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Die Soziologie des 19

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wenn man sie als Ausdruck einer Affektlage nehme: „<strong>Die</strong> Konzeption der Gesellschaft als<br />

Organismus antwortet auf das intensive und zutiefst wahre Gefühl der Realität <strong>des</strong> sozialen<br />

Ganzen und der intimen Solidarität, die die Bestandteile verbindet.“ 5 <strong>Die</strong>ses Gefühl (und nicht<br />

etwa die wissenschaftliche Erkenntnis) sei auch der Ursprung der <strong>Soziologie</strong>. 6<br />

Sind also soziologische Konzepte keine objektiven Beschreibungen, sondern nur der gelehrte<br />

Ausdruck einander ergänzender (oder widersprechender) individueller Affektlagen? Ist<br />

soziale Realität „nichts anderes als“ die Summe einer großen Zahl psychischer Realitäten,<br />

deren Träger (die Individuen) sich nur dadurch als Bestandteile eines „sozialen Ganzen“<br />

konstituieren, daß sie das „Gefühl“ der Realität dieses Ganzen (und seinen sprachlichen<br />

Ausdruck in der „alten Metapher“ <strong>des</strong> Organismus) miteinander teilen? Ja und nein. Unter<br />

den „verschiedenen Weisen, ein Ganzes zu sein“ (das arithmetische Ganze, das chemische<br />

Ganze, das astronomische Ganze, das maschinelle Ganze, das soziale Ganze, das organische<br />

Ganze) kommt nach Tarde allein dem arithmetischen Ganzen eine rein imaginäre Existenz zu,<br />

das heißt, die Beziehung der Teile zum Ganzen besteht nur im Geist <strong>des</strong>sen, der an sie denkt:<br />

„Unabhängig vom Geist <strong>des</strong>sen, der es sich vorstellt, ist das arithmetische Ganze nichts.“<br />

Anders das chemische, das astronomische, das organische und auch das soziale Ganze: Auch<br />

„ungedacht“ sind sie „etwas“. Obwohl das soziale Ganze wesentlich und in erster Linie aus<br />

„Geisteszuständen“ (états d’esprit) besteht, muß es nicht als solches gedacht werden, um<br />

wirklich zu existieren... 7 <strong>Die</strong> geistigen oder sprachlichen Repräsentationen der Gesellschaft<br />

(innerhalb der Gesellschaft) sind also sekundär gegenüber einem Zusammenhalt ihrer Teile,<br />

der auch unabhängig von ihnen existiert. So kann das soziale Ganze nach Tarde zwar als<br />

Funktion (im mathematischen Sinn) der „Geisteszustände“ seiner Teile begriffen werden, was<br />

einer reduktionistischen Position entspricht, nicht aber als eine bloße Summe von Individuen,<br />

die sich nach Belieben miteinander verbinden oder voneinander trennen können. <strong>Die</strong> soziale<br />

Chose (la chose sociale) konstituiert sich gegenüber denen, die in sie verwickelt sind, auch<br />

4 Ebd. S. 418.<br />

5 Ebd. S. 423.<br />

6 „<strong>Die</strong> <strong>Soziologie</strong> ist aus dem keineswegs täuschenden Gefühl geboren, daß die Gesellschaft, als ganze<br />

genommen, etwas sehr Reales ist, genauso real wie die Materie für den Chemiker oder das Leben für den<br />

Biologen. Aber dieses nachhaltige Gefühl <strong>des</strong> sozialen Realismus hat unglücklicherweise zur Vorstellung der<br />

Gesellschaft als Organismus geführt. Man glaubte, aus der Gesellschaft einen komplexen Organismus machen<br />

zu müssen, um sie als ein reales Wesen (être réel) darstellen zu können, <strong>des</strong>sen Realität jenseits der Realität der<br />

Individuen in Betracht gezogen werden kann, aus denen sie besteht. Es ist nutzlos, sich mit dieser Metapher<br />

weiter abzugeben.“ (Gabriel Tarde, La réalité sociale, in: Revue philosophique LII (<strong>19</strong>01), S. 457-477; hier S.<br />

458.)<br />

7 Ebd. S. 459-460.<br />

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