Notizen aus dem Stadt-Archiv - Rüdesheim
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vor das Kreish<strong>aus</strong> in der Grabenstraße. Der Sicherheit wegen wurde der Zug von<br />
marokkanischen Spahis und französischen Gendarmen eskortiert. Vor <strong>dem</strong> Kreish<strong>aus</strong><br />
verkündete unser Bezirkskommissar mit gellender Stimme, daß er im Namen der „Rheinischen<br />
Republik” die Macht an sich gerissen habe. Er ließ die Türen des Kreish<strong>aus</strong>es aufbrechen und<br />
auf <strong>dem</strong> Dach die rot-weiß-grüne Separatistenfahne hissen. Das ging mangels ernsthaftem<br />
Widerstand hopp-hopp und schon um 13.00 Uhr wurde auch auf <strong>dem</strong> <strong>Rüdesheim</strong>er Rath<strong>aus</strong> die<br />
neue Fahne aufgezogen.<br />
Am Tage danach besetzten die Separatisten das <strong>Rüdesheim</strong>er Finanzamt an der Rheinstraße und<br />
richteten hier ihre Kommando-Zentrale ein. Jetzt begann der Herr Bezirkskommissar mit <strong>dem</strong><br />
Regieren: auf Plakaten ließ er die „Rheinische Autonomie des Rheingaues” <strong>aus</strong>rufen.<br />
Zugleich erließ er eine Flut von neuen Gesetzen und Bestimmungen, die er mit einem<br />
großmächtigen Dienststempel schmückte: Sämtliche Steuereinnahmen und Gemeindekassen<br />
wurden beschlagnahmt; alle unwilligen Beamten und Bürgermeister, ferner der Kreistag und<br />
Kreis<strong>aus</strong>chuß wurden entlassen, auch der <strong>Rüdesheim</strong>er <strong>Stadt</strong>rentmeister Josef Döhmer, der so<br />
hartnäckig die <strong>Stadt</strong>kasse verteidigt hatte. Alle Rheingauer Zeitungen wurden verboten, weil sie<br />
sich nicht einer Zensur unterzogen. Lebensmittelvorräte wurden zwangsbewirtschaftet. Jede<br />
Zuwiderhandlung würde p<strong>aus</strong>chal mit 1 Jahr Gefängnis und 100.000 Goldmark Strafe geahndet.<br />
Für die Rheingau-Gemeinden wurden separatistische Ortskommissare ernannt, die als<br />
„Verbindungsglieder” <strong>dem</strong> Bezirkskommissar jede verdächtige „Gegenaktion” zu melden hatten.<br />
Das Erheiternde bei diesen forschen Erlassen waren die vielen Schreibfehler, womit z.B. statt<br />
von „Gegenaktionen” von ”Gegen-Auktionen”, statt von „Verbindungsgliedern‘ von<br />
”Verbindungsliedern” die Rede war. So etwas minderte den Respekt der Bevölkerung, die<br />
erkannte, wes Geistes Kinder die neuen Machthaber waren.<br />
Am 25.10.1923 unternahm der Bezirkskommissar auf einem Lastauto, umringt von 20<br />
bewaffneten Trabanten einen Siegeszug durch den Rheingau und ließ in allen Ufergemeinden (in<br />
die trotzigen Höhendörfer wagte er sich nicht) die Separatistenfahnen hissen. Statt <strong>dem</strong><br />
befohlenen Hurrageschrei äußerten die Rheingauer nur mißbilligendes Kopfschütteln. Sie<br />
scheuten kein Risiko, um diese neuen Fahnen als „separatistische Schmachtfetzen” alsbald<br />
wieder abzureißen, zu verbrennen oder in den Rhein zu werfen. Der Bezirkskommissar ärgerte<br />
sich maßlos darüber, verhängte nächtliche Ausgangssperren und ließ die Fahnenräuber verhaften<br />
oder <strong>aus</strong>weisen. - Eines hatten die Separatisten nicht bedacht: daß Macht auch Geld kostet. Sie<br />
schrieben bald an Dr. Dorten Brandbriefe, daß sie die Leibgarde des Bezirkskommissars nicht<br />
mehr entlohnen könnten. Dorten versuchte, eine Wiesbadener Bank <strong>aus</strong>zuheben, was an <strong>dem</strong><br />
Widerstand der Bänker scheiterte. So verlegte er sich auf Straßenraub und ließ auf einsamer<br />
Landstraße einen Geldtransport mit 240 Billiarden Inflationsgeld überfallen. Da diese Beute bald<br />
entwertet war, verfielen die Separatisten auf den Druck von Assignaten, also Notgeldscheinen,<br />
die aber kein Geschäftsmann als Zahlungsmittel anerkannte.<br />
Die vollmundigen Versprechungen des separatistischen Regierungsprogramms ließen sich nicht<br />
einhalten. Vielmehr wären unser Bezirkskommissar und seine Leute längst verhungert, hätten die<br />
französischen Truppen ihnen nicht etwas Fleisch <strong>aus</strong> ihrer Fourage überlassen. Zum Zerteilen<br />
der Fleischstücke mußte ein Finanzamtsschreibtisch als Hackklotz herhalten. Ohnehin wurde<br />
das <strong>Rüdesheim</strong>er Finanzamt übel verwüstet. Die Gardinen wurden von den Fenstern gestohlen,<br />
der Kohlevorrat <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> Keller entwendet und selbst das teure Jagdgewehr des<br />
Bezirkskommissars wurde von seinen eigenen Leuten geklaut. Zwar hielt der Bezirkskommissär<br />
mit seinen Freunden noch bis Ende Januar 1924 im Finanzamt <strong>aus</strong>, doch die Öffentlichkeit<br />
nahm keine Notiz mehr von ihm, die martialischen Leibgardisten erschienen nicht mehr zum<br />
Dienst und selbst der französische Kreisdelegierte Armand ließ die Separatisten als Versager<br />
fallen.<br />
Am 4.2.1924 konnten die Finanzbeamten ihre verwüsteten Diensträume wieder beziehen. Dr.<br />
Dorten war längst nach Nizza geflohen, auch der Herr Bezirkskommissar verschwand über<br />
Nacht <strong>aus</strong> <strong>Rüdesheim</strong> und überließ seine Kumpanen <strong>dem</strong> zornigen Spott der Bevölkerung. Eine<br />
Groteske war zu Ende, doch schon wenige Jahre später folgte eine neue „Machtergreifung” mit<br />
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