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91<br />
Was ist geniales<br />
Klavierspiel?<br />
T e x t : J ü r g e n O t t e n<br />
I l l u s t r a t i o n : M a t h i s R e k o w s k i<br />
Immanuel Kant, weiland Bürger von Königsberg,<br />
wusste es. Wusste, was wahres Genie<br />
auszeichnet: „Genie“, so steht es im Paragraphen<br />
46 seines philosophischen Traktats<br />
„Die Kritik der Urteilskraft“, „Genie ist das<br />
Talent (Naturgabe), welches der Kunst die<br />
Regel gibt. Da das Talent, als angebornes<br />
produk tives Vermögen des Künstlers, selbst<br />
zur Natur gehört, so könnte man sich auch<br />
so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütslage<br />
(ingenium), durch welche die Natur<br />
der Kunst die Regel gibt.“<br />
Es kann wohl kein Zweifel daran bestehen,<br />
dass für künstle risches Genie eine gewisse<br />
Prädisposition unabdingbar ist, das also, was der Philosoph Kant<br />
die „angeborne Gemütslage“ nennt. Wäre dem nicht so, würde<br />
es – um ein triftiges Beispiel zu nennen – auf der Welt Tausende<br />
von Pianisten geben, deren Spiel die Zuhörerschaft in ihren<br />
Bann zöge. Da dies jedoch nicht der Fall ist, da es eben nur ein<br />
mächtiges Häuflein ist, das auf dem pia nistischen Olymp wohnt,<br />
zu dem wir hinaufblicken in großer Bewunderung, kommt man<br />
nicht umhin, nach Gründen für die Einzigartigkeit zu suchen.<br />
Unweigerlich landet man dabei in der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“,<br />
wie Walter Benjamin Paris einmal genannt hat, in<br />
jenem „paradis artificiel“, das die Wiege der großen Interpretationskunst<br />
beherbergt, und ist man zu Gast in jenen Salons, wo<br />
Frédéric Chopin und – schillernder noch – Franz Liszt das Auditorium<br />
betörten mit ihrem gleichermaßen poetischen wie virtuosen<br />
Spiel. In ihren Konzerten findet man den Urgrund für die<br />
Faszination, die von einem Pianisten ausgeht, der allein an einem<br />
schwarzen Monstrum sitzt und dieses zu bändigen versucht, bewehrt<br />
nur mit zehn zarten (oder weniger zarten) Fingern. Glaubt<br />
man den Zeitzeugen, waren es insbesondere zwei Faktoren, die<br />
für Ohnmachtsanfälle, plötzlich auftretende Verliebtheiten und<br />
wahre Begeisterungsorkane sorgten: zum einen die Aura des Pianisten<br />
selbst, in jenen Fällen die Aura Chopins und Liszts, sowie<br />
zum anderen die Fähigkeit des Interpreten, die Welt zum Stillstand<br />
zu bringen mit der Kunst des Erzählens.