Einsicht 08 - Fritz Bauer Institut
Einsicht 08 - Fritz Bauer Institut
Einsicht 08 - Fritz Bauer Institut
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Erinnerungen, sichtet Literatur, sucht an »Tatorten und Friedhöfen«<br />
(S. 21), recherchiert in Archiven, sucht und fi ndet Kontakte zu Angehörigen<br />
jüdischer Familien, die früher dort ihre Heimat hatten, und<br />
fährt nach New York, um den Geschwistern der jüdischen Familie<br />
Spier zu begegnen, die vor 70 Jahren mit ihren Eltern aus dem Dorf<br />
verschleppt wurden und nach ihrer Befreiung 1945 dorthin zurückkehrten.<br />
Die Perspektive der Verfolgten steht für sie im Zentrum.<br />
Die Motivation ihrer Arbeit sieht sie darin, »der Geschichtsvergessenheit<br />
in Rauischholzhausen entgegenzutreten und dem heutigen<br />
Ist-Zustand seine Geschichte zu geben« (S. 179).<br />
Mit ihrer Abschlussarbeit legt Junge Ende 2009 den »Versuch<br />
einer Rekonstruktion der Entrechtung und der Verfolgung der jüdischen<br />
Bevölkerung Rauischholzhausen zwischen 1933 und 1942«<br />
vor, die sie anschaulich auch in den konkreten Auswirkungen auf<br />
die jüdischen Familien nachzeichnet und entsprechend in den regionalen<br />
und reichsweiten Kontext einordnet. Sie geht aber auch auf<br />
die »Vorgeschichte« jüdischen Lebens im Dorf ein, und ebenso auf<br />
das Leben nach 1945, wo jüdische Überlebende aus den Lagern<br />
zurückkehrten und einige Jahre ein Kibbutz von jüdischen Überlebenden<br />
aus Osteuropa zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach<br />
Palästina existierte.<br />
»Vor Ort« macht die Berliner Studentin für sie überraschende<br />
Erfahrungen von der Präsenz persönlichen Erinnerns bei ihren<br />
Gesprächspartnern – »Ihnen allen sind ihre ehemaligen jüdischen<br />
Nachbarinnen, Nachbarn und die Jahre der Verfolgung bis heute in<br />
Erinnerung« (S. 9) – im Kontrast zum öffentlichen Beschweigen.<br />
Neben Unterstützung erfährt sie aber auch Abwehr, sogar Bedrohung,<br />
sowie erschütternde antisemitische Einlassungen ihrer Gesprächspartner.<br />
Sie erfährt die »Nichtpräsenz der Geschichte vor<br />
Ort« (S. 19).<br />
Doch bewegten ihre Recherchen einiges im Dorf – »mehr als<br />
ich noch vor drei Jahren zu hoffen wagte«, führt Junge in ihrem<br />
lesenswerten »persönlichen Vorwort« aus: Das offi zielle Schweigen<br />
ist gebrochen, der Besuch von Walter Spier aus New York und seines<br />
Bruders Alfred zu einer Gedenkfeier der regionalen Gesamtschule<br />
Ebsdorfer Grund am Jüdischen Friedhof fand große Resonanz, seine<br />
Ansprache bei dieser Gedenkfeier ist das Vorwort der Publikation.<br />
Aber auch andere gesellschaftliche Akteure und insbesondere Ortsbewohner<br />
der »zweiten Generation« öffnen sich und stellen Fragen.<br />
In ihren Befragungen und Archivrecherchen möchte Junge der<br />
dörfl ichen »Gesamtdynamik« (S. 11) der damaligen Zeit auf die Spur<br />
kommen, aber auch einem »Stück der eigenen Familiengeschichte«<br />
(S. 17), war doch ihr Großvater »ein hohes Tier« im Ort, wie sie<br />
erfährt. Ihr Augenmerk liegt auf der Betrachtung der örtlichen Täter,<br />
sie kann dazu eine überschaubare Gruppe von namentlichen 17<br />
Personen identifi zieren, die die jüdische Bevölkerung drangsalierten,<br />
und entwickelt ein dörfl iches NS-Täterprofi l.<br />
Sie wendet sich auch der »breiten Mehrheit« der Zuschauer im<br />
Dorfe zu, die sich nicht aktiv an physischen Übergriffen beteiligte<br />
66<br />
und keine weiteren Ausgrenzungen initiierte, doch sie in ihrer Privatsphäre<br />
umsetzte und später auch profi tierte. »Viele beteiligten<br />
sich an den Plünderungen nach der Deportation [1942], die meisten<br />
bereicherten sich bei den Versteigerungen.« (S. 171)<br />
Die Menschen im Dorf, die sich solidarisch gegenüber den jüdischen<br />
Verfolgten verhielten und ihnen zur Seite standen, waren eine<br />
Minderheit. Deren Verhalten beschreibt Junge in den existenziellen<br />
Auswirkungen für die jüdischen Familien. »If every German gentile<br />
would have been a Nazi, no Jew would have come out alive« – so<br />
die Einschätzung von Walter Spier. Eine Ungenauigkeit entsteht<br />
hier, weil der Autorin das Kontaktverbot der Gestapo vom Herbst<br />
1941 nach Beginn der Massendeportationen nicht bekannt ist. Sie<br />
schreibt nicht zutreffend, es habe »nie ein absolutes Umgangsverbot«<br />
gegeben (S. 171).<br />
Die Suche nach der antisemitischen Besonderheit der Verhältnisse<br />
in diesem Dorf, in dem angeblich »vieles früher als woanders<br />
geschah« (S. 103), führt zu fraglichen Einschätzungen, berücksichtigt<br />
sie doch nicht die Phasen antisemitischer Verfolgung auf lokaler<br />
Ebene insbesondere im Sommer 1935, wie sie beispielsweise Peter<br />
Longerich in seinem Buch Politik der Vernichtung (München, Zürich<br />
1998) herausgearbeitet hat. Gleiches ist anzumerken bei der<br />
monokausalen Betrachtung der Abwanderung der jüdischen Bevölkerung<br />
aus Dörfern der Region in kleinere und größere Städte, die<br />
ausschließlich auf die antisemitische Böckel-Bewegung zurückgeführt<br />
wird und nicht auch die seit 1866 bestehende Freizügigkeit und<br />
Gewerbefreiheit für Juden, ihre wirtschaftliche und soziale Mobilität<br />
benennt. Das nicht dem Forschungsstand entsprechende Denkmuster,<br />
dass die nationalsozialistische Verfolgung eine Art Höhepunkt<br />
kontinuierlicher antisemitischer Verfolgung war, klingt hier wie auch<br />
im Nachwort von Hajo Funke, dem betreuenden Politologen, an.<br />
Das Buch ist insgesamt ein gelungenes mit den Stimmen der<br />
Zeitzeugen, Zitaten aus Täterakten, zahlreichen Fotos präsentiertes,<br />
gut lesbares und fundiert recherchiertes und aufbereitetes Beispiel<br />
für eine Spurensuche zur Geschichte und zur Verfolgung jüdischen<br />
Lebens. Es impliziert so exemplarisch auch eine aktive Aufforderung,<br />
gerade auch heute noch »vor Ort« etwas herauszufi nden. Immer<br />
noch gibt es Dörfer und Städte, die sich bisher nicht mit ihrer<br />
NS-Geschichte und den Schicksalen der Verfolgten befasst haben.<br />
Noch können die Erinnerungen der unterschiedlichen Perspektiven<br />
abgefragt werden und die Archive liegen sowieso voll mit einschlägigen<br />
Akten, die auf Interessenten warten.<br />
Monica Kingreen<br />
<strong>Fritz</strong> <strong>Bauer</strong> <strong>Institut</strong>/Pädagogisches Zentrum Frankfurt<br />
Rezensionen<br />
Zwei Millionen Gefangene binnen sechs<br />
bis acht Kriegswochen erwartet<br />
Rüdiger Overmans, Andreas Hilger,<br />
Pavel Polian (Hrsg.)<br />
Rotarmisten in deutscher Hand.<br />
Dokumente zu Gefangenschaft, Repatriierung<br />
und Rehabilitierung sowjetischer<br />
Soldaten des Zweiten Weltkrieges<br />
Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag,<br />
2012, 956 S., € 98,–<br />
Die vorliegende Dokumentenedition hat der Rezensent mit gemischten<br />
Gefühlen gelesen. Auf der einen Seite ist jede Publikation zu<br />
begrüßen, die die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der sowjetischen<br />
Kriegsgefangenen in deutscher Gefangenschaft während des<br />
Zweiten Weltkrieges lenkt. Schließlich war die Zahl der sowjetischen<br />
Kriegsgefangenen, die in deutscher Haft den Tod fanden,<br />
mit insgesamt etwa drei Millionen Menschen exorbitant hoch. Dies<br />
nennt der Staatsminister a. D. Gernot Erler, MdB, in seinem Vorwort<br />
zu Recht »ein organisiertes Verbrechen des Dritten Reiches«<br />
(S. 7). Nichtsdestotrotz wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen<br />
in Deutschland bis heute skandalöserweise nicht in den Kreis der<br />
Entschädigungsberechtigten aufgenommen. Das entsetzliche Leiden<br />
sowjetischer Kriegsgefangener, der zweitgrößten Opfergruppe des<br />
Nationalsozialismus, bleibt in der deutschen wie auch überhaupt in<br />
der westlichen Erinnerung blass.<br />
Auf der anderen Seite ist die Darstellung der Thematik durch<br />
die Herausgeber des Bandes an mehreren Stellen verzerrt. Diese<br />
Feststellung lässt sich am folgenden Beispiel verdeutlichen. In ihrer<br />
Einleitung schreiben die Herausgeber: »Bei ihren ursprünglichen<br />
Planungen hatte die Wehrmacht mit ungefähr einer Million Kriegsgefangenen<br />
gerechnet« (S. 19). Als einziger Beleg für diese Behauptung<br />
wird dabei ein Dokument genannt, das auch im vorliegenden<br />
Band abgedruckt wird (Dokument 2.2.16: »Tätigkeitsbericht des<br />
Oberquartiermeisters beim Militärbefehlshaber im Generalgouvernement<br />
vom Mai bis September 1941«, auf S. 276–277). Die Nennung<br />
dieser Quelle ist allerdings in mehrfacher Hinsicht irreführend. Erstens<br />
handelt es sich bei dem Dokument um eine nachträgliche Zusammenstellung<br />
vom Oktober 1941, deren Inhalt nicht nachweislich<br />
Teil der »ursprünglichen [d. h. Vorangriffs-] Planungen« war. Zweitens<br />
nennt das Dokument nicht die Gesamtzahl der zu erwartenden<br />
Kriegsgefangenen, sondern lediglich die Zahl derjenigen Gefangenen,<br />
für die Winterlager ausgebaut werden sollten. Drittens bezieht<br />
sich das ganze Dokument ausschließlich auf das Generalgouvernement<br />
und berücksichtigt somit diejenigen Kriegsgefangenen nicht,<br />
die im Reichsgebiet, in den eingegliederten polnischen Gebieten, in<br />
den Reichskommissariaten oder im Operationsgebiet unterzubringen<br />
waren. Somit wird die aufgestellte Behauptung der Herausgeber<br />
durch dieses Dokument nicht im Entferntesten belegt.<br />
Darüber hinaus ist die Behauptung selbst, die Wehrmacht hätte<br />
vor dem Überfall auf die Sowjetunion mit ungefähr einer Million<br />
Kriegsgefangenen gerechnet, schlicht falsch. Dadurch wird der Eindruck<br />
vermittelt, dass die Zahl der gefangen genommenen Soldaten<br />
viel größer gewesen sei, als von der Wehrmacht erwartet. Es war<br />
aber keineswegs so, dass die deutschen Behörden von der Gefangennahme<br />
Hunderttausender Rotarmisten in den ersten Wochen des<br />
Feldzugs überrascht worden und ob dieser schieren Masse logistisch<br />
überfordert gewesen wären: Die für die sowjetischen Kriegsgefangenen<br />
zuständigen Planungsstäbe hatten vielmehr damit gerechnet,<br />
dass Deutschland mindestens zwei bis drei Millionen Kriegsgefangene,<br />
davon bis zu zwei Millionen schon in den ersten sechs bis<br />
acht Kriegswochen, würde ernähren müssen. 1 Dieser Punkt ist ein<br />
äußerst wichtiger Faktor in der Frage nach den Ursachen für das<br />
Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen. Weder Versorgungs-<br />
noch Logistikprobleme der Wehrmacht waren Ursache des<br />
Massensterbens. Wissen die Herausgeber, dass ihre Behauptung<br />
falsch ist? Man würde schon annehmen, dass deren Kenntnisse auf<br />
diesem Feld so weit reichen. Dennoch wird für eine eindeutig falsche<br />
Behauptung auch eine zweckwidrige Quelle angeführt.<br />
Die Einleitung der Herausgeber bietet ansonsten einen kenntnisreichen<br />
Überblick über die internationale Forschung zum Thema.<br />
Leider bleiben aber in der Einleitung Hunger und Unterversorgung,<br />
die Hauptgründe für die extrem hohe Mortalität, unterbelichtet. Bei<br />
insgesamt 4<strong>08</strong> abgedruckten Dokumenten scheint der bewusste Verzicht<br />
auf »Ego-Dokumente über die Situation in Gefangenenlagern<br />
oder über die Behandlung nach der Heimkehr« (S. 69) fraglich.<br />
Somit kann die Auswahl der Dokumente kaum dem Anspruch des<br />
Klappentextes gerecht werden, die Opfer nicht »aus dem Blick zu<br />
verlieren«. Das mit Orts-, Personen- und Sachverweisen ausgestattete<br />
Register ist ungewöhnlich umfassend. Wegen der Fülle der<br />
abgedruckten Aktenstücke, wovon der Großteil zum ersten Mal<br />
veröffentlicht wird, ist das vorliegende Werk von gewisser Bedeutung<br />
für die Forschung.<br />
Alex J. Kay<br />
Frankfurt am Main<br />
1 Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen<br />
1941–1945, Bonn 1997 [1978], S. 76.<br />
<strong>Einsicht</strong> <strong>08</strong> Herbst 2012 67