong>in</strong> diesem Zeitungsbetrieb verdankt. Oft genug habe ich mich gefragt, <strong>wenn</strong><br />
ich an Fabriken, Wolkenkratzern, Viadukten großartigster Bauart vorüberg<strong>in</strong>g:<br />
wie entstand dies alles <strong>in</strong> diesem langsamen, schwer= fälligen,<br />
traditionsbeherrschten Lande, aus diesem fremdenfe<strong>in</strong>dlichen, mißtrauischen<br />
und unverläßlichen Volke? Erst als ich die Zeitung kennen= gelernt hatte,<br />
wußte ich, daß sie mit ihrem E<strong>in</strong>greifen <strong>in</strong> das kle<strong>in</strong>ste Nest, <strong>in</strong> die ärmste<br />
Familie, <strong>in</strong> das Privatleben des e<strong>in</strong>zelnen -- was wir <strong>noch</strong> als taktlos ablehnen -<br />
und mit ihrer unablässigen Übermittlung aller Ge= schehnisse von außen und<br />
<strong>in</strong>nen das ausschließliche Verdienst daran hat.<br />
7. Ja<strong>panische</strong> Politik.<br />
Davon, daß ich nur <strong>in</strong>s Auswärtige Amt zu gehen brauche, um gleich<br />
überallh<strong>in</strong> Zutritt zu erlangen, mache ich zum erstenmal bei <strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong><br />
diesjährigenWV<strong>in</strong>tertagung des Parlaments Gebrauch. Nicht nur, daß Herr<br />
Kasama die E<strong>in</strong>laßkarte für mich besorgt, er gibt mir auch se<strong>in</strong>en<br />
deutschsprechenden Kollegen Herrn Sato mit, <strong>der</strong> angeblich über die<br />
politische Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Volksvertretung Bescheid weiß. Davon habe ich<br />
freilich nicht viel, denn auch, <strong>wenn</strong> e<strong>in</strong> Japaner etwas weiß, kann er es nicht<br />
erklären.<br />
Japan war eben im Begriff, e<strong>in</strong> großartiges neues Parlament zu errichten, für<br />
dessen Bau es anfangs sieben, dann zehn Millionen Yen bereitstellte. Es sollte als<br />
größtes Volkshaus des Ostens ganz aus weißem Ste<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>em hohen Turm<br />
gebaut werden und <strong>in</strong> vier Jahren fertig se<strong>in</strong> und auch das Erdbeben hat diesen<br />
Plan nicht zur Vertagung gebracht. Vorläufig fmden die Sitzungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
niedrigen Holzkasten statt, dessen E<strong>in</strong>gang Herr Sato natürlich nicht kennt,<br />
wiewohl er im gegenüberliegenden Auswärtigen Amt seit Jahren angestellt ist.<br />
Da er mich zuerst zum Oberhause<strong>in</strong>gang br<strong>in</strong>gt, müssen wir im tiefsten<br />
Schmutz um das riesige Gebäudeviereck herumwaten. Beim richtigen Tor<br />
raufen Dutzende von Abgeordneten vor <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe, e<strong>in</strong>em<br />
Bretterhäuschen, durch dessen w<strong>in</strong>ziges Gucke loch die nassen Regenschirme,<br />
feuchten Mäntel und schmutzigen Überschuhe zusammengewickelt<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gesteckt werden. Nachdem ich im blanken Kleide im Freien e<strong>in</strong>e<br />
Viertelstunde gefroren, stellt sich heraus, daß die E<strong>in</strong>laßkarte des M<strong>in</strong>isters und<br />
die Begleitung des Hofrates nicht genügen. Unterbeamte s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Japan eigens<br />
dazu da, um Schwierigkeiten zu machen. Herr Sato läuft nun treppauf treppab<br />
und telephoniert, da= zwischen werde ich verhört und um me<strong>in</strong> Nationale<br />
gefragt, alles natürlich <strong>in</strong> höflichster Weise, endlich dürfen wir <strong>in</strong> die<br />
Fremdenloge e<strong>in</strong>treten, von <strong>der</strong> aus man den Saal übersieht, und<br />
unabweisbar drängt sich mir e<strong>in</strong> erster E<strong>in</strong>druck auf: lauter ältere Männer!<br />
Die meisten im Kimono, e<strong>in</strong>ige <strong>noch</strong> im ganz alten Stil mit Vollbärten, die<br />
deshalb Spottnamen tragen, wie zum Beispiel Sassaki, den man den<br />
»mongolischen König« nennt. Da uns Japaner immer jünger sche<strong>in</strong>en, als sie<br />
s<strong>in</strong>d, müssen diese hier recht bejahrt se<strong>in</strong>. Me<strong>in</strong> Begleiter bemerkt hierzu: »Ja,<br />
e<strong>in</strong>e äußerst bedauerliche Ersche<strong>in</strong>ung!« Wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> hoher Beamter mit<br />
aufrührerischen Ideen! Das er<strong>in</strong>nert an unser österreichisches Beamtentum vor<br />
dem Kriege, das auch stets weidlich geschimpft hat - und tatenlos blieb.<br />
Der Kampfruf <strong>der</strong>Regierungsgegner lautet freilich: »Sprengen wir dieses<br />
Greisenasyl! « Bewirkt werden soll dies durch das allgeme<strong>in</strong>e, gleiche, bereits<br />
56 57
1*6<br />
den Zwanzigjährigen zu gewährende Wahlrecht, die Sehnsucht <strong>der</strong> Intelli.<br />
genz, die hier das freiheitliche Moment vertritt, da es Arbeiterpartei und<br />
Sozialismus <strong>noch</strong> kaum gibt. Wie anno 1848 bei uns f<strong>in</strong>det die <strong>in</strong> Wirklich= keit<br />
selbstherrliche Regierung nur-- bi dem geistigen Mittelstand e<strong>in</strong> wenig<br />
Wi<strong>der</strong>stand und auch den nur dem Namen nach; <strong>der</strong> wohlbekannte Bürger=<br />
liehe Liberalismus begnügt sich auch hier mit den Worten: »Gewiß, gewiß, wir<br />
werden es erreichen, nach und nach, aber jetzt ist das Volk wirklich <strong>noch</strong> nicht<br />
reif dazu!« Doch die Ereignisse reiten schneller. Gerade die rückständigen<br />
Grundbesitzer werden das bisher von ihnen abgelehnte all= geme<strong>in</strong>e<br />
Wahlrecht e<strong>in</strong>führen müssen, weil <strong>der</strong> Verdienst <strong>der</strong> Bauern, ihrer Wähler,<br />
so stark s<strong>in</strong>kt, daß sie bei Fortbestand <strong>der</strong> jetzigen E<strong>in</strong>= schränkung des<br />
Wahlrechtes durch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>kommensgrenze nicht mehr mitstimmen könnten.<br />
Unter den mehr als vierhun<strong>der</strong>t Volksvertretern, die auf vier Jahre gewählt<br />
werden, gibt es drei Parteien: die bisher sehr starke, agrarische<br />
Regierungspartei, Seiyukai, welche mit zweihun<strong>der</strong>tachtzig Mitglie<strong>der</strong>n die<br />
Mehrheit hat, die sie bekämpfende Kenseikei, die Partei <strong>der</strong> Städter, mit<br />
hun<strong>der</strong>t Mitglie<strong>der</strong>n und die dritte, unabhängige o<strong>der</strong> Reformpartei Kakush<strong>in</strong><br />
mit sechsundvierzig Anhängern. E<strong>in</strong>e völlig machtlose vierte Gruppe,<br />
Kokum<strong>in</strong>to o<strong>der</strong> Volkspartei mit dem Führer Innkai, und e<strong>in</strong> paar Wilde s<strong>in</strong>d<br />
nicht <strong>in</strong> Betracht kommende Alle<strong>in</strong>geher.<br />
M<strong>in</strong>isterpräsident Baron Kato - er ist <strong>in</strong>zwischen gestorben - eröffnet die<br />
sechsundvierzigste Tagung des ja<strong>panische</strong>n Parlamentes. Er ist so schwer<br />
krank, daß ich nicht von ihm empfangen werden konnte; für diese Stunde ist<br />
er aus dem Bette aufgestanden, denn er ist e<strong>in</strong> »Kleber« und nicht zum<br />
Rücktritt zu bewegen. Er soll e<strong>in</strong>st e<strong>in</strong> braver, bedeuten<strong>der</strong> Admiral gewesen<br />
se<strong>in</strong>, <strong>der</strong> aus militärischem Gehorsam gegen den Kaiser dieses Amt annahm<br />
und trotz des Gesetzes, das Verquickung von Ämtern verbietet, nicht zu<br />
weichen erklärte, solange ihn <strong>der</strong> Kaiser nicht fortschicke. Seltsam sche<strong>in</strong>t mir,<br />
daß er sich vor Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Rede, die er ganz aus= druckslos vom Papier<br />
abliest, den Mund ausspült, was dann auch alle an<strong>der</strong>en Redner tun.<br />
Infolge se<strong>in</strong>es Leidens kl<strong>in</strong>gt s`<strong>in</strong> Ton matt, weshalb ihm von e<strong>in</strong>em Wilden<br />
zugerufen wird: »Reden Sie mit e<strong>in</strong>er Stimme, die e<strong>in</strong>es M<strong>in</strong>isters würdig<br />
ist!« Dann spricht <strong>der</strong> M<strong>in</strong>ister des Äußern, Graf Uchida, über Japans<br />
Beziehungen zum Auslandes se<strong>in</strong>e Rede, <strong>der</strong>en englische Übersetzung Herr<br />
Sato mir mitgebracht hat, ist e<strong>in</strong>e Zusammen. Stellung <strong>der</strong> nichtssagendsten<br />
Geme<strong>in</strong>plätze. Der »wilde Mann« Japans, Herr Ozaki, versäumt auch nicht,<br />
sie gleich darauf zu geißeln. »Ja - ja - Brot ist Brot - diese Bedeutsamkeit<br />
haben wir soeben erfahren«, kräht<br />
er <strong>in</strong> den Saal, »wir hören Geschwätz und nichts geschieht.« Worauf<br />
me<strong>in</strong> Begleiter aus dem Auswärtigen Amt, <strong>der</strong> die Rede gearbeitet hat,<br />
bemerkt: »Er hat recht, sie ist k<strong>in</strong>disch. Graf Uchida ist zwar e<strong>in</strong> be=<br />
deuten<strong>der</strong> Mann, aber als M<strong>in</strong>ister darf er Wirkliches natürlich nicht<br />
sagen.« Herr Sato ist nämlich nur theoretisch e<strong>in</strong> Revolutionär.<br />
E<strong>in</strong> Stück aktueller auswärtiger Politik wird aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rede gestreift und<br />
zwar handelt es sich uni Shantung, die Achillesferse Japans. Die<br />
Gegenseite antwortet hierauf mit e<strong>in</strong>em hellen »Ne<strong>in</strong>«. Der diplomatische<br />
Ivlißerfolg<strong>der</strong>Nachkriegszeit und die fortwährende Demütigung des Landes<br />
durch Amerika haben den bl<strong>in</strong>den Glauben an die Alle<strong>in</strong>seligmachung durch<br />
Militär und Flotte untergraben. Man beg<strong>in</strong>nt nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zu= stellen, was<br />
diese Kriegsspielerei kostet und was durch sie erreicht wird, und kommt zu<br />
dem überraschenden Ende, daß man mit weniger Macht mehr erlangt hätte.<br />
Man weiß jetzt ganz genau, daß Japan e<strong>in</strong>en Klaps auf die Nase kriegt, <strong>wenn</strong><br />
es sich wie bei Ts<strong>in</strong>gtau zu weit vorwagt, und man will e<strong>in</strong>e zielsichere<br />
Führung, die nicht um e<strong>in</strong>en Schritt weniger macht, als Japan ungestraft tun darf,<br />
aber nicht um e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen zu viel. Der Prussianismus beg<strong>in</strong>nt unpopulär zu<br />
werden.<br />
Das Programm <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit von dem <strong>der</strong> Mehrheit zu unterschei= den,<br />
ist nicht leicht. Ihr Führer Kato
sogar die traditionelle Verehrung für den Kaiser im Wanken; man erkennt<br />
es wohl dankbar an, daß <strong>der</strong> Kaiser nicht gestattet, die seit zwanzig<br />
Jahren unverän<strong>der</strong>t vier Millionen 'Yen betragende Zivilliste zu steigern, aber<br />
es wird leise und laut bekrittelt, daß e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Familie so viel Land besitze,<br />
Forste, Güter nd Schlösser, die oft jahrelang leer stehen, während <strong>in</strong> jedem<br />
Zimmer des ganzen Landes e<strong>in</strong> halbes Dutzend Menschen zusammengepfercht<br />
leben müssen.<br />
Dabei weiß das gewöhnliche Volk nicht e<strong>in</strong>mal, daß <strong>der</strong> göttlich ver<br />
ehrte Kaiser unheilbar umnachtet ist, e<strong>in</strong>e Inzuchtsfolge, die allerd<strong>in</strong>gs J<br />
bei dem direkten Nachkommen e<strong>in</strong>er 2527 Jahre alten Familie - er ist <strong>der</strong><br />
122. Kaiser aus <strong>der</strong>selben Dynastie --r nicht allzu verwun<strong>der</strong>lich ist. Se<strong>in</strong><br />
historisch beglaubigter Ahnherr, Jimmu Tenno, war <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> Japans, <strong>noch</strong><br />
um 500 Jahre früher soll die ihm von <strong>der</strong> Legende zugeschriebene Ahnfrau,<br />
Amaterasu, die Sonnenentstiegene, gelebt haben. Der Kaiser trägt jetzt se<strong>in</strong>en<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>namen Joshihito und bekommt den Namen, mit welchem er <strong>in</strong> die<br />
Geschichte e<strong>in</strong>geht, erst nach se<strong>in</strong>em Tode, nach Maßgabe <strong>der</strong> auf dem Thron<br />
verbrachten Jahre. Wahrsche<strong>in</strong>lich wird <strong>der</strong> jetzige Kaiser e<strong>in</strong>mal Taisho<br />
Tenno heißen, das heißt, <strong>der</strong> große Kaiser <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Bekanntlich hat<br />
Japan ke<strong>in</strong>e fortlaufende, son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong>e durch die Regierungszeiten <strong>der</strong><br />
Kaiser bestimmte Zeitrechnung. Diese unregelmäßigen Zeitabschnitte tragen die<br />
nachträglich festgesetzten Namen <strong>der</strong> Herrscher und es bleibt <strong>der</strong><br />
Geschichtskenntnis und dem Rechentalent des e<strong>in</strong>zelnen überlassen, ausf<strong>in</strong>dig<br />
zu machen, <strong>in</strong> welche »Ära« e<strong>in</strong> vergangenes Ereignis gehört. Wiewohl jede<br />
»Ära« <strong>der</strong> letzten dritthalbtausend Jahre <strong>in</strong> <strong>der</strong> Volksschule gelehrt wird,<br />
ergeben sich schon bei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Angabe des Geburtsjahres e<strong>in</strong>es<br />
Großvaters die schwierigsten Rechenstudien. Außerordentlich verwickelt wird<br />
dieses ohneh<strong>in</strong> unübersichtliche Verfahren <strong>noch</strong> durch die Gepflogenheit <strong>der</strong><br />
Kaiser, den Namen ihrer Ära zu wechseln, <strong>wenn</strong> irgende<strong>in</strong> Landesunglück ihn<br />
befleckte. Erst <strong>der</strong> vorige Kaiser Meji, den die Geschichte »den Großen« nennt,<br />
machte diesen unendlichen Verwirrungen e<strong>in</strong> Ende und bestimmte, daß jede<br />
Ära nur e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Namen tragen dürfe. Der Name Meji, <strong>der</strong><br />
»Leuchtendes«, »Helles« und auch »Alles <strong>in</strong> Ordnunga ausdrückt -- Glück<br />
und Erfolge dauerten während <strong>der</strong> fünfundvierzig Jahre dieser Regierung<br />
ununterbrochen an --, wurde also nicht nur als se<strong>in</strong> eigener Name, son<strong>der</strong>n<br />
auch als <strong>der</strong> se<strong>in</strong>er Ära festgelegt.<br />
Diese Umstände verlangsamen die Politik, schrauben das politische Denken<br />
nach vergangenen Zeiten zurück und stemmen sich Neuerungen immer wie<strong>der</strong><br />
entgegen.<br />
6o
Die zwei <strong>in</strong>teressantesten politischen Persönlichkeiten <strong>in</strong> Tokio s<strong>in</strong>d<br />
augenblicklich Viscount Goto, <strong>der</strong> Bürgermeister, und Ozaki, e<strong>in</strong> als<br />
»Wil<strong>der</strong>« <strong>in</strong>s Parlament gewählter Schriftsteller und Journalist. Daß ich die<br />
E<strong>in</strong>führung zu dem Regierungsgegner ebenfalls vom Auswärtigen Amt<br />
bekomme, ist für die unterirdischen Beziehungen zwischen den offiziell<br />
fe<strong>in</strong>dlichen Parteien bezeichnend. Herr Hirota lächelt se<strong>in</strong> fe<strong>in</strong>es<br />
Diplomatenlächeln, da ich mich wun<strong>der</strong>e, daß er mit Ozaki befreundet sei.<br />
Das Lächeln soll aber nicht nur ausdrücken, daß jener nicht allzuweit von <strong>der</strong><br />
Clique entfernt lebe - ist Ozaki doch zweimal M<strong>in</strong>ister gewesen -, son<strong>der</strong>n es<br />
sagt mir auch so ungefähr: »Von e<strong>in</strong>em, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regierung gesessen ist,<br />
erfährt e<strong>in</strong> ausländischer ournalist doch nichts von Belang.«<br />
Herr Hirota irrt aber, denn Herr Ozaki nimmt sich ke<strong>in</strong> Blatt vor den<br />
Mund. Er ist e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> son<strong>der</strong>barsten Ergebnisse des heutigen Japan.<br />
Zweimal war er M<strong>in</strong>ister, e<strong>in</strong>mal Bürgermeister von Tokio, doch die jedem<br />
abgehenden Bürgermeister zukommenden hun<strong>der</strong>ttausend Yen deckten se<strong>in</strong>e<br />
Schulden nicht. Nun lebt er schlecht und recht von Artikeln, die er für die<br />
Zeitung schreibt, und von - - -- Regierungsunterstützungen. Wenigstens gibt<br />
es Leute, die behaupten, er werde dafür bezahlt, daß er sich viel wil<strong>der</strong><br />
gebärde, als es die jeweilige Streitfrage erfor<strong>der</strong>e, doch gehört dies sicher zu<br />
den gehässigen Übertreibungen <strong>der</strong> Residenten.<br />
E<strong>in</strong>e Stunde, sagt man mir, werde mich <strong>der</strong> Weg zu Ozakis Haus<br />
kosten, aber nach e<strong>in</strong>er Stunde des Fußmarsches und <strong>der</strong> Straßen= und<br />
Stadtbahnfahrt erfahre ich bei <strong>der</strong> bezeichneten Haltestelle, daß ich <strong>noch</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Viertelstunde mit <strong>der</strong> Riksha zu fahren habe, nach welcher Zeit mir <strong>der</strong><br />
Kurumaya bedeutet, daß ich nun von hier aus weiter zu Fuß gehen müsse,<br />
weil se<strong>in</strong> Gefährt über die im Bau bef<strong>in</strong>dliche Straße nicht h<strong>in</strong>wegkönne. Er liest<br />
mir aber die Angst vor dem bevorstehenden Umherirren aus den Augen und das<br />
bewegt ihn, mit mir zu gehen, wiewohl er im vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> bezahlt worden ist und<br />
ke<strong>in</strong> Tr<strong>in</strong>kgeld erwartet. Vorsorg=? lich nimmt er den Plaid, mit dem je<strong>der</strong><br />
Rikshakuli se<strong>in</strong>em Fahrgast die Füße e<strong>in</strong>wickelt, über den Arm, das<br />
Wägelchen läßt er alle<strong>in</strong> zurück. Wir klettern, kriechen, schlüpfen über und<br />
durch Bretterzäune, Holzverschalungen, Straße nste<strong>in</strong>=Pyramiden, waten <strong>in</strong><br />
Pfützen, spritzen Schmutzwasser um uns, so daß <strong>der</strong> arme Kerl <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en blauen<br />
Strumpfschuhen patschnasse Füße bekommt; nach e<strong>in</strong>er halben Stunde<br />
erreiche ich völlig erschöpft und gebrochen Ozakis Haus - die Marterreise hat<br />
mich zwei Stunden und e<strong>in</strong>en Gummischuh gekostet.<br />
6i
Offenbar hatte Herr Ozaki mich gar nicht mehr erwartet und wollte eben<br />
fortgehen; nun muß ich mich gedulden, bis er se<strong>in</strong>en ausländischen<br />
Straßenanzug wie<strong>der</strong> mit dem häuslichen Kimono vertauscht hat, <strong>in</strong> dem sich<br />
vornehme Japaner so viel sicherer fühlen. Die Toilette e<strong>in</strong>es Mannes dauert<br />
hier nicht weniger lang al die e<strong>in</strong>er Frau und die Vorschriften für den<br />
Sitz <strong>der</strong> Klei<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Ta,1e und den Hüften s<strong>in</strong>d für das männliche<br />
Geschlecht genau so streng wie für das weibliche, weshalb man alle Japaner<br />
stets an ihrem Gürtel und den Falten ihres Gewandes herum= rücken und<br />
=nesteln sieht. Ich habe also Zeit, mich <strong>in</strong> dem europäischen Wohn= und<br />
Arbeitsraum umzusehen und, die Märchenbücher durehzu= blättern, die Frau<br />
Ozaki, e<strong>in</strong>e Halbblut=Japaner<strong>in</strong>, englisch geschrieben hat.<br />
Nun sitzt er vor mir, schmal, unjung, aber mit ausdrucksvoll <strong>in</strong>ter=<br />
essanten Zügen, e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wenigen Japaner, denen man die geistige Be=<br />
schäftigung e<strong>in</strong>es ganzen Lebens im Gesicht anmerkt, während sich Japaner<br />
sonst nur durch die Zucht ihrer vornehmen Familie aus <strong>der</strong> Masse des<br />
geistigen wie handarbeitenden Proletariats abheben und sich auch<br />
Universitätsprofessoren aus schlechter Familie äußerlich <strong>in</strong> nichts von<br />
Kellnern unterscheiden.<br />
Natürlich setzt das Gespräch mit e<strong>in</strong>er Klage Ozakis über den furcht=<br />
baren Zustand se<strong>in</strong>es Wohnbezirkes e<strong>in</strong>. Erregt erzählt er mir, daß <strong>der</strong><br />
Straßenbau schon seit e<strong>in</strong>em Jahre die ganze Gegend verrammle, so daß alle<br />
diesseits Wohnenden wie auf e<strong>in</strong>er Insel hausten und alle Geschäfts= <strong>in</strong>haber<br />
zugrunde gerichtet worden seien und wegziehen mußten. Diese Straße, me<strong>in</strong>t<br />
Ozaki, sei e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nbild für die Wirtschaft Japans.<br />
Ozaki hat früher <strong>in</strong> besserer Lage gewohnt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Hause, das er<br />
billig bekommen hatte, weil es »verwunschen« war. Ihn hätten die Geister nicht<br />
gestört, denn sie galten ja nicht ihm, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>em Mör<strong>der</strong>, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>st hier<br />
gelebt, aber Frau Ozaki wollte dort nicht bleiben. Er be= richtet das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
so nüchternen Tone, daß es nicht klar ist, ob es ernst geme<strong>in</strong>t sei o<strong>der</strong> als<br />
Stichelrede auf die Gatt<strong>in</strong>, die später sehr erregt das Vorhandense<strong>in</strong> dieser<br />
Geister bezeugt.<br />
Der Abgeordnete geht sogleich zur hohen Politik über und sagt mir, es sei<br />
Japans e<strong>in</strong>zige Hauptsorge, woh<strong>in</strong> es sich ausbreiten solle. Das Land sei<br />
grauenhaft übervölkert - <strong>der</strong> Zuwachs steige <strong>noch</strong> immer, trotz <strong>der</strong><br />
entsetzlichen K<strong>in</strong><strong>der</strong>sterblichkeit -, außerdem sei nur e<strong>in</strong> Achtel davon<br />
anbaufähig und auch das zumeist nur durch künstliche Bewässerung. Wohl<br />
fühlen sich die Nachbarn Japans fortwährend bedroht, aber haupt= sächlich<br />
von ihrem eigenen schlechten Gewissen, weil sie trotz ihrer Kenntnis, daß<br />
den Japanern das Stammland zu enge geworden ist, <strong>der</strong>en<br />
E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ung verbieten. Australien zum Beispiel sei nur von fünf Mil<br />
lionen Menschen bewohnt, es biete aber fünfzig Millionen Platz und sei<br />
zwanzigmal so groß als das Gebiet, auf dem sechzig Millionen Japaner<br />
leben. Auch die Holland gehörigen Sunda=Inseln seien <strong>noch</strong> nicht zur<br />
Hälfte aufgeschlossen und Japan schreibe es amerikanischen E<strong>in</strong>flüssen zu, daß<br />
man ihm nicht e<strong>in</strong>mal dieses Urwaldgebiet überlasse. In Japan<br />
wachse die Bitterkeit darüber von Jahr zu Jahr und nähre den IVIilitaris=<br />
mus, <strong>der</strong> sonst, bei e<strong>in</strong>er friedlichen Öffnung von E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ungsgebieten,<br />
nur mehr an <strong>der</strong> Tradition e<strong>in</strong>en Rückhalt fände. Die Gloriole aus dem<br />
Russisch=Ja<strong>panische</strong>n Kriege sei nämlich schon recht verblaßt und ver= nünftige<br />
Leute nähmen das korrupte Zarenrußland und das vom Mutterlande<br />
abgeschnittene Ts<strong>in</strong>gtau, bei dessen E<strong>in</strong>nahme es auch nicht die kle<strong>in</strong>ste<br />
Siegesfeier gegeben habe, längst nicht mehr als Maßstab, da nie= mand wisse,<br />
wie e<strong>in</strong> Kampf mit e<strong>in</strong>em hochwertigen Gegner ausgehen würde. Haben doch<br />
Armee und Flotte ihre sämtlichen europäischen Be= rater weggeschickt; daß<br />
seither <strong>in</strong> den Munitionswerkstätten und Werften manches nicht klappe, sei e<strong>in</strong><br />
öffentliches Geheimnis.<br />
Ozaki verhehlt es ganz und gar nicht, daß es hauptsächlich Mißtrauen <strong>in</strong><br />
die eigene Waffe sei, die sich im Friedenswillen ausdrücke, ganz ge= wiß nicht<br />
<strong>der</strong> ja<strong>panische</strong> Charakter; e<strong>in</strong>e große Rolle spiele dabei auch die Erwägung,<br />
daß Amerika während e<strong>in</strong>es Krieges ke<strong>in</strong>e Rohbaumwolle schicken und ke<strong>in</strong>e<br />
Rohseide kaufen würde, wodurch es <strong>in</strong> Japan außer zu e<strong>in</strong>em militärischen auch<br />
zu e<strong>in</strong>em wirtschaftlichen Zusammenbruch käme. »Wozu also die Rüstungen?«<br />
fragt Ozaki nach dieser überwältigend ehr= lichen Darlegung <strong>der</strong> Lage.<br />
Amerika sei jetzt, wo Europa ke<strong>in</strong>e Rolle mehr <strong>in</strong> Japan spiele und England<br />
nicht mehr als Bundesgenosse h<strong>in</strong>ter ihm stehe, als Fe<strong>in</strong>d undenkbar und heute<br />
<strong>noch</strong> blute <strong>der</strong> nationale Stolz, weil man sich bei Sachal<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unheilbare<br />
Wunde geholt habe. Nutzlos vergeudet seien auch die ungeheuren Summen<br />
gewesen, die Wladiwostok verschlang.<br />
Ozakis Worte beweisen mir, was ich an<strong>der</strong>en Japanern gegenüber<br />
mehr im Unterbewußtse<strong>in</strong> empfunden hatte, daß die Klugen dieses Lan= des<br />
den Siegerhochmut, <strong>der</strong> durch das Bündnis mit England <strong>noch</strong> ver= stärkt<br />
worden war und <strong>der</strong> sich vor zwölf Jahren <strong>noch</strong> recht abstoßend fühlbar<br />
gemacht hatte, ebenso wie das Emporkömml<strong>in</strong>gswesen abgestreift haben;<br />
Ozaki betont mit Stolz, daß er schon damals die Abrüstung ge= predigt<br />
habe, als die an<strong>der</strong>en sie mit Hohnlachen abtaten, und daß erst <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton<br />
se<strong>in</strong>e Auffassung voll zu Ehren gekommen sei. Jetzt freilich pfiffen es die<br />
Spatzen auf dem Dache, daß Japan ke<strong>in</strong>e Armee brauche, weil Rußland und<br />
Ch<strong>in</strong>a durch ihre Schwäche ohnmächtig seien und Amerika<br />
62 63
nur als Flottenfrage aufgefaßt werden dürfe. Außerdem g<strong>in</strong>gen die Steuern viel<br />
zu saumselig e<strong>in</strong>, als daß Japan überhaupt e<strong>in</strong>e Armee erhalten könne.<br />
So rückhaltlos enthüllt mir Ozaki alle Abgründe des Japanertums, daß<br />
Herr Hirota, hörte er es, doch etwas weniger lächeln würde. Ja, manches,<br />
was Ozaki sagt, ist so schwarz <strong>in</strong> schwar- gemalt, daß es mir nachträglich<br />
von recht antija<strong>panische</strong>n Residentei -ls übertrieben, vor allem als durch<br />
Verbesserungen überholt bezeichnet wird.<br />
Am heftigsten bekämpft Ozaki die ja<strong>panische</strong> Kriegerkaste, sie be= deute<br />
alles, das Volk nichts. Ihre Vorfahren, die Clans, hatten sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit<br />
<strong>der</strong> Restauration auf die Seite des Kaisers gestellt und dieser müsse sie<br />
seither, <strong>in</strong> ihrer jetzigen Form als Militär und Bureaukratie, unumschränkt<br />
herrschen und ohne Rücksicht auf die Allgeme<strong>in</strong>heit alle Gesetze zu ihren<br />
Gunsten machen lassen.<br />
Die Wähler <strong>der</strong> Militärpartei s<strong>in</strong>d die kle<strong>in</strong>en Bauern, die siebzig Pro=<br />
zent aller Landwirte ausmachen und ohne Masch<strong>in</strong>en den vulkanischen<br />
Boden mit ihrer Hände Arbeit terrassieren und bewässern, e<strong>in</strong> beispielloser<br />
Kampf <strong>der</strong> ganzen Familie gegen e<strong>in</strong>e wi<strong>der</strong>willige Erde, <strong>der</strong> die Japaner zum<br />
ausdauerndsten Volk <strong>der</strong> Welt gemacht hat. Im Kriege waren diese<br />
Reisbauern mit dem Militarismus sehr e<strong>in</strong>verstanden, weil die Reispreise zu<br />
e<strong>in</strong>er nie erwarteten Höhe stiegen und die Politik <strong>in</strong> Japan mit den<br />
Reispreisen zusammenhängt. Es ist das drittgrößte Reisland <strong>der</strong> Welt und<br />
zwei Drittel se<strong>in</strong>es bebauten Teiles liefern viertausend Arten von Reis,<br />
angeblich den besten <strong>der</strong> Welt. In Reis floß den Daymios, den Fürsten<br />
<strong>der</strong> Feudalzeit, ihr E<strong>in</strong>kommen zu, <strong>in</strong> Reis zahlten die Bauern fast überall<br />
ihre Steuern. Jetzt, wo Amerika wie<strong>der</strong> Reis e<strong>in</strong>führt, wo sehr ergiebige<br />
Ernten die Preise drücken, bleibt von <strong>der</strong> guten Zeit nur die Teuerung. Wird<br />
aber dem zusammenbrechenden Bauer die Steuer er~ lassen, so verliert er<br />
das Wahlrecht.<br />
Die ja<strong>panische</strong> Familie war stets mit dem Militarismus verbunden, für<br />
Grund und Boden verkaufte sie Menschenfleisch. Dafür, daß sie dem Kaiser<br />
Soldaten beistellte, bekam sie Land -- und Land ist <strong>der</strong> <strong>in</strong> Japan am meisten<br />
geschätzte Besitz. Die Bodenpreise Japans s<strong>in</strong>d daher die höch= sten <strong>der</strong> Welt.<br />
Ozaki stellt mir e<strong>in</strong>e vergleichende Tabelle zusammen: <strong>in</strong> England kostet<br />
dasselbe Bodenmaß, das hier sieben bis achtzehn Shill<strong>in</strong>g wert ist, drei Pence,<br />
<strong>in</strong> Amerika die Hälfte davon. Für bebautes Reisland, das <strong>in</strong> Amerika<br />
weniger als e<strong>in</strong>en Shill<strong>in</strong>g, <strong>in</strong> Afrika e<strong>in</strong> drittel Penny kostet, müssen <strong>in</strong><br />
Japan dreizehn bis vierzehn Shill<strong>in</strong>g bezahlt werden.<br />
Ozaki strebt die Sozialisierung des Bodens an, die Abschaffung <strong>der</strong><br />
Vorrechte <strong>der</strong> Offiziere, die Verr<strong>in</strong>gerung ihrer Anzahl und vor allem<br />
die Unterstellung des Generalstabes unter die Gesetze. Es soll nicht nur e<strong>in</strong><br />
General Kriegsm<strong>in</strong>ister werden dürfen, <strong>der</strong> Kaiser soll das Recht verlieren,<br />
das Kab<strong>in</strong>ett wegzuschicken, welches sich bisher nur dann habe halten können,<br />
<strong>wenn</strong> es sich wi<strong>der</strong> Recht und Pflicht vom Militär befehlen und stützen ließ.<br />
Überhaupt müsse <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluß des Militärs gebrochen und dem Parlament Kraft<br />
e<strong>in</strong>geflößt werden. Aber bisher sei sogar e<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Volkspartei getragenes<br />
Kab<strong>in</strong>ett bureaukratisch zusammengesetzt gewesen. Diese Volksvertretung, die<br />
nur für den kle<strong>in</strong>sten Teil des Vol= kes spreche, sei nichts als e<strong>in</strong> Zierat, das<br />
Volk aber seit Jahrhun<strong>der</strong>ten e<strong>in</strong>e Gesellschaft von Sklaven, demütig, ohne<br />
Rechte. Streiks seien ge= setzlich verboten und Unruhestifter würden<br />
e<strong>in</strong>gesperrt, ja, die Führer bekämen an Tagen, an welchen den Zeitungen<br />
zuliebe Versammlungen geduldet würden, Hausarrest, mit e<strong>in</strong>em Polizisten<br />
vor <strong>der</strong> Türe. Von <strong>der</strong> Polizei würden Stänkerer gemietet, die solche<br />
Versammlungen sprengen. Er, Ozaki, sei seit vierzig Jahren bei öffentlichen<br />
Reden <strong>in</strong> Lebensgefahr. Bei den Wahlen gehe die Wache von Haus zu Haus<br />
und bee<strong>in</strong>flusse die erschreckten Leute, die hier furchtbare Angst vor <strong>der</strong><br />
übermächtigen Polizei haben; und während es früher <strong>noch</strong> Zeitungen gegeben<br />
habe, die sich für die Politik opferten, unterwürfen sich jetzt alle dem Interesse<br />
ihrer kapitalistischen Geldgeber. Se<strong>in</strong>e Mitarbeit sei für e<strong>in</strong>e Zeitung stets e<strong>in</strong><br />
Unglück gewesen, weil ihrem Herausgeber von <strong>der</strong> Regierung sofort<br />
Prügel zwischen die Be<strong>in</strong>e geworfen wurden.<br />
Von den schlimmsten zwei Übeln Japans sei aber <strong>der</strong> Militarismus das<br />
ger<strong>in</strong>gere gegenüber dem ver<strong>der</strong>blichen des Familiensystems. Die Aufstellung<br />
des Majoratserben als erklärten Familienoberhauptes und <strong>der</strong> Zusammenhalt<br />
je<strong>der</strong> Familie <strong>in</strong> sich selbst sei <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Samurais <strong>der</strong> äußeren Fe<strong>in</strong>de<br />
halber nötig gewesen, wohlgemerkt auch damals nur für die Adeligen, die<br />
Großgrundbesitzer, nicht aber für das Volk; dieses habe aber alles, was von<br />
oben kam, nachgeahmt, auch die völlig uns<strong>in</strong>nige, ja geradezu lebenzerstörende<br />
Unsitte <strong>der</strong> Nebenfrauen. Weil <strong>der</strong> Clan, <strong>der</strong> Hof <strong>der</strong> reisigen Feudalherren,<br />
verläßlichen, kampffähigen Nachwuchs brauchte, habe <strong>der</strong> Daymio viele<br />
Weiber <strong>der</strong> Sippe geschwängert, heute aber müßte je<strong>der</strong> Volksführer es als<br />
se<strong>in</strong>e Pflicht ansehen, friedliche Städter von <strong>der</strong> Nachahmung dieses alten<br />
Herkommens abzuhalten. Statt aber ihren Mitbürgern e<strong>in</strong> Vorbild <strong>der</strong> Moral<br />
zu se<strong>in</strong>, führten <strong>noch</strong> jetzt die hohen Adeligen mehrere Haushalte <strong>in</strong> demselben<br />
Schlosse und<br />
die fe<strong>in</strong>dlichen K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Diener<strong>in</strong>nen trügen Klatschereien und Hetze<br />
h<strong>in</strong> und her. Ozaki habe se<strong>in</strong> Töchterchen e<strong>in</strong>e Zeitlang <strong>in</strong> die sogenannte<br />
Peersschule geschickt, es aber wie<strong>der</strong> herausnehmen müssen, weil die <strong>in</strong><br />
64 Alice Säialek, Japan. 5 65
<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>stube vergifteten Mitschüler<strong>in</strong>nen lügnerisch, herumträgerisch und<br />
gehässig gewesen seien. Daß- die Söhne <strong>der</strong> aus den untersten Schichten<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung stammenden Kebsweiber die höchsten Stellen erlangen,<br />
br<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> Verwaltung viel Schaden. Wollte Ozaki diese Kon=<br />
kub<strong>in</strong>enseuche öffentlich brandmarken, so - ~irde er fast alle se<strong>in</strong>e Freunde<br />
damit an den Pranger stellen.<br />
»Ja«, schließt Ozaki se<strong>in</strong>e zweistündige Rede, »nur wer das verwickelte<br />
System dieses Volkes kennt, übersieht alle se<strong>in</strong>e Schattenseiten. Früher war<br />
<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Teil des Volkes faul und schön und edel und lebte vom an<strong>der</strong>n<br />
Teil. Das nannte man Feudalismus. Auch im Zeitalter <strong>der</strong> Demokratie den<br />
Feudalismus beizubehalten, ist Wahns<strong>in</strong>n. Es ist Bild= haft und<br />
patriarchalisch, auf dem Boden zu hocken, aber man kann sich nicht schnell<br />
genug aufrichten, <strong>wenn</strong> das Telephon läutet; es ist dekorativ, lange Ärmel zu<br />
haben, aber spr<strong>in</strong>gt man von <strong>der</strong> Elektrischen ab, so bleibt man hängen ; es<br />
ist orig<strong>in</strong>ell und putzt die Landschaft auf, wohnt man <strong>in</strong> Papierhäuschen, aber<br />
mit mo<strong>der</strong>nen Kabeln durchzogen, fangen sie Feuer. Es bleibt Japan nichts<br />
übrig, als sich völlig zu häuten - büßt es auch e<strong>in</strong>en Teil se<strong>in</strong>es Reizes e<strong>in</strong>.«<br />
Beim Abschied bittet mich Ozaki, all diese ja<strong>panische</strong>n Llbelstände <strong>in</strong><br />
ausländischen Zeitungen auf das rückhaltloseste zu besprechen. »Was wir<br />
vor allem brauchen, ist die Aufklärung des Publikums, und sie hat bei uns<br />
e<strong>in</strong>e doppelte Wirkung, <strong>wenn</strong> sie von draußen kommt.«<br />
Wie entstand eigentlich die Me<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt, daß die Japaner ver=<br />
schlossen und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> ihren eigenen Angelegenheiten unzugäng= lieh<br />
seien? Denn diese Auffassung Ozakis von <strong>der</strong> Rolle e<strong>in</strong>es fremden Journalisten<br />
<strong>in</strong> Japan begegnet mir auch bei vielen an<strong>der</strong>en Japanern, so daß ich oft darüber<br />
nachs<strong>in</strong>ne, <strong>in</strong> welchem Lande <strong>der</strong> Erde, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> jetzigen<br />
Hochflut des Nationalismus, solches <strong>noch</strong> möglich wäre.<br />
k<br />
Der Besuch bei Ozakis Gegner Viscount Goto, dem konservativen<br />
Führer <strong>der</strong> Militaristenpartei, zu welchem mich Herr Tsurumi, se<strong>in</strong><br />
Schwiegersohn, e<strong>in</strong>führt, fällt natürlich ganz an<strong>der</strong>s aus. Der junge Frei=<br />
heitsidealist, <strong>der</strong> mich im wun<strong>der</strong>baren Automobil se<strong>in</strong>es Schwiegervaters<br />
abholt, sche<strong>in</strong>t mir heute wie verwandelt. Er spricht ke<strong>in</strong> Wort mehr<br />
gegen den alten Herrn und <strong>der</strong> Kimono, den er <strong>der</strong> feierlichen Gelegen=<br />
heit zuliebe angelegt hat, richtet die Schranken, die er, gewissermaßen als das<br />
S<strong>in</strong>nbild <strong>der</strong> Kluft zwischen den Rassen, stets zwischen Auslän<strong>der</strong> und<br />
Japaner schiebt, auch zwischen uns auf. Und mit e<strong>in</strong>em Gefühl <strong>der</strong> Fremdheit<br />
kommen wir beim Hause Gotos an.<br />
Man muß vom Automobil zum Haustor auch hier durch e<strong>in</strong>e Pfütze<br />
waten, es wird e<strong>in</strong>em aber doch sofort zum Bewußtse<strong>in</strong> gebracht, daß man<br />
bei e<strong>in</strong>em großen Herrn zu Gaste ist. Drei lautlose Boys helfen mir, die Schuhe<br />
abzulegen, <strong>in</strong> fe<strong>in</strong>en weichen Pantoffeln gleitet man durch matte Papiergänge<br />
über spiegelndes Parkett aus poliertem Eichenholz, auf welchen ke<strong>in</strong><br />
Stäubchen liegt.<br />
Viscount Goto ist dadurch <strong>in</strong> den Mittelpunkt des Interesses se<strong>in</strong>er<br />
Landsleute gerückt, daß er den russischen Volkstribunen Joffe e<strong>in</strong>geladen hat,<br />
se<strong>in</strong>e kranken Glie<strong>der</strong> an e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> heißen Q eilen Japans zu heilen. Vier<br />
Fünftel aller Japaner können das nicht fassen. Es wäre allerd<strong>in</strong>gs auch zu viel<br />
von ihnen verlangt zu begreifen, warum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lande, <strong>in</strong> dem die<br />
ausländischen Touristen um des Verdachtes kommunistischer Umtriebe willen<br />
polizeilich überwacht und die Bolschewisten ausgewiesen werden, ihrem<br />
Führer vom Bürgermeister selbst Tür und Tor geöffnet werde. Die Plebs<br />
zertrümmerte also prompt Herrn Gotos Fenster, ver= nichtete se<strong>in</strong>e kostbaren<br />
alten Kunstwerke und bedrohte ihn am Leben.<br />
Seit dem E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>=Rummel war ke<strong>in</strong> solcher Volksauflauf mehr zu sehen<br />
gewesen wie bei Joffes Ankunft: Kopf an Kopf gedrängt wartete die Menge<br />
vor dem Bahnhofe. In wenigen an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n ist e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> politische<br />
Kundgebung von solcher Leidenschaftlichkeit denkbar. Fiebernde Gehirne<br />
empörten sich gegen die unfaßlicherweise von oben gebilligte E<strong>in</strong>schleppung<br />
des bolschewistischen Giftes, da man offenbar glaubte, die bloße Anwesenheit<br />
des russischen Aufwühlers werde an= steckend wirken.<br />
Aber auch solchen Japanern, die fe<strong>in</strong>eren Verästelungen <strong>der</strong> Politik<br />
zugänglich s<strong>in</strong>d, blieb es e<strong>in</strong> ungelöstes Rätsel, ob Goto nur die Ver=<br />
antwortung nach außen auf sich genommen o<strong>der</strong> tatsächlich ohne Wissen <strong>der</strong><br />
Regierung auf eigene Faust gehandelt habe; ihnen war nur <strong>der</strong> An= laß dieses<br />
bedeutsamen Schachzuges klar: Japan muß wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Freund haben.<br />
England rückte zur Seite, weil Japan verlangt hatte, daß Austra= lien ihm<br />
se<strong>in</strong>e Tore öffne, Ch<strong>in</strong>a und Amerika zeigen sich übelwollend, ersteres fast<br />
fe<strong>in</strong>dlich -- hassen doch die Ch<strong>in</strong>esen die Japaner mehr als die Franzosen die<br />
Deutschen, als die Antisemiten die Juden. Japan täuscht sich nicht mehr<br />
darüber, daß es vollkommen vere<strong>in</strong>samt ist. Daher die E<strong>in</strong>ladung an Joffe.<br />
Es unterliegt ke<strong>in</strong>em Zweifel, daß für Japan, dessen große Interessen jetzt<br />
zwischen Rußland und Amerika pendeln, Europa wohl <strong>noch</strong> zur<br />
Ausnützung se<strong>in</strong>er Universitäten, Museen, Techniken und Kunstschulen <strong>in</strong><br />
Betracht kommt, politisch aber seit dem Weltkriege erledigt ist. Die<br />
66 5* 67
Europas Weltführerschaft zerstörende Wirkung des Krieges offenbart sich<br />
<strong>in</strong> dieser E<strong>in</strong>ladung an Joffe, ,die ergangen ist, trotzdem das ganze Volk so<br />
sehr dagegen war, daß man den E<strong>in</strong>geladenen nicht bis zu se<strong>in</strong>em Gastgeber<br />
zu br<strong>in</strong>gen wagte; heimlich ließ man ihn durch e<strong>in</strong>en Seitenausgang <strong>in</strong> das dem<br />
Bahnhof angebaute ; `ationshotel verschw<strong>in</strong>den, wo er sich von je<strong>der</strong>mann<br />
absperren mußte.<br />
In dem halbeuropäischen Zimmer, <strong>in</strong> welchem Goto mich im Kimono<br />
empfängt, stechen e<strong>in</strong> paar Dutzendmöbel seltsam von den herrlichen alten<br />
Cloisonnes ab - alles sche<strong>in</strong>en die Aufrührer also doch nicht zerstört zu haben<br />
und die Sitte, immer nur e<strong>in</strong>ige Stücke auf e<strong>in</strong>mal zur Schau zu stellen, hat sich<br />
wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal bewährt.<br />
Goto sieht lange nicht so <strong>in</strong>teressant aus wie Ozaki, se<strong>in</strong> Gesicht hat<br />
e<strong>in</strong>en mehr schlauen Ausdruck. Er trägt natürlich Brillen -- nebst Goldplomben<br />
s<strong>in</strong>d sie das äußere Zeichen <strong>der</strong> Bildung <strong>in</strong> Japan - und e<strong>in</strong>en weißen,<br />
nicht gefärbten Spitzbart, was hier sehr selten ist, denn die Herren <strong>in</strong> Tokio<br />
rasieren sich das K<strong>in</strong>n, <strong>in</strong> vorgerückten Jahren färben sie sich das ergrauende<br />
Haar.<br />
Wiewohl Goto <strong>in</strong> Wien studiert hat und sehr gut Deutsch sprechen<br />
soll, ist Tsurumi als englischer Dolmetsch mitgekommen. Politische Interviews<br />
werden <strong>in</strong> Japan nur durch Interpreten gegeben, damit während <strong>der</strong><br />
Übertragung e<strong>in</strong>es Satzes Zeit bleibe, über den nächsten nachzudenken. Aber<br />
Tsurumis unpersönliche Wie<strong>der</strong>gabe des Gesagten br<strong>in</strong>gt mich außer Fassung.<br />
So sehr er unter vier Augen gegen den Schwiegervater gewettert und sich als<br />
zu me<strong>in</strong>esgleichen gehörig ausgegeben hatte, jetzt blitzt nicht das ger<strong>in</strong>gste<br />
E<strong>in</strong>verständnis mit mir durch, es sche<strong>in</strong>t, als habe se<strong>in</strong>e Seele ke<strong>in</strong> Eigenleben,<br />
son<strong>der</strong>n nichts als Demut mitgebracht. Es ist offenbar nicht so leicht, an<br />
Japans Feudalismus zu rütteln.<br />
Dieser Gedankengang prägt sich denn auch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er ersten Frage aus:<br />
»Was ist besser für Japan: die alte Sitte ztt bewahren o<strong>der</strong> die neue<br />
anzunehmen?« Gotos Antwort gipfelt <strong>in</strong> <strong>der</strong> mir bereits bekannten Über=<br />
zeugung: Japan habe die ch<strong>in</strong>esische Kultur zu e<strong>in</strong>er ja<strong>panische</strong>n verarbeitet,<br />
dasselbe werde ihm mit <strong>der</strong> europäischen gel<strong>in</strong>gen. Der gesunde, auf uralte<br />
Überlieferungen gestützte S<strong>in</strong>n dieses von se<strong>in</strong>er Geschichte getragenen<br />
Volkes werde zweifellos aus all dem von den Zeitungen und den ausfliegenden<br />
jungen Leuten here<strong>in</strong>gebrachten Neuen nur das Wichtige behalten und das<br />
Schädliche abstoßen.<br />
Dieser Gedanke ist hier augenblicklich <strong>der</strong> Stützpfeiler im Wechsel. Die<br />
Schönheit ja<strong>panische</strong>r Kleidung mit dem Praktischen <strong>der</strong> auslän= dischen zu<br />
verquicken, e<strong>in</strong>e Übere<strong>in</strong>stimmung des ja<strong>panische</strong>n Häuserstils<br />
mit <strong>der</strong> Bekömmlichkeit und E<strong>in</strong>richtung des ausländischen zu f<strong>in</strong>den, <strong>in</strong>mitten<br />
mo<strong>der</strong>ner Lebensweise uralte Etikette beizubehalten, ist das Ziel aller<br />
Bestrebungen; nicht e<strong>in</strong>mal Herrn Gotos fortschrittlicher Schwiegersohn<br />
würde se<strong>in</strong>e Zustimmung zur Abschaffung <strong>der</strong> Teezeremonie geben, von <strong>der</strong><br />
es heißt, auf ihr ruhe die ja<strong>panische</strong> Kultur.<br />
Nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Möglichkeit - fährt Goto fort - könne Japan wie<strong>der</strong> zu<br />
se<strong>in</strong>er ehemaligen Abschließung zurückführen und das wäre die Fortdauer des<br />
Hasses von außen. Und plötzlich schießt die Frage auf mich los: »Warum<br />
haßt Deutschland Japan?«<br />
Die <strong>in</strong> Deutschland geradezu wie e<strong>in</strong> Kult betriebene Verehrung alles<br />
Ja<strong>panische</strong>n, die Leafcadio Hearns Werke gleich e<strong>in</strong>er Offenbarung h<strong>in</strong>nahm,<br />
läßt mir diese Frage absurd ersche<strong>in</strong>en, aber Gotos spitzfmdiges Lächeln<br />
zeigt, daß er vom Gegenteil überzeugt ist. - »Und Kaiser Wile helms Bild:<br />
Die gelbe Gefahr?« fragt er weiter. »Niemals wird das ja. <strong>panische</strong> Volk<br />
vergessen, daß es Deutschlands Herrscher war, <strong>der</strong> dieses Wort geprägt<br />
68 69<br />
hat!«<br />
Da also fasse ich sie, die Kaiserworte, die dem deutschen Volke so<br />
viel Fe<strong>in</strong>dschaft ohne Gegenwert e<strong>in</strong>trugen, hier leben sie <strong>noch</strong>, ungemil<strong>der</strong>t,<br />
unverziehen. Und weiter spricht Goto: »Und was hatte Deutschs land sich <strong>in</strong><br />
unsern Frieden von Shimonoseki e<strong>in</strong>zumengen? Es war nicht se<strong>in</strong>e Sache.<br />
Unterstützte es damals Frankreich gegen uns, wiewohl es ke<strong>in</strong>e eigenen<br />
Interessen hatte, so muß das aus Haß gegen uns geschehen se<strong>in</strong>.« Wie<strong>der</strong><br />
lüftet sich mir e<strong>in</strong> Zipfel des Geheimnisses, warum sich soviel Fe<strong>in</strong>de gegen<br />
Deutschland zusammengefunden haben. Ohne irgendwelche greifbaren<br />
Vorteile dafür e<strong>in</strong>zutauschen, hatte man reizbare Stellen geschaffen, durch<br />
bloße Worte - - - Gar mancher Deutsche mag sich gefragt haben: »Warum<br />
nahm Japan Ts<strong>in</strong>gtau? Was taten wir ihm?« Und wußte nicht, daß die<br />
Kriegserklärung Japans an Deutschland die Worte des Friedensdiktats von<br />
Shimonoseki wie<strong>der</strong>holte, das den Japanern den Preis ihres Sieges über<br />
Ch<strong>in</strong>a nahm und das Deutschland mitunterschrieben hatte, nur weil se<strong>in</strong><br />
Kaiser dabei se<strong>in</strong> wollte, während doch nur Rußland wirkliches Interesse<br />
daran hatte und Frankreich den Verbündeten unterstützen mußte. Manche<br />
werden sich gefragt haben: »Warum hat man Deutsche <strong>in</strong> Japan<br />
gefangengehalten?« Und wußten nicht, daß je<strong>der</strong> deutsche Mann im Osten<br />
e<strong>in</strong>en Militärbrief bei sich tragen mußte, <strong>der</strong> ihm für den Kriegsfall se<strong>in</strong>en<br />
Posten <strong>in</strong> Ts<strong>in</strong>gtau zuwies, was 1ii t e<strong>in</strong>er Verurteilung zu jahrelangem<br />
Gefangenenlager gleichbedeutend war. Daß Ts<strong>in</strong>gtau nicht zu e<strong>in</strong>er Festung<br />
und zu e<strong>in</strong>em Stützpunkt für Kriegsschiffe hätte gemacht werden dürfen, weil<br />
es, vom Heimatland ab
geschnitten, im Kriegsfall nicht zu halten war, hätte jedem Fachmann klar se<strong>in</strong><br />
müssen.<br />
Goto fährt fort: »Wir wissen ohl, daß uns <strong>der</strong> Haß auch aus Eng=<br />
land und Amerika kommt, und zwar sowohl von den Demokraten wie von<br />
den Imperialisten. Die politische Ursache liegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Übervölkerung unseres<br />
Landes und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst uns -er Nachbarn vor dem Wett= Bewerb unserer<br />
Auswan<strong>der</strong>er; die menschliche <strong>in</strong> den Verschiedenheiten <strong>der</strong> Sprache, <strong>der</strong><br />
Lebensweise und <strong>der</strong> Wohnung, aus weichen beim Verkehr so viele<br />
Mißverständnisse erwachsen. Jetzt hastet unser ganzes Land danach, sich <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>n Art anzupassen, doch <strong>in</strong> fünfzig Jahren wird die Harmonie<br />
wie<strong>der</strong>hergestellt se<strong>in</strong> und es ist ke<strong>in</strong> Unglück, <strong>wenn</strong> bis dah<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige schöne<br />
Sitten vorlorengehen sollten, wirkliche ja<strong>panische</strong> Kunst und Kultur haben<br />
Ewigkeitsdauer.«<br />
Es gibt hier ke<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres Schwanken, ke<strong>in</strong> V ißtrauen <strong>in</strong> die eigene Kraft.<br />
Dar<strong>in</strong> liegt die Überlegenheit <strong>der</strong> Japaner über uns. Nach dem Erdbeben<br />
soll Goto mit e<strong>in</strong>em bereits fertigen Plan zum Neubau <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
hervorgetreten se<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>bekannt haben, daß er sich längst mit <strong>der</strong> Idee<br />
e<strong>in</strong>er Nie<strong>der</strong>reißung des alten Tokio getragen habe. Nur zu viel Geld habe<br />
es gekostet ------------------------------------Jetzt aber steigt für diesen starken<br />
Mann aus dem Nationalunglück die Vision e<strong>in</strong>er gewaltigen Weltstadt, denn<br />
auch <strong>der</strong> neue Hafen soll nicht mehr bei ~'okohama, son<strong>der</strong>n un= mittelbar bei<br />
<strong>der</strong> Hauptstadt errichtet werden.<br />
Goto erzählt mir nun, daß sich schon e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Bewegung zur<br />
Verwestlichung des Landes sehr weit durchgesetzt habe, unter dem Kaiser<br />
Meji, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Genie gewesen sei. Er glühte für Frieden, Brü<strong>der</strong>= lichkeit<br />
und Zivilisation und trug den an<strong>der</strong>en Nationen se<strong>in</strong>e Freund= schaft entgegen.<br />
Aber als damals bei jenem nie verschmerzten Frieden von Shimonoseki<br />
Frankreich, Rußland und Deutschland verlangt hatten, daß Japan von se<strong>in</strong>em<br />
Sieg über Ch<strong>in</strong>a ke<strong>in</strong>e Vorteile behalten dürfe, weil auch e<strong>in</strong>er besiegten<br />
Nation die Unverletzlichkeit gewahrt bleiben müsse -- bei diesen Worten<br />
unterbricht sich Goto selbst und wirft e<strong>in</strong>, daß man <strong>in</strong> Frankreich jetzt, wo<br />
man Sieger sei, offenbar an<strong>der</strong>s über diese D<strong>in</strong>ge denke -, habe <strong>der</strong><br />
friedliebende Kaiser wohl nachgegeben, sich aber wie<strong>der</strong> auf Japan<br />
zurückgezogen und die Ideen <strong>der</strong> Verwest= lichung fallen lassen. Er habe nie<br />
etwas Bitteres gesagt, auch dann nicht, als alle drei Län<strong>der</strong> und auch<br />
England Teile von Ch<strong>in</strong>a für sich herausschnitten. Bitteres gedacht habe<br />
aber das ganze Volk. Von Ruß= land und Deutschland habe es sich die<br />
Genugtuung bereits geholt und diesen beiden Län<strong>der</strong>n sei es nicht länger gram.<br />
For<strong>der</strong>e doch Bushido,<br />
<strong>der</strong> ja<strong>panische</strong> Kodex für Ritterlichkeit, daß man dem geschlagenen Fe<strong>in</strong>de wie<br />
e<strong>in</strong>em Bru<strong>der</strong> die helfende Hand reiche.<br />
\X/ie friedlich dieser große Kaiser gewesen sei, gehe zur Genüge aus den von<br />
ihm geschriebenen fünfhun<strong>der</strong>t Gedichten hervor. Dieser se<strong>in</strong>er Zeit weit<br />
vorausgeeilte Denker begehrte die Mandsehurei nicht alle<strong>in</strong> für Japan, son<strong>der</strong>n<br />
wollte sie zur Stätte <strong>in</strong>ternationaler Zusammenarbeit machen, e<strong>in</strong>e<br />
weltumspannende Idee, welche <strong>in</strong> Wirklichkeit umzusetzen er, Goto, als<br />
Präsident <strong>der</strong> SüdmandschurisehenBahn <strong>in</strong> <strong>der</strong>Mandschurei versucht habe, aber<br />
Rußland habe es an<strong>der</strong>s gewollt und so sei es zum Kriege gekommen.<br />
Da ich Goto frage, wie diese Internationalität Mejis sich mit <strong>der</strong> Be=<br />
drückung <strong>der</strong> Koreaner vere<strong>in</strong>e, zeigt auch er den erstaunlichen Freimut <strong>der</strong><br />
Japaner, die nie versuchen, Unentschuldbares zu decken, und me<strong>in</strong>t, daß diese<br />
den jetzigen Fascisten vorweggenommene Politik niemals se<strong>in</strong>e Zustimmung<br />
gefunden und daß er stets gefürchtet habe, sie werde Japan übelwollen<br />
e<strong>in</strong>tragen. Doch auch beim besten Willen sei die Idee des<br />
Selbstbestimmungsrechtes für Korea <strong>noch</strong> nicht anwendbar. »Sollten Sie Ihre<br />
Absicht, durch Korea <strong>in</strong> die Mandschurei zu reisen, ausführen, so werden Sie<br />
selbst bestätigen müssen, um wieviel besser es Korea be= kommen ist, daß<br />
man es nicht vorzeitig sich selbst überlassen hat.« Goto sagt <strong>noch</strong> ausdrücklich,<br />
je<strong>der</strong> wisse, daß er die schweren Fehler, die dort geschehen seien, stets<br />
öffentlich gerügt und es für aussichtslos erklärt habe, e<strong>in</strong>e Bevölkerung, <strong>der</strong><br />
man <strong>in</strong> kurzsichtiger Weise jede geistige Befriedigung vorenthalte, zur<br />
Würdigung <strong>der</strong> sachlichen Vorteile e<strong>in</strong>er Fremdherrschaft zu br<strong>in</strong>gen.<br />
Diese unerwartete Offenheit des großen Mannes verlockt mich, die<br />
brennende Frage des Tages anzuschneiden: Joffe. Goto wird sofort<br />
zurückhaltend und erklärt, er habe Joffe e<strong>in</strong>geladen, weil er krank sei und Ch<strong>in</strong>a<br />
dem schwer leidenden Manne Aufenthaltsschwierigkeiten bereitete. Ich werfe<br />
e<strong>in</strong>, daß Goto doch nicht allen kranken Leuten e<strong>in</strong> Asyl bieten<br />
könne. Also warum gerade Joffe? »Warum gerade nicht Joffe?« fragt er zurück.<br />
Da beichte ich lächelnd, daß mir schon gestern auf e<strong>in</strong>em euro=<br />
päischen Tee vorhergesagt worden sei, daß Goto auch mir gegenüber die<br />
Fiktion dieser Erholungsreise aufrechterhalten werde. Darauf me<strong>in</strong>t er,<br />
dies sei bezeichnend für die traurige Vergiftung <strong>der</strong> Zeit durch die Politik,<br />
niemand wolle mehr an re<strong>in</strong>e Menschlichkeit glauben. Darunter, daß<br />
jedes Geschehnis mit politischen Augen betrachtet werde, leide die ganze<br />
Welt. Dem ja<strong>panische</strong>n Botschafter <strong>in</strong> Polen sei von Rußland erlaubt<br />
worden, durch Sibirien heimzufahren, und e<strong>in</strong>e Gegene<strong>in</strong>ladung an e<strong>in</strong>en<br />
Russen sei um nichts mehr, als wozu sich jedes Bürgerhaus verpflichtet fühle.<br />
70 7'
Die Welt freilich behauptet, diese E<strong>in</strong>ladung sei e<strong>in</strong> Meisterstück <strong>der</strong><br />
Politik, denn Goto sandte sie persönlich als Präsident <strong>der</strong> gelehrten russisch=<br />
ja<strong>panische</strong>n Gesellschaft, also durchaus als Privatmann, und Joffe kam ja<br />
wirklich krank genug <strong>in</strong> Japan an, wäre dort be<strong>in</strong>ahe gestorben, so daß die<br />
Regierung tun kann, als wüßte sie von nichts. Die Möglichkeit, daß Goto,<br />
dessen Macht sehr groß ist, die I 7ierung wirklich nicht gefragt hat, ist<br />
freilich auch nicht von <strong>der</strong> Hand zu weisen. Führen die so schlau<br />
angeknüpften Fäden zu e<strong>in</strong>er Verb<strong>in</strong>dung, so kann sich die Regie= rung<br />
je<strong>der</strong>zeit zu ihr bekennen, verläuft die Sache ergebnislos, so kann ihr politisches<br />
Ziel unentwegt geleugnet werden. Goto ist jedenfalls durch die Überfälle auf<br />
se<strong>in</strong> Heim für den Besuch Joffes bestraft worden, trotzdem er sofort e<strong>in</strong>en<br />
sichtbaren Erfolg hatte: die lang erwünschte Fischerei <strong>in</strong> Sachal<strong>in</strong> ist wie<strong>der</strong><br />
freigegeben worden. »Ich fürchte ke<strong>in</strong>erlei Gefahr durch Joffe,« sagt Goto,<br />
»denn ich habe Vertrauen <strong>in</strong> die ja<strong>panische</strong> Nation und <strong>in</strong> die ja<strong>panische</strong><br />
Polizei!« Und als ich dazu wie<strong>der</strong> lächeln muß, schließt er ernst: »Ja, ich<br />
<strong>in</strong>teressiere mich für Rußland und für Joffe persönlich. Niemand <strong>in</strong> Japan wird<br />
mich daran h<strong>in</strong><strong>der</strong>n.«<br />
Schließlich bedauert Goto, daß man <strong>in</strong> Japan so wenig über den<br />
Wie<strong>der</strong>aufbau Österreichs wisse. Vor siebenundvierzig Jahren sei er <strong>in</strong> Wien<br />
zu Billroths Füßen gesessen und <strong>der</strong> erste mediz<strong>in</strong>ische Lehrer <strong>in</strong> Japan, Dr.<br />
Rohrlitz, von dem er Deutsch gelernt habe, sei e<strong>in</strong> Wiener gewesen. Das<br />
erste Kriegsschiff, das er je gesehen, sei aus Österreich gekommen. Damals<br />
habe Japan <strong>noch</strong> ke<strong>in</strong>es gehabt, jetzt besitze Öster= reich ke<strong>in</strong>es mehr - und<br />
zwischen dieser Wendung liege se<strong>in</strong> Leben.<br />
Bei dem Abschied, den er genau so würdevoll gestaltet, wie wir uns<br />
orientalische Art vorzustellen pflegen, muß ich lebhaft daran denken, wie mir<br />
bei dem gestrigen Tee <strong>der</strong> mißvergnügten Europäer anempfohlen worden war,<br />
Goto über e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> dunklen Schiebungen, die hier jedem Staatsmann<br />
nachgesagt werden, so hoch se<strong>in</strong>e Würde auch sei, zu befragen, Die Weißen<br />
<strong>in</strong> Japan behaupten nämlich, je<strong>der</strong> ja<strong>panische</strong> Beamte lasse schließlich mit sich<br />
reden, nur die Höhe <strong>der</strong> Versuchung wechsle; läßt man aber das Auftreten<br />
dieser leitenden Männer auf sich wirken, so ersche<strong>in</strong>t es fast unbegreiflich,<br />
daß sich so schlimme Nachrede bis zu ihnen vorwagen könne.<br />
Jedenfalls übertrumpft <strong>der</strong> Schwiegervater, <strong>der</strong> als Ultrakonservativer mit<br />
den Bolschewisten Fäden anknüpft, <strong>noch</strong> den Schwiegersohn, <strong>der</strong> als<br />
Revolutionär die Tochter des Konservativen freite. Beides aber ist e<strong>in</strong><br />
Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, das <strong>in</strong> Japan zu den Alltäglichkeiten gehört.<br />
III. WAS IN TOKIO LOS IST.<br />
8. Unter Landsleuten.<br />
n freien Abenden pflege ich e<strong>in</strong>en Landsmann aufzusuchen, <strong>der</strong> »<strong>in</strong><br />
me<strong>in</strong>er Nähe« wohnt; habe ich Glück mit <strong>der</strong> Elektrischen, so brauche ich<br />
»nur« zwanzig M<strong>in</strong>uten bis zu se<strong>in</strong>em Haus. Jedesmal muß ich die Haltestellen<br />
zählen, denn auch nach e<strong>in</strong>em halben<br />
Dutzend Fahrten kann ich mir die Ecke<br />
<strong>der</strong> langen Straße, bei <strong>der</strong> ich auf dem<br />
Wege dah<strong>in</strong> um= steigen muß, nicht<br />
merken. Wie jetzt die meisten<br />
Europäer, wohnt er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
ja<strong>panische</strong>n Hause. Früher konnte e<strong>in</strong><br />
weißer Angestellter mir e<strong>in</strong>em<br />
Monatsgehalt von hun<strong>der</strong>t= zwanzig<br />
Yen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausländischen Hause<br />
Koch und Diener halten, Gäste<br />
empfangen und dabei <strong>noch</strong> e<strong>in</strong>e hüb=<br />
sche Summe zurücklegen, während jetzt<br />
das sparsamste Leben mit e<strong>in</strong>er<br />
e<strong>in</strong>fachen Magd im ja<strong>panische</strong>n Hause<br />
das Dreifache erfor<strong>der</strong>t. Diese Höhe<br />
<strong>der</strong> Lebenskosten nötigt die meisten<br />
Firmen, sowohl <strong>in</strong>= wie ausländische,<br />
mit so wenig europäischen Hilfskräften<br />
wie möglich auszukommen.<br />
Me<strong>in</strong>es Freundes Häuschen ist<br />
entzückend und jedesmal, <strong>wenn</strong> ich die<br />
so romantisch gelegene<br />
Spielzeugschachtel betrete, beneide ich<br />
ihn darum. Me<strong>in</strong> Landsmann lächelt dazu. Es ist mir <strong>noch</strong> nicht klar,<br />
warum; aber ich sollte Japan nicht verlassen, ohne durch eigene Erfah=<br />
rungen auf den Grund dieses geheimnisvollen Lächelns zu kommen. Das<br />
Häuschen me<strong>in</strong>es Freundes steht auf e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Anhöhe und <strong>der</strong> Auf=<br />
gang ist zumeist im Straßenschmutz sozusagen ertrunken. Hat man aber oben<br />
se<strong>in</strong>e Schuhe ausgezogen und öffnet man e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Shoji, <strong>der</strong> papie=<br />
72 73
enen Schiebetüren, so genießt maii e<strong>in</strong>e unvergleichliche Aussicht über den<br />
verschneiten Shiba-Park. Das reizende kle<strong>in</strong>e Heim hat Glastüren zwischen <strong>in</strong><br />
Holzrahmen gefaßten Papierwänden; auf den Etageren stehen wun<strong>der</strong>volle alte<br />
ja<strong>panische</strong> Kunstwerke, aber die Echtheit des Bildes wird durch europäische<br />
Tische, Stühle, Gaskam<strong>in</strong>e und Bücherregale gestört.<br />
Da wir e<strong>in</strong>es Abends gemütlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fßzimmerchen <strong>sitzen</strong> und da ich<br />
hervorhebe, wie gut es die Junggesellen hier hätten, sie könnten <strong>in</strong> diesen<br />
versteckten Häuschen so oft sie nur wollten, ihre Freund<strong>in</strong>nen emp= fangen,<br />
sagt me<strong>in</strong> Landsmann mit bitterem Lächeln: »Ganz im Gegenteil! Weniger als<br />
irgendwo an<strong>der</strong>s. Daß Sie heute da s<strong>in</strong>d, weiß morgen die ganze Stadt, s<strong>in</strong>d<br />
doch die Dienst= mägde von <strong>der</strong> Polizei zur Spio= nage gedungen und erzählt es<br />
doch<br />
außerdem jede ihrer<br />
Nachbar<strong>in</strong>.«<br />
Über den Euro=<br />
päern hier draußen<br />
liegt e<strong>in</strong>e tragische<br />
E<strong>in</strong>samkeit, ke<strong>in</strong>er<br />
wird am an<strong>der</strong>n<br />
warm und die Ge<br />
selligkeit erschöpft<br />
sich meist <strong>in</strong> großen<br />
Abfütterungen, bei<br />
welchen sich je<strong>der</strong><br />
Gast hölzern bis zur<br />
Unkenntlichkeit<br />
zeigt. Gemütlich gibt<br />
man sich nur dann,<br />
<strong>wenn</strong> sich e<strong>in</strong>ige Landsleute zum Abendessen e<strong>in</strong>f<strong>in</strong>den, wie beispielsweise<br />
heute, wo mir e<strong>in</strong> Niku Nabe vorgesetzt werden soll, e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> wenigen<br />
ja<strong>panische</strong>n Gerichte, die von den Europäern über= nommen worden s<strong>in</strong>d. Es<br />
war schon lange me<strong>in</strong> Wunsch gewesen, e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> Österreicher, den<br />
bekannten Sportsmann Aloys von Grienberger, dem es bisher als e<strong>in</strong>zigem<br />
Skiläufer gelungen ist, auf »Bretteln < die viertausend Meter hohe Spitze des<br />
Fujiyama zu erreichen, kennenzulernen; heute abend ist er hier e<strong>in</strong>geladen,<br />
aber nicht um se<strong>in</strong>er Weltberühmtheit im Ski= fahren willen. »Wissen Sie,« sagt<br />
<strong>der</strong> Hausherr, <strong>in</strong>dem er ihn mir vor= stellt, »das ist <strong>der</strong>, <strong>der</strong> das Niku Nabe<br />
so wun<strong>der</strong>bar kocht.« Und ich darf nun zusehen, wie er das macht.<br />
Die alte ja<strong>panische</strong> Magd, die schon seit Jahren im Hause waltet, hat alles<br />
hergerichtet, und zwar, wie mir sche<strong>in</strong>t, viel zu reichlich; aber es<br />
muß etwas übrigbleiben, sonst ist sie auf den Tod betrübt, daß es zu<br />
wenig gewesen sei, for<strong>der</strong>t doch die ja<strong>panische</strong> Sitte, daß man stets etwas <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Schüssel zurücklasse.<br />
Solch e<strong>in</strong>e ja<strong>panische</strong> Diener<strong>in</strong> verwöhnt ihre Dienstgeber so sehr, daß sie<br />
unselbständig wie K<strong>in</strong><strong>der</strong> werden und sich <strong>in</strong> Europa gar nicht mehr<br />
zurechtf<strong>in</strong>den. Sie läßt sich so abrichten, daß mit ihrer Hilfe e<strong>in</strong> unggeselle<br />
J<br />
genau so Haus führen kann wie e<strong>in</strong> Verheirateter. Des Morgens sagt er<br />
<strong>der</strong> Magd: soundso viele Gäste kommen des Abends, dies und jenes soll<br />
gegessen und getrunken werden. Nur um die wenigen M<strong>in</strong>uten, die er selbst zum<br />
Umkleiden benötigt, kehrt er vor <strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong> E<strong>in</strong>geladenen beim. Auch<br />
dieses Umkleiden ist je nach dem Schlagwort: »Frack« o<strong>der</strong> »Smok<strong>in</strong>g«<br />
o<strong>der</strong> etwa »Tennis« bis auf die letzte E<strong>in</strong>zelheit vorbereitet und alles, was<br />
zur jeweiligen Dreß gehört, heraus= gelegt. Zum Frackhemd die Knöpfe, zu<br />
an<strong>der</strong>en Anzügen die passenden Krawatten, die Schuhe s<strong>in</strong>d geweißt o<strong>der</strong><br />
geschwärzt, kurz, außer dem wirklichen Ankleiden braucht <strong>der</strong> Herr ke<strong>in</strong>en<br />
e<strong>in</strong>zigen Handgriff selbst zu tun. Das Wegräumen besorgt ebenfalls die Magd,<br />
<strong>der</strong>en Zuverlässig= keit alles anvertraut werden kann. Jedes Stückchen wird<br />
treulich wie<strong>der</strong> an se<strong>in</strong>en Platz zurückgetan, gestohlen wird nie etwas, we<strong>der</strong><br />
persön= liehe Gegenstände, <strong>noch</strong> Silber, Porzellan o<strong>der</strong> Tischwäsche. Zieht<br />
e<strong>in</strong>e weiße junge Frau <strong>in</strong> das Haus e<strong>in</strong>, so br<strong>in</strong>gt sie, außer ihrer Persönlichkeit,<br />
eigentlich nichts mit, was ihre Anwesenheit nötig machte. Deshalb s<strong>in</strong>d<br />
Japaner<strong>in</strong>nen auch außerhalb Japans im ganzen Osten als Wirt.<br />
schafter<strong>in</strong>nen gesucht.<br />
In dem w<strong>in</strong>zigen Eßzimmerchen steht auf dem Hibachi e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Pfanne,<br />
die dick mit Fett ausgeschmiert und mit fe<strong>in</strong>gehobelten Zwiebel= schnitten<br />
ausgelegt wird. Dazu kommt Shoju, die berühmte ja<strong>panische</strong> Sauce, und<br />
Mir<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> süßer Sake, e<strong>in</strong>e Abart des geliebten National= geträtikes, etwas<br />
R<strong>in</strong>dsuppe und Zucker, außerdem Nara=Tsuke, MelonenE<strong>in</strong>gemachtes, und<br />
dieses Höllengebräu nun <strong>in</strong> <strong>der</strong> richtigen 'Mischung aufprasseln zu lassen,<br />
erfor<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>en Meisterkoch. Wenn es Blasen wirft, werden ganz dünn<br />
geschnittene, rohe Fleischscheibchen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>getan und mit den Hashi, den<br />
ja<strong>panische</strong>n Eßstäbchen, umgewendet; je<strong>der</strong> greift dann mit se<strong>in</strong>em Paar<br />
Hashi eiligst <strong>in</strong> die Pfanne und füllt sich se<strong>in</strong>e ja<strong>panische</strong> Eßschale daraus.<br />
Solange <strong>noch</strong> etwas von <strong>der</strong> kochenden Sauce übrig ist, mag sich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />
se<strong>in</strong> Fleisch kürzer, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e länger braten lassen, ist sie aber ausgetunkt, so<br />
muß <strong>der</strong> Koch sie neu zubereiten. Da alle aus <strong>der</strong>selben Schüssel essen, fällt<br />
am meisten auf denjenigen, <strong>der</strong> am fl<strong>in</strong>ksten ist. Die seltsame Speise<br />
schmeckt so vorzüglich, gleich<br />
74 75
zeitig beißend und pikant, l<strong>in</strong>d und süß, daß <strong>der</strong> mir überreichlich erschienene<br />
Vorrat überraschend schnell dah<strong>in</strong>schw<strong>in</strong>det, zumal man viel mehr<br />
davon vertragen kann, als man als Neul<strong>in</strong>g vorher für möglich ge> halten hätte.<br />
Der Reis dazu wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em riesigen Holzbottich <strong>in</strong> dem Augenblick<br />
here<strong>in</strong>gebracht, da das erste Fleischstückchen schmort, nicht früher, nicht<br />
später. Ke<strong>in</strong> Japaner würde 'emals abgestandenen Reis essen, ja überhaupt<br />
verstehen, wie man von demselben Reisgericht zweimal nehmen kann.<br />
Hat man erst die <strong>in</strong> Europa übertriebene Scheu überwunden, dann f<strong>in</strong>det<br />
man nichts gemütlicher, als mit e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Tafelrunde aus e<strong>in</strong>er Schüssel zu<br />
essen. Und so bemächtigt sich unserer kle<strong>in</strong>en Gesellschaft bald die<br />
Fröhlichkeit, die solchem Mahle stets entwächst. Nachdem von dem Berg von<br />
Fleisch gerade nur die Höflichkeitsstückchen übrigge= blieben s<strong>in</strong>d, marschiert<br />
Whisky=Soda auf, die Zigaretten glimmen und je<strong>der</strong> lehnt sich wohlgefüttert<br />
und behaglich zurück. Was Wun<strong>der</strong>, <strong>wenn</strong> ich die Glücklichen preise, die<br />
hier im exotischen Lande <strong>der</strong> grauen Lebense<strong>in</strong>förmigkeit Europas<br />
entrückt s<strong>in</strong>d. Aber das Lächeln, das ich zur Antwort erhalte, ist <strong>noch</strong><br />
bitterer als das vorh<strong>in</strong>. Und nun geht das Erzählen los.<br />
E<strong>in</strong>e harte <strong>Schule</strong> ist es, durch die alle h<strong>in</strong>durch müssen, die als<br />
»junge Leute« hier herausgeschickt werden. Wessen Charakter nicht stark<br />
genug ist, um sie zu bestehen, <strong>der</strong> geht zugrunde, »strandet«, wie <strong>der</strong><br />
Term<strong>in</strong>us technicus lautet. Etwa fünfundzwanzigjährig o<strong>der</strong> <strong>noch</strong> jünger<br />
kommt <strong>der</strong> junge Mann her, alle<strong>in</strong>, voll Heimweh. Lange Briefe schreibt er<br />
anfangs nach Hause, dann erschöpft sich <strong>der</strong> Stoff, dann lockert sich die<br />
Verb<strong>in</strong>dung. Er hat die feste Absicht zu sparen, ist viel leicht daheim<br />
verlobt, er sitzt also - e<strong>in</strong> »standhafter Z<strong>in</strong>nsoldat« - <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en freien Stunden <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>er meist sehr ungemütlichen Behausung, liest, schläft - - - Aber im Osten<br />
ist abends <strong>der</strong> Schlaf e<strong>in</strong> seltener Gast, die Bücher handeln von D<strong>in</strong>gen,<br />
die hier so fern liegen, die Stunden dehnen sich - - - In diesem<br />
psychologisch kritischen Zustand folgt er dem Bureaugenossen <strong>in</strong> den Klub.<br />
Dort tr<strong>in</strong>kt er den ersten Whisky, dem bald weitere folgen. Se<strong>in</strong> Blut wallt<br />
auf, die Abende s<strong>in</strong>d schwer von fremden Düften und exotischer<br />
Stimmung. Nun lernt er e<strong>in</strong>e Frau kennen - Amerikaner<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d hier, die<br />
eigens um se<strong>in</strong>esgleichen her= überkommen, die kalt, überlegen, unbarmherzig<br />
vorgehen. An<strong>der</strong>e, weniger bewußt, aber nicht weniger gefährlich, s<strong>in</strong>d<br />
Halbblut und die Geisha tut das übrige. Sie alle wohnen <strong>in</strong> schönen Häusern,<br />
geben Tanz-abende mit Tr<strong>in</strong>kgelagen. Er braucht nichts zu bezahlen, nur<br />
Schecks<br />
zu unterschreiben, wie überall, <strong>in</strong> allen Läden, <strong>in</strong> allen Hotels, bei allen<br />
Chauffeuren - - -<br />
Denn natürlich, auch e<strong>in</strong> Auto muß er haben. Seit dem Kriege s<strong>in</strong>d<br />
hier die Straßen voll von Automobilen, vom mo<strong>der</strong>nsten Typ bis zur<br />
gefährlichsten Karre. E<strong>in</strong> gutbezahlter Angestellter e<strong>in</strong>er großen Firma<br />
bezieht etwa sechshun<strong>der</strong>t Yen im Monat, davon kostet ihn das Auto, das<br />
er haben muß, <strong>wenn</strong> er etwas gelten will, e<strong>in</strong> Viertel. Der Anfänger verdient<br />
etwas mehr als die Hälfte davon, aber auch er fährt mit dem Auto<br />
spazieren, lädt Damen zu Ausflügen e<strong>in</strong>. Tr<strong>in</strong>kt er irgendwo e<strong>in</strong> Glas<br />
Whisky, so läßt er das Auto draußen warten, großzügig, wie man hier<br />
draußen geworden ist, und weil man doch nachher nur dem Wagenlenker<br />
etwas <strong>in</strong>s Buch zu schreiben braucht - - bis dann am Ersten die Rechnungen<br />
kommen und man für e<strong>in</strong>en Tag aus dem H<strong>in</strong>dämmern aufwacht und sich<br />
klarmacht, daß man eigentlich wie<strong>der</strong> dreißig furcht= bare Tage zwecklos hier<br />
gewesen ist. Bereits am zweiten schlägt aber die Trostlosigkeit wie<strong>der</strong> über<br />
e<strong>in</strong>em zusammen und man greift nach den paar D<strong>in</strong>gen, die das Leben<br />
erträglich machen, Auto, Whisky, Weiber, mögen sie auch das ganze Gehalt<br />
verschl<strong>in</strong>gen.<br />
Langsam gerät <strong>der</strong> junge Mann <strong>in</strong> Schulden. Tennisklub, Sportvere<strong>in</strong>,<br />
Ru<strong>der</strong>gesellschaft, Jagdgenossen strecken ihre Arme nach ihm aus. Was soll<br />
er Sonnabend nachmittags, Sonntags tun? Alles kostet Geld. Je<strong>der</strong> Schritt,<br />
jede Bewegung bedeutet e<strong>in</strong>en Yen. Jede Bekanntschaft, jede Freude zieht<br />
das Netz enger. Endlich machen die Schulden e<strong>in</strong> paar tausend Yen aus<br />
und die höfliche Bereitwilligkeit des Borgens hört all= mählich auf. Nun geht<br />
er zu se<strong>in</strong>em Chef. Der zahlt natürlich, aber es ist jetzt mit <strong>der</strong> Urlaubsreise<br />
nach Hause vorbei, er muß e<strong>in</strong>ige Jahre lang die Schulden abarbeiten.<br />
Vielleicht ist er mittlerweile krank geworden, angesteckt o<strong>der</strong> vom Fieber<br />
befallen. Das Mädel zu Hause nimmt e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>n und er mietet sich e<strong>in</strong>e<br />
Japaner<strong>in</strong> als Haushälter<strong>in</strong>, bloß um nicht alle<strong>in</strong> zu se<strong>in</strong>. Schließlich heiratet<br />
er sie, Halbblutk<strong>in</strong><strong>der</strong> kommen zur Welt, die er nicht lieben kann. Mit<br />
vierzig Jahren ist er e<strong>in</strong> mü<strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e Sehnsucht mehr kennt.<br />
Das Schlimmste daran ist, daß dies je<strong>der</strong> ganz alle<strong>in</strong> durchzukämpfen hat.<br />
Diejenigen, die sich durchgerungen haben, werden hart und verschlossen.<br />
Je<strong>der</strong> lebt nur für sich. Hier hilft ke<strong>in</strong>er dem an<strong>der</strong>n, je<strong>der</strong><br />
hütet sich, se<strong>in</strong> Herz wegzugeben, an Rassegleiche o<strong>der</strong> gar an Japaner.<br />
Vielleicht war es vor dem Kriege e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Ursachen <strong>der</strong> Erfolge <strong>der</strong><br />
Deutschen, daß <strong>der</strong> eisern geschulte deutsche »junge Mann« viel wi<strong>der</strong>=<br />
standsfähiger als mancher an<strong>der</strong>e gegen den Zwang des Ortes, den Genius<br />
76 77
loci, anzukämpfen verstand. Nur selten g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>er zugrunde. Was ihn <strong>in</strong> Japan<br />
vor allem hielt und ihm auch jetzt das Rückgrat stählt, ist die Lust am Wan<strong>der</strong>n,<br />
das allsonntägliche Besteigen <strong>der</strong> Berge. Deutsche und Österreicher s<strong>in</strong>d es<br />
vor allem, die <strong>in</strong> Japan touristische Pionierdienste leisten, die auch dem<br />
W<strong>in</strong>tersport hier draußen Vorkämpfer waren.<br />
Als Aloys von Grienberger nach Tokio - ni, war <strong>der</strong> Skisport dort<br />
schon bekannt, und zwar hatte ebenfalls e<strong>in</strong> Wiener, <strong>der</strong> damalige Major von<br />
Lerch, welcher <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n Armee zugeteilt gewesen war, e<strong>in</strong>e<br />
militärische Skischule gegründet, die aber nach se<strong>in</strong>em Abschied wie<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>gegangen war. Ins Zivil war ke<strong>in</strong>e Kenntnis des Skifahrens, ja nicht e<strong>in</strong>mal<br />
die Kunde davon gedrungen, doch seit 1914 gibt es bei Goshiki= Onsen<br />
(das heißt: »Heiße Fünffarben=gelle«> so etwas wie e<strong>in</strong>en W<strong>in</strong>ter=<br />
sportplatz, wo Österreicher, Deutsche, Englän<strong>der</strong> und Schweden den AlL<br />
p<strong>in</strong>en Skiklub begründet und wo die Japaner von Lerch e<strong>in</strong> Denkmal errichtet<br />
haben. Viel geschah freilich nicht, denn im Osten erschlaffen die Nerven des<br />
Weißen und nach mehreren feuchtheißen Sommern läßt se<strong>in</strong>e Energie und<br />
Unternehmungslust merklich nach.<br />
Bei Ausbruch des Krieges fiel dieser Skiklub ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und wurde<br />
bislang nicht wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Leben gerufen, weil se<strong>in</strong>e Stützen ja doch die Hunnen<br />
und Halbhunnen - mit welchem Namen man die Österreicher beehrte - waren<br />
und mit ihnen niemand im Osten etwas zu tun haben wollte. Immerh<strong>in</strong> war<br />
<strong>der</strong> Klub e<strong>in</strong> Gegenstand des Interesses für die Japaner geworden, die nun<br />
seit drei Jahren selbst an dem Sport teilnehmen. Seitdem die Studenten <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Schule</strong> auf Bänken <strong>sitzen</strong> gelernt haben und auch zu Hause nicht mehr auf<br />
<strong>der</strong> Erde hocken, seitdem sie Fleisch essen und <strong>in</strong> den amerikanischen<br />
Missionsschulen Bewegungsspiele - Tennis, Fußball und vor allem Baseball --<br />
treiben, s<strong>in</strong>d viele von ihnen so groß und kräftig wie unsere jungen Leute. Da<br />
sich nun herausgestellt hat, daß die jungen ja<strong>panische</strong>n Skiläufer <strong>der</strong><br />
Lungenschw<strong>in</strong>dsucht, die <strong>in</strong> Japan ihre Opfer <strong>in</strong> Hekatomben dah<strong>in</strong>rafft, mehr<br />
Wi<strong>der</strong>stand entgegensetzen, wurde die neue Art <strong>der</strong> W<strong>in</strong>terbergsteigerei von<br />
den Hochschulen sehr begünstigt und die Regierung veranlaßte die Lehrer,<br />
e<strong>in</strong>en ja<strong>panische</strong>n Alpenvere<strong>in</strong> zu gründen. Unterkunftshütten wurden gebaut,<br />
die allerd<strong>in</strong>gs anfangs nur Sommerbenutzung fanden. Allmählich wuchs das<br />
Interesse am W<strong>in</strong>tersport so sehr, daß e<strong>in</strong> Japaner zum Studium <strong>in</strong> die<br />
Schweiz gesendet wurde, welcher dann nach se<strong>in</strong>er Rückkehr bei Seki= Onsen<br />
<strong>in</strong> Echigo, wo <strong>der</strong> meiste Schnee fällt und sehr gutes Abfahr= terra<strong>in</strong>,<br />
vorwiegend Kraterlandschaft, vorhanden ist, die erste ja<strong>panische</strong> Skischule<br />
gründete. Herr Maki, <strong>der</strong> dort als Lehrer wirkte, führte an<br />
Stelle <strong>der</strong> von Lerch, e<strong>in</strong>em Schüler Mathias Zdarskys, gepredigten<br />
Lilienfel<strong>der</strong> B<strong>in</strong>dung und Technik die aus <strong>der</strong> Schweiz mitgebrachte Huitfeldb<strong>in</strong>dung<br />
e<strong>in</strong> und ließ se<strong>in</strong>e Schüler nach dem norwegischen System<br />
Telemark= und Christianiaschwünge ohne Stock üben. Jetzt leitet e<strong>in</strong><br />
ausgezeichneter Lehrer, namens Kobayashi, <strong>der</strong> schon aus ja<strong>panische</strong>r<br />
<strong>Schule</strong> hervorgegangen ist, diese Übungsplätze.<br />
Auch die »Brettel« werden bereits <strong>in</strong> Japan selbst hergestellt. Die<br />
ersten Bilgerib<strong>in</strong>dungen wurden <strong>noch</strong> <strong>in</strong> Wien gekauft, aber die weiteren<br />
tadellos <strong>in</strong> Japan nachgemacht, zur großen Enttäuschung <strong>der</strong> österreichi=<br />
schen Fabrikanten, die - <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hoffnung auf Nachbestellungen -- be= geistert<br />
die Muster geliefert hatten. So erfuhren also auch sie, welch e<strong>in</strong> gründlicher<br />
Irrtum es ist, sich über ja<strong>panische</strong> Probee<strong>in</strong>käufe zu freuen.<br />
Aber bei allem guten Willen <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n Skifahrer hatte es doch<br />
bisher ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger unter ihnen so weit gebracht, Herrn von Grienberger als<br />
Genosse für die Besteigung des Fujiyama zu dienen. War diese Tour doch<br />
auch für den eisern gestählten österreichischen Sportsmann die Krönung<br />
jahrelanger Pioniertätigkeit auf diesem Gebiete, wurde sie doch auch von ihm<br />
an das Ende all se<strong>in</strong>er Entdeckerfahrten durch das japa= nische Hochgebirge<br />
gestellt. Viele Erstersteigungen dreitausend Met,:hoher ja<strong>panische</strong>r Berge<br />
hatte er vorher alle<strong>in</strong> durchgeführt. Doch die Schwierigkeiten, die <strong>der</strong> Fujiyama<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em \XV<strong>in</strong>tereismantel den Schneeschuhen bietet, übersteigen so ziemlich<br />
alles, was <strong>in</strong> Europa auf diesem Gebiete bekannt ist. Ganz oben beträgt die<br />
Steilheit etwa 45 Grad und e<strong>in</strong> Absturz brächte den sofortigen Tod.<br />
Manch e<strong>in</strong> Skifahrer hatte vor Grienberger den Versuch unternommen, bis<br />
zur Spitze des berühmten heiligen Berges vorzudr<strong>in</strong>gen, aber bis über die fünfte<br />
o<strong>der</strong> äußerstenfalls sechste Station war <strong>noch</strong> niemand gekommen. Der heilige<br />
Berg ist für die Pilger, die ihn im Sommer zu Tausenden be= steigen, ähnlich<br />
wie e<strong>in</strong> Kalvarienberg <strong>in</strong> Stationen geteilt, auf welchen es Teehäuser und<br />
e<strong>in</strong>fache Unterkunftsstätten gibt. Diese s<strong>in</strong>d aber im W<strong>in</strong>ter leer. Der ganze<br />
Proviant mußte mitgeschleppt, <strong>in</strong> den Stationen vor <strong>der</strong> Hütte das Eis<br />
weggestemmt und <strong>der</strong> Schnee dr<strong>in</strong>nen abgekehrt werden. Die Nacht über<br />
hatte Grienberger beim Herd zu wachen -tränenden Auges, da es für den<br />
Rauch ke<strong>in</strong>en Abzug gab denn <strong>der</strong> Schlaf e<strong>in</strong>er Stunde hätte für ihn <strong>der</strong><br />
Todesschlaf werden können. Die Last des photographischen Apparates wurde<br />
vergeblich getragen, weil <strong>der</strong> von unten o<strong>der</strong> von oben aufgenommene<br />
Steilhang <strong>in</strong>folge se<strong>in</strong>er ungeheuren Jähe auf den je<strong>der</strong> Perspektive<br />
ermangelnden Bil<strong>der</strong>n wie e<strong>in</strong>e Ebene wirkt.<br />
78 79
Die Erlaubnis zum ersten Aufstieg im Frühl<strong>in</strong>g gibt den Wallfahrern e<strong>in</strong><br />
dem Berg zugeteilter Priester, <strong>der</strong> den österreichischen Skifahrer vor <strong>der</strong><br />
W<strong>in</strong>tertour warnte, weil sich <strong>der</strong> Berg sonst rächen werde. Es war daher<br />
e<strong>in</strong>e für e<strong>in</strong>en Japaner mutige Tat, geistig und körperlich neuartig, als <strong>der</strong><br />
Skilehrer Kobayashi sich entschloß, Ingenieur Grienberger auf den Fujiyama<br />
zu begleiten. Er sicherte ih: zu, durch dick und dünn mit ihm zu gehen. So<br />
waren also die beiden den stolzen Kegel »angegangen«, Kobayashi immer<br />
ganz brav h<strong>in</strong>ter Grienberger dre<strong>in</strong>, trotz schneidiger Kämme und<br />
schw<strong>in</strong>deln<strong>der</strong> Eisgründe. Auf <strong>der</strong> vierten Station blieben sie über Nacht.<br />
Als aber <strong>der</strong> Japaner am an<strong>der</strong>n Morgen das blanke Eis <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frühsonne<br />
glitzern sah, sagte er energisch: »Ne<strong>in</strong>!« und fuhr bergab.<br />
Das Schlimme an <strong>der</strong> Fuji=Besteigung ist, daß <strong>der</strong> Aufstieg außer=<br />
ordentlich ermüdet und abspannt; man kann ke<strong>in</strong>en Augenblick »leichter gehen<br />
und dabei ausrasten, ohne Pause muß man »kanten«, das heißt, e<strong>in</strong>en<br />
künstlichen Stand schaffen. Noch dazu »steht« vom Gipfel herab e<strong>in</strong> scharfer<br />
Gegenw<strong>in</strong>d, oben ist ewiger Orkan, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er uns unbekannten Stärke, <strong>der</strong><br />
förmlich wie durch e<strong>in</strong>en Saugschlauch die Nebelfetzen <strong>der</strong> ganzen Gegend<br />
zur Spitze h<strong>in</strong>reißt. Nur <strong>in</strong> den seltensten Fällen ist dieser berühmte Berg ganz<br />
klar.<br />
Nach jahrelangem Studium <strong>der</strong> Wetterverhältnisse hat Aloys von<br />
Grienberger se<strong>in</strong>en Versuch unmittelbar nach e<strong>in</strong>em Taifun unternommen, weil<br />
ganz schweren Stürmen e<strong>in</strong>ige w<strong>in</strong>dstille Tage folgen. Bei Nebel und<br />
schlechtem Wetter das oberste Dritteil des Fujiyama zu erklimmen, ist<br />
unmöglich, weil dann auf <strong>der</strong> glatten Unterlage <strong>der</strong> Schnee nicht haftet und die<br />
ganze Spitze aus blankem, lauterem Eise besteht. Dem kühnen E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>g <strong>in</strong><br />
diese Region wurden auch an dem »w<strong>in</strong>dstillen« Tage <strong>der</strong> Besteigung die<br />
Lavakörner mit so furchtbarer Gewalt <strong>in</strong>s Gesicht ge= schlagen, daß er<br />
Wunden davongetragen hätte, wären nicht Gesicht und Hände durch Maske<br />
und Handschuhe geschützt gewesen. Aber die M<strong>in</strong>ute auf <strong>der</strong> Spitze oben<br />
entschädigte für alle Leiden.<br />
Zweimal hat sie Grienberger auf Skiern erreicht. Diese beiden Be=<br />
steigungen erfor<strong>der</strong>ten die Aufbietung <strong>der</strong> ganzen Kraft e<strong>in</strong>es geübten,<br />
gestählten Körpers. Sie wurden nie wie<strong>der</strong>holt.<br />
Atemlos hatten wir dem kühnen Sportsmann gelauscht. Aber da wir gegen<br />
Mitternacht aufbrechen, sagt <strong>der</strong> Hausherr zu ihm: »Vielen Dank, lieber<br />
Grienberger, das Niku Nabe hast Du wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal ausgezeichnet gekocht«.<br />
8o<br />
9. Die Kleidung.<br />
Daß <strong>der</strong> Japaner trotz <strong>der</strong> Schwierigkeiten, die e<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nes Leben<br />
<strong>in</strong> unzeitgemäßer Tracht mit sich br<strong>in</strong>gt, an se<strong>in</strong>em überlieferten Kostüm<br />
festhält, ist <strong>noch</strong> mehr als <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Beharrlichkeit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er künstlerischen<br />
Sehnsucht nach Schönheit begründet. Da die schmalen, abfallenden Schul<br />
tern und die schlanken Figuren <strong>in</strong> <strong>der</strong> ausländischen Kleidung nicht zur<br />
Geltung kommen, <strong>der</strong> Mann <strong>in</strong> ihr proletarisch und würdelos, die Frau<br />
komisch und unproportioniert aussieht, unterwirft sich dieses Volk e<strong>in</strong>er<br />
unaufhörlichen Qual, weil ihm Schönheit über Zweckmäßigkeit geht.<br />
Diese Qual wird durch die strengen Vorschriften, die wie alles <strong>in</strong> Japan<br />
auch die Kleidung regeln, <strong>noch</strong> verschärft. Je<strong>der</strong> Wechsel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jahreszeit<br />
und im Lebensalter bed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en solchen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kleidung, auch bei be,<br />
son<strong>der</strong>en Gelegenheiten muß sie vom Kopf bis zu den Füßen, von <strong>in</strong>nen<br />
bis außen gewechselt werden, so daß e<strong>in</strong>e elegante Japaner<strong>in</strong> ihren Gatten<br />
mehr kostet als e<strong>in</strong>e Pariser Mondäne ihren Liebhaber.<br />
Unsere Unbedenklichkeit, fertige Kimonos anzulegen, ganz gleich, ob wir<br />
ledig o<strong>der</strong> verheiratet, alt o<strong>der</strong> jung s<strong>in</strong>d, ersche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Japaner<strong>in</strong> barbarisch.<br />
Bei dem Anblick e<strong>in</strong>er alten Dame, die zum Morgenrock e<strong>in</strong>en gestickten<br />
Kimono mit langen Ärmeln wählt, kann sie das Lachen nicht verbeißen; diese<br />
»echten«, wirklich aus Japan stammenden, über und über gestickten Kimonos<br />
werden eigens für das Ausland angefertigt, nach den aus Amerika und Europa<br />
kommenden Bestellungen, und <strong>der</strong> durch diese Versandstücke entstandene<br />
Phantasietyp erhält sich allerorten, trotzdem je<strong>der</strong> ausländische Besucher <strong>in</strong><br />
Japan erkennen muß, daß die Japaner<strong>in</strong> selbst nie e<strong>in</strong>en handgestickten Kimono<br />
trägt. Die Vorstellungen außerhalb Japans werden <strong>noch</strong> immer durch<br />
dieTheaterfigürchen <strong>der</strong> eng= lischen Schauspieler<strong>in</strong>nen beherrscht, die<br />
se<strong>in</strong>erzeit die Operette »Die Geisha« kreierten. Als aber <strong>in</strong> Tokio e<strong>in</strong>e<br />
italienische Sängergesellschaft, die erste Operntruppe übrigens, die je <strong>in</strong> Japan<br />
gastiert hat, <strong>in</strong> <strong>der</strong>artigen Kostümen »Madame Butterfly« spielen wollte,<br />
scheiterte dies an dem Gelächter <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n Zuschauer<strong>in</strong>nen. In Wien hat<br />
sich freilich niemand gewun<strong>der</strong>t, als die Träger<strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptrolle von Hermann<br />
Bahrs »Die gelbe Nachtigall« als Japaner<strong>in</strong> verkleidet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ch<strong>in</strong>esischen<br />
gestickten Mantel, <strong>in</strong> dicken Flauschpantoffeln und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mit Goldnadeln<br />
gespickten, hochaufgetürmten Frisur erschien. Haben doch unzählige<br />
Europäer<strong>in</strong>nen auf Kostümfesten Geishas durch Blumentuffs an den Ohren und<br />
durch e<strong>in</strong>en son<strong>der</strong>bar trippelnden Gang darzustellen versucht und hält man<br />
doch etwas exotisch Gesticktes mit langen Ärmeln überall für<br />
Alice Sthalek, Japan. r, 8i
82<br />
e<strong>in</strong>en ja<strong>panische</strong>n Kimono. Dieser Kimono ist das bekannteste Kleidungs=<br />
stück <strong>der</strong> Welt geworden, ohne daß e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Millionen Frauen, die ver=<br />
me<strong>in</strong>en, es von <strong>der</strong> Japaner<strong>in</strong> übernommen zu haben, die ger<strong>in</strong>gste Ahnung<br />
von demAussehen des seit Jahrhun<strong>der</strong>ten <strong>in</strong> Japan heimischenVorbildes hat.<br />
Von e<strong>in</strong>em ja<strong>panische</strong>n Kimonoschnitt kann man verallgeme<strong>in</strong>ernd<br />
überhaupt nicht sprechen, je nach dem Alter s<strong>in</strong>d die Ärmel entwes<br />
<strong>der</strong> rund, abgeschrägt<br />
o<strong>der</strong> eckig und sie<br />
werden immer kürzer,<br />
je älter die Träger<strong>in</strong><br />
wird. Die e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>=<br />
des reichen bis auf<br />
die Erde, die e<strong>in</strong>es<br />
Backfisches messen<br />
e<strong>in</strong>en halben Meter,<br />
die e<strong>in</strong>er reifen Jung=<br />
frau etwa vierzig,<br />
die e<strong>in</strong>er jungen Frau<br />
dreißig und die e<strong>in</strong>er<br />
alten etwa zwanzig<br />
Zentimeter. Ebenso<br />
wird die Farbe des<br />
Kleides durch das<br />
Alter <strong>der</strong> Träger<strong>in</strong><br />
bestimmt, aus <strong>der</strong><br />
schreienden Grelle, <strong>in</strong><br />
welcher das K<strong>in</strong>d an=<br />
gezogen wird, wächst<br />
das Mädchen durch<br />
die gedeckte Buntheit,<br />
die man <strong>der</strong> Halb=<br />
wüchsigea zubilligt, <strong>in</strong><br />
matte Farben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>,<br />
welche bei <strong>der</strong><br />
Unverheirateten <strong>noch</strong><br />
durch lebhafte<br />
Muster aufgehellt werden, während die junge Gatt<strong>in</strong> nur <strong>in</strong> Braun, Blau o<strong>der</strong><br />
Drap, schlichtgestreift o<strong>der</strong> kariert, die bejahrteMutter aber nurganz dunkel<br />
und <strong>in</strong> den ruhigsten Mustern auftritt. Vom zwanzigsten Lebensjahre an=<br />
gefangen darf die Japaner<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e lichten Farben mehr tragen und sich aus<br />
den bunten Stoffen, den leuchtenden Rosengirlanden, den Papageien=<br />
mustern,Farbenkreisen und Fächerorgien, die ausschließlich für die Babies<br />
bestimmt s<strong>in</strong>d, nur das unterste Unterkleid machen, so daß nur hier und da <strong>in</strong><br />
dem Schlitz, den die obersten, dunklen Ärmel h<strong>in</strong>ten aufweisen und dessen<br />
Länge ebenfalls vom Alter abhängt, die Rän<strong>der</strong> <strong>der</strong> unteren, bunten aufblitzen,<br />
wor<strong>in</strong> die e<strong>in</strong>zige Farbigkeit liegt, die außer dem Gürtel und<br />
dem Halse<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> erwachsenen Japaner<strong>in</strong> gegönnt ist. Die Ärmel <strong>der</strong> fünf<br />
zusammengehörigen und übere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> angezogenen Kimonos müssen genau<br />
<strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> passen.<br />
Auf den Dreikäsehochs sehen die schreiend farbigen Kimonos unge< me<strong>in</strong><br />
herzig aus, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>wenn</strong> reiche Mütter ihren Gästen die Kle<strong>in</strong>en<br />
6*<br />
83
frisch gesäubert vorführen; die Rosenklei<strong>der</strong>püppchen aus dem Volke jedoch,<br />
die den ganzen Tag im Straßenschmutz spielen, machen <strong>in</strong> ihren engen, bis an<br />
den Schuhrand reichenden hellen Klei<strong>der</strong>n, <strong>der</strong>en Ärmel die Straße streifen<br />
und überall den Staub mitfegen, den E<strong>in</strong>druck <strong>der</strong> entsetz= lichsten<br />
Unre<strong>in</strong>lichkeit.<br />
Wie die ja<strong>panische</strong> Wohnung, die Lebensweise, die Kochart und die<br />
Familiensitte ist auch die ja<strong>panische</strong> Kleidung unpraktisch, ungesund und<br />
unangenehm. Von <strong>der</strong> Sekunde <strong>der</strong> Geburt bis zumTode leiden sämtliche<br />
Japaner unter ihren Lebensgewohnheiten, weil ihre Vorfahren, die sich wie e<strong>in</strong><br />
Sklavenvolk <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unzerbrechliche Hierarchie e<strong>in</strong>pressen ließen, kritiklos die<br />
Lebensformen <strong>der</strong> Herrschenden nachgeahmt hatten; diese aber führten das<br />
Leben von Halbgöttern, brauchten nichts zu tun, niemals e<strong>in</strong>en Schritt, e<strong>in</strong>e<br />
Anstrengung zu machen und durften den Wunsch, schön zu se<strong>in</strong>, als ihre<br />
e<strong>in</strong>zige Pflicht betrachten. Sie ersannen die Tracht, die auf den alten<br />
Gemälden zu sehen ist, die Urbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kostüme, die heute <strong>noch</strong> auf <strong>der</strong><br />
Bühne getragen werden; dadurch, daß sie e<strong>in</strong>en Meter länger waren als die<br />
Träger, auch an den Seiten, und daß man ihre Ärmel mit Gold und Silber<br />
belastete, wurde Unbeweglichkeit zur Notwendigkeit und zur Vornehmheit,<br />
weil das Volk sich daran gewöhnte, diese beiden Begriffe mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu<br />
verquicken. Wer heftige Bewegungen macht, gilt <strong>noch</strong> heute für unfe<strong>in</strong> und<br />
unerzogen, woraus unzählige Mißverständnisse zwischen Auslän<strong>der</strong>n und<br />
Japanern entstehen. Wiewohl die Lebensweise sich än<strong>der</strong>te, behielt das Volk<br />
die auf Unbeweglichkeit zugeschnittene Tracht bei und <strong>in</strong> den hemmenden<br />
Ärmeln und <strong>in</strong> dem engen, langen Gewand <strong>der</strong> Rittersfrau von e<strong>in</strong>st muß die<br />
Nesan, die Kellner<strong>in</strong>, die Gäste bedienen, die Köch<strong>in</strong>, die Familienmutter, die<br />
Feldarbeiter<strong>in</strong> beim Waschfasse hantieren, den Boden aufwischen o<strong>der</strong> im<br />
Sommer auf dem Acker den Reis schneiden; die Ärmel werden im Notfalle mit<br />
e<strong>in</strong>em B<strong>in</strong>dfaden auf dem Rücken befestigt, was dumm aussieht, weil man an<br />
den trotz <strong>der</strong> Stofforgien nackt bleibenden Armen den ganzen W<strong>in</strong>ter h<strong>in</strong>durch<br />
friert. Daß es auch häßlich ist, symbolisiert das heutige Japan am treffendsten,<br />
weil es den Versuch, den Erfor<strong>der</strong>nissen des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts zu<br />
trotzen und aus ästhetischen Gründen weiterh<strong>in</strong> Mittelalter zu spielen, ad<br />
absurdum führt.<br />
Es muß immerh<strong>in</strong> vermerkt werden, daß seit zwei Jahren wenigstens die<br />
aus dem Auslande gekommene Mode des Wollschals, den die Frauen sich<br />
jetzt selbst <strong>in</strong> bunten Farben stricken, überall Verbreitung f<strong>in</strong>det, ebenso die <strong>der</strong><br />
Wollhandschuhe, die allerd<strong>in</strong>gs nur bis zum Handgelenk reichen und zu den<br />
nackten Armen unschön aussehen. Bis d h<strong>in</strong> hatten alle<br />
v<br />
Frauen, die <strong>der</strong> hohen Frisur halber <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Jahreszeit <strong>noch</strong> barhaupt<br />
gehen, mit den bloßen Armen und Be<strong>in</strong>en unter dem Haori, dem knie= langen<br />
W<strong>in</strong>terüberkimono, seit Jahrhun<strong>der</strong>ten gräßlich gefroren.<br />
Das Kostspieligste an <strong>der</strong> Japaner<strong>in</strong> ist <strong>der</strong> Obi, <strong>der</strong> Gürtel, den es <strong>in</strong><br />
allen Preislagen, <strong>in</strong> Gold und Silber gewebt, im<br />
Werte bis zu hun<strong>der</strong>t Pfund gibt. An den<br />
teuersten Gürtelstoffen wird ungefähr e<strong>in</strong> Jahr<br />
gearbeitet. Diese dichten Gewebe s<strong>in</strong>d zwar<br />
unverwüstlich und <strong>der</strong> Schnitt des Gürtels<br />
unterliegt <strong>der</strong> Mode nicht, aber die Muster<br />
wechseln beim Obi ebenso stark wie bei den<br />
Klei<strong>der</strong>stoffen, so daß die Mutter <strong>der</strong> Tochter<br />
ihren abgelegten Obi nicht geben kann;<br />
beispielsweise s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem W<strong>in</strong>ter<br />
schwarze Obi <strong>der</strong> <strong>der</strong>nier cri. Der Obi e<strong>in</strong>er<br />
Mittelstandsfrau kostet durchschnittlich vier<br />
Pfund; man kann sich also vorstellen, wie<br />
schwer sie es hat, vorschriftsmäßig aufzutreten,<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e, da ja <strong>noch</strong> <strong>der</strong> zweite, darunter<br />
liegende Gürtel, Shida genannt, und die<br />
langen, zur Befestigung dienenden Rollen,<br />
wiewohl sie unsichtbar bleiben, aus Seide se<strong>in</strong><br />
müssen. Wer e<strong>in</strong>mal dabei war, wie diese<br />
Gürtel angelegt werden, sieht <strong>in</strong> ihnen nur mehr<br />
Folter<strong>in</strong>strumente. Dreimal wickelt sie die<br />
Japaner<strong>in</strong> um ihr gertenschlankes Figürchen, die<br />
ganz schweren Brokate, <strong>der</strong>en Breite sich mit<br />
<strong>der</strong> Kostspieligkeit steigert, doppelt zusammen.<br />
gefaltet. Aus dem dann <strong>noch</strong> übrigbleibenden<br />
Rest des dreie<strong>in</strong>halb Meter langen Gürtels wird<br />
die Schleife gebunden, und zwar <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Prov<strong>in</strong>z<br />
an<strong>der</strong>s. Die Backfische tragen sie etwas<br />
schräg. Unter die Prunkgürtel muß e<strong>in</strong> steifer<br />
Pappendeckel gelegt werden, damit sie auch beim Sitzen faltenlos bleiben und<br />
nicht e<strong>in</strong>knicken, weshalb sich Frauen, die zu e<strong>in</strong>em Feste gehen, nicht alle<strong>in</strong><br />
anziehen können. Geishas also niemals. E<strong>in</strong>e Europäer<strong>in</strong>, um <strong>der</strong>en Leib man<br />
dieselbe Masse von Stoff wickeln wollte, sähe wie e<strong>in</strong> Faß aus, auf <strong>der</strong><br />
Japaner<strong>in</strong> wirkt sie bildhaft, doch die unendliche Qual, die sie ihr bereitet -- an<br />
die Schwere, Steifheit, Höhe undWärme des Obi und an den Druck <strong>der</strong><br />
84 85
Schleife am Rücken gewöhnen sich die Frauen nie<br />
v<br />
84 85
86 87<br />
-- steht <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Verhältnis dazu. Seit Generationen wird <strong>der</strong> weibliche<br />
Körper durch den Obi <strong>in</strong> allen se<strong>in</strong>en Bewegungen gehemmt, auf ihn ist die<br />
Kle<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Japaner<strong>in</strong> zurückzuführen, was sich an den mo<strong>der</strong>nen<br />
Schulmädchen zeigt: seit ihnen das Tragen e<strong>in</strong>es Obi während des Unter=<br />
richtes verboten ist, werden sie viel größer als ihre Mütter. Dieser Gürtel<br />
wird auch <strong>in</strong> den langen W<strong>in</strong>termonaten beibehalten, wiewohl <strong>der</strong> Haori vorn<br />
nur e<strong>in</strong> ganz schmales Stückchen von ihm frei läßt und sich h<strong>in</strong>ten<br />
über dem riesigen' Knoten so sehr bauscht, daß <strong>in</strong> dieser Jahreszeit sämt=<br />
liche Japaner<strong>in</strong>nen bucklig aussehen. Und- den<strong>noch</strong> wird diese Qual von<br />
Millionen Frauen vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, bei <strong>der</strong> härtesten<br />
Arbeit und beim Tragen e<strong>in</strong>es schweren K<strong>in</strong>des auf dem Rücken, im<br />
heißesten Sommer und auch <strong>in</strong> <strong>der</strong>Zeit <strong>der</strong> Schwangerschaft wi<strong>der</strong>standslos und<br />
lautlos erduldet.<br />
Der im W<strong>in</strong>ter unter dem Haori getragene Kimono ist gefüttert, natür= lich<br />
mit Seide. Das Futter muß um drei Millimeter länger se<strong>in</strong> als <strong>der</strong><br />
Oberstoff und als außen sichtbare E<strong>in</strong>säumung über den untern Rand<br />
geschlagen werden, stößt sie sich durch, so wird - weil sie nicht mit e<strong>in</strong>er<br />
Naht angestückelt werden darf - das ganze Kleid unbrauchbar. Das geschieht<br />
natürlich ununterbrochen, weil <strong>der</strong> Rand dieser langen Gewän<strong>der</strong> <strong>in</strong> den nie<br />
gere<strong>in</strong>igten Straßen sehr leidet; darf doch die Japaner<strong>in</strong> ihr Gewand nicht<br />
aufheben. Ehe sie gegen das Herkommen ihr Kleid rafft, schleift sie lieber den<br />
Unrat von den Trittbrettern <strong>der</strong> Elektrischen <strong>in</strong> jäm= merlichster Weise beim<br />
Aus= und E<strong>in</strong>steigen mit. Dabei ist die Japaner<strong>in</strong> von Natur aus gar nicht<br />
schamhaft und läßt es ruhig geschehen, daß <strong>der</strong> W<strong>in</strong>d das vorn offene Kleid<br />
ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>reißt und die nackten Be<strong>in</strong>e bis zur Wade entblößt; sie badet auch<br />
ohne Scheu im Freien vor ihrer Türe und nimmt <strong>in</strong> den heißen Quellen<br />
ke<strong>in</strong>en Anstoß daran, daß dort beide Geschlechter ihre Heilung völlig<br />
unbekleidet suchen. Dieser Harmlosigkeit gegenüber sche<strong>in</strong>t die an an<strong>der</strong>er<br />
Stelle vorgeschriebene Ziererei höchst son<strong>der</strong>bar. Die Urahn<strong>in</strong> hat aber ihren<br />
Schönheitss<strong>in</strong>n gerade <strong>in</strong> die Länge des Kleides gelegt und danach muß sich<br />
<strong>noch</strong> heute das mo<strong>der</strong>ne Schreib= fräule<strong>in</strong> richten. Bei schlechtem Wetter kann<br />
das Kleid nur durch Daheim= bleiben gerettet werden, es gibt we<strong>der</strong> Röcke<br />
<strong>noch</strong> Regenmäntel aus stärkerem Stoff, weil unter allen Umständen<br />
sämtliche Teile <strong>der</strong> Kleidung aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gestimmt se<strong>in</strong> müssen. Auch beim<br />
Treppensteigen wird das Kleid nicht gerafft, son<strong>der</strong>n nur mit dem Fuße<br />
weggestoßen, was <strong>in</strong> den Gang <strong>der</strong> Japaner<strong>in</strong> die runde Bewegung br<strong>in</strong>gt,<br />
die irrtümlich durch Trippeln karikiert wird. Dieses ist ihm aber völlig<br />
fremd, er bekommt nur dadurch, daß <strong>der</strong> Holzschuh bei jedem Schritte wie<strong>der</strong><br />
aufgefangen werden muß, etwas nach vorne Fallendes.<br />
Beim Zuschneiden des Kimonos liegt die größte Schwierigkeit dar<strong>in</strong>, daß<br />
<strong>der</strong> vor<strong>der</strong>e Rand ganz gerade falle und <strong>der</strong> übergeschlagene Teil beim<br />
Schreiten nicht ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffe. Außerdem muß die Naht über dem<br />
Oberschenkel den richtigen Schwung und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz beim Hals die<br />
gewünschte Schiefe erhalten. Die vor<strong>der</strong>e Öffnung des Ärmels, <strong>der</strong> unter<br />
dem Handgelenk zugenäht ist, muß sich nach <strong>der</strong> Hand richten, damit diese<br />
nicht zu dick o<strong>der</strong> zu kurz aussehe. Die Seitenöffnung des Ärmels wird durch<br />
den Rang <strong>der</strong> Träger bestimmt.<br />
Ke<strong>in</strong>e <strong>noch</strong> so arme Japaner<strong>in</strong> würde es über sich br<strong>in</strong>gen, an dem hier den<br />
Frühl<strong>in</strong>gsbeg<strong>in</strong>n bedeutenden Tage <strong>noch</strong> e<strong>in</strong>en Kimono mit <strong>der</strong> für die<br />
84 85
86 87<br />
W<strong>in</strong>terfasson erfor<strong>der</strong>lichen Futterübernaht o<strong>der</strong> beim übertritt aus e<strong>in</strong>er<br />
Lebensphase <strong>in</strong> die an<strong>der</strong>e die alte Gar<strong>der</strong>obe weiter zu tragen. Diese kann<br />
aber auch nicht weitergegeben o<strong>der</strong> verkauft werden, weil sie <strong>der</strong> Figur genau<br />
angepaßt se<strong>in</strong> muß. Nicht e<strong>in</strong>mal das kostbare Brautkleid kann e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>n<br />
Verwendung zugeführt werden, weil <strong>der</strong> Braut<br />
84 85
88 89<br />
an ihrem Hochzeitstage <strong>noch</strong> e<strong>in</strong><br />
mal die K<strong>in</strong><strong>der</strong>ärmellänge zugebilligt<br />
wird. Auch <strong>in</strong> Bürgerhäusern zieht<br />
sich die Braut an diesem wichtigen<br />
Tage mehrere Male um, e<strong>in</strong>mal weiß<br />
für den Altar, e<strong>in</strong> zweites Mal rot<br />
für den Abschied vom Vater und e<strong>in</strong><br />
drittes Mal blau für das Hoch=<br />
zeitsessen, <strong>in</strong> Adelsfamilien fünf bis<br />
sechsmal. Da auch <strong>der</strong> Schnitt dieser<br />
Hochzeitsklei<strong>der</strong> völlig ver. schieden<br />
von demjenigen ist, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>er verheirateten Frau gebührt, so kann ke<strong>in</strong>e<br />
Japaner<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Stück ihrer<br />
Mädchengar<strong>der</strong>obe <strong>in</strong> die Ehe mitbr<strong>in</strong>gen. Nicht e<strong>in</strong>mal <strong>der</strong> geistigen<br />
Arbeiter<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nster Ges<strong>in</strong>nung ist es möglich, sich über diese qual.<br />
vollen Vorschriften h<strong>in</strong>wegzusetzen, weil <strong>in</strong> Japan, und nicht nur von den<br />
Frauen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geradezu lebensvernichtenden Weise geklatscht wird. Die<br />
Männer gucken unverfroren auf jede<br />
Abweichung von <strong>der</strong> Sitte h<strong>in</strong>, machen <strong>der</strong> Frau,<br />
die von ihr los will, das Leben unerträglich<br />
und setzen sie sogar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitung herab. Sieht<br />
man e<strong>in</strong>e Frau aus dem Volke mit langen Är.<br />
meln, im engen, hemmenden Rock und ab=<br />
schnürenden Obi, etwa <strong>noch</strong> mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d auf<br />
dem Rücken und auf hohen Stelzschuhen, die sie<br />
nur mit e<strong>in</strong>er Zehe halten kann, wie sie e<strong>in</strong>em<br />
Straßenbahnwagen nachläuft, so dreht sich e<strong>in</strong>em<br />
vor Mitleid das Herz im Leibe um.<br />
Ununterbrochene Arbeit und weit mehr Geld,<br />
als unsere mondänste Frau für Lack. schuhe<br />
verbraucht, kostet <strong>der</strong> Japaner<strong>in</strong> die Fuß=<br />
bekleidung. Die bis zu den Knöcheln reichen<br />
den Strumpfschuhe, Tabi genannt, müssen bei den<br />
Frauen aus den Bürgerkreisen weiß se<strong>in</strong>, was im<br />
W<strong>in</strong>terschmutz von Tokio e<strong>in</strong> täglich m<strong>in</strong>destens<br />
zweimaliges Wechseln erfor<strong>der</strong>t, so daß die für<br />
e<strong>in</strong>e Familie sorgende Hausfrau Dutzende dieser<br />
84<br />
Tabi zu waschen hat. Ist <strong>der</strong> Stoff, <strong>der</strong> nicht gestopft werden kann,<br />
durch=<br />
gewetzt o<strong>der</strong> auch nur schadhaft, so muß <strong>der</strong> Tabi weggeworfen werden. Da<br />
die altmodische Japaner<strong>in</strong> nach dem Muster <strong>der</strong> Daimiyofrau auf dem<br />
Fußboden sitzt und den Kimono rund um ihre Be<strong>in</strong>e legt, friert sie wohl nicht<br />
so sehr wie die auf Stühlen <strong>sitzen</strong>de mo<strong>der</strong>ne Japaner<strong>in</strong>, aber sie muß doch<br />
auch ihre weißbeschuhten Füßchen durch Warenhäuser und Geschäfte<br />
schleifen und den Geta, den Holzschuh, vor je<strong>der</strong> Türe zurück. lassen, was<br />
natürlich die Ahnfrau nicht zu tun brauchte.<br />
Die schlimmste Lebenserschwerung aber verursacht die Frisur, Nagahala<br />
genannt, <strong>der</strong>en schmetterl<strong>in</strong>gartiger Kunstbau nur von e<strong>in</strong>em Fach. meister<br />
<strong>in</strong> zwei= bis dreistündiger Arbeit aus völlig durchfettetem Haar hergestellt<br />
werden kann. Das Haar muß so fest am H<strong>in</strong>terkopfe abge, bunden werden,<br />
daß fast alle Frauen an dieser Stelle e<strong>in</strong>e tonsurähnliche Glatze davontragen,<br />
ferner Kopfschmerzen und Genickleiden durch die unnatürliche Kopfhaltung.<br />
Da diese Frisur zu mühevoll ist, um öfter als e<strong>in</strong>= bis zweimal <strong>in</strong> <strong>der</strong> Woche<br />
erneuert zu werden, können sich die unglückseligen Opfer nationaler Tradition<br />
nachts nicht nie<strong>der</strong>legen, ohne unter das Genick e<strong>in</strong>en Holzblock zu<br />
schieben, den sie auch zu e<strong>in</strong>er Nachtfahrt <strong>in</strong> die Eisenbahn mitnehmen<br />
müssen. Der so selten gekämmte, unbedeckte Kopf ist <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> vielen<br />
Zerzausung durch den W<strong>in</strong>d und durch die Straßenbahndrückereien fast immer<br />
zerrauft. Man sieht die Japaner<strong>in</strong>nen fortwährend damit beschäftigt, ihren<br />
Begleiter<strong>in</strong>nen die seitlich und h<strong>in</strong>ten herabhängenden Haarsträhnchen<br />
h<strong>in</strong>aufzustecken und von ihren Kimonokragen die Schuppen wegzublasen, Zu<br />
ihrem Ruf <strong>der</strong> Nettigkeit ist die Japaner<strong>in</strong> offenbar hauptsächlich durch die<br />
adretten Figürchen auf den Lackschachteln gekommen.<br />
Auch die nationale Frisur hat sich den verschiedenen Lebensphasen<br />
anzupassen; die ledigen Mädchen s<strong>in</strong>d an e<strong>in</strong>er Teilung des Aufbaues, durch<br />
die e<strong>in</strong> Band gezogen ist, kenntlich und die K<strong>in</strong><strong>der</strong> tragen e<strong>in</strong>e<br />
kuchenförmige Krone, Maru Mage genannt. Die mo<strong>der</strong>ne Frau <strong>in</strong> den großen<br />
Städten vertauscht jetzt die Nagahala mit e<strong>in</strong>em großen Schopf, h<strong>in</strong>ter<br />
welchem e<strong>in</strong> Nest gesteckt wird, was Unterlagen aus falschem Haar und<br />
E<strong>in</strong>lagen <strong>in</strong> den Zopf erfor<strong>der</strong>t. Der Handel mit falschem Haar ist e<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />
schwungvollsten <strong>in</strong> Japan, ebenso <strong>der</strong> mit Schönheitsmitteln, denn jede Frau<br />
färbt sich die glanzlosen Haare schimmernd schwarz. Schm<strong>in</strong>ke und Pu<strong>der</strong><br />
gehören hier zur Toilette.<br />
Unbegreiflich ersche<strong>in</strong>tmir, wie eigentlich die Vorstellung von Schläfen.<br />
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88 89<br />
schmuck und Fächergestecken zu uns gekommen ist, denn das Haar ist<br />
sowohl bei den altja<strong>panische</strong>n wie bei den mo<strong>der</strong>nen Frisuren glatt über die<br />
Ohren gekämmt. Den Kopfputz unserer Operettengeishas gibt es <strong>in</strong><br />
84 85
go 9i<br />
Japan überhaupt nicht, nicht e<strong>in</strong>mal die kle<strong>in</strong>en Geisha=Schüler<strong>in</strong>nen, Maiko<br />
genannt, stecken irgendwelchen Schmuck h<strong>in</strong>ter das Ohr; über ihrer Frisur<br />
vibriert an e<strong>in</strong>em zitternden Draht e<strong>in</strong>e Blume o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> schillern<strong>der</strong> Zierat.<br />
Sowohl ihnen wie auch <strong>der</strong> richtigen Geisha ist e<strong>in</strong>e bestimmte Haartracht<br />
vorgeschrieben.<br />
Auch für die Männer bildet die<br />
Kleidung e<strong>in</strong>e Sorge, auch ihre<br />
kostspieligen, weil stets aus Seide<br />
verfertigten Gewän<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d bei<br />
schlechtem Wetter <strong>in</strong> großer Ge=<br />
fahr, zumal auch ihre Mäntel, <strong>wenn</strong>=<br />
gleich länger und strapazfähiger als<br />
<strong>der</strong> Haori <strong>der</strong> Frauen, den untern<br />
Teil desGewandes unbedeckt lassen<br />
auch ihnen nimmt das Ankleiden viel<br />
mehr Zeit, als europäische Be=<br />
rufsmenschen ihm jemals widmen<br />
könnten.<br />
AlleMänner und Frauen höherer<br />
Geistigkeit erklären daher: »Wir<br />
müssen zur europäischen Tracht<br />
übergehen, sie ist praktischer und<br />
billiger.« Natürlich ist nur die erste<br />
Behauptung richtig, die zweite<br />
wächst aus <strong>der</strong> typisch falschen<br />
E<strong>in</strong>stellung auf alles Ausländische<br />
84 85
go 9i<br />
heraus. So streng <strong>der</strong> Japaner beim Kimono auf Nettigkeit, Harmonie,<br />
Edell<strong>in</strong>igkeit und Altersanpassung sieht: bei ausländischer Kleidung ist je<strong>der</strong><br />
Fetzen recht, ob er nun zur Jahreszeit, Gelegenheit und Altersstufe paßt o<strong>der</strong><br />
nicht, ganz aus <strong>der</strong> Mode o<strong>der</strong> <strong>noch</strong> so salopp ist. Während e<strong>in</strong> gestopfter<br />
weißer Tabi als unmöglich gilt, zieht auch die vornehmste Dame zu e<strong>in</strong>em<br />
weißen Sommerkleide --- als welches sie beispielsweise auch e<strong>in</strong> Oberhemd<br />
verwendet - seelenruhig durchgewetzte, vertretene schwarze Le<strong>der</strong>schuhe an.<br />
Unbedenklich setzt sie dazu irgende<strong>in</strong> Hut= ungetüm schief auf den<br />
H<strong>in</strong>terkopf, so daß das Wort »schlampig«, wäre es nicht bereits geprägt, für<br />
ausländisch angezogene Japaner eigens er= funden werden müßte.<br />
Auch bei an<strong>der</strong>en Gelegenheiten macht sich <strong>der</strong>selbe Grundsatz geltend.<br />
Aufs sorgsamste wird sich die Hausfrau bemühen, aus den Fußboden= matten<br />
jeden verschütteten Tropfen zu entfernen, während sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
europäisch e<strong>in</strong>gerichteten Eßzimmer zu dem schmutzigsten Tisch= tuch setzt.<br />
Manche Japaner retten sich geradezu <strong>in</strong> e<strong>in</strong> europäisehesHaus, müßte doch<br />
die Führung e<strong>in</strong>es ja<strong>panische</strong>n ihrem Lebensstandard angepaßt se<strong>in</strong>, während<br />
man für e<strong>in</strong> europäisches Rangunterschiede nicht kennt. Bei ausländischen<br />
D<strong>in</strong>gen, die <strong>der</strong> Japaner sozusagen ohne Augen betrachtet, löscht er das<br />
Licht se<strong>in</strong>er eigenen Seele aus.<br />
E<strong>in</strong> strenger nationaler Kampfruf brandmarkt die ausländische Klei= dung<br />
<strong>der</strong> Frau als Hochverrat, nur <strong>in</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>gärten und Mädchen= schulen ist<br />
sie erlaubt. Aber auch bei den Hängekleidchen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> sitzt alles schief, an<br />
falscher Stelle angebracht o<strong>der</strong> geknöpft; die Schuhehen passen nicht zu den<br />
meist herabhängenden Strümpfle<strong>in</strong>, die Höschen und Röckle<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d<br />
unordentlich und faltig und, da jedes ja<strong>panische</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>= näschen r<strong>in</strong>nt und fast<br />
alle Gesichtchen verschmiert s<strong>in</strong>d, bietet solch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten e<strong>in</strong>en<br />
greulichen Anblick. Bei den älteren Schulmädchen ersetzt e<strong>in</strong> kurzer roter<br />
Faltenrock über dem auch von den Buben getragenen, schwarz=weiß<br />
getupften Klassenkimono den Obi, aber beim Turnen und beim Tennis<br />
stören die langen Ärmel, sogar, <strong>wenn</strong> sie auf den Rücken gebunden s<strong>in</strong>d,<br />
und so werden jetzt vielfach über diese plumpen, unmo<strong>der</strong>nen roten Röcke<br />
Wolljumper gezogen, die aber niemals, ebensowenig wie die viel gebrauchten<br />
Matrosenkleidchen, für die Figur gemacht s<strong>in</strong>d. Die Strümpfe werden<br />
nachlässig aus dicker Wolle ge. strickt und, auch <strong>wenn</strong> sie aus fe<strong>in</strong>em<br />
Material gewirkt s<strong>in</strong>d, grob gestopft. Unbarmherzig lassen sie die sonst gnädig<br />
vom Kimono verhüllte, häßliche Form <strong>der</strong> Be<strong>in</strong>e hervortreten. Sieht also die<br />
mo<strong>der</strong>ne weibliche Jugend schon wenig anziehend aus, so ist bei den<br />
Ersche<strong>in</strong>ungen erwachsener<br />
84 85
Frauen <strong>in</strong> ausländischer Tracht jede Schil<strong>der</strong>ung ohnmächtig, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei<br />
den <strong>in</strong>tellektuellen Frauen mittleren Alters, an <strong>der</strong>en Äußeres man sich nur<br />
langsam gewöhnen kann, so hoch sie ethisch stehen und so verehrungswürdig<br />
man sie bei näherer Bekanntschaft f<strong>in</strong>det.<br />
Bei den Männern ist e<strong>in</strong> Frack e<strong>in</strong> Frack, sei er zwanzig Jahre alt,<br />
unmo<strong>der</strong>n und fettglänzend; weitherzig wird dabei über die Kle<strong>in</strong>igkeit<br />
h<strong>in</strong>weggesehen, ob er etwa schlottert o<strong>der</strong> zu eng sei. Aus den aus=<br />
gefransten Zugstiefeln hängen h<strong>in</strong>ten zumeist die Schlupfen heraus, die Socken<br />
bauschen sich <strong>in</strong> Falten unter dem h<strong>in</strong>aufgerutschten Hosenrand, unter dem<br />
auch die schmutzigen Trikotunterbe<strong>in</strong>klei<strong>der</strong> sichtbar werden. Zwischen den<br />
Knöpfen <strong>der</strong> Weste ist das Jägerhemd und beim Hand= gelenk dessen<br />
manschettenloser Ärmel zu sehen, und zwar nicht etwa nur bei gewöhnlichen<br />
Männern, son<strong>der</strong>n auch bei den vornehmsten Herren, die stundenlang zu ihrer<br />
Kimonotoilette brauchen. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige achtlose ausländische Kleidung ist<br />
natürlich weniger kostspielig als die raff<strong>in</strong>ierte ja<strong>panische</strong> und <strong>in</strong><br />
ahnungslosester E<strong>in</strong>falt sagte mir e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e ja<strong>panische</strong> Dame: »Ihre<br />
Lebensweise ist so viel billiger als die unsrige, man braucht nur e<strong>in</strong> Kleid.«<br />
Je<strong>der</strong> Japaner, Mann o<strong>der</strong> Frau, schüttelt <strong>in</strong> dem Augenblick, da abends das<br />
Heim betreten wird, die ausländische Kleidung ab und vertauscht sie mit <strong>der</strong><br />
nationalen. Abgesehen von den erdrückenden Kosten dieses Doppellebens,<br />
zerreißt dieses Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> auch alle Seelen.<br />
io. E<strong>in</strong>ladungen.<br />
Herr Amano, <strong>der</strong> Direktor <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n Eisenbahnverwaltung, <strong>der</strong><br />
<strong>noch</strong> Hofrat war, als ich ihn bei me<strong>in</strong>em ersten Besuch <strong>in</strong> Japan kennen<br />
lernte, lädt mich zu e<strong>in</strong>em Abendessen e<strong>in</strong>. Wiewohl ich auf se<strong>in</strong>e Frage, ob<br />
ich ja<strong>panische</strong> o<strong>der</strong> ausländische Art vorziehe, erstere wähle, werde ich<br />
den<strong>noch</strong> <strong>in</strong> das dem Hauptbahnhof angebaute und weit ruhiger und<br />
unauffälliger als das Imperial aussehende Stationshotel gebeten, mit <strong>der</strong><br />
Begründung, daß es <strong>in</strong> den ungeheizten ja<strong>panische</strong>n Häusern jetzt für Europäer<br />
zu kalt sei. Uni fünf Uhr - die hier für D<strong>in</strong>ers übliche Stunde - fahren wir <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em untadeligen Auto zuerst <strong>in</strong> das elegante Heim des Direktors, wo<br />
mich se<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em europäischen Salon empfängt. In den reichen<br />
ja<strong>panische</strong>n Häusern ist e<strong>in</strong>Trakt o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Raum ausländisch<br />
e<strong>in</strong>gerichtet und von dem ja<strong>panische</strong>n Teil getrennt; pflegen auch ärmere<br />
Familien mit Auslän<strong>der</strong>n Verkehr, so stellt man, weil die Fremden das<br />
Hocken auf <strong>der</strong> Erde nicht lange aushalten, die unvermeid= liehe billige rote<br />
Samtgarnitur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ecke des ja<strong>panische</strong>n Empfangs= zimmers. Die Zimmer im<br />
fremden Stil s<strong>in</strong>d aber von e<strong>in</strong>er solchen Un= bewohntheit und<br />
Tapeziererungemütliehkeit, daß <strong>in</strong> ihnen e<strong>in</strong> wärmerer Verkehr von vornhere<strong>in</strong><br />
ausgeschlossen ist. Außerdem s<strong>in</strong>d die Japaner dadurch,daß <strong>der</strong><br />
84<br />
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ja<strong>panische</strong>Trakt eiskalt ist, während man <strong>in</strong> den fremden<br />
84<br />
92 93
94 95<br />
Zimmern heizt, stets Erkältungen ausgesetzt. Ihr ganzes Dase<strong>in</strong> wird durch<br />
dieses Doppelleben erschwert und auch verteuert.<br />
Nach <strong>der</strong> Begrüßung <strong>der</strong> übrigen Gäste, e<strong>in</strong>es pensionierten Obersten, <strong>der</strong><br />
mich, als er <strong>noch</strong> Militärattache war, <strong>in</strong> Wien besucht hatte, se<strong>in</strong>er Frau und<br />
<strong>noch</strong> e<strong>in</strong>es Ehepaares, bleiben wir nicht lange auf den kost= baren<br />
grellgelben Louis=Seize=Möbeln <strong>sitzen</strong>, son<strong>der</strong>n fahren <strong>in</strong> drei Autos <strong>in</strong> das<br />
Stationshotel, dessen Wahl damit begründet wird, daß im Imperial< Hotel das<br />
Essen ungenießbar sei. Mir freilich s<strong>in</strong>d die Mahlzeiten dort immer als <strong>der</strong><br />
Gipfel des Luxus erschienen, aber e<strong>in</strong>em schnell zu Reich= tum gekommenen<br />
Japaner können es nicht e<strong>in</strong>mal unsere Kriegsgew<strong>in</strong>ner gleichtun.<br />
Das Mahl im Stationshotel überbietet allerd<strong>in</strong>gs alles, was ich <strong>in</strong><br />
Japan auf diesem Gebiete nicht nur selbst erlebt, son<strong>der</strong>n auch erzählen gehört<br />
habe. In e<strong>in</strong>em riesigen Salon, <strong>in</strong> dem mit köstlichen Bil<strong>der</strong>n be= malte, alte<br />
ja<strong>panische</strong> Wandschirme den gedeckten Tisch verbergen, werden uns<br />
Cocktails gereicht, dann zieht man jene zurück und die Tafel mit ihrer<br />
wun<strong>der</strong>baren Anordnung wird sichtbar. E<strong>in</strong> M<strong>in</strong>iaturgarten aus kle<strong>in</strong>en<br />
Ste<strong>in</strong>en mündet l<strong>in</strong>ks <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Tempelanlage aus Tragant, rechts <strong>in</strong> den<br />
Fujiyama aus Papiermache, e<strong>in</strong> reizend duftig hergestellter Auf= bau, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e<br />
künstlerischen Wirkungen <strong>in</strong> bloßen Andeutungen erzielt.<br />
Das Mahl beg<strong>in</strong>nt mit schwarzem Kaviar, e<strong>in</strong>er großen Seltenheit <strong>in</strong> Japan,<br />
während roter <strong>in</strong> den Menüs ziemlich häufig ersche<strong>in</strong>t. Je<strong>der</strong> Gast bekommt<br />
e<strong>in</strong>e ganze Zitronenschale voll davon. Dann folgen Langusten, die mit<br />
Gansleberpastete und Trüffeln verschwen<strong>der</strong>isch angerichtet s<strong>in</strong>d, Fasane mit<br />
frischem Spargel, trotzdem wir den Monat Januar schreiben. Dieses<br />
kostspielige Gemüse stammt ebenso wie <strong>der</strong> junge Salat und die Pfirsiche<br />
»aus eigenen Gewächshäusern«, wie mir <strong>der</strong> Gastgeber auf rne<strong>in</strong>e<br />
erstaunten Ausrufe erklärt. Dem s<strong>panische</strong>n Blumenkohl, <strong>der</strong> mit s.ltsamen<br />
Pasteten garniert ist, folgen frische Erdbeeren - ebenfalls aus dem eigenen<br />
Glashause - und dazu zierliche Körbchen aus Grillage, die mit Schlagsahne<br />
gefüllt s<strong>in</strong>d. Zu den Torten, Schokoladebonbons, Bäckereien aller Art,<br />
Datteln, We<strong>in</strong>trauben wie aus dem Lande Kanaan wird je e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er We<strong>in</strong><br />
geschenkt, zuletzt Champagner. Wem immer von den Europäern <strong>in</strong> Tokio<br />
ich von dieser Speisenfolge erzähle, je<strong>der</strong> antwortet: »Ja, ja, das verstehen<br />
sie, die Japaner.«<br />
Und dann blendet man mich mit Schil<strong>der</strong>ungen davon, wie sich Herrn<br />
Amanos Lebensrahmen verbreitert habe. E<strong>in</strong>gekleidet werden sie <strong>in</strong> die<br />
Klage über die Teuerung, <strong>der</strong>zufolge die heutige Toilette Frau Amanos<br />
84<br />
von Kopf bis Fuß zehntausend Yen koste, tausend davon alle<strong>in</strong><br />
85
94 95<br />
<strong>der</strong> Obi, von dem man aber nur e<strong>in</strong> w<strong>in</strong>ziges Stückchen sieht. Ober<br />
diesem Wun<strong>der</strong>werk <strong>der</strong> Goldwebekunst hält e<strong>in</strong>e köstliche Brillantagraffe, <strong>der</strong><br />
Obi Dome, den Haori zusammen; vornehme Japaner<strong>in</strong>nen tragen nur an<br />
dieser Stelle Schmuck. Die fünfzehn Kimonos <strong>der</strong> drei Damen s<strong>in</strong>d sämtlich<br />
aus Seide, die zwei obersten überdies mit Seide gefüttert; im Halsausschnitt<br />
sitzt <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>bare, wie e<strong>in</strong>e Art englische Jackenfasson von <strong>in</strong>nen<br />
herausgeschlagene Crepe=de=Ch<strong>in</strong>e=Kragen, welcher den obern Rand des<br />
Kimonos hebt und auch bei den älteren Damen licht und farben= freudig se<strong>in</strong><br />
darf; <strong>in</strong> ihre Auswahl legt die Japaner<strong>in</strong> ihren ganzen Ge= schmack. Es gibt<br />
solche mit Pfauen, Landschaften, Blütentrauben, Blumenranken, kurz mit<br />
den entzückendsten Zeichnungen. Diese kosten ganz unwahrsche<strong>in</strong>liche<br />
Summen, aber nicht e<strong>in</strong>mal die e<strong>in</strong>fachsten s<strong>in</strong>d unter zwei bis dreien zu<br />
haben. Alle drei Damen tragen die Nagahala, die Schmetterl<strong>in</strong>gsfrisur, denn<br />
man hält hier starrs<strong>in</strong>nig an den altenFormen fest.<br />
Aller Glanz <strong>der</strong> Kleidung vermag nicht darüber h<strong>in</strong>wegzutäuschen, daß<br />
sowohl Frau Amano wie die Frau des Obersten <strong>in</strong> den zwölf Jahren seit<br />
unserem ersten Zusammentreffen sehr gealtert s<strong>in</strong>d. Sicherlich zählen beide<br />
nicht viel über vierzig Jahre, aber auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> reichsten Familie richtet<br />
das Aufziehen und das lange Säugen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> die Mutter zugrunde.<br />
Schöne alte Japaner<strong>in</strong>nen gibt es überhaupt nicht.<br />
Mit <strong>der</strong> Mitteilung, daß jede <strong>der</strong> Damen dreißig bis fünfzig Kimonos<br />
besitze, ist die Damentoilettenfrage erledigt und die Herren berichten nun über<br />
die Kosten ihrer Kleidung. Als gesellschaftlich viel geladener Japaner bedarf<br />
<strong>der</strong> hochmögende Verwaltungschef e<strong>in</strong>er vierfachen voll= ständigen<br />
Ausstattung: aller Arten seidener Montsuki, <strong>der</strong> Kimonos mit dem<br />
Familienwappen, dann <strong>der</strong> ausländischen Ausrüstung, bestehend aus Frack,<br />
Smok<strong>in</strong>g, Gehrock und Bureauanzug, ferner <strong>der</strong> Beamten= uniformen, die<br />
gleichfalls für alle Gelegenheiten, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für die Gala, verschieden s<strong>in</strong>d,<br />
und schließlich <strong>der</strong> Hofkleidung für kaiserliche Begräbnisse und an<strong>der</strong>e<br />
Hoffeierlichkeiten. Zu den Ausgaben kommt <strong>noch</strong>, daß für Amanos Sohn,<br />
<strong>der</strong>, seit er <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schule</strong> an e<strong>in</strong> Pult ge= wöhnt wurde, nicht mehr recht auf<br />
dem Fußboden <strong>sitzen</strong> kann, e<strong>in</strong> eigenes ausländisches Zimmer e<strong>in</strong>gerichtet<br />
werden mußte. Durch solche Ruhm= redigkeit offenbart sich die Zerrissenheit<br />
dieser <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Übergangszeit gestellten Menschen.<br />
Herr Amano br<strong>in</strong>gt es auf das gewandteste fertig, mit rückschritt= licher<br />
Ges<strong>in</strong>nung neuzeitliches Gehaben zu verquicken. Während <strong>der</strong> Feudalzeit<br />
hätte ke<strong>in</strong> hoher Beamter jemals den Staatsdienst als Sprungbrett zu privater<br />
Laufbahn verwertet, Herr Amano aber hat eben bei <strong>der</strong><br />
84 85
Eisenbahn se<strong>in</strong>en Abschied verlangt, um Direktor e<strong>in</strong>es großen Unternehmens<br />
zu werden, was mir mit seltsamem Lächeln schon von an<strong>der</strong>en<br />
J<br />
apanern erzählt worden ist. Es soll nämlich auch hier bereits vorkommen, daß<br />
die<br />
von Aktiengesellschaften teuer ausgemieteten Chefs <strong>der</strong> IvI<strong>in</strong>isterien für<br />
ihre neue Stellung ihre früheren Beziehungen ausnützen.<br />
Diese <strong>in</strong>nere Abkehr von <strong>der</strong> Tradition h<strong>in</strong><strong>der</strong>t Amano ke<strong>in</strong>eswegs, gegen<br />
die neuen Frauenbestrebungen aufzutreten und, wie er mir ganz offenherzig<br />
gesteht, gegen sie se<strong>in</strong>en ganzen E<strong>in</strong>fluß geltend zu machen. Das<br />
Merkwürdigste dabei ist, daß ihm bei se<strong>in</strong>er Verteidigung des bisherigen<br />
Verhältnisses zwischen Mann und Frau die Damen beipflichten - die vornehme<br />
Japaner<strong>in</strong> will nämlich gar nicht erlöst werden. Beim Abschied läßt er se<strong>in</strong>e<br />
Frau zuerst durch die Türe gehen; dann dreht er sich zu mir um und lacht:<br />
»So verlangen Sie es doch? Nicht?« Und die Damen verraten durch ihr<br />
Kichern, daß <strong>der</strong> Herr und Gemahl sonst als erster durch die Türe zu<br />
schreiten pflege.<br />
Fast alle Private<strong>in</strong>ladungen lauten für e<strong>in</strong> Restaurant, denn die ja<strong>panische</strong>n<br />
Haushaltungen s<strong>in</strong>d auf Gastfreundschaft ganz und gar nicht<br />
e<strong>in</strong>gestellt. Das Restaurant rechnet damit, geschlossene Gesellschaften zu<br />
bewirten und, da es durch die Verstellbarkeit <strong>der</strong> Wände se<strong>in</strong>e Räume<br />
dem Bedarf anpaßt, bietet es Chambres separees <strong>in</strong> je<strong>der</strong> gewünschten<br />
Größe. Dadurch ergibt sich rasch e<strong>in</strong>e gewisse Gemütlichkeit.<br />
Die teuerste Bewirtung ist die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ch<strong>in</strong>esischen Restaurant, <strong>der</strong>en es<br />
<strong>in</strong> Tokio sehr viele und <strong>in</strong> allen Graden <strong>der</strong> Kostspieligkeit gibt. Die Japaner<br />
rühmen sich zwar, die ch<strong>in</strong>esische Kultur <strong>in</strong> allen Belangen restlos japanisiert zu<br />
haben, aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kochkunst können sie dem ch<strong>in</strong>esischen Urbild ke<strong>in</strong>e<br />
gleichwertige Japanisierung entgegensetzen. Geht doch auf Erden nichts<br />
Kul<strong>in</strong>arisches über fe<strong>in</strong>e ch<strong>in</strong>esische Küche, nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e<br />
französisch=belgische Höchstleistung; so wie das ch<strong>in</strong>esische Alphabet Laute<br />
enthält, die unserer Sprache fremd s<strong>in</strong>d, kennt die Zunge <strong>der</strong> Ch<strong>in</strong>esen<br />
Harmonien, die nicht e<strong>in</strong>mal <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>, geschweige unser plumper<br />
Gaumen empf<strong>in</strong>den kann.<br />
Will also <strong>der</strong> Japaner se<strong>in</strong>en Gast beson<strong>der</strong>s ehren, so lädt er ihn <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> ch<strong>in</strong>esisches Restaurant e<strong>in</strong>. Und als ich e<strong>in</strong>es Tages von e<strong>in</strong>em mir<br />
befreundeten ja<strong>panische</strong>n Redakteur, dessen knappes E<strong>in</strong>kommen ich kenne,<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> solches gebeten werde, löst sich me<strong>in</strong>e Verwun<strong>der</strong>ung darüber erst <strong>in</strong><br />
dem Augenblicke, als ich erfahre, daß Herr Hirota, <strong>der</strong> Chef des<br />
Pressebureaus im Auswärtigen Amt, ebenfalls anwesend se<strong>in</strong><br />
g6<br />
1<br />
werde. Diesmal bewahrheitet sich wohl, was die <strong>in</strong> Tokio lebenden<br />
Europäer fälschlich von allen an ausländische Journalisten ergehenden<br />
E<strong>in</strong>ladungen behaupten: daß <strong>der</strong> Staat die Kosten <strong>der</strong> Bewirtung trägt.<br />
Außer mir ist <strong>noch</strong> e<strong>in</strong> amerikanischer Journalist von <strong>der</strong> Associated Press<br />
Gast <strong>der</strong> Regierung und außerdem e<strong>in</strong>e Anzahl ja<strong>panische</strong>r Jour= nalisten, so<br />
daß wir im ganzen acht Personen s<strong>in</strong>d, die um e<strong>in</strong>en niedrigen, schwarzen<br />
Lacktisch herum auf bunten, flachen Seidenkissen, die auf den Fußmatten<br />
liegen, mit e<strong>in</strong>gezogenen Be<strong>in</strong>en hocken. Die Wände des Raumes s<strong>in</strong>d lang<br />
und schmal und schließen sich eng um die Tafel.<br />
Herr Hirota, <strong>der</strong> Diplomat <strong>der</strong> alten <strong>Schule</strong>, trägt wie immer e<strong>in</strong>en<br />
Kimono aus fe<strong>in</strong>ster Seide - alle an<strong>der</strong>en Herren s<strong>in</strong>d an diesem Abend <strong>in</strong><br />
ausländischer Kleidung - und br<strong>in</strong>gt wie überallh<strong>in</strong> auch hierher e<strong>in</strong>e Seele voll<br />
Mißtrauen mit. Offenbar hält er Mißtrauen für das Wesen se<strong>in</strong>es Berufes. Uns<br />
beiden Zeitungsschreibern gegenüber ist es natürlich riesengroß.<br />
Jedes ch<strong>in</strong>esische Restaurant bietet stets dieselben Speisen; da sie <strong>in</strong><br />
uralter, traditioneller Zubereitung zur Meisterschaft gebracht worden s<strong>in</strong>d,<br />
kommt es <strong>in</strong> diesen Wirtschaften nicht vor, daß e<strong>in</strong>mal etwas nicht ganz<br />
vollendet gerät. Es ist klar, daß das Publikum wechseln muß, <strong>wenn</strong> die<br />
Speisekarte dieselbe bleibt. Es kommt also wohl niemand täglich hierher,<br />
den<strong>noch</strong> gibt es e<strong>in</strong>e Art von Stammpublikum und die ch<strong>in</strong>esische Wirt<strong>in</strong>, die<br />
uns selbst bedient, sche<strong>in</strong>t den Staatssekretär gut zu kennen. Offenbar lädt er<br />
alle se<strong>in</strong>e ausländischen Gäste hierher e<strong>in</strong>.<br />
Ungefähr zehn Schüsseln werden aufgetragen und unmittelbar, ohne<br />
Tischtuch, auf den glänzenden Lack <strong>der</strong> Tafel gestellt. Kaum habe ich von<br />
den Speisen gekostet, so gerät me<strong>in</strong>e Zunge <strong>in</strong> Entzücken. Lei<strong>der</strong> läßt sich<br />
Wohlgeschmack ebensowenig beschreiben wie Wohlgeruch. Es s<strong>in</strong>d hun<strong>der</strong>t<br />
Jahre alte, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erde vergraben gewesene Eier und kle<strong>in</strong>e Stückchen<br />
seltsamer Fischkuchen mit mir <strong>noch</strong> unbekannten Tönen prickeln<strong>der</strong><br />
Fe<strong>in</strong>heiten. Nach dem Nachlassen des ersten Taumels sehe ich aber zu<br />
me<strong>in</strong>em pe<strong>in</strong>lichen Erstaunen, daß die an<strong>der</strong>en mir lächelnd zusehen, ohne<br />
selbst zuzugreifen. »Warum essen Sie denn nicht?« er= kundige ich mich<br />
betreten bei dem Diplomaten. »Ich warte auf Besseres.« »Besseres? Kommt<br />
denn <strong>noch</strong> etwas?« Da lachen sie alle, trotz japa= nischer Höflichkeit. Das<br />
seien doch nur die Hors d'eeuvres gewesen, die Ouvertüre <strong>der</strong><br />
Speisensymphonie. Und nun wird ohne Pause e<strong>in</strong>e schier unerschöpfliche<br />
Reihe von Gerichten aufgetischt; sie beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>er großen ch<strong>in</strong>esischen<br />
Suppenschüssel, die das Köstlichste enthält, was je me<strong>in</strong>e Kehle durchfloß:<br />
»Vogelnesterbrühe«. Die darauf folgenden Hühner s<strong>in</strong>d so fett, daß sie wie<br />
Speck aussehen, dann kommen <strong>in</strong> pikanter<br />
Alice Schalek, Japan. 7 97
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Sauce, die gerade die richtige Mitte zwischen sauer und scharf e<strong>in</strong>hält, leicht<br />
auf <strong>der</strong> Zunge zergehende Haifischflossen. E<strong>in</strong> Orientale fände es barbarisch,<br />
dieselbe Sauce zu verschiedenen Fleischsorten zu verwenden, se<strong>in</strong> verfe<strong>in</strong>erter<br />
Geschmack verlangt, daß <strong>der</strong> Ton jedes Rohmaterials herausgearbeitet und<br />
sozusagen durch die Zutaten untermalt werde. Den Hummer zum Beispiel habe<br />
ich <strong>noch</strong> nie <strong>in</strong> so meer=gemahnen<strong>der</strong> und herb=zarter Zubereitung gegessen,<br />
den Karpfen <strong>noch</strong> nie <strong>in</strong> solch süßsauer= beißen<strong>der</strong> Umhüllung.<br />
Bambussprossen, ganz weich und l<strong>in</strong>d, Schell= fisch, brennend papriziert, e<strong>in</strong>e<br />
knusprige Ente, die als Berg Fujiyama herausgeputzt ist, Reis mit<br />
Bäckereien, je<strong>der</strong> Gang mit fünf bis sechs Nebenschüsseln, immer e<strong>in</strong>e<br />
duften<strong>der</strong> und reizvoller als die an<strong>der</strong>e und von nie geahnter Erf<strong>in</strong>dung.<br />
Von sieben bis zehn essen wir ununterbrochen. Ich nehme nur von je<strong>der</strong><br />
zweiten o<strong>der</strong> dritten Schüssel, koste schließlich nur, denn nach den Früchten<br />
und Torten kommen wie<strong>der</strong> Fische und Geflügel und Gelees und Pikanterien -<br />
<strong>der</strong> ch<strong>in</strong>esische Magen vermag alle Tonleitern auf und ab zu klettern und<br />
setzt sich über die bei uns übliche Reihenfolge von Sauer über Gesalzen zu<br />
Süß kühn h<strong>in</strong>weg. Das Menü besteht dann <strong>noch</strong> aus gebackenen Garnelen<br />
mit Kartoffelmus, e<strong>in</strong>gemachten Pilzen, Hühnerfilets, gestopften Wachteln,<br />
Apfeltorte, dann kommt plötzlich wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Taubeneiersuppe und e<strong>in</strong><br />
gebackener Mandr<strong>in</strong>fisch, Cremeschnitten schieben sich zwischen e<strong>in</strong> Gericht<br />
aus Mandel= und Melonen> kernen und e<strong>in</strong>e dritte Suppe aus Sch<strong>in</strong>ken und<br />
geschmorten Tauben. Und natürlich wird all das Gute reichlich mit Sake<br />
begossen.<br />
E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Magenverstimmung nehme ich bewußt <strong>in</strong> Kauf, aber nach zehn<br />
Uhr b<strong>in</strong> ich völlig besiegt. Wer imstande ist, e<strong>in</strong> ch<strong>in</strong>esisches Essen<br />
durchzustehen, ohne völlig zusammenzubrechen, ist wohl für jede Strapaze des<br />
Lebens geeicht.<br />
ii. Theater.<br />
Durch e<strong>in</strong>en Österreicher, <strong>der</strong> hier Professor für deutsche Literatur ist,<br />
lerne ich se<strong>in</strong>en ja<strong>panische</strong>n Kollegen, Herrn Professor Gitaro Ch<strong>in</strong>o, den<br />
Lehrer für deutsche Literatur an <strong>der</strong> Tokioter Universität, kennen, <strong>der</strong><br />
»Judith« und »Gyges und se<strong>in</strong> R<strong>in</strong>g« <strong>in</strong>s Ja<strong>panische</strong> übersetzt hat. Se<strong>in</strong>e<br />
Schüler haben »Maria Magdalena« aufgeführt, »Die Frau im Fen= ster« und<br />
»Der Tor und <strong>der</strong> Tod« von Hofmannsthal, »Anatol« und »Liebelei« von<br />
Artur Schnitzler; diese von literarischen Studenten vere<strong>in</strong>igungen<br />
veranstalteten Aufführungen gehen zwischen den Monats= programmen im<br />
Kaiserlichen Theater o<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>er Hotelbühne <strong>in</strong> Szene.<br />
Von den Japanern, <strong>der</strong>en Literatur ebenfalls dem Bürgertum e<strong>in</strong>e ihm<br />
fernliegende Weltanschauung aufzw<strong>in</strong>gen will, wird Schnitzler am besten<br />
verstanden, während von Hauptmann nur »Elga« und »E<strong>in</strong>same Menschen«<br />
Anklang fanden. Den größten Erfolg hatten Su<strong>der</strong>manns »F_hre« und<br />
»Heimat«.<br />
Herr Ch<strong>in</strong>o ist e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es mageres Männchen mit so ausdruckslosem<br />
Gesicht, daß ich es mit dem, was <strong>der</strong> Mund von literarischen Taten erzählt,<br />
gar nicht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen vermag. Se<strong>in</strong> Interesse für unsere<br />
Dichtkunst geht so weit, daß er an Schnitzlers sechzigstem Geburtstage <strong>in</strong><br />
Yokohama durch se<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong>en Vortrag über dessen Werke halten ließ, die<br />
er als Schulthemata zu behandeln und <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Literaturstunde mit<br />
den Schülern durchzunehmen pflegt. Auch Dichtungen von Ra<strong>in</strong>er Maria<br />
Rilke, Wedek<strong>in</strong>d, Werfel, Schmidtbonn, Georg Kaiser, Str<strong>in</strong>dberg (aus dem<br />
Deutschen übersetzt> bilden Gegenstand von Schulaufgaben.<br />
In <strong>der</strong> geheimen Hoffnung, mit Hilfe dieses Schnitzlerübersetzers zu<br />
tieferem Verständnis ja<strong>panische</strong>r Dramen vorzudr<strong>in</strong>gen, bitte ich Herrn<br />
Gitaro Ch<strong>in</strong>o, mich <strong>in</strong>s Theater zu begleiten. Der Abend br<strong>in</strong>gt mir aber<br />
e<strong>in</strong>e Enttäuschung, weil <strong>der</strong> gelehrte Professor, dessen Briefe <strong>in</strong><br />
tadellosem Deutsch geschrieben s<strong>in</strong>d und dessen Kurrentschrift wie ge=<br />
stochen aussieht, die Sprache, die er unterrichtet und die se<strong>in</strong>en Lebens<strong>in</strong>halt<br />
bildet, nicht auch sprechen kann.<br />
Anstatt gekaufter Karten, wie ich ihn gebeten hatte, br<strong>in</strong>gt er zwei vom<br />
Oberregisseur geschenkte mit, Freikarten für die fremde Schrift. steller<strong>in</strong>,<br />
denn sonst werden ke<strong>in</strong>e ausgegeben; aber es s<strong>in</strong>d recht schlechte Sitze, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
letzten Reihe des Balkons. Wir s<strong>in</strong>d etwas spät daran, weil unsere Schuhe<br />
<strong>in</strong>folge des strömenden Regens mit e<strong>in</strong>er Schmutzschicht bedeckt s<strong>in</strong>d und wir<br />
sie zuerst beim Schuhputzer abwaschen lassen müssen. Das Kaiserliche<br />
Theater ist so weit mo<strong>der</strong>n, daß man dar<strong>in</strong> die Schuhe anbehalten darf.<br />
Während wir uns durch den vollbesetzten Zu= schauerraum drängen, denke<br />
ich daran, was wohl bei e<strong>in</strong>er Feuersbrunst geschähe - aber ne<strong>in</strong>, dieser<br />
Gedanke alle<strong>in</strong> machte e<strong>in</strong> Vergnügen un= möglich. Die Sitze und<br />
Zwischengänge s<strong>in</strong>d für die Gertenschlankheit <strong>der</strong> Japaner gebaut -<br />
europäischen Maßen trägt nur die erste, teuerste Reihe Rechnung, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Voraussetzung, daß von Europäern doch nur Durchreisende kommen und daß<br />
diese e<strong>in</strong> Pfund für e<strong>in</strong>en Platz bezahlen können.<br />
Ich sitze also ziemlich e<strong>in</strong>gezwängt da, b<strong>in</strong> ebenso wie me<strong>in</strong>e Nach= barn
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mit me<strong>in</strong>er Gar<strong>der</strong>obe beladen, auch mit dem nassen Regenschirm, und die<br />
hohen Frisuren <strong>der</strong> Japaner<strong>in</strong>nen vor mir nehmen mir die Hälfte des Ausblicks<br />
weg -- niemand kann h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em solchen Schmetterl<strong>in</strong>gs=
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Haaraufbau viel sehen, aber die Achtung vor <strong>der</strong> Sitte knebelt alle Auf•<br />
lehnung. Es trägt außerdem nicht gerade zum Kunstgenusse bei, <strong>wenn</strong> alle<br />
Augenblicke die Schmucknadel aus dieser Frisur dazu benutzt wird, den meist<br />
tagelang nicht frisch gekämmten Kopf zu kratzen, etwa so, wie es unsere<br />
Hausmeister<strong>in</strong>nen mit <strong>der</strong> Stricknadel tun. Auch ist <strong>der</strong> Moschus= geruch <strong>der</strong><br />
stark geschm<strong>in</strong>kten und gepu<strong>der</strong>ten Damen betäubend.<br />
Das Haus ist bis auf das letzte Plätzchen gefüllt. Zu fast jedem Zuschauer<br />
gehört e<strong>in</strong>e Zuschauer<strong>in</strong>, aber nur selten ist es die Gatt<strong>in</strong>, sone <strong>der</strong>n<br />
zumeist die Geliebte o<strong>der</strong> die für den Abend gemietete Geisha. Man sieht<br />
auch ganze Familien mit Töchtern und sogar ab und zu zwei Damen ohne<br />
männliche Begleitung. E<strong>in</strong>e Dame alle<strong>in</strong> ersche<strong>in</strong>t fast nie.<br />
Das Kaiserliche Theater hat bereits ziemlich viel von <strong>der</strong> echten alten<br />
ja<strong>panische</strong>n Schaubühne abbröckeln lassen, doch vollzieht sich <strong>der</strong> Übergang<br />
zur Mo<strong>der</strong>ne äußerst vorsichtig. Immer <strong>noch</strong> beg<strong>in</strong>nt die Vorstellung um vier<br />
Uhr und datiert bis nach Mitternacht, immer <strong>noch</strong> wer= den täglich vier Stücke<br />
gespielt, aber das Programm, das an jedem Ersten des Monats wechselt,<br />
br<strong>in</strong>gt nur mehr vier Wochen h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> durchaus männliche Darsteller,<br />
jeden zweiten Monat wirken weibliche mit. Es kommt niemals vor, daß e<strong>in</strong><br />
Programm abgesetzt wird, Kritik und Tadel, die wie bei uns e<strong>in</strong>en<br />
Mißerfolg bewirken könnten, gibt es hier <strong>noch</strong> nicht, son<strong>der</strong>n das Publikum<br />
nimmt e<strong>in</strong>fach das Gebotene h<strong>in</strong>. Da so viel und soVerschiedenartiges<br />
gespielt wird, kommt je<strong>der</strong> auf se<strong>in</strong>e Rechnung.<br />
Die vier Stücke des heutigen Abends umfassen e<strong>in</strong>en klassischen Akt,<br />
dann e<strong>in</strong> neues Stück <strong>in</strong> alter Schreibart und als üblichen Schluß e<strong>in</strong>e<br />
Tanzszene; <strong>der</strong> dritte Programmpunkt, dessen Anziehungskraft mich <strong>in</strong>s<br />
Theater gelockt hat, ist e<strong>in</strong> ganz mo<strong>der</strong>nes Stück e<strong>in</strong>er jungen Frau, e<strong>in</strong>er<br />
Schüler<strong>in</strong> Professor Ch<strong>in</strong>os, die uns im Zwischenakt besucht und uns mit je<br />
e<strong>in</strong>er Serie Ansichtskarten von den Szenen ihres Stückes beschenkt. Trotz des<br />
je<strong>der</strong> Japaner<strong>in</strong> vorgeschriebenen holdseligen Lächelns sche<strong>in</strong>t sie mir sehr<br />
aufgeregt - ist es doch für sie etwas ganz Gewaltiges, hier aufgeführt zu<br />
werden. Wohl steht schon zum zweitenmal e<strong>in</strong> Stück von ihr auf dem<br />
Programm, aber sie ist die bisher e<strong>in</strong>zige mo<strong>der</strong>ne Schrift, steller<strong>in</strong>, <strong>der</strong> solch<br />
e<strong>in</strong>e Ehre zuteil geworden ist. Der Abend bedeutet für sie ungefähr das<br />
gleiche wie für e<strong>in</strong>e Wiener Autor<strong>in</strong> die Erstaufführung e<strong>in</strong>es Frauenstückes<br />
am Burgtheater.<br />
E<strong>in</strong> weiter und beschwerlicher Weg ist bis zu ihrem Werke zurückzulegen.<br />
Zuerst geht es durch e<strong>in</strong> Stück klassischer Literatur, wobei das<br />
bemerkenswerteste Moment die überwältigende literarische Bildung des<br />
Publikums ist. Je<strong>der</strong> Japaner und jede Japaner<strong>in</strong>, auch aus den untersten<br />
Schichten, kann jedes Wort <strong>der</strong> klassischen Dramen auswendig und nie wird<br />
e<strong>in</strong>er müde, sie immer wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Bühne zu sehen. Jede Schat= tierung im<br />
Vortrag <strong>der</strong> so wohlbekannten Verse -- das »gute« Spiel <strong>der</strong> Darsteller liegt<br />
hauptsächlich <strong>in</strong> dem Klangwechsel <strong>der</strong> Stimme - ist e<strong>in</strong> aufregendes Ereignis<br />
für dieses theaterbegeisterte Volk.<br />
Unser Stück spielt <strong>in</strong> Kyoto zur »Kamakura=Ära«. Der Held gibt sich<br />
dem Bösewicht gegenüber als Idiot aus. In endlosem H<strong>in</strong>= und Wi<strong>der</strong>reden<br />
<strong>der</strong> Dienstboten erfahren wir die Vorgeschichte; die Männer sprechen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em kunstvollen S<strong>in</strong>gsang, die Frauen - sie werden von Männern dargestellt,<br />
denn wir s<strong>in</strong>d im frauenlosen Monat - mit hoher, unnatürlicher Fistelstimme.<br />
Der berühmtesteTriller <strong>der</strong> besten Koloratur= sänger<strong>in</strong> kann sich an<br />
Atemkunst nicht mit dem endlosen Verweilen <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n unbiegsamen<br />
Kunststimme auf e<strong>in</strong>em Ton vergleichen, mit diesem gleichmäßig rollenden<br />
Sprechen, das nur durch e<strong>in</strong> plötzliches Ansteigen über e<strong>in</strong> auf unser Ohr<br />
unangenehm wirkendes Ton<strong>in</strong>tervall h<strong>in</strong>weg o<strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>en jähen Absturz <strong>in</strong><br />
gutturale Tiefen unterbrochen wird. Das begleitende Orchester, das auch als<br />
Chor fungiert und Auff tritt und Abgang <strong>der</strong> Schauspieler durch grelle<br />
Schläge von Holz auf Holz und durch e<strong>in</strong>en son<strong>der</strong>baren Gesang hervorhebt,<br />
sitzt nicht mehr wie auf <strong>der</strong> alten Bühne vor, son<strong>der</strong>n unsichtbar <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Kulisse.<br />
Während die bewegungslosen Körper <strong>der</strong> <strong>in</strong> echte uralte Kostüme<br />
gekleideten Schauspieler <strong>in</strong> endlosem Geplärre e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gegenüberhocken,<br />
ersche<strong>in</strong>t es mir unmöglich, an dem Idioten etwas Idiotisches o<strong>der</strong> an dem<br />
Bösewicht etwas Bösartiges zu entdecken, liegen doch die japa= nischen<br />
Ausdrucksmöglichkeiten nur im Ton, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aussprache; dabei ist das<br />
Bühnen=Japanisch auf hohem Kothurn von <strong>der</strong> Umgangssprache total<br />
verschieden. Aber rund um mich herum ist die Anteilnahme unbeschreiblich,<br />
murmeln alle Zuschauer jedes Wort mit. Wer etwa aus dem<br />
weltstädtischen Getriebe Tokios den Glauben geschöpft hat, daß das alte<br />
Japan bald e<strong>in</strong>em neuen weichen werde, wird hier gründlich e<strong>in</strong>es Besseren<br />
belehrt.<br />
Me<strong>in</strong> Begleiter, <strong>der</strong> gelehrte Professor, ist selbst viel zu viel das K<strong>in</strong>d, das<br />
<strong>in</strong>s Theater geführt wird, um nicht völlig zu vergessen, daß er als literarischer<br />
Wegweiser gekommen ist. Geistig arbeitende Japaner, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
Staatsbeamte, s<strong>in</strong>d so schlecht bezahlt, daß sie sich das Vergnügen e<strong>in</strong>es
I00 I0I<br />
Theaterbesuches nicht allzuoft leisten können. Herr Ch<strong>in</strong>o genießt also se<strong>in</strong>e<br />
Freikarte so restlos, daß ich es nicht übers Herz br<strong>in</strong>ge, ihn wie<strong>der</strong>holt durch<br />
Fragen zu stören, die ich überdies aufschreiben muß, damit er sie versteht.<br />
Außerdem kann er nur Tatsächliches erklären,
denn e<strong>in</strong> Japaner ist so sehr Gegenstand des Hergebrachten, daß er dazu gar<br />
ke<strong>in</strong>e Stellung nimmt. Meist gibt Herr Ch<strong>in</strong>o die typisch ja<strong>panische</strong>n<br />
Antworten, die nur auffassen kann, wer längere Zeit mit Japanern verkehrt<br />
hat. So antwortet er e<strong>in</strong>mal auf me<strong>in</strong>e Frage, warum das Publi= kum lache,<br />
<strong>wenn</strong> tieftraurige D<strong>in</strong>ge verhandelt werden: »Ja, lei<strong>der</strong>!« Er will damit sagen,<br />
er bedaure dieses unpassende Gelächter. Daß die mit Lachstürmen<br />
aufgenommenen clownartigen Gesten, womit die Komiker mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
tragischen Szene die Handlung stören und zerreißen, ganz und gar nicht <strong>in</strong> das<br />
Stück gehören und nichts als Augenblickse<strong>in</strong>gebungen unverantwortlicher<br />
Kulissenreißer s<strong>in</strong>d, erfahre ich erst von e<strong>in</strong>em mit <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n Literatur<br />
vertrauten Europäer.<br />
Der Inhalt des Stückes erzählt von e<strong>in</strong>em Kaiser, <strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>en ihm<br />
treuen Daimiyo die ganze Familie e<strong>in</strong>es Nebenkaisers ausrotten läßt. Der<br />
Konflikt spielt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Seele dieses Daimiyos ab, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Freund des<br />
Mannes ist, den er töten soll. Da die klassische Literatur dem Unter= tan<br />
vorschreibt, dem Kaiser bl<strong>in</strong>d zu gehorchen, tötet er den Freund und verrät<br />
sogar se<strong>in</strong>em Herrn, daß dessen Söhnchen mit dem Leben davon= kam, aber da<br />
er den Befehl erhält, auch den Knaben zu ermorden, br<strong>in</strong>gt er aus<br />
Freundschaft se<strong>in</strong>en eigenen Sohn uni. Seit Abrahams Bereit= willigkeit<br />
zum Opfer se<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des -- und das war doch Gottes Befehl! - verlangte<br />
me<strong>in</strong>es Wissens ke<strong>in</strong>es Volkes Sage solches von e<strong>in</strong>em Vater.<br />
Die ja<strong>panische</strong> Literatur verherrlicht <strong>in</strong>dessen ausschließlich Eigen=<br />
schaften dieser Art: Treue gegen den Herrn, Ergebenheit, Selbst=<br />
aufopferung und die Aufsichnahme frem<strong>der</strong> Schuld. Sie werden e<strong>in</strong>em Volke,<br />
dessen Anlagen und Charakter sie ganz und gar nicht entsprechen, durch die<br />
Kunst e<strong>in</strong>gebläut, durch die Erziehung abgerungen. Wehe den<br />
Herrschenden, <strong>wenn</strong> diese Überlieferung e<strong>in</strong>mal durchbrochen se<strong>in</strong> wird!<br />
Heute berauscht sich <strong>der</strong> Japaner <strong>noch</strong> an <strong>der</strong> kunstvoll vorgetragenen<br />
H<strong>in</strong>gabe und <strong>in</strong> Verse gedrechselten Ehrfurcht se<strong>in</strong>er Hofdichter, welche das<br />
Ausland jahrzehntelang über die wahre Natur des Japaners ge= täuscht haben.<br />
Ke<strong>in</strong>e von den Sklaventugenden, die Japans Poesie von den Unter= tanen<br />
for<strong>der</strong>t, ist ihnen angeboren. Die Literatur verlangt e<strong>in</strong>en Knechts<strong>in</strong>n, <strong>der</strong> an<br />
se<strong>in</strong>em Herrn nicht mäkelt, son<strong>der</strong>n bl<strong>in</strong>d für ihn e<strong>in</strong>steht o<strong>der</strong> stirbt. Dieser<br />
Herr wird nicht näher gekennzeichnet, er tritt <strong>in</strong> den ver= schiedenen Stücken<br />
nicht als jeweils herausgearbeitete Persönlichkeit auf, Herr se<strong>in</strong> ist se<strong>in</strong>e<br />
e<strong>in</strong>zige Eigenschaft, ebenso wie es die <strong>der</strong> Knappen o<strong>der</strong> Diener ist,<br />
Knappe o<strong>der</strong> Diener zu se<strong>in</strong>, auf welcher Voraussetzung das Feudalsystem<br />
beruhte. Im Gegensatz zu unseren Klassikern, die<br />
Empörung und Befreiung aus Ketten besangen, gab sich die japa~ nische<br />
Literatur dazu her, e<strong>in</strong>en Gloriensche<strong>in</strong> um das Dienertum zu weben. Für<br />
diese Milchspeise aus Tugend und Treue hielt sie das Publi= kum durch<br />
Greuelszenen schadlos, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Gräßlichkeit sie sich ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelheit entgehen<br />
ließ. »Gespielt« <strong>in</strong> unserm S<strong>in</strong>ne wird nur Mord, Selbstmord, Kopfabschlagen<br />
o<strong>der</strong> Leibaufschlitzen, während sich Ge= mütsbewegungen r Ärger, Rührung<br />
o<strong>der</strong> Schrecken - im Mienenspiel nicht erkennen lassen.<br />
Wie übertrieben alles Groteske gebracht wird, zeigt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Szene, <strong>in</strong><br />
welcher <strong>der</strong> angebliche Idiot vorgibt, dem Bösewicht e<strong>in</strong> Geheimnis<br />
zuzuflüstern, <strong>in</strong> Wirklichkeit aber e<strong>in</strong>e Fliege <strong>in</strong> dessen Ohr setzt. Die Pe<strong>in</strong><br />
äußert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er förmlichen Tanzszene, während welcher <strong>der</strong> Idiot zu<br />
lachen hat. Dieses Lachen ist e<strong>in</strong> Solokonzert, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong> mit höchster<br />
Fistelstimme geheultes Wiehern ausartet und die volle Raserei des Chors und<br />
<strong>der</strong> Holzschläger entfesselt. Hier bricht e<strong>in</strong> Beifallssturm los, dem nichts an<br />
Theatererfolg bei uns gleichgesetzt werden kann, nach solch e<strong>in</strong>er Szene wird<br />
die Meisterschaft des Darstellers gefeiert. Dem Publikum, das sie im voraus<br />
kennt und stundenlang auf sie wartet, bedeutet sie den Höhepunkt des Abends.<br />
Schön o<strong>der</strong> menschlich ergreifend kann e<strong>in</strong> Europäer diese Dramen nicht<br />
f<strong>in</strong>den, immerh<strong>in</strong> weckt diese äußerste Personifizierung von Eigen= schaften<br />
Vergleiche mit griechischen Klassikern, mit Ödipus und Elektra. Freilich,<br />
Äschylos kannte die Tanze<strong>in</strong>lagen nicht, die hier das klassische Drama<br />
durchsetzen, ja, für welche es nur den Rahmen abgibt, weshalb je<strong>der</strong><br />
Schauspieler die langsamen, abgehackten Tanzschritte beherrschen muß.<br />
Trotz aller E<strong>in</strong>fühlung <strong>in</strong> die Tradition erreicht <strong>der</strong> <strong>noch</strong> lebende Autor<br />
des zweiten Stückes nicht mehr die Naivität des alten Tugendepos, was er<br />
br<strong>in</strong>gt, ist Sittenpredigt und Liebedienerei. Genau genommen hat er mit<br />
diesem Stück dem berühmten Schauspieler Onoye, dem Liebl<strong>in</strong>g von ganz<br />
Tokio, <strong>der</strong> im Vorjahre durch e<strong>in</strong>e von Professor Sakaki nach Ste<strong>in</strong>achscher<br />
Methode vorgenommenen Operation se<strong>in</strong>e Jugend= frische wie<strong>der</strong>gewonnen<br />
hat, e<strong>in</strong>e Para<strong>der</strong>olle auf den Leib geschrieben.<br />
E<strong>in</strong> vom Gegenkaiser abgesetzter Kaiser landet mit se<strong>in</strong>em Leibarzt<br />
<strong>in</strong>sgeheim bei dem Schlosse e<strong>in</strong>es ihm treugebliebenen Daimiyos, welcher<br />
<strong>in</strong>mitten se<strong>in</strong>er Ritter um den verbannten Kaiser trauernd von <strong>der</strong> Dreh= bühne<br />
auf die Szene gebracht wird. Der alte Leibarzt wird als Spion<br />
here<strong>in</strong>geschleift und e<strong>in</strong>em Verhör unterzogen. Se<strong>in</strong>e Antwort ist zweifel= los<br />
die längste Soloszene, <strong>der</strong> ich je beigewohnt habe. Da ich die Worte nicht<br />
102 103
verstehe, ersche<strong>in</strong>t mir ihre Dauer unerträglich. Doch beachten sie<br />
102 103
auch die an<strong>der</strong>en, Sprachkundigen, nicht viel mehr, das ganze Publikum<br />
wartet nur auf den Moment, <strong>in</strong> welchem <strong>der</strong> Daimiyo erfahren wird, daß<br />
unmittelbar unter se<strong>in</strong>em Fenster <strong>der</strong> verehrte Herrscher se<strong>in</strong>er Hilfe harrt. Die<br />
ganze Rolle, ja, das ganze Stück, beruht alle<strong>in</strong> darauf, diese Mitteilung<br />
h<strong>in</strong>auszuziehen. Bei Japanern wird Spannung durch den un dramatischsten<br />
Vorgang erzeugt und es dauert nach <strong>der</strong> Uhr e<strong>in</strong>e gute halbe Stunde, ehe<br />
das Gejammer und das Geflenne des Theaterstars zur Enthüllung reif ist, die<br />
dann - während <strong>der</strong> Daimiyo und se<strong>in</strong>e Ge= treuen zu den Schwertern greifen -<br />
auf offener Szene angejubelt wird.<br />
Wir haben auch hier den ewig alten Inhalt: Treue des Arztes, Treue des<br />
Daimiyos -- aber <strong>der</strong> Epigone hat diese Treue am Schreibtisch erdacht.<br />
Me<strong>in</strong> großer Wunsch geht nun dah<strong>in</strong> zu erfahren, ob all das ohne<br />
Beziehung zur Handlung endlos dah<strong>in</strong>rollende Gerede poetisch, rührend,<br />
geistvoll o<strong>der</strong> sonst irgendwie literarisch bedeutend sei, aber Japaner ver.<br />
mögen ihr Urteil nicht auszudrücken und Europäer, die klassische Verse<br />
wirklich verstehen, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Seltenheit. Diese wenigen behaupten, das<br />
entsetzlich langwierige Reden bezwecke nur die Mürbemachung des Zu.<br />
hörers, ohne die <strong>der</strong> Japaner auch im täglichen Leben nicht auskommt.<br />
Europäische Firmen besolden eigens ja<strong>panische</strong> Angestellte, welchen im<br />
Geschäftsverkehr die Eröffnungsreden obliegen, trotzdem muß <strong>der</strong> weiße<br />
Kaufmann, <strong>wenn</strong> er dann selbst <strong>in</strong> die Unterhandlungen e<strong>in</strong>tritt, <strong>noch</strong> e<strong>in</strong>iges<br />
Herumpalavern über sich ergehen lassen.<br />
Dasselbe Reden ohne Ende f<strong>in</strong>den wir auf <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n Bühne auch bei<br />
den Liebesszenen, die sich äußerlich <strong>in</strong> nichts von den Dienstboten, Idioten=<br />
o<strong>der</strong> Ritterszenen unterscheiden. Die Liebesleute <strong>sitzen</strong> e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gegenüber,<br />
genau so weit vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> getrennt wie es auch im wirklichen Leben<br />
ja<strong>panische</strong> <strong>Jüngl<strong>in</strong>ge</strong> und Mädchen s<strong>in</strong>d, aus welcher sich niemals verr<strong>in</strong>gernden<br />
Entfernung sie reden, reden, reden - - -<br />
Liebe ist freilich, so wie bei uns, e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Hauptmotive aller Dramen.<br />
Tsurumi, den ich e<strong>in</strong>mal frage, wie denn das komme, da es doch im<br />
wirklichen Leben <strong>der</strong> Japaner so wenig Liebe gebe, antwortet mir traurig und<br />
voll Entsagung: »Gerade, weil wir im Leben auf sie verzichten müssen,<br />
wollen wir sie wenigstens auf <strong>der</strong> Bühne haben. Wir sehen des. halb <strong>in</strong> dem<br />
Zusammenstoß zwischen Sitte und Wunsch den Inbegriff <strong>der</strong> Tragödie.«<br />
Was die Wahl des Konflikts betrifft, ist Frau Kayoko Omuras Stück<br />
mo<strong>der</strong>n; es behandelt e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> brennendsten Japans: die Geisha. Aber zu den<br />
Vorkämpfer<strong>in</strong>nen, die gegen sie Sturm laufen, gehört die Autor<strong>in</strong> nicht. Statt<br />
e<strong>in</strong>es Aufschreis <strong>der</strong> durch<br />
die Geisha gequälten<br />
Frauenwelt<br />
br<strong>in</strong>gt sie e<strong>in</strong>e<br />
Verherrlichung e<strong>in</strong>er edlen<br />
Geisha mit Madame<br />
Butterfly Rührseligkeiten,<br />
die geeignet wären, die<br />
ohnedies so irrige<br />
Vorstellung des Auslandes<br />
von <strong>der</strong> Geisha <strong>noch</strong> mehr<br />
zu verfälschen. Aber nichts<br />
ist ver<br />
fehlten, als aus <strong>der</strong> japa=<br />
nisehen Literatur, die von<br />
dem Motto beherrscht wird:<br />
»So sollte es se<strong>in</strong>!« ,<br />
Rückschlüsse auf die<br />
Wirklichkeit zu ziehen.<br />
Die Held<strong>in</strong> Shiraito, e<strong>in</strong>e<br />
wun<strong>der</strong>schöne Gei= sha,<br />
wird von de<strong>in</strong> Samu= rai<br />
Mondo geliebt, trotz= dem<br />
er e<strong>in</strong> tugendhaftes Weib<br />
und zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong> hat. Die<br />
Drehbühne zeigt uns <strong>in</strong><br />
raschem Wechsel ihre beiden<br />
Zimmer <strong>in</strong> dem<br />
Geishahause, wobei das<br />
Proszenium, das e<strong>in</strong>e Stufe<br />
tiefer liegt, als »Straße" gilt.<br />
Beim Fortgehen ver= läßt sie<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> kuriosen Weise <strong>der</strong><br />
Japaner rück= l<strong>in</strong>gs das Heim, weil die Geta draußen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rich= tung <strong>der</strong><br />
Ankunft zurück= geblieben s<strong>in</strong>d.<br />
Das Neue daran ist die lebenswahre Wie<strong>der</strong>gabe e<strong>in</strong>es bürgerlich<br />
e<strong>in</strong>gerich=<br />
104 105
teten Frauengemaches<br />
und die Verwendung von häuslichen Gegenständen<br />
auf <strong>der</strong> sonst nur Schloßhöfe o<strong>der</strong> Rittersäle darstellenden Bühne. Zwar muß <strong>in</strong><br />
Japan auch e<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nes Stück <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e vergangene »Ära« gestellt se<strong>in</strong>, aber da<br />
sich die Wohnungsausstattung seit sechshun<strong>der</strong>t Jahren nicht geän<strong>der</strong>t hat,<br />
glaubt man sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim von heute. Mir stört es die Illusion, daß dieses<br />
zierliche Puppenzimmer mit se<strong>in</strong>en auf <strong>der</strong> Erde<br />
104 105
stehenden niedlichen Ankleidespiegeln von e<strong>in</strong>em riesengroßen Manne, dem<br />
Theaterstar Onoye, bewohnt wird. Lei<strong>der</strong> konnte ich nicht herausf<strong>in</strong>den,<br />
warum die Frauenrollen immer von ungewöhnlich großen, die Helden um<br />
Haupteslänge überragenden Männern gegeben werden. Da aber die Frauen<br />
angeblich deshalb von Männern dargestellt werden, weil die schweren<br />
historischen Kimonos über Männerhüften besser fallen, und da sich <strong>der</strong> Japaner<br />
über alle Unwahrsche<strong>in</strong>lichkeiten h<strong>in</strong>wegsetzt, um se<strong>in</strong> Schönheitsbedürfnis zu<br />
befriedigen, ist es nicht unmöglich, daß die Länge dieser Kimonos, die auch<br />
bei dem größten Manne <strong>noch</strong> e<strong>in</strong>e seitliche Schleppe bilden, die Ursache<br />
<strong>der</strong> Auswahl von Riesen ist. Mir freilich bleibt es unverständlich, wie die<br />
ja<strong>panische</strong> Phantasie es fertigbr<strong>in</strong>gt, <strong>in</strong> diesem häßlichen, magern Manne, <strong>der</strong><br />
se<strong>in</strong>e Rauhtöne mit <strong>der</strong> Fistelstimme nicht immer zu decken vermag, e<strong>in</strong><br />
verführerisches Weib zu erblicken.<br />
Shiraito ist traurig, weil Mondo seit langem ausgeblieben ist. Die<br />
Magd verrät ihr, daß Mondo krank und - was er bisher nie zugeben wollte -<br />
arm sei. Edel, wie Bühnengeishas nun e<strong>in</strong>mal s<strong>in</strong>d, schickt Shiraito ihm<br />
e<strong>in</strong>ige Goldstücke zu.<br />
Nun br<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> Wirt, <strong>der</strong> Shiraito »gekauft« hat
ja<strong>panische</strong> Psyche jemals verstehen zu wollen, sowohl die des Publikums, wie<br />
die des Regisseurs.<br />
io6 107
Endlich zeigt - - Mondos Auffahren, daß die Magd <strong>in</strong> ihrer Erzäh. lung<br />
bis zum Tode J. r,=iitos gelangt ist. Grell lacht er auf, - ist sie doch bei ihm!<br />
Er eilt <strong>in</strong>s Neb -,-immer - es ist leer. Und er fällt <strong>in</strong> Ohnmacht.<br />
Echtestes Japan eröffr1ec den nächsten Akt. Frau Mondo wird von ihrem<br />
Bru<strong>der</strong> aufgefor<strong>der</strong>t, den treulosen Gatten zu verlassen, aber auch die mo<strong>der</strong>ne<br />
Autor<strong>in</strong> kann nicht über die klassische Tradition h<strong>in</strong>weg, die <strong>der</strong> betrogenen<br />
Frau vorschreibt, unbed<strong>in</strong>gt an <strong>der</strong> Seite des Ehebrechers auszuharren. Erst<br />
als <strong>der</strong> Mann sie wegschickt, gehorcht sie wortlos.<br />
Er selbst bereitet sich zum Selbstmord vor, da lockt ihn e<strong>in</strong>e tanzende,<br />
blaue Flamme die ja<strong>panische</strong> Ausdrucksform für Geisterersche<strong>in</strong>ungen - zum<br />
Friedhofe, wo sich nun die <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Stück fehlende Schreckens• szene<br />
abspielt und wandelnde Skelette den wahns<strong>in</strong>nig Gewordenen <strong>in</strong> den Tod<br />
hetzen. Zwei Vorübergehende reden <strong>noch</strong> e<strong>in</strong>e gute Weile lang bei se<strong>in</strong>em<br />
Leichnam. Während dieser Greuelszene wird ununterbrochen gelacht, was zur<br />
Ehre des Publikums vermerkt werden muß.<br />
Trotzdem es Mitternacht ist, <strong>der</strong> dramatische Genuß also bereits acht<br />
Stunden gedauert hat, und trotzdem ich vor Erschöpfung fast bewußtlos b<strong>in</strong>,<br />
bleibe ich <strong>noch</strong> bis zum letzten Stück. Sollen doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tanzszene die drei<br />
berühmtesten Tänzer Japans auftreten, und so warte ich, bis sie über den<br />
Hanamichi, den Blumenweg, e<strong>in</strong>ziehen. Dieser Bühnenzugang durch das<br />
Parkett ist hier nur zehn Meter lang, weil er <strong>in</strong> das mo<strong>der</strong>n gebaute<br />
Theater erst nachträglich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gesetzt wurde, als ihn das Publi= kum allzu<br />
schmerzlich vermißte. Den<strong>noch</strong> dauert <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zug <strong>der</strong> drei Tänzer über<br />
e<strong>in</strong>e halbe Stunde, je<strong>der</strong> Schritt e<strong>in</strong>e Ewigkeit. Wird doch hier mit dem Begriff<br />
des Tanzes vor allem Langsamkeit verbunden und diese Langsamkeit des<br />
Schreitens, die e<strong>in</strong>e geschätzte Kunst ist, behalten die Tänzer auch auf <strong>der</strong><br />
Bühne bei. Trotzdem von den Kostümen, die sie auf offener Szene<br />
wechseln, immer e<strong>in</strong>es kostbarer und reicher ist als das an<strong>der</strong>e, kann ich e<strong>in</strong>fach<br />
nicht mehr zusehen. Fast taumle ich nach Hause<br />
Der nächste Monat br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> Programm mit weiblichen Darstellern.<br />
Vor dem Wechsel des Spielplanes bleibt das Kaiserliche Theater <strong>der</strong> Gene=<br />
ralprobe halber e<strong>in</strong>en Tag geschlossen und dieser darf ich beiwohnen,weil<br />
ich die berühmte Schauspieler<strong>in</strong> Ritsu Mori kennen lernen soll. Tsurumi<br />
führt ^'ich e<strong>in</strong>, da er aber wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Amt muß, telephoniert er an se<strong>in</strong>e<br />
Frau, sie möge kommen, um mir an se<strong>in</strong>er Statt Erklärerdienste zu leisten.<br />
Ritsu Mori ist e<strong>in</strong> sehr kle<strong>in</strong>es, nervöses, ehe, unhübsches, aber für<br />
e<strong>in</strong>e ja<strong>panische</strong> Frau ungewöhnlich klug aussehendes Persönchen, dessen<br />
mangelnde Reize völlig durch e<strong>in</strong> seliges Leuchten <strong>der</strong> Augen ersetzt<br />
werden. Der Unterschied zwischen <strong>der</strong> europäischen und <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n<br />
Vorkämpfer<strong>in</strong> äußert sich dar<strong>in</strong>, daß diese nicht verbittert und am Ende ihrer<br />
Tage, son<strong>der</strong>n <strong>noch</strong> jung und strahlend vor Siegerglück am Ziele<br />
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anlangt, weil die Zeitströmung ihr günstig ist. Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt bekannt<br />
gewordene Sada yakko war e<strong>in</strong>e Geisha und trat <strong>in</strong> Japan niemals als<br />
Schauspieler<strong>in</strong> auf, Ritsu Mori war die erste. Als sie gegen die herr'<br />
sehende Sitte, also natürlich auch gegen den Willen ihrer den obersten Kreisen<br />
Japans angehörenden Eltern, als Schauspieler<strong>in</strong> auftrat, also etwas<br />
108 109
IIO III<br />
Unerhörtes, <strong>noch</strong> nie Dagewesenes beg<strong>in</strong>g, wurde sie nicht nur von <strong>der</strong><br />
Familie, son<strong>der</strong>n auch von <strong>der</strong> Gesellschaft ausgestoßen. Das Publikum lehnte<br />
sie anfangs ab, weniger aus Mißfallen als aus Pr<strong>in</strong>zip. Neuerungen f<strong>in</strong>den aber<br />
nur mehr so morsche Wi<strong>der</strong>stände, daß Ritsu Mori sich er= staunlich schnell<br />
durchsetzen konnte, worauf alle diejenigen, die sie so schnöde hatten abfallen<br />
lassen, ihr sofort eiligst nachrannten - e<strong>in</strong> Erleb= nis, welches ke<strong>in</strong>eswegs<br />
typisch japanisch genannt werden darf. Nur ist <strong>in</strong> Japan <strong>der</strong> Wunsch, bei je<strong>der</strong><br />
Sensation dabei zu se<strong>in</strong>, <strong>noch</strong> e<strong>in</strong> wenig stärker als an<strong>der</strong>swo.<br />
Mit beflügeltem Schritt, als trage sie das Bewußtse<strong>in</strong>, zum Hause zu<br />
gehören, zeigt sie mir das Theatergebäude. In <strong>der</strong> Damengar<strong>der</strong>obe hocken alle<br />
dreißig Damen, Ritsu Moris Chor, die jetzt am Kaiserlichen Theater engagiert<br />
s<strong>in</strong>d, vor den ja<strong>panische</strong>n Spiegelfrisiertischehen, die ohne Untersatz auf <strong>der</strong><br />
Erde stehen, und schm<strong>in</strong>ken sich aus unzähligen Tiegelchen. E<strong>in</strong>ige darunter<br />
s<strong>in</strong>d h<strong>in</strong>reißend hübsch und das ganze Bild gehört <strong>in</strong> das Japan <strong>der</strong><br />
europäischen Phantasie.<br />
Zu me<strong>in</strong>er Bewun<strong>der</strong>ung gesellt sich sofort tiefstes Mitleid, als Ritsu Mori<br />
mich e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Perücken <strong>in</strong> die Hand nehmen läßt, denn <strong>der</strong> Holzbau, <strong>in</strong> den<br />
jedes Haar e<strong>in</strong>zeln e<strong>in</strong>gezogen ist, erweist sich als e<strong>in</strong>e Zentnerlast. Auch <strong>der</strong><br />
kostbare Brokat des Kostüms, das doppelt so lang ist als die Träger<strong>in</strong>,<br />
wiegt mehrere Kilo. Dreimal schl<strong>in</strong>gt Ritsu Mori den ebenfalls furchtbar<br />
gewichtigen Gürtel um den schmalen Leib und bleibt trotzdem schlank. Mit<br />
Kostüm, Perücke und Gürtel belastet, müssen die Schau. spieler zwischen<br />
den Eisenwänden <strong>der</strong> »Hölle«, <strong>der</strong> erstickend heißen Folterkammer unter <strong>der</strong><br />
Bühne, auf ihr Stichwort warten, bis sie über den Hanamichi e<strong>in</strong>ziehen<br />
können.<br />
Für drei Uhr war die Probe angesagt, uni fünf Uhr beg<strong>in</strong>nt sie. Im ersten<br />
Stück hat Ritsu Mori nichts zu tun, obwohl auch dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wirk= liche Frau<br />
mitspielt. Seit ihrem Erfolg tauchen jetzt bereits viele an<strong>der</strong>e<br />
Schauspieler<strong>in</strong>nen auf.<br />
Dieses erste, von e<strong>in</strong>em hypermo<strong>der</strong>nen Schriftsteller geschriebene Stück<br />
zeigt, wie stark <strong>in</strong> Japan, <strong>wenn</strong> e<strong>in</strong>mal mit <strong>der</strong> Tradition gebrochen wird, das<br />
Pendel nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite ausschw<strong>in</strong>gt. Überwältigend ist <strong>der</strong> Abstand <strong>der</strong><br />
steifen und prüden Liebesszenen des klassischen Stückes von <strong>der</strong> S<strong>in</strong>nlichkeit<br />
dieses neuen.<br />
E<strong>in</strong>e ja<strong>panische</strong> Potiphar liebt e<strong>in</strong>en jungen Buddha=Mönch, <strong>der</strong> aber nicht<br />
gleich Josef ablehnend, son<strong>der</strong>n zur Gegenliebe nur zu schüchtern ist. Ihr Zorn<br />
darüber nimmt <strong>in</strong>dessen den gleichen Verlauf wie <strong>der</strong> ihres biblischen<br />
Vorbildes, auch sie dichtet ihm e<strong>in</strong>e Annäherung an und ruft<br />
die Wache zu ihrem Schutze, so daß er gleich Josef <strong>in</strong>s Gefängnis gesetzt<br />
wird. Hierbei überschreit sich die Schauspieler<strong>in</strong> <strong>der</strong>artig und gebärdet sich so<br />
wild, daß man an Stelle <strong>der</strong> neuen Hysterie den alten, überlang= samen Stil<br />
zurückwünscht.<br />
In dem Gedankengange des zweiten Aktes, <strong>der</strong> Zurückweisung <strong>der</strong> an=<br />
gebotenen Flucht durch den Mönch, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Wünschen schuldig<br />
fühlt, erblicken die ja<strong>panische</strong>n Literaten den höchsten Ausdruck mo<strong>der</strong>ner<br />
Poesie, den Übergang von <strong>der</strong> Unterdrückung <strong>der</strong> Wünsche im S<strong>in</strong>ne des<br />
Feudalismus zur Freiheit des Sich=Auslebens im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> europäischen<br />
Nachkriegszeit. Augenblicklich ist die mo<strong>der</strong>ne Literatur <strong>in</strong> Japan bei den<br />
Gewissensqualen wegen heimlicher, verbotener Wünsche angelangt.<br />
Der E<strong>in</strong>gekerkerte leidet Hunger; Potiphar kommt mit honigbe= strichenen<br />
Armen, die sie ihn ablecken läßt, was er so selbstvergessen und s<strong>in</strong>nlich tut,<br />
daß man das Gefühl hat, bei solchen Vertraulichkeiten nicht anwesend se<strong>in</strong> zu<br />
wollen.<br />
Man ist bei <strong>der</strong> Generalprobe und niemand weiß, wie das Publikum diesen<br />
schroffen Schritt von fast klösterlicher Sprödigkeit zu so hemmungsloser Erotik<br />
aufnehmen wird. In diesem Akt hat nämlich die Frau ke<strong>in</strong>en Grund, enttäuscht<br />
zu se<strong>in</strong>, denn <strong>der</strong> Geliebte entzündet an ihrem Fleisch se<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>ne. Aber<br />
ehe sie die Se<strong>in</strong>e wird, stellt sie e<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung: er solle ihr e<strong>in</strong> Halsband<br />
br<strong>in</strong>gen, ganz aus den kle<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>gern leben<strong>der</strong> Menschen zusammengesetzt.<br />
Darauf entreißt er dem Kerkermeister das Schwert und schneidet ihm als<br />
erstem den F<strong>in</strong>ger ab, welcher Wahns<strong>in</strong>n sich im dritten Akt zu vollem<br />
Blutrausche auswächst. Zwischen den verstümmelten Leichen von neun<br />
Menschen, denen allen er den kle<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>ger abgeschnitten hat und die nun<br />
e<strong>in</strong>en Gespenstertanz um ihn auff führen, wird er von e<strong>in</strong>em<br />
Derwisch=Erlöser zum Tode geführt. Zu solchen Auswüchsen des<br />
Geschmacks kommt es immer, auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Malerei, Musik o<strong>der</strong><br />
Architektur, sobald die Japaner die Jahrhun<strong>der</strong>te alte L<strong>in</strong>ie ihrer Tradition<br />
verlassen.<br />
Die endlosen Pausen zwischen den Akten werden dazu benützt, jede<br />
Stellung zu photographieren; jede Zeitung, jede Monatsschrift und je<strong>der</strong><br />
Ansichtskartenverlag hat se<strong>in</strong>e Blitzlichtphotographen hierher beor<strong>der</strong>t.<br />
Da Frau Tsurumi nicht gekommen ist, solange uns ihr Gatte <strong>noch</strong> hätte<br />
mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> bekannt machen können, halte ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pause nach ihr Um=<br />
schau. Unter all den Zuschauern, welche teils Mitwirkende und An=
IIO III<br />
gestellte, teils <strong>der</strong>en Angehörige s<strong>in</strong>d, sehe ich e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige unverkennbare<br />
Dame. E<strong>in</strong>e weibliche Ersche<strong>in</strong>ung, die zur Gesellschaft gehört, kennt man<br />
auf hun<strong>der</strong>t Schritte aus den übrigen heraus, so daß es mir immer
unbegreiflicher wird, wie man im Ausland glauben könne, es gäbe <strong>in</strong> Japan<br />
ke<strong>in</strong>e »Damen«.<br />
Es ist e<strong>in</strong> vollkommen typisch ja<strong>panische</strong>r Vorgang, daß Frau Tsurumi, die<br />
me<strong>in</strong>ethalben <strong>in</strong>s Theater gekommen ist, mich nicht anspricht, wie. wohl ich<br />
als e<strong>in</strong>zige Europäer<strong>in</strong> im Zuschauerraume sitze, e<strong>in</strong> Irrtum also vollkommen<br />
ausgeschlossen ist. Ich b<strong>in</strong> natürlich viel mehr auf das Erraten angewiesen. Da<br />
ich mich me<strong>in</strong>er Sache aber ziemlich sicher fühle, trete ich auf sie zu und werde<br />
gleich herzlichst begrüßt.<br />
Diese junge Frau, e<strong>in</strong>e Tochter von Viscount Goto, stammt aus aller=<br />
erstem Hause. Wiewohl ihr Gatte aus weit niedrigerer Familie kommt, wurde<br />
er für sie ausgewählt, weil er sich im politischen und literarischen Leben als<br />
hoffnungsvolles Talent bemerkbar machte. Kaum hatte die junge Mutter<br />
ihrem ersten K<strong>in</strong>de das Leben geschenkt, so nahmen es die Großeltern zu sich<br />
und schickten das Paar nach Europa. Die Studien= reise des jungen<br />
Ehemannes war auf vier Jahre berechnet, aber als die junge Frau herausfand,<br />
daß ihre eigene Entfaltung dabei zu kurz käme, verließ sie ihn und Europa und<br />
reiste alle<strong>in</strong> nach Amerika, um dort gründ. lich Englisch zu lernen. Ich könnte<br />
mir nicht leicht e<strong>in</strong>e Frau aus irgend, e<strong>in</strong>er europäischen Großstadt vorstellen,<br />
die ihr K<strong>in</strong>d bei den Schwieger• eltern und ihren Gatten <strong>in</strong> England ließe, um<br />
auf eigene Faust <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>n Weltteil ihre Studien zu vollenden.<br />
Wiewohl Frau Tsurumis neues Frauentum ihr <strong>noch</strong> nicht gestattet, e<strong>in</strong>e<br />
ihr nicht vorgestellte Europäer<strong>in</strong> anzusprechen, so ist doch ihr Auftreten<br />
bemerkenswert frei und sicher. Freilich muß man die Fe<strong>in</strong>heiten des Abstandes<br />
ihres Benehmens von dem an<strong>der</strong>er Frauen eigens beachten, denn die junge<br />
Frau ist genau so still und bescheiden, wie man es allen ja<strong>panische</strong>n Frauen<br />
e<strong>in</strong>drillt, auch sie spricht nur, <strong>wenn</strong> sie gefragt wird, allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
verhältnismäßig fließenden Englisch. Nur ihre Brille deutet auch<br />
Außenstehenden an, daß die Träger<strong>in</strong> zu den Gebildeten gehört. Son<strong>der</strong>bar<br />
berührt es mich, daß sie unter an<strong>der</strong>m erzählt, sie sei mit ihrem Manne nach<br />
Prag gereist - »um e<strong>in</strong> neues Land zu sehen«.<br />
Zu dem Drama äußert sie sich nicht. Man erfährt selten, ob sich Ja. paner<br />
e<strong>in</strong> Urteil gebildet haben, im besten Falle ist es e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Zu. stimmung<br />
o<strong>der</strong> Ablehnung; <strong>in</strong> Besprechung von E<strong>in</strong>zelheiten gehen sie niemals e<strong>in</strong>.<br />
Nach dem ersten Stück muß ich <strong>in</strong>s Hotel zurück, woh<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong>e junge<br />
ja<strong>panische</strong> Witwe, e<strong>in</strong>e Lehrer<strong>in</strong>, zum Abendessen geladen habe. Der<br />
Regisseur erteilt mir die Erlaubnis, mit ihr wie<strong>der</strong> zurückzukehren, denn Ritsu<br />
Mori will ich doch spielen sehen. Gegen neun Uhr abends<br />
112<br />
s<strong>in</strong>d wir beide wie<strong>der</strong> da, die arme Lehrer<strong>in</strong> glückselig über den vom<br />
Himmel gefallenen Theaterbesuch, ich todmüde, fast nicht mehr auf=<br />
nahmsfähig. Mit ke<strong>in</strong>em Volk <strong>der</strong> Welt ist <strong>der</strong> Verkehr so erschöpfend wie mit<br />
Japanern, weshalb die <strong>in</strong> Japan lebenden Auslän<strong>der</strong> se<strong>in</strong>er bald müde werden.<br />
Je länger e<strong>in</strong> Weißer <strong>in</strong> Japan lebt, desto weniger - so paradox das kl<strong>in</strong>gt --<br />
kommt er außeramtlich o<strong>der</strong> außergeschäftlich mit den E<strong>in</strong>wohnern<br />
zusammen.<br />
Ich warte also <strong>noch</strong>, bis das Stück, <strong>in</strong> dem Ritsu Mori spielt, beg<strong>in</strong>nt.<br />
Lebhaft bedaure ich, daß sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er klassischen Rolle auftritt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie von<br />
ihrer Eigenart nichts verraten darf, sie selbst setzt aber ihren größten Stolz<br />
dare<strong>in</strong>, sie zu spielen, weil die Kritik den Frauen die Beherrschung des<br />
klassischen Stils abspricht. Mir ersche<strong>in</strong>t es freilich als seltsamer Gedanke,<br />
daß e<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Frauenrolle e<strong>in</strong>e Nachahmung <strong>der</strong> bis= herigen<br />
Darstellung durch Männer br<strong>in</strong>gt und sich bemüht, mit <strong>der</strong>selben Fistelstimme<br />
wie diese zu sprechen.<br />
In dieser uralten Ballade handelt es sich um e<strong>in</strong>en Ehebruch, <strong>der</strong> <strong>in</strong> dem<br />
entzückenden Garten e<strong>in</strong>es Buddhatempels begangen wurde. E<strong>in</strong> blühen<strong>der</strong><br />
Kirschbaum spielt hier e<strong>in</strong>e weit größere Rolle als Ritsu Mori. An se<strong>in</strong>en<br />
Zweigen hängen Zettel - es s<strong>in</strong>d Gedichte an die Blüten, die man sehr oft <strong>in</strong><br />
wirklichen Gärten sieht - und ihre Verlesung dauert e<strong>in</strong>e Endlosigkeit. Die<br />
Held<strong>in</strong> tut, als wolle sie hier beten, was Frauen ver= boten ist, <strong>in</strong> Wirklichkeit<br />
hat sie h<strong>in</strong>ter dem Tempel e<strong>in</strong> Stelldiche<strong>in</strong> mit dem Ehebrecher, beide werden<br />
erwischt und verhaftet. Dem Manne ge. l<strong>in</strong>gt es, unerkannt zu fliehen, weil -<br />
das ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong>n Litem ratur immer wie<strong>der</strong>kehrendes Motiv -- e<strong>in</strong><br />
Freund se<strong>in</strong>e Schuld auf sich nimmt. Die Frau hat die ihre am eigenen<br />
Leibe zu büßen.<br />
Gegen Mitternacht ist me<strong>in</strong>e Kraft zu Ende; da ich fortgehen will, bittet<br />
mich die ja<strong>panische</strong> Lehrer<strong>in</strong>, dableiben zu dürfen. Sie hat nicht alle Tage<br />
Gelegenheit, <strong>in</strong>s Kaiserliche Theater zu gehen. E<strong>in</strong> bißchen ver. legen ist sie,<br />
weil sie me<strong>in</strong>e Frage nach dem Schluß des Stückes nicht be• antworten kann,<br />
etwa so, wie <strong>wenn</strong> e<strong>in</strong> Deutscher nicht gleich den Ver• lauf von Clavigo<br />
wüßte. Aber <strong>in</strong> dem überschwenglichen Dankbrief, den sie mir am an<strong>der</strong>n<br />
Morgen schreibt, teilt sie mir mit, das Stück habe mit e<strong>in</strong>em Blutbad geendet<br />
und Ritsu Mori habe sich »wun<strong>der</strong>voll« getötet.<br />
12. Die »No«=Spiele <strong>in</strong> Tokio.<br />
Alle klarblickenden Japaner wissen, daß das Volk se<strong>in</strong>e beste Kraft aus <strong>der</strong><br />
Tradition zieht. Diese dem von außen e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>genden Neuen entgegenzusetzen,<br />
ohne den Strom <strong>der</strong> westlichen Zivilisation allzustark e<strong>in</strong>=<br />
Alice Sdhalek, Japan. 8<br />
I
11 4 8• II5<br />
zudämmen, ist augenblicklich Japans schwierigstes Problem. Literarische<br />
Vere<strong>in</strong>e wollen durch die Wie<strong>der</strong>belebung <strong>der</strong> ältesten klassischen Literatur,<br />
des »No«, den aus Europa und Amerika kommenden mo<strong>der</strong>nen<br />
Anschauungen e<strong>in</strong> Gegengewicht schaffen. Diese alte Oper mit Ballette<strong>in</strong>lagen<br />
-- No-dance nennen sie die <strong>in</strong> englischer Sprache ersche<strong>in</strong>en. den<br />
Zeitungen - wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verschollenen Sprache, die nur ganz wenige Japaner<br />
verstehen, »gesungen« und seit kurzem gehört es bei den ja<strong>panische</strong>n<br />
Bildungsbeflissenen zum guten Ton, e<strong>in</strong>ige dieser Stücke auswendig zu können.<br />
Zu den wirklich echten und guten No=Vorstellungen haben nur<br />
Vere<strong>in</strong>smitglie<strong>der</strong> Zutritt, die oberste Gesellschaft Tokios ist hier ganz<br />
unter sich; aber e<strong>in</strong>em mir bekannten amerikanischen Gelehrten, dessen Fach<br />
alte orientalische Sprachen s<strong>in</strong>d und <strong>der</strong> durch das Auswärtige Amt ebenfalls<br />
dem Informationsbureau zugeteilt wurde, wird <strong>der</strong> Wunsch, die No=Spiele zu<br />
sehen, erfüllt und so bietet sich mir die Gelegenheit, sie mit ihm zu besuchen -<br />
e<strong>in</strong> Ereignis, um welches mich alle Europäer beneiden. Als wir uns vorher<br />
im Informationsbureau e<strong>in</strong>f<strong>in</strong>den, uni dort e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> das No zu<br />
erhalten, stellt sich heraus, daß <strong>der</strong> Professor besser darüber Bescheid weiß<br />
als <strong>der</strong> ja<strong>panische</strong> Erklärer: gleich zu Beg<strong>in</strong>n bekämpft er die Behauptung, daß<br />
das No zweitausend Jahre alt sei, es stamme aus dem dreizehnten Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Se<strong>in</strong> freilich <strong>noch</strong> immer ansehnliches Alter dürfe nicht an dem von Äschylos<br />
und Euripides gemessen werden. Daß ausländische Fachleute gründlicher als<br />
Japaner über japa. nische Kunst und Literatar unterrichtet s<strong>in</strong>d, ist durchaus<br />
nichts Seltenes.<br />
Mit <strong>der</strong> griechischen Klassik kann sich das No=Spiel auch <strong>in</strong>haltlich nicht<br />
vergleichen. Trotz völkischer Verherrlichung und geheimnisvoller<br />
Aufmachung - dem e<strong>in</strong>fachen Bürger war die Teilnahme daran verboten -bleibt<br />
es nicht lange verborgen, daß es äußerst primitiv ist, wiewohl es für die<br />
höchsten Geister und die vornehmsten Familien im Reiche bestimmt war. Jetzt<br />
vermag nur mehr <strong>der</strong> Gebildetste, und auch dieser nur nach e<strong>in</strong>gehenden<br />
Studien, etwas davon zu verstehen, aber die große neue Be. wegung für das<br />
No zieht weite Kreise <strong>der</strong> Bevölkerung an, denen freilich die Hauptsache<br />
daran die Sensation ist. Augenblicklich ist nämlich <strong>in</strong> Tokio das Älteste das<br />
Neueste.<br />
Die No=Spiele waren <strong>in</strong> den siebziger Jahren, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Periode des Um.<br />
schwunges nach <strong>der</strong> Zertrümmerung des Feudalismus, völlig fallen gelassen<br />
worden, aber im Jahre 1881 brachte Pr<strong>in</strong>z Iwakura von e<strong>in</strong>er Reise durch<br />
Europa die Überzeugung mit, daß es für Japan besser sei, statt fremde Art<br />
kitschig nachzuahmen, den eigenen Kunstbesitz zu pflegen;<br />
er gründete im Shiba-Park, dort, wo jetzt <strong>der</strong> Maple Club, das fe<strong>in</strong>ste<br />
ja<strong>panische</strong> Restaurant, steht, das neue Hauptquartier No-Gakudo. Was <strong>in</strong><br />
Japan vom Hof o<strong>der</strong> von höheren Kreisen ausgeht, kann auf Erfolg<br />
rechnen und so drang das Interesse für das No auch <strong>in</strong> tiefere Schichten. Der<br />
jetzige Präsident, Pr<strong>in</strong>z Tokugawa, errichtete <strong>in</strong> dem Gebiet des Tempels<br />
<strong>in</strong> Kudan, e<strong>in</strong>em Vorort von Tokio, e<strong>in</strong> neues Theater, wo er jetzt alle fünf<br />
No-<strong>Schule</strong>n pflegt, während die an<strong>der</strong>en No=Gesellschaften sich nur auf e<strong>in</strong>e<br />
e<strong>in</strong>zige beschränken. Das No ist ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> antiken<br />
Dramen, es gibt vielmehr fünf <strong>Schule</strong>n ihrer Darstellung, <strong>der</strong>en Grün<strong>der</strong><br />
man mit Ausnahme desjenigen des Kongo, <strong>der</strong> vierten <strong>Schule</strong>, mit Namen<br />
kennt. E<strong>in</strong> Neutöner, <strong>der</strong> es wagte, e<strong>in</strong>e sechste Abart zu erf<strong>in</strong>den, konnte<br />
sich ungeachtet <strong>der</strong> großen Zahl se<strong>in</strong>er Anhänger niemals als gleichberechtigt<br />
durchsetzen.<br />
Von den zweihun<strong>der</strong>tfünfzig No-Spielen s<strong>in</strong>d ungefähr zweihun<strong>der</strong>t, von<br />
denen viele fünf bis sieben Stunden dauern, zu neuem Leben erweckt worden<br />
und es gibt außer den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>e, die als Dilettanten mitwirken,<br />
vierhun<strong>der</strong>tfünfzig Berufs-No-Spieler. Seit zwanzig Jahren läßt man auch<br />
Frauen das No darstellen, allerd<strong>in</strong>gs nur <strong>in</strong> Privatvorstellungen, so daß man<br />
nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen die sechsjährige Enkel<strong>in</strong> des gegenwärtigen Sekretärs <strong>der</strong><br />
No=Vere<strong>in</strong>igung, e<strong>in</strong> Aufsehen erregendes Wun<strong>der</strong>k<strong>in</strong>d, zu sehen bekommen<br />
kann.<br />
Diese E<strong>in</strong>zelheiten über das No erfahre ich natürlich nicht im Informationsbureau,<br />
da Kawado die »Informationen«, die er den Fremden<br />
weitergibt, mit typisch ja<strong>panische</strong>r Oberflächlichkeit selbst erst unmittelbar<br />
vorher e<strong>in</strong>holt. Während <strong>der</strong> Autofahrt betont er <strong>noch</strong>mals die hohe Ehre, die<br />
<strong>in</strong> unserer Zulassung zu dem unzugänglichsten Klub liege. Dessen<br />
zweihun<strong>der</strong>tfünfzig Mitglie<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d durchwegs bekannte Persönlichkeiten,<br />
welche die Kosten <strong>der</strong> zweimal im Monat stattf<strong>in</strong>denden Vorstellungen decken.<br />
Bei <strong>der</strong> Aufnahme <strong>in</strong> den Klub bezahlt je<strong>der</strong>, je nach se<strong>in</strong>en<br />
Vermögensverhältnissen, fünfunddreißig bis hun<strong>der</strong>t Pfund und für se<strong>in</strong>en<br />
festen Platz jedesmal e<strong>in</strong> Pfund, so daß e<strong>in</strong> Kartenverkauf überhaupt nicht<br />
vorgesehen ist. Diese geschlossene und gesiebte Gesellschaft Tokios wünscht<br />
unter sich zu bleiben, man kennt e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und wechselt Besuche <strong>in</strong> den Logen<br />
wie bei den berühmten Pariser Premieren=Abenden <strong>der</strong> Comedie francaise.
11 4 8• II5<br />
Europäer kommen fast nie hierher, ganz ausnahmsweise hat uns Marquis<br />
Hachizuka, dessen Frau krank ist, für heute se<strong>in</strong>e Loge zur Verfügung gestellt<br />
und uns sagen lassen, daß er die fremden Gäste nachher persönlich begrüßen<br />
werde. Starr vor Staunen und zerfließend vor Geehrtheit überbr<strong>in</strong>gt uns<br />
Kawado diese Nachricht. Die
Adelstitel fliegen nur so um uns herum. Die je<strong>der</strong>mann bekannte Loge des<br />
Marquis ist <strong>noch</strong> niemals abgegeben worden und bleibt, <strong>wenn</strong> er sie nicht selbst<br />
benützt, sonst immer leer. Es ist jedoch ke<strong>in</strong>eswegs als typisch japanisch<br />
anzusehen, daß Adelige gegen Fremde weniger unnahbar s<strong>in</strong>d als gegen die<br />
eigenen Landsleute.<br />
So leise wie möglich - das erste Stück ist bereits im Gange - be. treten<br />
wir die »Loge«. Durch ganz niedrige Gelän<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d auf dem treppen= förmig<br />
ansteigenden Fußboden viereckige Abteile entstanden, so daß <strong>der</strong> Saal wie e<strong>in</strong><br />
Schachbrett aussieht, <strong>in</strong> dessen »Fel<strong>der</strong>n« festlich gekleidete Japaner auf <strong>der</strong><br />
Erde hocken. Die Vornehmheit <strong>der</strong> Gesellschaft geht schon daraus hervor, daß<br />
nicht e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger ausländischer Anzug zu sehen ist; fe<strong>in</strong>e Japaner ersche<strong>in</strong>en bei<br />
feierlichen Gelegenheiten ausschließlich im Montsuki. Köstliche, goldgewebte<br />
Obi schimmern aus schweren dunklen Brokaten, alle Damen s<strong>in</strong>d frisch frisiert,<br />
nirgends stört die sonst übliche Ungekämmtheit. An <strong>der</strong> sicheren Haltung<br />
erkennt sich die »Gesellschaft« und <strong>der</strong> über ihr liegende Hauch von<br />
Vornehmheit gibt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Toten= stille kund. Niemand lutscht hörbar<br />
Süßigkeiten wie im gewöhnlichen Theater o<strong>der</strong> wirft Orangenschalen um sich.<br />
Neben mir sitzt e<strong>in</strong>e be= rühmte Schönheit, im ja<strong>panische</strong>n S<strong>in</strong>ne natürlich, mit<br />
langer Nase und geschwungenen Augenbrauen.<br />
Was für New York e<strong>in</strong> Caruso=Abend bedeutete, ist für Tokio e<strong>in</strong><br />
Hosho=Nachmittag. Der Stammvater <strong>der</strong> Familie Hosho, die sich seit<br />
fünfhun<strong>der</strong>t Jahren durch Adoption <strong>der</strong> jeweils berühmtesten No=Spieler<br />
erhält, begründete die Hosho=<strong>Schule</strong>, von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige Japaner freilich etwas<br />
wegwerfend zu sagen pflegen: »Sie ist ziemlich neu, erst fünfhun<strong>der</strong>t Jahre alt.«<br />
Als Schauspieler <strong>noch</strong> berühmter als <strong>der</strong> augenblickliche Träger des Namens<br />
Hosho ist Masakichi Noguehi. Ihn kennen zu lernen, gilt als die größte Ehre,<br />
die Tokio bieten kann, und wir sollen ihrer teil= haftig werden.<br />
Es zeugt für die Innerlichkeit des Publikums, daß se<strong>in</strong>e volkstüm= lichsten<br />
Liebl<strong>in</strong>ge No-Darsteller s<strong>in</strong>d und nicht Operettenstars wie bei uns, wird<br />
doch die Operette <strong>in</strong> Japan überhaupt nicht geduldet. Die No= Spieler stehen<br />
selbst auf hoher Stufe und ziehen <strong>in</strong> h<strong>in</strong>gebungsvollster Weise, freiwillig und<br />
unentgeltlich, Jünger heran. In Japan hat sich die Person <strong>der</strong> Kunst zu<br />
unterordnen und so wird zum Beispiel e<strong>in</strong> Abtrün= niger, <strong>der</strong> es gewagt hat,<br />
e<strong>in</strong>e neue No-<strong>Schule</strong> zu gründen, geächtet, nichtsdestoweniger aber se<strong>in</strong> Sohn<br />
als Meister des No=Spieles geschätzt und mit zärtlichstem Mitleid umgeben.<br />
Das erste Stück, die berühmte Ballade »Nagauto« o<strong>der</strong> »Die Schmet<br />
terl<strong>in</strong>gsfee«, ist das bekannteste unter allen No-Spielen. E<strong>in</strong>e Märchen-<br />
pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong> fliegt vom Himmel herunter und badet am Strand von Shizu= oka. Dort<br />
ist es, ach, so wun<strong>der</strong>-, wun<strong>der</strong>schön! Trunken vom Meer, vom Fujiyama,<br />
von den Kirschblüten, dem l<strong>in</strong>den Seew<strong>in</strong>d und <strong>der</strong> duften. den Frühl<strong>in</strong>gsluft<br />
vergißt sie das Hagoromo, ihr Flügelkleid. - - Nichts rührt den Japaner mehr als<br />
e<strong>in</strong> wun<strong>der</strong>=, wun<strong>der</strong>schöner Frühl<strong>in</strong>gstag am Meeresstrand beim Fujiyama.<br />
Die Trunkenheit e<strong>in</strong>er Fee durch die am meisten geliebte Landschaft <strong>in</strong> Japan<br />
mußte das Stück im Lande berühmt machen, es lebt im Volke und wird von<br />
allen Geishas gesungen - ich hörte solche <strong>in</strong> Korea, die es tausend Zuhörern<br />
vortrugen. - - E<strong>in</strong> armer Fischer f<strong>in</strong>det das prächtige Kleid und br<strong>in</strong>gt es se<strong>in</strong>er<br />
Frau nach Hause. Dort sieht es die Fee, die es suchen gegangen ist, und<br />
begehrt es zurück. Zuerst stößt sie auf Mißtrauen, aber da sie erzählt, daß<br />
sie ihr Kleid vergaß, weil sich <strong>der</strong> Fuji so wun<strong>der</strong>=, wun<strong>der</strong>schön im klaren Bach<br />
ge. spiegelt habe, stellt es ihr <strong>der</strong> arme Mann sofort zurück. Es gibt kaum<br />
e<strong>in</strong>en typischer ja<strong>panische</strong>n Gedankengang: wer die Landschaft so sehr liebt,<br />
kann nicht lügen. Inzwischen hat die Fee erkannt, daß ihr Kle<strong>in</strong>od dem armen<br />
Fischerhaus das Mittel zum Aufschwunge bietet, und nun will sie das Kleid<br />
nicht mehr nehmen - - das ja<strong>panische</strong> Hauptthema Opfermut auf beiden<br />
Seiten. Doch da sie ohne das Kleid nicht <strong>in</strong> den Himmel zurückfliegen<br />
könnte, läßt sie statt dessen Reichtum für den ehrlichen Fischer zurück.<br />
Seitdem sagt man von Shizuoka, daß <strong>in</strong> jedem Frühl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Engel<br />
h<strong>in</strong>komme.<br />
So tief uns diese Geschichte, die uns vorher erzählt worden ist, ge= rührt<br />
hat, so erstaunt s<strong>in</strong>d wir, von <strong>der</strong> erwarteten h<strong>in</strong>reißenden Szenerie nichts<br />
vorzuf<strong>in</strong>den. Durch die matten Glasfenster <strong>der</strong> hölzernen Saalwände fällt<br />
gedämpftes Licht. Die Bühne, e<strong>in</strong> zweiseitig offener, quadra. tischer,<br />
tempelartiger Bau von etwa fünf Metern im Geviert, liegt <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>zigen<br />
rechten W<strong>in</strong>kel des Saales, <strong>der</strong> die Form e<strong>in</strong>es offenen Fächers<br />
hat, also zwei rechtw<strong>in</strong>klig aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>stehende gerade Wände und e<strong>in</strong>en<br />
Viertelkreis als Abschluß. Die geraden Wände bilden den H<strong>in</strong>tergrund<br />
<strong>der</strong> Bühne, die mit ihrer freistehenden Ecke <strong>in</strong>s Publikum h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ragt.<br />
Dieses sitzt aber nicht im Viertelkreis angeordnet, wie es dem Raum ent<br />
spräche, son<strong>der</strong>n die e<strong>in</strong>e Hälfte rechtw<strong>in</strong>klig zu <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n; da die Schau=<br />
spieler sich aber nur nach <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Front wenden, sehen nur die ihr<br />
Gegenüber<strong>sitzen</strong>den das Spiel von vorne, die an<strong>der</strong>en von <strong>der</strong> Seite. Vor=<br />
hänge gibt es nicht, so wie bei unseren Freilichtbühnen, nur e<strong>in</strong> ganz<br />
schmaler Pfeiler trägt den Baldach<strong>in</strong> des Bühnenpodiums und teilt es <strong>in</strong><br />
zwei Hälften. Der Hanamichi führt quer durch den Zuschauerraum und<br />
II6 II7
ii8 119<br />
ist beim E<strong>in</strong>gang durch e<strong>in</strong>e Portiere abgeschlossen. Den H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong><br />
Bühne bildet e<strong>in</strong> gemaltes Paneel mit dem üblichen Fichtenbaum, dessen<br />
stilisierte Äste vom Baldach<strong>in</strong> abgeschnitten werden. An <strong>der</strong> rechten Wand,<br />
auf bunten Kissen, hocken drei Musikanten; zwei davon halten e<strong>in</strong>e<br />
Doppeltrommel auf <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Schulter und ihre Art, sie zu schlagen, ersche<strong>in</strong>t<br />
beim ersten Anblick wi<strong>der</strong>s<strong>in</strong>nig, aber die abgezirkelten Bewegungen s<strong>in</strong>d alle<br />
genau e<strong>in</strong>studiert. Bei dem Versuch, sie nachzu= machen, verletzt sich <strong>der</strong><br />
Europäer bloß den Handballen und erzielt nicht den ger<strong>in</strong>gsten Ton. Der<br />
dritte Musikant bläst die Shakuhachi, e<strong>in</strong>e grelle Holzflöte. Diesem<br />
»Orchester« fällt beim No die Hauptrolle zu, so daß die Musiker, die auch<br />
gleichzeitig s<strong>in</strong>gen, die schwerste Schulung durch= zumachen haben. Die<br />
Musik wird von jedem Mann und je<strong>der</strong> Frau im Zuschauerraum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Buche mitgelesen; die Noten s<strong>in</strong>d den unsrigen nicht ähnlich, son<strong>der</strong>n<br />
Zeichen, welche Kopftöne, Gegurgel, Zittern auf e<strong>in</strong>em Ton o<strong>der</strong> den<br />
plötzlichen, für ja<strong>panische</strong> Musik charakteristischen Fall <strong>in</strong> bodenlose Baßtiefen<br />
vorschreiben. Darunter steht die Übersetzung des altja<strong>panische</strong>n Textes <strong>in</strong> die<br />
mo<strong>der</strong>ne ja<strong>panische</strong> Sprache.<br />
Der Schauspieler, <strong>der</strong> die Fee spielt, kommt mit e<strong>in</strong>em Riesenschmet=<br />
terl<strong>in</strong>g auf dem Kopfe über den Hanamichi auf die gänzlich leere und<br />
kahle Bühne, wobei die Musik anschwillt. Se<strong>in</strong>en breiten, klassisch ge=<br />
schnittenen No-Kimono hat das kulturhistorische Museum zu den Spielen<br />
hergeliehen, er ist unglaublich prächtig und ebenso kostbar wie die Maske, e<strong>in</strong>e<br />
<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> ganzen Welt berühmten altja<strong>panische</strong>n Schauspielerlarven, welche<br />
die weiblichen Rollen zu vers<strong>in</strong>nbildlichen hatten. Die Maske <strong>der</strong> Fee ist aber<br />
so grauenerregend, daß unsere mitgebrachte Vorstellung von e<strong>in</strong>er süßen<br />
Himmelsersche<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> nichts zerfließt.<br />
Das Here<strong>in</strong>schreiten geht so langsam vor sich, daß wir Europäer<br />
me<strong>in</strong>en, es sei e<strong>in</strong>fach nicht auszuhalten; diese Langsamkeit ist das Ergebnis<br />
jahrelanger, mühseliger Übung und gegen sie ist die im gewöhn= lichen<br />
ja<strong>panische</strong>n Theater übliche <strong>noch</strong> brausende Eile. Endlich, end= lieh ist »sie«<br />
auf <strong>der</strong> Bühne angelangt. Und nun erzählt uns <strong>der</strong> Schau= spieler mit den<br />
spärlichsten Bewegungen, die ich je bei e<strong>in</strong>em Mimen gesehen habe, die<br />
Geschichte von dem <strong>in</strong> <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>=, wun<strong>der</strong>schönen Landschaft verlorenen<br />
Flügelkleid. Erzählt sie mit ganz leisen Fächer= bewegungen, ohne Spiel, ohne<br />
Ausstattung, alle<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Bühne stehend und mit den europäische Ohren<br />
verletzenden grellen Mißklängen des ja<strong>panische</strong>n Sprechgesanges, wobei die<br />
gegurgelten Laute wie bei mutier renden <strong>Jüngl<strong>in</strong>ge</strong>n nach oben umschlagen.<br />
Man muß das miterlebt haben, um e<strong>in</strong>e Ahnung von <strong>der</strong> ungeheuerlichen<br />
Größe <strong>der</strong> Phantasie des japa=<br />
nischen Volkes zu bekommen, das ke<strong>in</strong>er äußerlichen Behelfe bedarf, ja, durch<br />
solche nur gestört werden würde.<br />
Nachdem die Fee ebenso langsam, wie sie gekommen war, ab=<br />
gegangen ist, ersche<strong>in</strong>en zwei an <strong>der</strong> Handlung gänzlich Unbeteiligte, die<br />
e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> die Szene im Fischerhause erzählen. Unsere Ungeduld über das<br />
Ausbleiben je<strong>der</strong> Darstellung wächst natürlich während <strong>der</strong> dritthalb Stunden,<br />
die das Stück dauert, <strong>in</strong>s Riesengroße; ist bei uns <strong>in</strong> Europa das Wesen<br />
des Dramas Handlung, so ist es Mangel an Handlung <strong>in</strong> Japan. Und die<br />
No=Dichtung unterbietet hier<strong>in</strong> <strong>noch</strong> die für die Theater ge= schriebenen<br />
Stücke.<br />
Trotz des völkerpsychologischen Interesses Langweile ich mich zu Tode.<br />
Zeitweilig schlafe ich tief und fest e<strong>in</strong>; schrecke ich auf und beschämt<br />
mich e<strong>in</strong> vorwurfsvoller Blick Kawados, so tröstet es mich wie<strong>der</strong>, daß<br />
auch <strong>der</strong> gelehrte Professor und se<strong>in</strong>e Gatt<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geschlafen s<strong>in</strong>d. Freilich<br />
werden wir alle drei durch die Schmerzen im Kreuz, die sich <strong>in</strong>folge <strong>der</strong><br />
Hockstellung e<strong>in</strong>stellen, und durch die Kälte, welche <strong>in</strong> die unbeschuhten Füße<br />
steigt, immer wie<strong>der</strong> aufgeweckt.<br />
Applaus nach Schluß des Stückes gibt es nicht. Vor fünfhun<strong>der</strong>t ahren<br />
J<br />
hatten die Feudalherren es nicht für nötig befunden, den ihnen hörigen<br />
Schauspielern ob <strong>der</strong> befohlenen Leistungen Beifall zu klatschen, und die<br />
heutigen Japaner haben von <strong>der</strong> Tradition jede, auch die ger<strong>in</strong>gste E<strong>in</strong>zelheit<br />
übernommen. Das erlesene Publikum ist aber ke<strong>in</strong>eswegs zu vornehm, weidlich<br />
über die Clownscherze zweier No=Tänzer, <strong>der</strong> Ky= ogen, die als<br />
Zwischennummer e<strong>in</strong>geschoben werden, zu lachen. Auch <strong>der</strong> Japaner aus<br />
edelstem Geblüt ist im Innersten e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das vor Mario= netten jauchzt und<br />
über Rippenstöße jubelt, vorausgesetzt, daß sie genau nach fünfhun<strong>der</strong>tjährigen<br />
Vorschriften verabreicht werden. Diese Späße s<strong>in</strong>d nämlich ebenfalls das<br />
Ergebnis schwieriger Übungen.<br />
In dem nächsten Stück »Hach<strong>in</strong>oki«, »Der Blumentopf«, aus <strong>der</strong><br />
Ashikaga=Periode, kommt immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Requisit vor, e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> berühmten, <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>en Topf gepflanzten M<strong>in</strong>iaturfichten, die <strong>in</strong> Japan so sorgfältig wie K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
aufgezogen und von gelehrten Gärtnern gepflegt werden. Aber= mals ist<br />
Opfermut das Hauptmotiv des Stückes. Hojo Tokiyori, <strong>der</strong> japa= nische<br />
Harun al Raschid, sucht im Volke nach e<strong>in</strong>em treuen Knecht und bittet<br />
während e<strong>in</strong>es Gewitters die alle<strong>in</strong> zurückgebliebene Frau e<strong>in</strong>es Samurai um<br />
e<strong>in</strong>en Unterschlupf, doch weist sie ihn ab, weil sie nur e<strong>in</strong>en Raum ihr eigen<br />
nennt und alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Mann nicht empfangen darf. Kaum hat dies <strong>der</strong> nachts
ii8 119<br />
heimkehrende Gatte erfahren, so läuft er <strong>in</strong> das tosende Wetter h<strong>in</strong>aus, uni den<br />
unbekannten Obdachlosen zu suchen. Zwei
120 121<br />
Trommelschläge leiten das Stück e<strong>in</strong> und dann heben sich hohe Flöten<br />
töne grell von dem tiefen Gebrumm des Vortrages ab. Die Frau und <strong>der</strong><br />
Shogun, <strong>der</strong> Fürst, stehen auf <strong>der</strong> Bühne, aber wüßte ich nicht, was vorgeht,<br />
nichts, nichts könnte ich <strong>der</strong> Miene entnehmen. Erst als <strong>der</strong> Samurai <strong>in</strong><br />
Nacht und Wetter den Shogun suchen geht, <strong>der</strong> drei Schritte weit weg, an<br />
den Prospekt <strong>der</strong> w<strong>in</strong>zigen Bühne geschmiegt, daliegt - se<strong>in</strong> Nie<strong>der</strong>legen<br />
dauerte volle sechzig Sekunden und erst zu Hause, da ich mit <strong>der</strong> Uhr <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Hand versuche, mich so langsam nie<strong>der</strong>zulassen, erkenne ich, wie schwer das<br />
ist -, kommt Leben <strong>in</strong> die Darstellung. Beide Meister spielen mit und zwar<br />
gibt Hosho den Shogun und Masakichi Noguchi den treuen Lehensmann und<br />
dieser ruft den an<strong>der</strong>n mit e<strong>in</strong>em so ohrenzerreißenden Geheul, daß man an<br />
hungrige Wölfe <strong>in</strong> sibirischer Schneenacht denkt. Dieses Geheul ist <strong>der</strong><br />
Höhepunkt von Noguchis Kunst und, da es <strong>in</strong> den Noten genau nachzulesen<br />
ist, muß es e<strong>in</strong> künstlerisches genannt werden - uns freilich kommt das so<br />
vor, wie <strong>wenn</strong> e<strong>in</strong> Kettenhund e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>brecher aus Noten anbellte.<br />
Der Samurai ist arm und da er den Unbekannten frosterstarrt mit<br />
heimbr<strong>in</strong>gt, opfert er ihm das e<strong>in</strong>zige, was er besitzt: se<strong>in</strong>e geliebten drei<br />
getopften Bäumchen, mit denen er Feuer macht. Zuerst verbrennt er das<br />
Kirschbäumchen, weil das künstlich gezüchtete ke<strong>in</strong>e Früchte trägt, dann die<br />
Pflaume, weil sie nicht immergrün ist, und erst zuletzt die Fichte, das Symbol<br />
des langen Lebens. Wie sehr die ja<strong>panische</strong> Literatur geeignet ist, im Ausland<br />
falsche Vorstellungen über den ja<strong>panische</strong>n Charakter zu erwecken, zeigt sich<br />
hierbei wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal, denn <strong>in</strong> Wirklichkeit ist <strong>der</strong> Begriff des Schenkens aus<br />
Güte dem Japaner fremd; er schenkt nur dann, <strong>wenn</strong> er <strong>der</strong> Gegengabe ganz<br />
sicher ist.<br />
Trotzdem von drei Bäumchen die Rede ist, wird nur e<strong>in</strong>es gebracht.<br />
Was me<strong>in</strong>e Augen freilich nicht zu würdigen verstehen, ist das Spiel des<br />
Fächers dabei. Der Fächer stellt alles dar: e<strong>in</strong>en Berg, <strong>wenn</strong> die Erzählung<br />
e<strong>in</strong>e Besteigung schil<strong>der</strong>t, e<strong>in</strong> Pferd, e<strong>in</strong> Schwert o<strong>der</strong> auch, wie eben jetzt,<br />
die Axt, mit <strong>der</strong> das Bäumchen gefällt wird. In Wirklichkeit bricht <strong>der</strong><br />
Schauspieler nur e<strong>in</strong> w<strong>in</strong>ziges Zweigle<strong>in</strong> ab, Symbol genug für den Japaner.<br />
Mit dem Fächer wird Feuer gemacht und <strong>der</strong> Fächer ver> s<strong>in</strong>nbildlicht die<br />
wärmenden Flammen. Erst als e<strong>in</strong> Diener Baum und Zweig wie<strong>der</strong><br />
weggetragen hat, begreife ich, daß auch sie eigentlich überflüssig gewesen<br />
waren. Kommt doch <strong>der</strong> Japaner als Maler auf die Welt und se<strong>in</strong>e Phantasie<br />
entwirft bei <strong>der</strong> leisesten Andeutung Bild um Bild. In dem, was nicht wirklich<br />
gcsagt, nicht wirklich getan wird, liegt für ihn<br />
die Poesie.<br />
Bemerkenswert ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen ch<strong>in</strong>esischem und ja<strong>panische</strong>m<br />
Gebärdenspiel. Während auf <strong>der</strong> ch<strong>in</strong>esischen Bühne je<strong>der</strong> Vorgang<br />
vollkommen naturgetreu dargestellt wird, beispielsweise e<strong>in</strong>e Pferdebesteigung<br />
so, als besteige <strong>der</strong> Schauspieler wirklich e<strong>in</strong> Pferd, als greife er <strong>in</strong> die Zügel,<br />
als sprenge er davon, macht <strong>der</strong> Meister hier, <strong>wenn</strong> er auf se<strong>in</strong>en alten Gaul<br />
klettert, ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Bewegung, die wirklich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Fall gemacht<br />
wird. Das nähme <strong>der</strong> Phantasie zu viel vorweg.<br />
Weil jede <strong>der</strong> uns fast unsichtbaren Gesten etwas bedeutet und mit Symbolik<br />
geradezu beladen ist, verlangt diese Darstellung die ungeteilte Aufmerksamkeit<br />
und H<strong>in</strong>gabe des Zuschauers. Infolgedessen arbeitet die ja<strong>panische</strong><br />
Auffassung langsam und erst <strong>der</strong> Besuch e<strong>in</strong>es so echt nationalen<br />
Vergnügens, wie die No=Spiele es s<strong>in</strong>d, läßt uns e<strong>in</strong>e Ahnung von dem<br />
Zwiespalt bekommen, <strong>in</strong> den <strong>der</strong> Verkehr mit uns Weißen e<strong>in</strong> Volk br<strong>in</strong>gen<br />
muß, dessen höchstes Kunstideal das Erratenlassen ist. Vielleicht erwächst die<br />
Ger<strong>in</strong>gschätzung, welche dieses Volk für die fremden Völker hegt, aus <strong>der</strong><br />
Entdeckung, daß h<strong>in</strong>ter ihren vielen Ausdrucksformen,die ihm anfangs e<strong>in</strong> Buch<br />
mit sieben Siegeln s<strong>in</strong>d, gar ke<strong>in</strong>e tiefere Bedeutung liegt.<br />
Fünf Stunden lang haben diese beiden Stücke gedauert. Es war mir fest<br />
versprochen worden, daß ich um sieben Uhr e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>n Verab. redung<br />
würde nachkommen können, und auch <strong>der</strong> kanadische Professor hat für diese<br />
Zeit e<strong>in</strong>e zweite E<strong>in</strong>ladung angenommen, wir werden aber von dem <strong>in</strong><br />
glühendster Beflissenheit dah<strong>in</strong>schmelzenden Kawado zum Büfett geführt, wo<br />
uns <strong>der</strong> Marquis und die Meister Hosho und Noguchi an e<strong>in</strong>em für uns<br />
gedeckten Tisch erwarten. Wie lange solch e<strong>in</strong>e Vor. stellung dauert, weiß<br />
ich genau. Mir bleibt also nichts an<strong>der</strong>es übrig, als unterwegs zu entwischen,<br />
wobei ich freilich auf die Heimkehr mit dem Auto verzichten und mich durch<br />
die Menge über die Treppe h<strong>in</strong>abdrängen muß, was auf Strümpfen nicht<br />
übermäßig vergnüglich ist. Draußen ist es stockf<strong>in</strong>ster, es gießt <strong>in</strong> Strömen,<br />
die Straße ist wie e<strong>in</strong> Bach und das e<strong>in</strong>zige wartende Auto ist e<strong>in</strong> privates<br />
Luxusgefährt.<br />
Der <strong>in</strong> dem Auto <strong>sitzen</strong>de ja<strong>panische</strong> Herr lädt mich mit e<strong>in</strong>er höflichen<br />
Handbewegung zum E<strong>in</strong>steigen e<strong>in</strong> und gibt mir, da ich neben ihm <strong>in</strong> dem<br />
wun<strong>der</strong>baren Coupe sitze, höflich se<strong>in</strong>e Visitkarte. Er kennt me<strong>in</strong>en Namen -<br />
ja<strong>panische</strong> Zeitungen arbeiten gründlich. Punkt sieben setzt er mich am Orte<br />
me<strong>in</strong>er Verabredung ab und ich b<strong>in</strong> natürlich h<strong>in</strong>gerissen von me<strong>in</strong>em Erlebnis<br />
- das übrigens <strong>der</strong> ganzen Stadt am nächsten Tage brühwarm vorgesetzt<br />
wird; ist doch <strong>der</strong> hilfreiche Japaner selbst <strong>noch</strong> zur Zeitung gefahren, ehe er<br />
wie<strong>der</strong> zu dem No=Schauspiel zurückkehrte, wo gelehrt wird, die Tat auch
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ohne Lohn zu tun.
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13. Im Vergnügungsbezirk.<br />
E<strong>in</strong>es Abends begleitet mich me<strong>in</strong> Landsmann <strong>in</strong> das Vergnügung'viertel<br />
Asakusa (sprich Asaksa>. Wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal hat mir das Konsulat das Auto<br />
geliehen. Wir lassen es am E<strong>in</strong>gange stehen und mischen uns unter die Menge<br />
<strong>der</strong> Besucher. Natürlich s<strong>in</strong>d wir das Ziel aller neu= gierigen Blicke, weil die<br />
Residenten niemals hierher kommen und es Tou= risten jetzt im W<strong>in</strong>ter nicht gibt.<br />
Ungeniert wie K<strong>in</strong><strong>der</strong> bilden die Spazier= gänger <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Bude, die ich besuche,<br />
um mich e<strong>in</strong>en Halbkreis und es ist geradezu rührend, mit welcher Befriedigung<br />
sie me<strong>in</strong> Entzücken zur<br />
Kenntnis nehmen. Der Anblick, <strong>der</strong> sich mir bietet, ist aber auch weit über<br />
Tausendunde<strong>in</strong>e Nacht h<strong>in</strong>aus phantastisch, bunt und künstlerisch bewegt.<br />
Spielzeug= und Bonbonsbuden s<strong>in</strong>d mit vollendeter Meisterschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Raumkunst mit Fähnchen bezeichnen<strong>der</strong>weise auch mit <strong>der</strong> Kriegsflagge --,<br />
Papierblumen, Lampions und Buchstabentafeln aus= geschmückt; <strong>in</strong> allen<br />
Farben, Gold auf Rot, Weiß auf Grün o<strong>der</strong> Schwarz auf Purpur, s<strong>in</strong>d die<br />
Wortzeichen, die ganz Japan aufputzen, gedruckt und gemalt -- sollten sie<br />
jemals verschw<strong>in</strong>den, so würde das Land nüchtern und armselig aussehen.<br />
Ke<strong>in</strong> Volk <strong>der</strong> Welt macht den Japanern e<strong>in</strong>e solche Gasse voll bunter<br />
Effekte nach, ebensowenig wie die Beleuchtung, die im Osten überhaupt e<strong>in</strong>e<br />
große Rolle spielt; seitdem <strong>in</strong> den Lampions<br />
elektrische Birnen stecken, können sich die Japaner an Lichtwirkungen gar<br />
nicht genug tun. Diese Reihen von Ampeln und Papierkunstwerken, diese bunten<br />
Buden im Lampenglanz, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> den farbigen Kimonos malerisch<br />
auffrisierter Musmes bricht hier zeigt sich das Japan, von dem je<strong>der</strong> träumt, <strong>der</strong><br />
nach dem Osten fährt.<br />
Tempel stehen mitten im Vergnügungspark und halbnackte, Glöckchen<br />
schw<strong>in</strong>gende männliche und weibliche Bußläufer im weißen Hemd<br />
rennen barbe<strong>in</strong>ig, den Nacken<br />
entblößt, mit brennen<strong>der</strong> Laterne durch die Menge von e<strong>in</strong>em zum an<strong>der</strong>n;<br />
schweißtriefend spr<strong>in</strong>gen sie bei jedem <strong>in</strong> e<strong>in</strong> kaltes Bad, worauf sie sich vom<br />
diensttuenden Priester gegen e<strong>in</strong>e Kupfermünzenspende e<strong>in</strong>en Stempel auf das<br />
Hemd drucken lassen. Den ebenfalls kurzweg e<strong>in</strong>gehandelten Bußzettel<br />
stecken sie <strong>in</strong> ihr Stirnband, sagen e<strong>in</strong> paar rasche Gebete her, wobei sie <strong>in</strong> die<br />
Hände klatschen, um die Gottheit auf ihr frommes Tun aufmerksam zu<br />
machen, und laufen dann weiter, die ganze Nacht h<strong>in</strong>durch. Und die ganze<br />
Nacht h<strong>in</strong>durch ist hier <strong>der</strong> Betrieb im Gang; trotz <strong>der</strong> Kälte <strong>sitzen</strong> die<br />
Verkäufer, die sich ab und zu die Hände an e<strong>in</strong>em Hibachi wärmen, <strong>in</strong> ihren
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offenen Buden, trotz <strong>der</strong> Kälte kaufen Menschen auch <strong>noch</strong> nach Mitternacht<br />
überflüssigen Schnickschnack e<strong>in</strong>. Diese Seltsamkeiten aber reimen sich zu dem<br />
seltsamen Ort, man wun<strong>der</strong>t sich über gar nichts mehr.
H<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Budenstraße liegt das K<strong>in</strong>oviertel um e<strong>in</strong>en Teich herum, <strong>in</strong><br />
dem sich all die Tausende von Lichtern, mit denen die K<strong>in</strong>otheater<br />
verziert s<strong>in</strong>d, spiegeln. Gaß aus gaß e<strong>in</strong> hängt e<strong>in</strong>e Tafel neben <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n mit<br />
den grellsten, übermannshohen Reklamebil<strong>der</strong>n, mit den wüstesten Szenen <strong>der</strong><br />
Dramen <strong>in</strong> schaurig übertriebenen Darstellungen, meist Mord= bil<strong>der</strong>n und<br />
Schreckensaugenblicken. Mit doppelten und dreifachen Licht= kränzen s<strong>in</strong>d sie<br />
e<strong>in</strong>gerahmt, aber auch jede L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Architektur ist wie nachgemalt von<br />
Glühbirnen <strong>in</strong> Lampions und die leuchtende Zeichnung<br />
läuft senkrecht, wagrecht, <strong>in</strong> Kreisen, Bogen und Zickzackwellen.<br />
Trotz aller Gesetze, die <strong>der</strong> Feuersgefahr entgegenwirken sollen, staut<br />
sich <strong>in</strong> lebensgefährlichem Gedränge die Menge im Parkett. Hier unten<br />
dürfen nämlich die Schuhe anbehalten werden. Wir wählen das kle<strong>in</strong>ere übel,<br />
ziehen die Schuhe aus und nehmen auf dem Balkon, wo es teurer, also leerer<br />
ist, Platz; da hier <strong>der</strong> Fußboden mit Matten belegt ist, können die Japaner <strong>in</strong><br />
den Strumpfschuhen, den Tabi, kommen.<br />
In fast jedem ja<strong>panische</strong>n K<strong>in</strong>o wechseln zwei Abteilungen mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Die<br />
e<strong>in</strong>e br<strong>in</strong>gt ausländische, meist amerikanische Films, Räuber=, Detektiv=,<br />
Akrobaten= o<strong>der</strong> Kriegsstücke, voll gräßlicher Tricks und Schrecken, voll<br />
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Blutbä<strong>der</strong>n, Diebereien und Idiotenszenen, so daß man sich nicht wun<strong>der</strong>n<br />
dürfte, sähen die Japaner Amerika als das Land <strong>der</strong> Gauner und Banditen an.<br />
Die <strong>in</strong>ländische Abteilung ist ebenfalls von diesem Hang nach Ver=<br />
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brechen angekränkelt, überdies aber langweilig. Der Erfolg bei<strong>der</strong> Teile hängt<br />
von dem Erklärer ab, <strong>der</strong> hei den ausländischen Films mit natür= licher<br />
Stimme und ohne Musikbegleitung nur die Geschehnisse erläutert, bei den<br />
ja<strong>panische</strong>n h<strong>in</strong>gegen mit e<strong>in</strong>em richtigen Chor auftritt und die Gespräche <strong>der</strong><br />
im Bild spielenden Schauspieler im antiken Dramaton her= sagt. Bei e<strong>in</strong>em<br />
europäischen Abend kommt es auf se<strong>in</strong>en Witz an, bei e<strong>in</strong>em ja<strong>panische</strong>n auf<br />
se<strong>in</strong>en Vortrag, jedenfalls aber wählt das Publikum e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>o auf se<strong>in</strong>en Namen<br />
h<strong>in</strong>.<br />
Sieht man die Weible<strong>in</strong>, die ihre Sprößl<strong>in</strong>ge auf dem Rücken mit=<br />
schleppen, so begreift man nicht, daß ihnen das Vergnügen dafür e<strong>in</strong>en<br />
Gegenwert bietet, denn die ja<strong>panische</strong> Bühnenlangsamkeit wirkt im K<strong>in</strong>o <strong>noch</strong><br />
e<strong>in</strong>schläfern<strong>der</strong> als im Theater. Begibt sich <strong>der</strong> Held e<strong>in</strong>es Stückes von e<strong>in</strong>em<br />
Schauplatz zum an<strong>der</strong>n, so läuft das Bild auf dem ganzen Wege mit und zeigt<br />
ihn aufstehend, die Treppe h<strong>in</strong>ab= und dann wie<strong>der</strong> h<strong>in</strong>auf= steigend, sich<br />
setzend, kurz Schritt für Schritt, so daß viele Hun<strong>der</strong>te von Metern abrollen,<br />
ohne daß irgend etwas geschieht. Die Grundlagen, auf denen bei uns die Reize<br />
des K<strong>in</strong>os beruhen, die Schnelligkeit des Szenen= wechsels, die Bewegung, das<br />
Ereignis, werden hier umgestürzt und nur e<strong>in</strong> w<strong>in</strong>ziger Bruchteil des Films<br />
bleibt nach <strong>der</strong> Ausführlichkeit jedes Kommens und Gehens, <strong>in</strong> welcher sich das<br />
ja<strong>panische</strong> K<strong>in</strong>o auslebt, für die großen Szenen <strong>der</strong> Handlung übrig. In diesen<br />
darf man dann auf die grausamsten<br />
Mordbil<strong>der</strong>mitallenScheußlichkeitene<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong>Ausmalung rechnen. Der<br />
Film kann das Abschlagen und Dah<strong>in</strong>rollen von Köpfen, das die unerbittliche<br />
alte ja<strong>panische</strong> Oper verlangt, <strong>noch</strong> greller darstellen als das Theater. Und <strong>noch</strong><br />
leichter gel<strong>in</strong>gen dem Film die typischen Heldenkämpfe, <strong>in</strong> welchen <strong>der</strong><br />
angegriffene Ritter es mit fünfzig Mord= gesellen gleichzeitig aufnimmt und sie<br />
alle besiegt und erschlägt.<br />
Der Film, den wir heute sehen, arbeitet den üblichen Wechsel zwischen<br />
E<strong>in</strong>förmigkeit und Gräßlichkeit <strong>in</strong> krassen Gegenüberstellungen heraus. Der<br />
undramatische Teil quält uns mit je<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelheit des Auftritts und des<br />
Abgangs e<strong>in</strong>es Schwiegervaters, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>en Schwiegersohn haßt. Weil die<br />
Tochter sich auf die Seite des Gatten schlägt, schreckt er sie mit e<strong>in</strong>er Larve,<br />
so daß sie entsetzt die Flucht vor ihm ergreift. Und nun geht die grausamste<br />
Verfolgung los, die ich je auf e<strong>in</strong>em Film gesehen habe. Die Tochter überkugelt<br />
sich <strong>in</strong> ihrem Sturz über e<strong>in</strong> steiles, ste<strong>in</strong>iges Bachbett, <strong>der</strong> Vater h<strong>in</strong>ter ihr,<br />
stets die Teufelsfratze vor dem Gesicht, wobei die Kimonos <strong>in</strong> Fetzen gehen,<br />
die Köpfe bluten, die Be<strong>in</strong>e offene Wunden zeigen und e<strong>in</strong> F<strong>in</strong>ger abreißt --<br />
kurz das Fürchterlichste an Folterqual des Publikums, was sadistische<br />
Phantasie zu ers<strong>in</strong>nen vermag.<br />
Für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>trittskarte kann man ungefähr fünf bis sechs Stunden lang im<br />
K<strong>in</strong>o bleiben, wir beschließen aber, das Billett nicht abzu<strong>sitzen</strong>.<br />
Wir wan<strong>der</strong>n und wan<strong>der</strong>n nun durch das vergnügungsfrohe Genießer.= volk,<br />
ohne die Stelle zu f<strong>in</strong>den, wo wir das Auto zurückgelassen haben, uni endlich<br />
von e<strong>in</strong>em Polizeimann zu erfahren, daß wir uns am entgegen= gesetzten<br />
Ende von Asakusa bef<strong>in</strong>den und e<strong>in</strong>e gute halbe Stunde durch den<br />
Straßenschmutz zum E<strong>in</strong>gang zurückzulegen haben. Er bietet uns aber aus<br />
eigenem Antrieb an, se<strong>in</strong>em dort stehenden Berufsgenossen zu telephonieren,<br />
er möge unser Auto hersenden. Gesagt, getan. Me<strong>in</strong> Staunen über dieses<br />
ungewöhnliche Geschehnis wird <strong>noch</strong> dadurch gesteigert, daß <strong>der</strong> Polizist<br />
me<strong>in</strong>em Begleiter unterdessen mit e<strong>in</strong>er Zigarette aufwartet. Die ja<strong>panische</strong><br />
Polizei arbeitet tadellos: <strong>in</strong> weniger als fünf M<strong>in</strong>uten ist unser Auto da.<br />
Vergnügt steigen wir e<strong>in</strong>, doch me<strong>in</strong> Freund me<strong>in</strong>t, die Sache habe auch e<strong>in</strong>e<br />
Kehrseite. Denn am nächsten Morgen werde wohl <strong>in</strong> sämtlichen Zeitungen<br />
stehen, daß <strong>der</strong> österreichische Konsul - <strong>der</strong> Polizei s<strong>in</strong>d ja nur Auto und<br />
Chauffeur bekannt - mit e<strong>in</strong>er Dame, die nicht se<strong>in</strong>e Frau war, <strong>in</strong> dem<br />
gesellschaftlich verpönten Vergnügungsviertel Asakusa gesehen worden sei.<br />
14. Bei den R<strong>in</strong>gkämpfern.<br />
Die ja<strong>panische</strong>n R<strong>in</strong>gkämpfe <strong>in</strong> Tokio fmden nur zweimal im Jahre statt, an<br />
je zehn Tagen im W<strong>in</strong>ter und im Hochsommer, da aber Touristen meist im<br />
Frühl<strong>in</strong>g und im Herbst nach Japan kommen, ist es begreiflich, daß man im<br />
Auslande nur sehr wenig von ihnen weiß und sie sogar mit dem Jiujitsu<br />
zusammenwirft, mit dem sie gar nichts zu tun haben. Jiujitsu, wörtlich<br />
übersetzt, die Kunst <strong>der</strong> Schwachen, ist <strong>der</strong> Name für bestimmte Handgriffe,<br />
die je<strong>der</strong> Japaner lernt, um e<strong>in</strong>en Gegner abzuwehren, <strong>in</strong>s= beson<strong>der</strong>e je<strong>der</strong><br />
Gendarm und Polizist, und mit denen man den stärksten Mann kampfunfähig<br />
machen kann. Jiujitsu ist ke<strong>in</strong> sportliches Spiel, son= <strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e<br />
Selbstverteidigung, allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e echt ja<strong>panische</strong>, die den Fe<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong><br />
Nicht=Wi<strong>der</strong>stehen zu erschöpfen sucht, so daß, ebenso wie <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
ja<strong>panische</strong>n Kunst, das Negative, das Nicht-Tun e<strong>in</strong>er Handlung, die Idee<br />
des Ganzen ist.<br />
Die Sumo (sprich: Smo>, die ja<strong>panische</strong>n R<strong>in</strong>ger, h<strong>in</strong>gegen, e<strong>in</strong>e eigene<br />
Gilde, die sich seit zweihun<strong>der</strong>tfünfzig Jahren durch Adoption ergänzt, führen<br />
dem Publikum Schaukämpfe vor, die das Nationalvergnügen Japans bilden.<br />
An dem Abend vor dem Tage, an dem ich die Sumo zum erstenmal<br />
sehen soll, macht man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er europäischen Gesellschaft die Kampfweise