Einsicht 08 - Fritz Bauer Institut
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Vermeintliche Barbaren<br />
Streit um die religiöse Beschneidung<br />
von Michael Brenner<br />
Prof. Dr. Michael Brenner, geboren<br />
1964 in Weiden in der Oberpfalz; seit<br />
1997 Lehrstuhlinhaber für Jüdische<br />
Geschichte und Kultur am Historischen<br />
Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München; 1994–97<br />
Assistant Professor für jüdische<br />
Geschichte, Brandeis University,<br />
Waltham (Mass.); 1994 Ph.D. an der<br />
Columbia University, New York;<br />
1993–94 Assistant Professor für jüdische<br />
Geschichte, Indiana University,<br />
Bloomington; Zahlreiche Gastprofessuren<br />
und Forschungsaufenthalte.<br />
Publikationen u.a.: Kleine Jüdische<br />
Geschichte (München: C.H. Beck,<br />
20<strong>08</strong>), Propheten des Vergangenen.<br />
Jüdische Geschichtsschreibung im<br />
19. und 20. Jahrhundert (München:<br />
C.H. Beck, 2006), Geschichte des<br />
Zionismus (München: C.H. Beck,<br />
2002), Jüdische Kultur in der<br />
Weimarer Republik (München: C.H.<br />
Beck, 2000), Nach dem Holocaust:<br />
Juden in Deutschland, 1945–1950<br />
(München: C.H. Beck, 1995).<br />
Ein Drittel aller Männer weltweit sind beschnitten,<br />
darunter auch die Mehrheit der<br />
christlichen Amerikaner. Was in großen<br />
Teilen der westlichen Welt als Selbstverständlichkeit<br />
gilt, beschäftigt seit Monaten die deutsche Öffentlichkeit.<br />
Dass Juden und Muslime ihre Kinder beschneiden lassen, war<br />
auch vor der Kölner Gerichtsentscheidung kein Geheimnis. Umso<br />
erstaunlicher erscheint die plötzliche Aufregung.<br />
Die wenigen Juden, denen es gelang, der Shoah zu entkommen,<br />
gründeten nach dem Krieg wieder eine kleine jüdische Gemeinschaft<br />
hierzulande. Sie und ihre Nachkommen beten in ihren Synagogen,<br />
bestatten ihre Toten auf jüdischen Friedhöfen und lassen in aller<br />
Regel ihre neugeborenen Jungen eine Woche nach ihrer Geburt<br />
beschneiden. In den über sechs Jahrzehnten der Bundesrepublik<br />
war dies genauso selbstverständlich wie in der Weimarer Republik<br />
und dem Kaiserreich. Weder die Praxis der Beschneidung noch die<br />
Rechtsgrundlage haben sich geändert.<br />
Warum also gerade jetzt diese Empörung? Zum einen war<br />
es wohl mit der Kenntnis um andere Kulturen doch nicht so weit<br />
bestellt, wie mancher vermutet hat. In den jüngsten Diskussionen<br />
wird klar, wie weit eigentlich das Unwissen über andere Religionen<br />
(und allzu oft auch über die eigene) reicht. Zum anderen sucht ein<br />
kultureller Wandel seinen Eingang ins Rechtssystem. Eine bisher<br />
zumindest an der Oberfl äche vorherrschende Toleranz gegenüber<br />
religiöser Praxis macht einer oftmals dogmatischen antireligiösen<br />
Haltung Platz.<br />
Wieso erfolgt dieser Aufschrei gerade in Deutschland? Zwar gab<br />
es Diskussionen über die Beschneidung auch in anderen westlichen<br />
Gesellschaften, doch mit der Vehemenz der deutschen Debatte sind<br />
sie keineswegs gleichzusetzen. Würde die Beschneidung in Deutschland<br />
tatsächlich verboten werden, so wäre dies ein Schritt ohne Beispiel<br />
in einem westlichen Staat. Dass ausgerechnet in Deutschland<br />
die freie Religionsausübung der Juden (und Muslime) infrage gestellt<br />
werden soll, wird in aller Welt mit einiger Verblüffung verfolgt.<br />
50 <strong>Einsicht</strong><br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>08</strong> Herbst 2012<br />
Erstaunen muss es auch, wenn nun der Strafrechtler Reinhard<br />
Merkel (siehe Süddeutsche Zeitung vom 25./26.8.2012) behauptet,<br />
man könne nicht weiter »maskieren«, dass der eigentliche Grund,<br />
warum die Beschneidungen in Deutschland noch nicht verboten worden<br />
seien, die Rücksicht auf die eigene Geschichte sei, die »weltweit<br />
singuläre Pfl icht zur besonderen Sensibilität gegenüber allen jüdischen<br />
Belangen« angesichts des »hier organisierten scheußlichsten<br />
Massenmordes der Geschichte«.<br />
Mit anderen Worten: Ein von Merkel als barbarisch charakterisierter<br />
Brauch könne den Juden nur des schlechten Gewissens der<br />
Deutschen wegen zugestanden werden. Doch wäre Deutschland ja<br />
nicht das erste Land, das die Beschneidung erlaubt, sondern das<br />
erste Land, das sie verbietet. In Staaten, die ihren jüdischen Bürgern<br />
gegenüber keine besondere Pfl icht zur Sensibilität haben, steht<br />
ein Verbot der Beschneidung gar nicht im Raum. Merkel zufolge<br />
müssten aber Amerika, England oder Frankreich eigentlich die Beschneidung<br />
schon längst verboten haben.<br />
Das Gegenteil aber ist dort der Fall. Während Merkel wie andere<br />
Beschneidungsgegner eine eindeutige medizinische Gefahr<br />
insinuieren, befürchten Mediziner in Amerika zurzeit etwas ganz<br />
anderes: dass ein Rückgang der Beschneidungen zu einer stetigen<br />
Zunahme von Infektionserkrankungen und damit auch einem deutlichen<br />
Anstieg der Versicherungskosten führen könnte. Erst vor<br />
wenigen Tagen konnte man im gewiss unverdächtigen National<br />
Public Radio einen Bericht hören, der auf Grundlage von drei unabhängigen<br />
Studien darauf verwies, dass das Risiko der Erkrankung<br />
an Infektionen unterschiedlicher Art bei beschnittenen Männern<br />
geringer ist.<br />
Einer Studie der renommierten Johns Hopkins University zufolge<br />
würde ein deutlicher Rückgang der Beschneidung aufgrund entstehender<br />
Infektionskrankheiten eine Zunahme der Krankenversicherungskosten<br />
um eine halbe Milliarde Dollar jährlich bedeuten. Die<br />
American Academy of Pediatrics, die größte Berufsorganisation von<br />
Kinderärzten, hat im August 2012 erstmals öffentlich festgestellt,<br />
dass die Beschneidung mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt.<br />
Ist einmal klargestellt, dass es bei der Zirkumzision der männlichen<br />
Kinder medizinisch eben nicht ganz so eindeutig ist, wie man<br />
es hierzulande oft darzustellen versucht, so handelt es sich – ganz im<br />
Gegensatz zur weiblichen Genitalverstümmelung – um eine Debatte<br />
kultureller Differenzen.<br />
Im deutschen Kulturgebiet ist innerhalb der christlichen Bevölkerung<br />
nicht nur die Beschneidung, sondern auch das Bewusstsein<br />
um die Beschneidung spätestens im 19. Jahrhundert nahezu<br />
verschwunden. Ein paar Bilder in den Museen deuten noch darauf<br />
hin, dass Jesus ja auch beschnitten war. Die Tatsache, dass der Neujahrstag<br />
der achte Tag nach seiner Geburt war und im christlichen<br />
Kalender lange als Circumcisio Domini begangen wurde, ist heute<br />
vor allem noch den Kirchenhistorikern bewusst. Beschneidung wird<br />
in der Volksmeinung – ganz anders etwa als in angelsächsischen<br />
Gesellschaften – lediglich mit Gewalt, Kastration, Verstümmelung<br />
und Traumatisierung verbunden.<br />
Juden haben sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in vielerlei<br />
Hinsicht an die Sitten und Gebräuche ihrer Umgebung angepasst.<br />
Sie haben ihre Bärte abrasiert und die jiddische Sprache abgelegt,<br />
sie haben manche Rituale über Bord geworfen. Doch selbst die<br />
Reformbewegung im Judentum, die so vieles infrage stellte, hält bis<br />
heute an der rituellen Beschneidung der Jungen als einem wichtigen<br />
Aufnahmeritus in ihre religiöse Gemeinschaft fest.<br />
Von Beschneidungsgegnern ist oftmals das Argument zu hören,<br />
Kindern dürfe von den Eltern keine Religion aufgezwungen werden,<br />
die Jugendlichen sollten vielmehr im Alter von 14 oder 16 Jahren<br />
ihre religiöse Zugehörigkeit frei wählen dürfen. Das ist gewiss schön<br />
gedacht, doch ebenso wenig realisierbar wie die beliebige Wahl der<br />
eigenen Nationalität oder der Sprachgemeinschaft. Ob man will<br />
oder nicht, erfolgt in diesen Bereichen eine entscheidende Prägung<br />
bereits vorher. Insbesondere für religiöse Minderheiten würde eine<br />
solche »freie Wahl« wohl ihr Ende bedeuten. Denn unsere »säkulare«<br />
Gesellschaft ist durch und durch christlich geprägt.<br />
Solange am Sonntag (und eben nicht am Freitag oder Samstag)<br />
die Geschäfte geschlossen sind, solange man automatisch jedem<br />
Nachbarn Frohe Ostern wünscht und solange auch in nicht konfessionsgebundenen<br />
Kindergärten und Schulen Weihnachtslieder<br />
eingeübt werden, ist die religiöse Prägung christlicher Natur auch<br />
ohne elterliche Erziehung vorgegeben. Für religiöse Minderheiten<br />
wie Juden oder Muslime ist es daher besonders wichtig, den Kindern<br />
im privaten Rahmen auch die Religion ihrer Eltern zu vermitteln.<br />
Ob sie diese beibehalten wollen, müssen sie im Erwachsenenalter<br />
entscheiden.<br />
Die Beschneidungsdebatte legt etwas frei, was man zum ersten<br />
Mal seit Bestehen der Bundesrepublik in diesem Ausmaß öffentlich<br />
hören kann. Ein neues Gesetz mag zwar verhindern, dass die freie<br />
Ausübung der jüdischen Religion infrage gestellt wird. Doch der angerichtete<br />
Schaden ist kaum wiedergutzumachen. In dieser Debatte<br />
setzte sich ein Bild der Juden und Muslime als die anderen durch,<br />
die barbarischen Bräuchen anhängen und es in Kauf nehmen, das<br />
Kindeswohl zu verletzen.<br />
Mit der Erzeugung dieses Bilds wurde bereits viel Porzellan<br />
zerbrochen. Ein bisschen mehr Wissen um die Rituale der anderen<br />
(wie auch der eigenen) Religion, ein wenig mehr Respekt vor religiösen<br />
Praktiken und nicht zuletzt ein vergleichender Blick in andere<br />
westliche und ebenso säkular geprägte Gesellschaften könnten zumindest<br />
dazu beitragen, diese Debatte zu versachlichen und wieder<br />
auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen. 1<br />
Der vorliegende Text ist eine leicht gekürzte Fassung des in der Süddeutschen<br />
Zeitung vom 30. August 2012 erschienenen Beitrags von Prof. Dr. Michael Brenner.<br />
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