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Notizen aus dem Stadt-Archiv - Rüdesheim

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<strong>Notizen</strong> <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> <strong>Stadt</strong>-<strong>Archiv</strong><br />

Beiträge zur <strong>Rüdesheim</strong>er <strong>Stadt</strong>geschichte,<br />

her<strong>aus</strong>gegeben von <strong>Stadt</strong>archivar Rolf Göttert<br />

©Alle Veröffentlichungsrechte sind <strong>dem</strong> <strong>Stadt</strong>-<strong>Archiv</strong> <strong>Rüdesheim</strong> am Rhein vorbehalten<br />

37.<br />

Vor 70 Jahren: Der Separatisten-Putsch in <strong>Rüdesheim</strong><br />

So einfach ist das mit der „Machtergreifung”: Man verbirgt seine eigenen Absichten hinter einer<br />

Partei oder selbsternannten Regierung; man gibt sich durch eine Uniform, eine Mütze oder<br />

wenigstens durch eine Armbinde ein dienstliches Aussehen; man duldet keine Widersprüche,<br />

sondern kommandiert in scharfem Ton und, - das ist ganz wesentlich, --man fuchtelt mit einem<br />

Revolver. So gelangt man mit schnellem Handstreich zu höchster Macht. Wie lange das dann gut<br />

geht, bleibt freilich eine Frage des politischen Geschicks. Diese Methode bewährt sich schon seit<br />

langem und wird auch heute noch in aller Welt geübt.<br />

Ein Schulbeispiel hierfür war der Separatisten-Putsch, der 1923/24 in <strong>Rüdesheim</strong> bizarre<br />

Ausmaße annahm. Doch wie war es überhaupt dazu gekommen? Das glücklose Ende des 1.<br />

Weltkrieges 1918 war zugleich das Ende des deutschen Kaiserreiches. Wirtschaftliche Not,<br />

Revolten und eine ohnmächtige Regierung in Berlin führten zu einem Chaos im Lande. Das<br />

Rheinland war von den Siegermächten besetzt, vom Reich abgeschnitten und der Willkür der<br />

Militärs <strong>aus</strong>geliefert. Schon 1919 meldeten sich Stimmen, das Rheinland vom preußischen Reich<br />

abzutrennen und zur eigenen Republik zu machen. Wer die eigentlichen Drahtzieher dieses<br />

„Separatismus” waren, ist bis heute ungeklärt. Jedenfalls zeigten Frankreich und Belgien für diese<br />

Bestrebungen großes Interesse, um damit eine Pufferzone an der Grenze nach Deutschland<br />

aufzubauen. Deshalb sicherte das französische Militär den Separatisten diskrete militärische<br />

Unterstützung zu.<br />

Einer der Separatistenführer, der Wiesbadener Staatsanwalt Dr. Hans Adam Dorten (1880-<br />

1963) gab sich nicht lange mit diplomatischen Vorverhandlungen ab, sondern preschte schon am<br />

1.6.1919 vor und besetzte das Wiesbadener Regierungspräsidium, um von hier <strong>aus</strong> eine<br />

„Rheinische Republik” <strong>aus</strong>zurufen. Doch sein Putschversuch scheiterte an <strong>dem</strong> energischen<br />

Widerstand einiger Regierungsbeamter. Dorten setzte seine Agitationen fort und suchte<br />

Unterstützung bei <strong>dem</strong> in Mainz residierenden französischen General Mangin. Als schließlich<br />

1923 die politischen Wirren mit der französischen Besetzung des Ruhrgebietes und der Inflation<br />

ihren Höhepunkt erreichten, sah Dr. Dorten erneut seine Stunde gekommen, ergriff am<br />

21.10.1923 in Wiesbaden die Macht und rief wiederum die „Rheinische Republik” <strong>aus</strong>.<br />

Drei Tage später war es auch in <strong>Rüdesheim</strong> soweit: Hier gab es eine Handvoll Dorten-Anhänger,<br />

kleine Geschäftsleute, die sich von einem Putsch einige Vorteile versprachen, um <strong>aus</strong> ihrem<br />

nichtssagenden, tristen Dasein zu schillernden politischen Rollen zu gelangen. Dabei fanden sie<br />

reichlich Unterstützung durch den französischen Kreisdelegierten Armand, der zuvor<br />

mögliche Gegner der Separatisten <strong>aus</strong>weisen ließ (allein in <strong>Rüdesheim</strong> über 400 Personen!). Der<br />

<strong>Rüdesheim</strong>er Separatisten-Führer, ein kleiner Weinhändler, den die <strong>Rüdesheim</strong>er treffend mit<br />

<strong>dem</strong> Spitznamen „Franzosenheimer” belegten, ernannte sich zum „Bezirkskommissar” und<br />

zog am 24.10.1923 gegen 12,30 Uhr an der Spitze von 60 bewaffneten Leuten (meist<br />

stadtbekannte Querulanten, Krakehler und Arbeitsscheue) über die <strong>Rüdesheim</strong>er Rheinstraße


vor das Kreish<strong>aus</strong> in der Grabenstraße. Der Sicherheit wegen wurde der Zug von<br />

marokkanischen Spahis und französischen Gendarmen eskortiert. Vor <strong>dem</strong> Kreish<strong>aus</strong><br />

verkündete unser Bezirkskommissar mit gellender Stimme, daß er im Namen der „Rheinischen<br />

Republik” die Macht an sich gerissen habe. Er ließ die Türen des Kreish<strong>aus</strong>es aufbrechen und<br />

auf <strong>dem</strong> Dach die rot-weiß-grüne Separatistenfahne hissen. Das ging mangels ernsthaftem<br />

Widerstand hopp-hopp und schon um 13.00 Uhr wurde auch auf <strong>dem</strong> <strong>Rüdesheim</strong>er Rath<strong>aus</strong> die<br />

neue Fahne aufgezogen.<br />

Am Tage danach besetzten die Separatisten das <strong>Rüdesheim</strong>er Finanzamt an der Rheinstraße und<br />

richteten hier ihre Kommando-Zentrale ein. Jetzt begann der Herr Bezirkskommissar mit <strong>dem</strong><br />

Regieren: auf Plakaten ließ er die „Rheinische Autonomie des Rheingaues” <strong>aus</strong>rufen.<br />

Zugleich erließ er eine Flut von neuen Gesetzen und Bestimmungen, die er mit einem<br />

großmächtigen Dienststempel schmückte: Sämtliche Steuereinnahmen und Gemeindekassen<br />

wurden beschlagnahmt; alle unwilligen Beamten und Bürgermeister, ferner der Kreistag und<br />

Kreis<strong>aus</strong>chuß wurden entlassen, auch der <strong>Rüdesheim</strong>er <strong>Stadt</strong>rentmeister Josef Döhmer, der so<br />

hartnäckig die <strong>Stadt</strong>kasse verteidigt hatte. Alle Rheingauer Zeitungen wurden verboten, weil sie<br />

sich nicht einer Zensur unterzogen. Lebensmittelvorräte wurden zwangsbewirtschaftet. Jede<br />

Zuwiderhandlung würde p<strong>aus</strong>chal mit 1 Jahr Gefängnis und 100.000 Goldmark Strafe geahndet.<br />

Für die Rheingau-Gemeinden wurden separatistische Ortskommissare ernannt, die als<br />

„Verbindungsglieder” <strong>dem</strong> Bezirkskommissar jede verdächtige „Gegenaktion” zu melden hatten.<br />

Das Erheiternde bei diesen forschen Erlassen waren die vielen Schreibfehler, womit z.B. statt<br />

von „Gegenaktionen” von ”Gegen-Auktionen”, statt von „Verbindungsgliedern‘ von<br />

”Verbindungsliedern” die Rede war. So etwas minderte den Respekt der Bevölkerung, die<br />

erkannte, wes Geistes Kinder die neuen Machthaber waren.<br />

Am 25.10.1923 unternahm der Bezirkskommissar auf einem Lastauto, umringt von 20<br />

bewaffneten Trabanten einen Siegeszug durch den Rheingau und ließ in allen Ufergemeinden (in<br />

die trotzigen Höhendörfer wagte er sich nicht) die Separatistenfahnen hissen. Statt <strong>dem</strong><br />

befohlenen Hurrageschrei äußerten die Rheingauer nur mißbilligendes Kopfschütteln. Sie<br />

scheuten kein Risiko, um diese neuen Fahnen als „separatistische Schmachtfetzen” alsbald<br />

wieder abzureißen, zu verbrennen oder in den Rhein zu werfen. Der Bezirkskommissar ärgerte<br />

sich maßlos darüber, verhängte nächtliche Ausgangssperren und ließ die Fahnenräuber verhaften<br />

oder <strong>aus</strong>weisen. - Eines hatten die Separatisten nicht bedacht: daß Macht auch Geld kostet. Sie<br />

schrieben bald an Dr. Dorten Brandbriefe, daß sie die Leibgarde des Bezirkskommissars nicht<br />

mehr entlohnen könnten. Dorten versuchte, eine Wiesbadener Bank <strong>aus</strong>zuheben, was an <strong>dem</strong><br />

Widerstand der Bänker scheiterte. So verlegte er sich auf Straßenraub und ließ auf einsamer<br />

Landstraße einen Geldtransport mit 240 Billiarden Inflationsgeld überfallen. Da diese Beute bald<br />

entwertet war, verfielen die Separatisten auf den Druck von Assignaten, also Notgeldscheinen,<br />

die aber kein Geschäftsmann als Zahlungsmittel anerkannte.<br />

Die vollmundigen Versprechungen des separatistischen Regierungsprogramms ließen sich nicht<br />

einhalten. Vielmehr wären unser Bezirkskommissar und seine Leute längst verhungert, hätten die<br />

französischen Truppen ihnen nicht etwas Fleisch <strong>aus</strong> ihrer Fourage überlassen. Zum Zerteilen<br />

der Fleischstücke mußte ein Finanzamtsschreibtisch als Hackklotz herhalten. Ohnehin wurde<br />

das <strong>Rüdesheim</strong>er Finanzamt übel verwüstet. Die Gardinen wurden von den Fenstern gestohlen,<br />

der Kohlevorrat <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> Keller entwendet und selbst das teure Jagdgewehr des<br />

Bezirkskommissars wurde von seinen eigenen Leuten geklaut. Zwar hielt der Bezirkskommissär<br />

mit seinen Freunden noch bis Ende Januar 1924 im Finanzamt <strong>aus</strong>, doch die Öffentlichkeit<br />

nahm keine Notiz mehr von ihm, die martialischen Leibgardisten erschienen nicht mehr zum<br />

Dienst und selbst der französische Kreisdelegierte Armand ließ die Separatisten als Versager<br />

fallen.<br />

Am 4.2.1924 konnten die Finanzbeamten ihre verwüsteten Diensträume wieder beziehen. Dr.<br />

Dorten war längst nach Nizza geflohen, auch der Herr Bezirkskommissar verschwand über<br />

Nacht <strong>aus</strong> <strong>Rüdesheim</strong> und überließ seine Kumpanen <strong>dem</strong> zornigen Spott der Bevölkerung. Eine<br />

Groteske war zu Ende, doch schon wenige Jahre später folgte eine neue „Machtergreifung” mit<br />

2


weit schlimmeren Folgen.<br />

Rolf Göttert<br />

3

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