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Die Ausstellung als Inkubator - Michael Guggenheim

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<strong>Die</strong> <strong>Ausstellung</strong> <strong>als</strong> <strong>Inkubator</strong><br />

Über Kunst und Ethnographie<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Guggenheim</strong>, Bernd Kräftner und Judith Kröll<br />

Kunst und Ethnographie gemeinsam zu praktizieren<br />

und zu produzieren hat eine lange<br />

Tradition, nicht zuletzt eine der Ignoranz. Sie<br />

ist dann zumeist, was schon ihre Einzelteile<br />

sind: individualistisch. Das Künstlersubjekt<br />

und der Ethnograph in der Südsee – sie sind<br />

obskure Figuren, deren Produkte einem Nebel<br />

der Genialität entspringen. <strong>Ausstellung</strong>en<br />

jedoch, die sich mit komplexen Gegenständen<br />

heutiger Technowissenschaft und komplexen<br />

Audiovisualisierungen beschäftigen, nehmen<br />

andere Produktionskontexte in Anspruch und<br />

sehen sich gezwungen, andere Gründungsgeschichten<br />

und Mythen zurechtzuschustern.<br />

Zum Beispiel die Inkubation.<br />

<strong>Die</strong> Inkubation ist ein soziotechnischer<br />

Prozess mit einer Tradition, die bis in die Antike<br />

zurückreicht. Inkubation bedeutet die Verschmelzung<br />

unterschiedlichster Interaktionen<br />

unter hohem Druck zu einer Befragung der Gesellschaft,<br />

exemplifiziert durch das inkubierte<br />

Objekt, d.h. den „Patienten“ oder „die <strong>Ausstellung</strong>“.<br />

Im Kontext einer ethnographischen<br />

<strong>Ausstellung</strong> der gegenwärtigen Wissensgesellschaft<br />

wird das <strong>Ausstellung</strong>smachen nun <strong>als</strong><br />

Inkubation vorstellbar, und das heißt <strong>als</strong> ein<br />

Prozess, dessen mystischer Anteil im Sinne einer<br />

ethnographischen Selbst-Abklärung nicht<br />

verleugnet, aber gerade deshalb thematisiert<br />

werden soll. <strong>Die</strong> <strong>Ausstellung</strong> selbst ist eine soziotechnische<br />

Vorrichtung, die unter Einspeisung<br />

von Interaktionen und Wissen einer großen<br />

Zahl sehr unterschiedlicher Aktanten 1 unter<br />

hohem sozialen und zeitlichen Druck Objekte<br />

und Interaktionen produziert. Damit ist auch<br />

gesagt, was eine solche <strong>Ausstellung</strong> nicht ist:<br />

Sie ist keine Aussage eines Künstlers/einer Ethnographin.<br />

<strong>Die</strong> Verneinung betrifft alle Wörter<br />

des Satzes. Keine Aussage, kein Einzelner,<br />

keine reine Künstlerin und kein reiner Ethno-<br />

graph. Ergo auch keine Methoden und Kompetenzen,<br />

die von Disziplinen verteidigt werden<br />

könnten. <strong>Die</strong> Inkubation im Kontext einer<br />

<strong>Ausstellung</strong> antwortet nur auf die Anfrage: Ist<br />

das, was inkubiert wurde, eine bessere Befragung<br />

unserer Gesellschaft <strong>als</strong> eine konkurrierende<br />

Aus- oder Darstellung?<br />

<strong>Die</strong> folgende Einführung in die Inkubatologie<br />

erfolgt dreiteilig und dreispaltig. In der<br />

ersten Spalte findet sich eine kurze Weltgeschichte<br />

der Inkubation <strong>als</strong> soziotechnische<br />

Vorrichtung. Sie dient dazu, geistes- und technikgeschichtliche<br />

Hintergründe der Inkubation<br />

besser verstehbar zu machen und sie ist<br />

zugleich eine Einführung in die Theorie der<br />

Inkubation und ihrer einzelnen Elemente. In<br />

den zwei Spalten daneben finden sich zwei<br />

Beispiele für Inkubationen im Kontext einer<br />

<strong>Ausstellung</strong>. Beide Beispiele liefern erste Skizzen<br />

und Anhaltspunkte, aber auch Schwierigkeiten<br />

von Inkubationen im Kontext von <strong>Ausstellung</strong>en.<br />

Das erste Beispiel ist das Projekt<br />

Büro für wissenschaftliches Strandgut. Researchers<br />

without Borders, ein Projekt mit und über<br />

Wissenschaftler/innen, die <strong>als</strong> Asylwerber/innen<br />

oder anerkannte Flüchtlinge in Österreich<br />

leben. Zweitens das Projekt Körper-Pflege &<br />

Seel-Sorge: Was ist ein Körper/eine Person?,<br />

ein ethnographisches Fresko über die Frage<br />

transdisziplinärer Entscheidungsfindung im<br />

Rahmen des Wachkoma-Syndroms. Beide Beispiele<br />

waren <strong>als</strong> Teilprojekte der <strong>Ausstellung</strong><br />

die wahr/f<strong>als</strong>ch inc. in Wien im Sommer 2006<br />

zu sehen. 2 <strong>Die</strong> <strong>Ausstellung</strong> bestand aus elf solcher<br />

Module, die alle im Stadtraum, entlang<br />

der U-Bahn Linie 1 verteilt waren. <strong>Die</strong> Module<br />

waren somit nicht nur den eigentlichen<br />

<strong>Ausstellung</strong>sbesucher/innen sondern auch<br />

einem zufällig vorbeikommenden Publikum<br />

ausgesetzt.<br />

151


Eine kurze Geschichte der<br />

Inkubation<br />

Wir skizzieren hier eine Geschichte, die<br />

die sukzessive Erfindung verschiedener<br />

Elemente einer Inkubation in den letzten<br />

2000 Jahren erzählt: <strong>Die</strong> Inkubation<br />

<strong>als</strong> Heilung, die Inkubation <strong>als</strong> Vorrichtung<br />

zur Erzeugung von Reaktionen unterschiedlichster<br />

Elemente unter hohem<br />

Druck und die Inkubation <strong>als</strong> Vorrichtung<br />

zur Verteilung von Verantwortlichkeiten<br />

für fragile Aktanten.<br />

1. <strong>Die</strong> Inkubation <strong>als</strong> Heilung<br />

Der erste Bestandteil einer Inkubation,<br />

und ihre ursprüngliche Bedeutung, ist ihre<br />

Funktion <strong>als</strong> Heilung. <strong>Die</strong> Inkubation <strong>als</strong><br />

Heilung ist eine ubiquitäre und sehr alte<br />

Technik mit medizinisch-religiösem Ursprung.<br />

Als Heilung beruht die Inkubation<br />

auf drei Elementen: Einem Patienten,<br />

einer Heilerin und einem <strong>Inkubator</strong>, üblicherweise<br />

ein Tempel. In der Antike geht<br />

der Kranke zur Inkubation, wenn andere,<br />

klassische Methoden versagen. „Der therapeutische<br />

Optimismus ist unbegrenzt und<br />

wird nie bestraft.“ 3 Inkubation ist demnach<br />

ein außergewöhnliches Verfahren,<br />

das dann zur Anwendung kommt, wenn<br />

bekannte Methoden versagen und das spezielle<br />

Techniken voraussetzt, die nicht mit<br />

den bekannten Lehren erklärt werden können.<br />

Der Kranke betritt einen Tempel, oder,<br />

wenn der Kranke nicht transportfähig ist,<br />

tut dies eine Stellvertreterin. Der Tempel,<br />

d.h. der <strong>Inkubator</strong>, ist eine spezielle Vorrichtung,<br />

die kultisch rein gehalten werden<br />

muss. Niederkommende Frauen und Moribunde<br />

werden deshalb abgewiesen. Inkubation<br />

erfordert ferner die Vorbereitung des<br />

Bitte umblättern<br />

Büro für wissenschaftliches Strandgut.<br />

Oder: Über die Verdichtung<br />

eines Phänomens durch Inkubation<br />

Als Inkubation kann man einen Prozess<br />

bezeichnen, der durch bewusste äußere<br />

(Druck-) Einwirkung neue Kreuzungspunkte<br />

und Verbindungen produziert, die<br />

zuvor gesellschaftlich unter der Wahrnehmungsschwelle<br />

existierten. Inkubation im<br />

<strong>Ausstellung</strong>skontext führt damit zu einer<br />

Verdichtung eines Phänomens und zu einer<br />

erhöhten (erwünschten) gesellschaftlichen<br />

Sichtbarkeit. Was bedeutet jedoch die öffentliche<br />

(Un-)Sichtbarkeit eines Phänomens,<br />

das sich gleichzeitig sozial sensitiv<br />

und individuell prekär verhält?<br />

Verdichtung eines Phänomens durch<br />

Inkubation in fünf Schritten im Kontext<br />

einer <strong>Ausstellung</strong>:<br />

1. Öffentlich nicht-existentes<br />

Phänomen<br />

Akademische Migration wird unter dem<br />

Schlagwort Brain Drain / Brain Drain öffentlich<br />

diskutiert bzw. <strong>als</strong> Ab- und Zuwanderung<br />

von intellektuellem Kapital<br />

thematisiert. Was passiert jedoch, wenn<br />

Fachkräfte zuwandern und von diesem<br />

Humankapital keine Notiz genommen<br />

wird?<br />

Akademisch Ausgebildete, auch mit<br />

einschlägigen Berufserfahrungen, verlassen<br />

ihre Länder nicht nur aus Karrieregründen,<br />

sondern auch weil sie flüchten<br />

müssen. In einem so genannten Aufnahmeland<br />

wie Österreich verschwinden sie<br />

dann in der allgemeinen Kategorie und<br />

Gruppe Asylwerber. <strong>Die</strong> mitgebrachten<br />

Qualifikationen und Berufserfahrungen<br />

Bitte umblättern<br />

152


<strong>Die</strong> Veröffentlichung eines Syndroms.<br />

Oder: Topografie des<br />

Möglichen. Was ist ein Körper/eine<br />

Person?<br />

<strong>Die</strong> Verschmelzung unterschiedlicher Interaktionen<br />

(unter hohem Druck) zu einer<br />

Befragung der Gesellschaft steht <strong>als</strong><br />

mögliches Resultat am Ende des soziotechnischen<br />

Prozesses der Inkubation.<br />

Doch was geschieht zu Beginn? Gibt es<br />

einen Anfang? Wie kann ein Syndrom inkubiert<br />

– „veröffentlicht“ – werden? Können<br />

wir eine Chronologie der Ereignisse<br />

formulieren?<br />

Eine Versuchsanordnung in vier<br />

(Prozess-)Stufen.<br />

1. Stufe<br />

Druck im Milieu ist vorhanden. Er wird<br />

durch Anwesenheit und Aufmerksamkeit<br />

erzeugt: durch Anwesenheit von Körpern/<br />

Personen, die manchmal <strong>als</strong> Danaergeschenk<br />

der Medizin bezeichnet werden, 13<br />

und durch Aufmerksamkeit von Medizinern,<br />

die bestimmte Zeichen, Merkmale<br />

und Symptome zu einem Syndrom kombinieren.<br />

<strong>Die</strong>ses „Geschenk“ wird deshalb<br />

<strong>als</strong> unheilvoll und schadensstiftend angesehen,<br />

weil es integraler Bestandteil der<br />

Erfolgsgeschichte von Notfall- und Intensivmedizin<br />

sowie der Fahrzeugsicherheitstechnik<br />

ist. 14<br />

Ein Syndrom, eine fragile dynamische<br />

Konfiguration aus Zeichen und Symptomen:<br />

Wir sehen Patient/innen, die sich<br />

weigern zu sterben und so an dem Syndrom<br />

teilnehmen/teilhaben. Sie liegen mit<br />

offenen Augen, zeigen einen Wach-Schlafzyklus,<br />

atmen. Sie reagieren auf ihre Um-<br />

Bitte umblättern<br />

Abb. 1<br />

153


Kurze Geschichte der Inkubation<br />

Büro für wissenschaftliches Strandgut<br />

zu Inkubierenden: Im Tempel wird der Patient<br />

zuerst gewaschen, damit die vom Körper<br />

kontaminierte Seele für den Verkehr<br />

mit dem heilenden Gott freigemacht wird.<br />

Dann folgt der entscheidende Schritt, die<br />

Inkubation: Der Patient schläft im Tempel<br />

(später in den Kirchen auf der Schwelle) und<br />

träumt. Entscheidend ist hierbei der richtige<br />

Traum. Inkubation kann nicht geplant werden,<br />

der richtige Traum, die richtige Inkubation<br />

zeigt sich erst nach dem Erwachen<br />

im Resultat. Ist der Patient geheilt, war der<br />

Traum richtig. Inkubation kann nicht wiederholt<br />

werden, sie ist immer ein einmaliges<br />

Ereignis. Ist sie fehlgeschlagen, gilt<br />

der Patient <strong>als</strong> unheilbar. <strong>Die</strong> Inkubation<br />

ist nicht ein Verhältnis zwischen Professionellen<br />

und Laien, bei denen die Professionellen<br />

mit ihrem überlegenen Wissen die<br />

Laien/Patienten heilen. Bei der Inkubation<br />

braucht es keine Traumdeuterin und keine<br />

Heilerin. Der Patient schreibt seinen Traum<br />

auf oder lässt ihn aufschreiben; das heißt, er<br />

agiert dokumentarisch in eigener Sache.<br />

<strong>Die</strong> Inkubation <strong>als</strong> Tempelschlaf stellt<br />

schon einige wichtige Elemente unserer<br />

Definition zur Verfügung: <strong>Die</strong> Spezifizität<br />

einer heilen und fragilen Vorrichtung,<br />

die in außergewöhnlichen Umständen<br />

zur Anwendung kommt, sowie der Verzicht<br />

auf herkömmliche Professionellen/<br />

Laien-Asymmetrien und das Dokumentationsgebot,<br />

das nicht aus Lehrbuchwissen<br />

entstammt, sondern das gleichsam eine<br />

Dokumentation des Inkubationsvorgangs<br />

selbst ist.<br />

2. Der <strong>Inkubator</strong> <strong>als</strong> Vorrichtung zur<br />

Druckerhöhung<br />

Der nächste Schritt in der Evolution des<br />

<strong>Inkubator</strong>s ist so trivial wie wichtig. 1675,<br />

Bitte umblättern<br />

spielen bis zum Zeitpunkt des Erwerbens<br />

eines Aufenthaltstitels <strong>als</strong> anerkannter<br />

Flüchtling keine Rolle. <strong>Die</strong>s kann Jahre<br />

dauern bis sie nach einer Zeit des verordneten<br />

Nichts-Tun-Dürfens <strong>als</strong> Arbeitnehmer/innen<br />

am Arbeitsmarkt wieder auftauchen.<br />

Inzwischen haben viele – neben<br />

dem Selbstvertrauen – den Kontakt zum<br />

eigenen Fachgebiet verloren und nehmen<br />

gezwungenermaßen irgendeinen Job an,<br />

um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In<br />

einer Studie über Migrant/innen in Österreich<br />

und deren Beschäftigung am österreichischen<br />

Arbeitsmarkt nennt man diesen<br />

Prozess Dequalifizierung 8 . In Bezug<br />

auf die Asylthematik fehlt es an Daten wie<br />

auch an öffentlicher Wahrnehmung, welche<br />

(akademischen) Qualifikationen und<br />

Berufserfahrungen die betroffenen Personen<br />

mitbringen und wie sich dies auf<br />

ihre Lebens- und Karriereverläufe in Österreich<br />

auswirkt. Das Phänomen Asylwerber/in<br />

mit akademischer Ausbildung<br />

existiert gesellschaftlich kaum und wird<br />

in der Öffentlichkeit höchstens <strong>als</strong> Einzelfall<br />

oder <strong>als</strong> Ausnahmegesehen. <strong>Die</strong>se<br />

Unsichtbarkeit hat unter anderem damit<br />

zu tun, dass das öffentliche Bild von<br />

Asylwerbern hauptsächlich negativ geprägt<br />

ist (Kriminelle, Drogendealer, ...)<br />

und sie <strong>als</strong> homogene Gruppe wahrgenommen<br />

werden. Das Milieu dieses Phänomens<br />

ist jedoch in sich explosiv, weil<br />

für die Betroffenen wenig Druckentlastung<br />

durch Eigeninitiative möglich ist.<br />

<strong>Die</strong> derzeitigen gesetzlichen und gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen bieten<br />

fast keine Möglichkeiten, die eigenen Qualifikationen<br />

und Erfahrungen aktiv umzusetzen,<br />

um sich den eigenen Lebensunterhalt<br />

zu verdienen und dem medial<br />

verbreiteten Bild des Almosenempfängers<br />

etwas entgegenzusetzen.<br />

Bitte umblättern<br />

154


Veröffentlichung eines Syndroms<br />

welt auf für uns nicht oder schwer verständliche<br />

Weise. Sie sind anwesend und<br />

wir betrachten sie aufmerksam. Droht der<br />

Tod? Oder droht das Leben? <strong>Die</strong> Prognose<br />

ist unsicher.<br />

Wo ist das Syndrom? Heutzutage ist<br />

das Syndrom leichter zu finden <strong>als</strong> noch<br />

vor 30 Jahren, <strong>als</strong> es gleichsam „verdünnt“<br />

zwischen anderen Syndromen versteckt<br />

war. Heute wird es Apallisches Syndrom,<br />

Wachkoma oder Vegetative State genannt<br />

und von spezialisierten Pflegeeinrichtungen,<br />

Monographien und Forschungsarbeiten<br />

beherbergt. In Statistiken ist das<br />

Syndrom noch nicht heimisch geworden:<br />

So stellt der Umstand, dass das Syndrom<br />

nicht in der ICD-10, der internationalen<br />

Klassifikation der Krankheiten, 15 zu<br />

finden ist, ein Hindernis dar, Häufigkeit<br />

und Auftreten zuverlässig zu quantifizieren.<br />

Das dynamische Verhältnis von Anwesenheit/Abwesenheit,<br />

Konzentration/<br />

Verdünnung, Fragilität/Stabilität stellt ein<br />

Reaktionsgemisch dar, das verschiedene<br />

und wechselnde Aktanten und Syndrome<br />

erzeugt.<br />

2. Stufe<br />

Wir folgen Aktanten, beobachten Praktiken<br />

und nehmen an Interaktionen und<br />

dem Syndrom teil. An „dem“ Syndrom<br />

oder an „den“ Syndromen? Wir neigen der<br />

Mehrzahl zu. Bei einem oberflächlichen<br />

Vergleich der englisch- und deutschsprachigen<br />

Literatur kann man feststellen, dass<br />

es zumindest zwei medizinische Versionen<br />

des Syndroms gibt: macht sich offensichtlicher<br />

Weise „das Bewusstsein“ in dem<br />

Syndrom bemerkbar, so hört es für die einen<br />

auf, das Syndrom zu sein, 16 während es<br />

Bitte umblättern<br />

Abb. 2<br />

155


Kurze Geschichte der Inkubation<br />

<strong>als</strong> sich die Wissenschaft gerade revolutioniert,<br />

geht ein junger französischer<br />

Arzt, der sich der Physik zugewandt hat,<br />

auf Empfehlung von Huygens ans Labor<br />

von Robert Boyle. 4 Dort erfindet er 1679<br />

einen digester, heute bekannt <strong>als</strong> Dampfdrucktopf.<br />

1682 schließlich wird ein philosophical<br />

supper an der Royal Society veranstaltet,<br />

bei der das ganze Menu in Papins<br />

Erfindung zubereitet wird. 5 Der Dampfdrucktopf<br />

ist eine Vorstufe zum modernen<br />

<strong>Inkubator</strong>, dessen zentrale Charakteristika<br />

vorweggenommen werden. Der <strong>Inkubator</strong><br />

stellt in einem geschlossenen und kontrollierten<br />

Raum einen hohen Druck her, hier<br />

nur physikalisch, später dann auch sozial.<br />

Zweitens beschleunigt er die ablaufenden<br />

(physikalischen) Prozesse. Und drittens<br />

dient er, gerade in der Form von Papin,<br />

<strong>als</strong> Weichmacher (von Knochen). <strong>Die</strong> Inkubation<br />

<strong>als</strong> <strong>Ausstellung</strong>smethode beruht<br />

wesentlich auf diesen Elementen, denn sie<br />

vollzieht nicht einfach realweltliche Prozesse,<br />

sondern sie verdichtet sie und macht<br />

sie weich und gelatinös, damit verhärtete<br />

Strukturen sichtbar werden.<br />

3. Der <strong>Inkubator</strong> <strong>als</strong> Vorrichtung zur<br />

Pflege und Verantwortungsverteilung<br />

fragiler Aktanten<br />

Der letzte Schritt in der Entwicklung der<br />

Inkubation findet zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

statt und beruht auf einer neuen<br />

Verantwortungsverteilung zur Sorge fragiler<br />

Aktanten. 1880 lässt sich Stéphane<br />

Tarnier vom Mechaniker des Pariser Zoos,<br />

nachdem er dort die Hühner-<strong>Inkubator</strong>en<br />

sieht, ein ähnliches Gerät bauen: 6 Eine<br />

Kiste für frühgeborene Babys, mit heißen<br />

Wasserflaschen erwärmt und mittels<br />

Konvektion belüftet. Der Baby-Inkuba-<br />

Bitte umblättern<br />

Büro für wissenschaftliches Strandgut<br />

2. Ein Phänomen sichtbar machen /<br />

„inkarnieren“<br />

Auf welche Weise kann man diesen unsichtbaren<br />

Teil akademischer Migration in<br />

einer (Wissenschafts-)<strong>Ausstellung</strong> thematisieren<br />

und die nicht-existente Verknüpfung<br />

zwischen Asylstatus und nicht genützten<br />

Potenzialen sichtbar machen und<br />

gleichzeitig performieren? Wir wählten<br />

ein real-world-Experiment im Vorfeld<br />

der <strong>Ausstellung</strong>: Personen mit dem Profil<br />

Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus und akademische<br />

Ausbildung sollten mit (ihren)<br />

österreichischen Fachkolleg/innen zusammengebracht<br />

und ihnen sollten Praktika<br />

vermittelt werden. Bereits die Suche nach<br />

solchen Personen ist nicht trivial: auch entsprechende<br />

Hilfsorganisationen besitzen<br />

keine Daten über die Ausbildungen ihrer<br />

Klient/innen. Dem aus dieser Suche<br />

resultierenden bunten Gemisch aus Personen<br />

werden Methoden ethnographischer<br />

Feldforschung – was heißt es <strong>als</strong> Akademiker/in<br />

mit Asyl- oder Flüchtlingsstatus in<br />

Österreich zu leben? – und ihm wird soziales<br />

Engagement hinzugefügt: Interviews,<br />

Analyse der jeweiligen individuellen Situation,<br />

Kontaktaufnahme mit Organisationen,<br />

Moderation eines zweiwöchig<br />

stattfindenden Workshops, informelle Beratungstätigkeiten<br />

in Bezug auf alle möglichen<br />

Lebensfragen.<br />

3. Sozial-interne „Klebearbeit“<br />

Zur Gruppe der Asylwerber/innen /<br />

Flüchtlinge und Akademiker/innen in Österreich<br />

zu gehören, ist nicht unbedingt ein<br />

per se identitätsstiftendes Merkmal. Demnach<br />

bestand unsere Arbeit darin, existierende<br />

„Einzelfälle“ zusammenzubringen,<br />

Bitte umblättern<br />

156


Veröffentlichung eines Syndroms<br />

für die anderen 17 in eine Remissionsphase<br />

tritt. Das eine Syndrom – persistent vegetative<br />

state – deutet auf ein Endstadium hin<br />

(der Tod droht), das andere – apallische –<br />

Syndrom ist ein Übergangsstadium (das<br />

Leben winkt). An diese „Versionen“ des<br />

Syndroms können sich unterschiedliche<br />

klinische therapeutische und rehabilitative<br />

Praktiken anschließen.<br />

<strong>Die</strong>se heterogene Mischung aus Interaktionen,<br />

Praktiken und Aktivitäten 18<br />

bringen das Syndrom hervor. Neben den<br />

medizinischen Versionen lernen wir noch<br />

andere Versionen kennen: Versionen der<br />

Pflege und der Pflegeforschung, außerdem<br />

eine seltene „extramurale“ Version,<br />

die zeigt, was es bedeuten kann, an diesem<br />

Syndrom ganz privat und außerhalb<br />

der professionellen Pflege- und Rehabilitationseinrichtungen<br />

teilzunehmen, die Angehörigen-Version,<br />

ökonomische, administrative,<br />

moralische-ethische und mediale<br />

Versionen. Wie unterscheiden sich die Versionen<br />

und was verbindet sie?<br />

Was ein Symptom oder ein Merkmal<br />

ist, was ein Zeichen oder Signal zum Handeln,<br />

zur Hoffnung oder zur Verzweiflung<br />

– dies hängt maßgeblich von der jeweiligen<br />

Anteilnahme am Syndrom ab.<br />

<strong>Die</strong> Unterschiede drücken sich in verschiedenen<br />

Raumzeitgefügen 19 aus, je nachdem<br />

wie begrenzt, lokal, verteilt, linear, progressiv,<br />

periodisch, schicksalhaft die Versionen<br />

„er-lebt“ werden.<br />

Verbindungen: Sie sind durch die Anwesenheit,<br />

Aufmerksamkeit und Anteilnahme<br />

von Aktanten gegeben.<br />

3. Stufe<br />

Auch wir sind anwesend. In einem Gebäude,<br />

in dem Patient/innen, Thera- Abb. 3<br />

Bitte umblättern<br />

157


Kurze Geschichte der Inkubation<br />

Büro für wissenschaftliches Strandgut<br />

tor interessiert uns hier jedoch nicht wegen<br />

technischer Details, sondern <strong>als</strong> eine<br />

komplexe soziotechnische Installation:<br />

Der Erfolg des <strong>Inkubator</strong>s in Frankreich<br />

Ende des 19. Jahrhunderts stand in Zusammenhang<br />

mit der bevölkerungspolitischen<br />

Diskussion: Frankreich erlitt gegenüber<br />

Deutschland einen starken Bevölkerungsrückgang,<br />

und die Eliten taten alles, um<br />

die „Entvölkerung“ aufzuhalten und der<br />

<strong>Inkubator</strong> war eines der Mittel dazu. Allerdings<br />

zeigte sich bald ein Problem: Der<br />

Einsatz der <strong>Inkubator</strong>en führte dazu, dass<br />

sich die Mütter nicht mehr um ihre Kinder<br />

kümmerten. Der <strong>Inkubator</strong> erwies sich<br />

<strong>als</strong> eine Installation, die der medizinischen<br />

Profession Kontrolle über die Babys verschaffte,<br />

die so weit ging, dass die eigentlichen<br />

„Besitzerinnen“ der Kinder, die<br />

Mütter, nicht wiederkehrten. Pierre Constant<br />

Budin erfand deshalb einen Glas-<strong>Inkubator</strong>,<br />

damit die Mütter im Krankenhaus<br />

nicht von ihren Kindern getrennt<br />

sind, sondern sie beobachten können. Damit<br />

ist ein weiteres zentrales Element einer<br />

Inkubation benannt: <strong>Die</strong> Inkubation<br />

muss eine heikle Balance zwischen Nähe<br />

und Ferne, zwischen Distanz und Berührung,<br />

zwischen wissender Professionalität<br />

und technischer Raffinesse herstellen. <strong>Die</strong><br />

Inkubation ist ein Prozess, bei dem diese<br />

Elemente durcheinander geraten und neu<br />

verteilt werden.<br />

<strong>Die</strong> Weiterentwicklung des <strong>Inkubator</strong>s<br />

Ende des 19. Jahrhunderts war techno-euphorisch:<br />

Sie bestand in einer Vorrichtung,<br />

die nun mit einem Thermostat versehen<br />

war und über elektrische Ventilation verfügte.<br />

Sie war teuer, und die erste Finanzierungsidee<br />

von Alexandre Lion, ihrem<br />

Erfinder, bestand darin, den <strong>Inkubator</strong> in<br />

ein Schaufenster zu stellen und von den<br />

Zuschauer/innen 50 Centimes zu verlan-<br />

Bitte umblättern<br />

Raum und die Gelegenheit zum Austausch<br />

und genügend Anreize zu schaffen, an diesem<br />

Prozess weiterhin teilzunehmen (zur<br />

Verfügungsstellung eines Büroraumes<br />

mit Internetzugang, Deutschkonversation,<br />

etc.). Wesentlich war aus unserer<br />

Sicht, dass wir einen Quer-Einstieg in die<br />

Flüchtlingsthematik wählten. <strong>Die</strong> Beteiligten<br />

wurden von uns nicht in Bezug auf ihren<br />

Asyl- oder Flüchtlingsstatus adressiert,<br />

sondern <strong>als</strong> Vertreter/innen einer Disziplin<br />

im Zusammenhang mit ihrer gesamten<br />

(Berufs-)Biographie. <strong>Die</strong> heterogene Zusammensetzung<br />

der Gruppe (Sprache, Disziplin,<br />

Herkunft) beanspruchte weit mehr<br />

Übersetzungsarbeit sprachlicher und kultureller<br />

Natur, <strong>als</strong> von uns erwartet. Außerdem<br />

überschätzten wir die Eigendynamik<br />

in der Gruppe und unterschätzten<br />

die Energie-intensive Betreuungsarbeit,<br />

die für eine Kohäsion im inkubierten Bereich<br />

notwendig ist.<br />

4. Ver-öffentlichung eines Phänomens<br />

In unserem Falle bedeutet die Ver-öffentlichung<br />

ein im Vorfeld der <strong>Ausstellung</strong><br />

initiiertes Projekt in unser <strong>Ausstellung</strong>s-<br />

Setting zu transferieren, das aus elf verschiedenen<br />

in der Stadt verstreuten Modulen<br />

bestand. Wie stellt man nun den<br />

Prozess eines Projektes dar, der eher aus<br />

heterogenen Einzelerfahrungen <strong>als</strong> einer<br />

„großen“ Geschichte besteht? Wie und<br />

wer sollte letztendlich diese „Ver-öffentlichung“<br />

eines Themas gestalten, das von<br />

uns ganz bewusst gemeinsam mit Betroffenen<br />

bearbeiten worden war? 9<br />

Das Büro für wissenschaftliches Strandgut<br />

in einem Container zwischen Karlskirche<br />

und TU-Wien am Karlsplatz in der<br />

Innenstadt war dann weniger eine Ausstel-<br />

Bitte umblättern<br />

158


Veröffentlichung eines Syndroms<br />

peut/innen, Pflegepersonen, Angehörige,<br />

Sachwalter/innen, Artefakte, Daten versammelt<br />

sind, um (An)teil zu nehmen an<br />

dem Syndrom. Wie „vermischen“ wir unsere<br />

eigenen Aktivitäten im Sinne einer Anteilnahme<br />

an dem Syndrom und weniger<br />

im Sinne eines Kommentars in diesen Kanon<br />

der Versionen? Wie können wir eine<br />

Version des Syndroms „veröffentlichen“?<br />

Wir entwerfen eine Pinwand – im weitesten<br />

Sinne. Wir sammeln Material aus<br />

den verschiedenen Versionen: Geschichten<br />

in Form von (Feld-)Notizen, Krankengeschichten,<br />

Formularen, wissenschaftlichen<br />

Artikeln, Medienberichten, offizieller<br />

Korrespondenz, Dokumentationen<br />

von Zwischenfällen etc. Wir produzieren<br />

audiovisuelle Materialien für die Selbstdarstellung<br />

von Versionen (Pflege, Angehörige,<br />

etc.) und für unsere eigene Veröffentlichung.<br />

Wir machen Fotos, Skizzen<br />

und Zeichnungen. Wir drehen Videos.<br />

<strong>Die</strong> Versammlung von Materialien auf<br />

einer Pinwand folgt einer Logik der (zufälligen)<br />

Juxtaposition, der Gleichzeitigkeit,<br />

der Nähe und Ferne, der Äquivalenz,<br />

und der Mannigfaltigkeit. <strong>Die</strong> Materialien<br />

sind nicht zwingend Teil eines größeren<br />

Ganzen; sie müssen nicht zur selben Narration<br />

gehören. 20<br />

Wir gestalten unsere Version des Syndroms.<br />

Wir sind weiterhin anwesend<br />

und stellen unsere Version zur Disposition:<br />

was dürfen und sollen wir überhaupt<br />

„veröffentlichen“?<br />

Kann, soll oder muss Diskretion gewahrt<br />

werden? Kann dies auch – oder gerade<br />

– in ästhetischer Hinsicht unter Bedingungen<br />

geschehen, die nicht einschränken,<br />

sondern im Gegenteil, unerwartete Resultate,<br />

die nicht plan- und steuerbar sind,<br />

hervorbringen? Wir versuchen es.<br />

Bitte umblättern<br />

Abb. 4<br />

159


Kurze Geschichte der Inkubation<br />

Büro für wissenschaftliches Strandgut<br />

gen. <strong>Die</strong>se Idee erwies sich <strong>als</strong> dermaßen<br />

erfolgreich, dass bald überall <strong>Inkubator</strong>en-<br />

<strong>Ausstellung</strong>en aus dem Boden schossen: 7<br />

Auf der Berliner Gewerbeausstellung von<br />

1896 gab es eine „Kinderbrutanstalt“ und<br />

kurz danach machte Martin Couney ähnliche<br />

<strong>Ausstellung</strong>en in den USA populär,<br />

inklusiver einer fest Installierten in Coney<br />

Island (N.Y.), die bis in die frühen<br />

1940er Jahre bestehen blieb. <strong>Die</strong> <strong>Inkubator</strong>en<br />

auf den großen <strong>Ausstellung</strong>en befanden<br />

sich meistens nicht in den Sektoren mit<br />

den wissenschaftlichen Exponaten, sondern<br />

neben den anderen ethnographischen<br />

Exponaten – den „Neger- und Indianer-<br />

Dörfern“ und den Freakshows. Hiermit<br />

ist das letzte Element einer Inkubation<br />

benannt: die Veröffentlichung wissenschaftlicher<br />

oder anderer Themen in unpassenden<br />

Kontexten. <strong>Die</strong>se Kontexte bestechen<br />

durch ihre Fremdheit – und zwar<br />

auf eine Weise, dass die Fremdheit in alle<br />

Richtungen gleichmäßig verteilt ist. Es ist<br />

unklar, wer wen <strong>als</strong> fremd beobachtet. Für<br />

die Wissenschaft ist dies prekär, und die<br />

<strong>Inkubator</strong>enschauen wurden vom wissenschaftlichen<br />

Establishment zeitweise<br />

bekämpft. Aber sie produzieren Neugier<br />

und erhöhen die Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher<br />

Interaktionen, zwischen<br />

Babys, Eltern, Krankenschwestern, Zuschauer/innen<br />

und Mediziner/innen.<br />

Anmerkungen<br />

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1<br />

Ein Aktant ist „a list of answers to tri<strong>als</strong> –<br />

a list which, once stabilized, is hooked to a<br />

name of a thing and a substance. This substance<br />

acts as a subject to all the predicates<br />

– in other words, it is made the origin of actions“.<br />

Bruno Latour: Technology is Society<br />

Made Durable, in: John Law (ed.): A Sociollung<br />

<strong>als</strong> eine Installation im öffentlichen<br />

Raum <strong>als</strong> politisches Statement: ein Ort<br />

zur Präsentation von Qualifikationen und<br />

Berufserfahrungen, die in der gesellschaftlichen<br />

Diskussion keine Rolle spielen. Da<br />

es nicht unbedingt <strong>als</strong> <strong>Ausstellung</strong> konzipiert,<br />

sondern das öffentliche Resultat<br />

eines Prozess mit den Teilnehmer/innen<br />

am Projekt sein sollte, wurde auf Ästhetisierung<br />

oder gestalterische Homogenisierung<br />

von Seiten der <strong>Ausstellung</strong>smacher/innen<br />

verzichtet. 10<br />

<strong>Die</strong> Diskussion über Anonymität in<br />

der <strong>Ausstellung</strong> und in Medienberichten<br />

spiegelt die Angst vor der öffentlichen<br />

Sichtbarkeit wider – Einzelpersonen befinden<br />

sich in einer mitunter sehr prekären<br />

Situation, weil neben bereits erfahrener<br />

Fluchtgeschichte auch die Zukunft<br />

an einer Entscheidung hängt, auf die sie<br />

u.a. mehrere Jahre warten. <strong>Die</strong> Entscheidung<br />

in der <strong>Ausstellung</strong> auf jegliche Namensnennung<br />

und auch identifizierbare<br />

Informationen zu verzichten, resultierte<br />

aus dieser Unsicherheit heraus. Es sollte<br />

auf das Phänomen des Flüchtlingsdasein<br />

und der trotz hoher Qualifikationen und<br />

Berufserfahrung erfahrenen Dequalifizierung<br />

hingewiesen werden. Keine Einzelschicks<strong>als</strong>darstellung,<br />

nur einzelne Zertifikate<br />

von Universitätsabschlüssen aus<br />

verschiedenen Ländern (siehe Abb.) an den<br />

Wänden stellten Spuren dieser Qualifikationen<br />

dar.<br />

5. Nachhaltige Wahrnehmung des<br />

Phänomens?<br />

Obwohl wir in der <strong>Ausstellung</strong> die Darstellung<br />

von „Einzelfällen“ bewusst vermieden<br />

haben, konzentrierte sich das Medieninteresse<br />

auf Portraitdarstellungen.<br />

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160


Veröffentlichung eines Syndroms<br />

Wir tasten uns mit unserer Version an<br />

Grenzen der Darstellbarkeit, die für eine<br />

Mehrheit der am Syndrom Beteiligten akzeptabel<br />

ist. Es handelt sich um eine Diskretion,<br />

in der sich das Unterscheiden<br />

(discernere) <strong>als</strong> Aspekt des Forschens und<br />

Beobachtens mit der Alltagsbedeutung im<br />

Sinne von Verschwiegenheit und Vertraulichkeit<br />

trifft. Wo einem die (klösterliche)<br />

„discretio“ begegnet – nämlich das „rechte<br />

Maß“ und die Kunst zwischen dem Zuviel<br />

und Zuwenig zu unterscheiden – dem zuviel<br />

Zeigen/Darstellen und dem zuwenig<br />

Zeigen/Darstellen. <strong>Die</strong>s kann jedoch nur<br />

unter Bedingungen der Interaktion unter<br />

Anwesenden gefunden werden. Manchmal<br />

überschreiten wir die Grenze ein wenig<br />

– meist dann, wenn wir der Meinung<br />

sind, dass wir es unserer Anteilnahme an<br />

dem Syndrom schuldig sind.<br />

4. Stufe<br />

Stufe 4 des soziotechnischen Prozesses besteht<br />

in der Verschmelzung dieser Interaktionen<br />

zu einem (fragilen) Objekt – unserer<br />

Version des Syndroms. <strong>Die</strong> Konstruktion<br />

dieses Objekts versucht die Logik des Pinboards<br />

zu bewahren und dessen traditionelle<br />

Form zu erweitern. Das Objekt <strong>als</strong><br />

rundum begehbare Installation in Form einer<br />

gefalteten Doppelmembran wird nun<br />

<strong>als</strong> Instrumentarium und Erweiterung<br />

dem ursprünglichen Ort der Inkubation<br />

einverleibt: dem Tempel. In unserem Fall<br />

handelt es sich um eine katholische Kirche,<br />

die es ermöglichen soll, dass in unwahrscheinlichen<br />

Begegnungen und Interaktionen<br />

jenseits eines Experten-Laien<br />

Dispositivs sich diejenigen, die an dem<br />

Syndrom regen Anteil nehmen (inklusive<br />

Patient/innen) sich mit jenen vermischen, Abb. 5<br />

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161


Kurze Geschichte der Inkubation<br />

Büro für wissenschaftliches Strandgut<br />

ogy of Monsters. Essays on Power, Technology<br />

and Domination. London: Routledge,<br />

1991, 103-131, 122.<br />

2<br />

<strong>Die</strong> <strong>Ausstellung</strong> wurde von Innovatives Österreich<br />

finanziert und von den Autor/innen<br />

sowie Alexander Martos kuratiert. Sie fand<br />

vom 2. Juni bis zum 15. Juli 2006 statt. Siehe<br />

auch: www.wahrf<strong>als</strong>ch.com.<br />

3<br />

Carl Alfred Meier: Antike Inkubation und<br />

moderne Psychotherapie. Mit einem Geleitwort<br />

von C. G. Jung. Zürich: Rascher, 1949,<br />

59.<br />

4<br />

Thomas S. Kuhn: Mathematical vs. Experimental<br />

Traditions in the Development of<br />

Physical Science, in: Journal of Interdisciplinary<br />

History 7. Jg., Heft 1, 1976, 1-31.<br />

5<br />

H. W. Robinson: Denis Papin (1647-1712),<br />

in: Notes and Records of the Royal Society<br />

of London 5. Jg., Heft 1, 1947, 47-50.<br />

6<br />

Jeffrey P. Baker: The Incubator Controversy:<br />

Pediatricians and the Origins of Premature<br />

Infant Technology in the United<br />

States, 1890 to 1910, in: Pediatrics 87. Jg.,<br />

Heft 5, 1991, 654-662 und Jeffrey P. Baker:<br />

The Incubator and the Medical Discovery of<br />

the Premature Infant, in: Journal of Perinatology<br />

5. Jg., 2000, 321-328.<br />

7<br />

William A. Silverman: Incubator-Baby Side<br />

Shows, in: Pediatrics 64. Jg., Heft 2, 1979,<br />

217-141.<br />

Solche medialen Portraits führten mitunter<br />

zu individuellen Erfolgsgeschichten. 11<br />

Letztlich diente das <strong>Ausstellung</strong>sprojekt<br />

<strong>als</strong> Vehikel für ein politisches Projekt,<br />

nämlich der Gründung des Vereines Forscher/innen<br />

ohne Grenzen, das sich medial<br />

sehr gut <strong>als</strong> Botschafter für dieses Phänomen<br />

einsetzen ließ. Der Verein ist in dieser<br />

Hinsicht zur Anlaufstelle für Betroffene<br />

geworden. 12<br />

Anmerkungen<br />

8<br />

Demnach sind Personen mit Migrationshintergrund<br />

zu 44% in einer im Vergleich zu<br />

ihrer Ausbildung minder-qualifizierten Arbeit<br />

tätig. August Gächter: Qualifizierte Einwanderinnen<br />

und Einwanderer in Österreich<br />

und ihre berufliche Stellung. ZSI Discussion<br />

Paper 2006, http://www.zsi.at/de/team/79.<br />

html „Vollbericht, Version Juli 2006“ (Zugriff<br />

26. März 2007).<br />

9<br />

So besteht der Katalogbeitrag zu diesem Modul<br />

aus verschiedenen Texten der Projektteilnehmer/innen.<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Guggenheim</strong> et<br />

al (Hg.): <strong>Die</strong> wahr/f<strong>als</strong>ch inc. Eine Wissenschaftsausstellung<br />

in der Stadt. Wien: Facultas,<br />

2006.<br />

10<br />

Wie bei den anderen (<strong>Ausstellung</strong>s-)Modulen<br />

gab es eine Modulbegleitung: die Besucher/innen<br />

konnten sich in einem direkten<br />

Gespräch mit dem Thema/Phänomen<br />

auseinandersetzen.<br />

11<br />

Aufgrund eines Medienberichtes (Uwe<br />

Mauch: Verkehrte Welt: Vom Millionär zum<br />

Tellerwäscher, in: Kurier 19. Juli 2006) bekam<br />

ein Projektteilnehmer später einen Job<br />

bei einer internationalen Firma.<br />

12<br />

www. researcherswithoutborders.at (Zugriff:<br />

30.6.2007).<br />

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162


Veröffentlichung eines Syndroms<br />

die dies in der Regel nicht tun, und dass<br />

hier der richtige Traum zu einer Heilung<br />

führt. Zu einer Heilung von der Krankheit,<br />

die einen Glauben macht, dass der Wissenschaft<br />

die Verantwortung der Politik auf<br />

die Schultern gelegt werden könnte. 21<br />

Anmerkungen<br />

13<br />

Franz Gerstenbrand: Das traumatische apallische<br />

Syndrom. Wien, New York: Springer,<br />

1967, IV.<br />

14<br />

Johann Donis, Anita Steinbach: Langzeitbetreuung<br />

Wachkoma. Wien, New York:<br />

Springer, 2004, 10.<br />

15<br />

Bryan Jennett: The Vegetative State. Cambridge<br />

UP, 2002, 33.<br />

16<br />

Bryan Jennett, Fred Plum: Persistent vegetative<br />

state after brain damage: a syndrome in<br />

search of a name, in: Lancet. Apr 1, 1972, 1<br />

(7753):734-7, 735.<br />

17<br />

Gerstenbrand, 1967, 50.<br />

18<br />

Annemarie Mol: The Body Multiple: Ontology<br />

in Medical Practice. Durham, London:<br />

Duke UP, 2002, 31.<br />

19<br />

John Law: Foot and Mouth Disease, UK,<br />

2001. High Energy Events and their Representation.<br />

Paper at EASST Conference,<br />

Lausanne, August 2006.<br />

20<br />

John Law: Aircraft stories. Decentering the<br />

object in technoscience. Durham, London:<br />

Duke UP, 2002, 190.<br />

21<br />

<strong>Die</strong> eben beschriebene Installation der<br />

Gruppe XPERIMENT! wurde im Rahmen<br />

der Wissenschaftsausstellung die wahr/<br />

f<strong>als</strong>ch inc., Wien, 2006 in einer Kirche gezeigt<br />

(siehe Abbildungen). Zuvor wurde<br />

die Arbeit in den <strong>Ausstellung</strong>en Making<br />

Things Public, Zentrum für Kunst und Medien<br />

(ZKM),Karlsruhe 2005, und Art that<br />

works beim 46. Oktober Salon, Belgrad<br />

2005, präsentiert.<br />

Abbildungen<br />

Abb. 1: „Topographie des Möglichen. Was ist<br />

ein Körper / eine Person?“, Blick von oben,<br />

Wien, 2006 (Foto: Florian Kloss, 2006)<br />

Abb. 2: „Topographie des Möglichen. Was<br />

ist ein Körper / eine Person?“, Detailansicht,<br />

Wien, 2006<br />

Abb. 3: „Topographie des Möglichen. Was<br />

ist ein Körper / eine Person?“, Detailansicht,<br />

Wien, 2006 (Foto: Florian Kloss, 2006)<br />

Abb. 4: „Büro für wissenschaftliches Strandgut“,<br />

<strong>Ausstellung</strong>scontainer, Wien 2006 (Foto:<br />

Bernd Kräftner)<br />

Abb. 5: „Büro für wissenschaftliches Strandgut“,<br />

Diplome und Ausbildungszertifikate<br />

(Foto: Collage / Judith Kröll)<br />

163

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