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Umweltethik und naturschutzfachliche Praxis. Mit einer ethischen ...

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Schwerpunkt: <strong>Umweltethik</strong><br />

<strong>Umweltethik</strong> <strong>und</strong> <strong>naturschutzfachliche</strong> <strong>Praxis</strong><br />

<strong>Mit</strong> <strong>einer</strong> <strong>ethischen</strong> Analyse am Beispiel „Prozessschutz“<br />

Ethische Fragen <strong>und</strong> Entscheidungen sind in jeder Handlung angelegt. Ähnlich wie Medizinethik <strong>und</strong><br />

Wirtschaftsethik in ihren jeweiligen <strong>Praxis</strong>feldern hilft die <strong>Umweltethik</strong> dabei, diese Fragen in unserem<br />

Umgang mit der Natur zu benennen. Und ähnlich wie in anderen <strong>Praxis</strong>feldern muss sich auch<br />

derjenige, der sich ausschließlich als Naturwissenschaftler oder umsetzender Praktiker versteht, den<br />

<strong>ethischen</strong> Implikationen s<strong>einer</strong> Tätigkeit stellen – die letztlich tief in die Philosophie führen.<br />

Von Philipp P. Thapa, Greifswald<br />

V<br />

or wenigen Jahren wohnte<br />

ich dem Vortrag eines Ökologen<br />

<strong>und</strong> berufsmäßigen Naturschützers<br />

bei, der erfolgreich dabei<br />

mitgewirkt hatte, süddeutsche<br />

Ackerflächen in arten- <strong>und</strong> blütenreiche<br />

Magerrasen zu verwandeln.<br />

Er zeigte Bilder, auf denen so ein<br />

zukünftiges Rote-Liste-Biotop als<br />

Baustelle zu sehen war: Der Boden<br />

war auf der ganzen Fläche bis in<br />

mehrere Dezimeter Tiefe entfernt<br />

worden. Später füllten die <strong>Mit</strong>arbeiter<br />

nährstoffarmen Oberboden nach<br />

<strong>und</strong> säten darauf die erwünschten<br />

Pflanzenarten aus. All dies geschah<br />

in Übereinstimmung mit den Zielvorgaben<br />

der Arten- <strong>und</strong> Biotopschutzgesetze.<br />

In der anschließenden Diskussion<br />

fragte ein Zuhörer, ob – <strong>und</strong> falls ja,<br />

warum – der Naturschutzfachmann<br />

dieses künstliche Anlegen von<br />

Schutz-Biotopen für richtig halte.<br />

Inwiefern sei das noch als Natur-<br />

Schutz zu bezeichnen? Halte er es<br />

für angemessen, zur kleinräumigen<br />

Erhaltung einiger Pflanzenarten, die<br />

in ihren Verbreitungsschwerpunkten<br />

keineswegs bedroht seien, Kosten<br />

aufzuwenden, die in anderen Naturschutzformen<br />

einen deutlich größeren<br />

Nutzen entfalten könnten? Der<br />

Naturschutzfachmann antwortete<br />

knapp: Ob solche Maßnahmen erwünscht<br />

seien oder nicht, müsse die<br />

Politik entscheiden. Er sei nur für<br />

die Umsetzung zuständig.<br />

Pflicht zur Begründung<br />

Wie die Geläufigkeit der Wörter<br />

„Wirtschaftsethik“, „Medizinethik“<br />

<strong>und</strong> „Bioethik“ belegt, ist heute in<br />

wichtigen <strong>Praxis</strong>feldern anerkannt,<br />

dass sich Fachleute nicht hinter <strong>einer</strong><br />

technischen Durchführungslogik<br />

verstecken dürfen. (Sogar die Soldaten<br />

der B<strong>und</strong>eswehr sind dazu verpflichtet,<br />

Befehle zu hinterfragen.)<br />

Auch ein r<strong>einer</strong> Praktiker des Naturschutzes,<br />

falls es den gibt, kann sich<br />

also der Frage nach Zweck <strong>und</strong><br />

Rechtfertigung s<strong>einer</strong> Arbeit nicht<br />

dauerhaft entziehen. Spätestens<br />

aber, wenn Ökologen <strong>und</strong> Naturschützer<br />

durch Öffentlichkeitsarbeit,<br />

Lobbyismus oder Politikberatung<br />

Einfluss auf die öffentliche Meinung<br />

<strong>und</strong> die Gesetzgebung nehmen,<br />

müssen sie bereit sein, ihre Positionen<br />

<strong>und</strong> Handlungsvorschläge mit<br />

Argumenten zu begründen.<br />

<strong>Umweltethik</strong> darf dabei nicht als<br />

Argumente-Steinbruch für die PR-<br />

Arbeit missverstanden werden, <strong>und</strong><br />

die Vielfalt der umwelt<strong>ethischen</strong> Positionen<br />

(siehe den Beitrag von<br />

Schlüns & Voget auf Seite 12) sollte<br />

Naturschützer nicht dazu verleiten,<br />

ihre Agenda opportunistisch-beliebig<br />

mal mit dem einen, mal mit dem<br />

anderen <strong>ethischen</strong> Feigenblatt zu<br />

bekleiden. Schon gar nicht können<br />

sie sich unter Berufung auf „die“<br />

<strong>Umweltethik</strong> im Besitz letzter moralischer<br />

Wahrheit wähnen.<br />

Der praktische Nutzen der <strong>Umweltethik</strong><br />

liegt vielmehr zu einem großen<br />

Teil darin, präzise zu benennen,<br />

vor welche ethisch-moralischen Entscheidungen<br />

uns eine bestimmte<br />

Situation im Umgang mit der Natur<br />

stellt <strong>und</strong> welche logischen Voraussetzungen<br />

<strong>und</strong> Konsequenzen wir<br />

uns mit der jeweiligen Entscheidung<br />

einhandeln. Das will ich am Beispiel<br />

von „Prozessschutz“ einmal in groben<br />

Zügen erläutern.<br />

Was bedeutet<br />

„Prozessschutz“?<br />

An diesem Stichwort kristallisiert<br />

sich seit Jahren ein Wandel von<br />

Leitbildern <strong>und</strong> Strategien des Naturschutzes,<br />

der einem Wandel des<br />

Naturbildes entspricht. Stärker als<br />

etwa noch in den 1980er Jahren<br />

nehmen wir heute wahr, dass Natur<br />

dynamisch ist, sich in dauernder<br />

Veränderung <strong>und</strong> Entwicklung befindet.<br />

Ganz grob gesagt, bedeutet<br />

Prozessschutz die Anwendung des<br />

dynamischen Naturbildes im Naturschutz.<br />

Schon der Versuch <strong>einer</strong> genaueren<br />

Begriffsbestimmung führt<br />

in die ethisch-philosophische Analyse,<br />

die mit der Frage einsetzen könnte:<br />

Was ist eigentlich der Gegenstand,<br />

der hier geschützt (erhalten,<br />

geschont, berücksichtigt) werden<br />

soll? Bedeutet „Prozessschutz“, ver-<br />

FORUM GEOÖKOL. 19 (1), 2008 21


mittels Prozessen etwas anderes zu<br />

schützen, oder zielt er auf die Prozesse<br />

selbst? Und was sind das für<br />

Prozesse?<br />

Der Forstökologe Knut Sturm<br />

(1993), der den Ausdruck „Prozessschutz“<br />

prägte, bezeichnet damit<br />

„ein Naturschutzkonzept für den<br />

Wald, das den Schutz ökologischer<br />

Prozesse als Oberziel formuliert“<br />

(meine Hervorhebung), <strong>und</strong> betont,<br />

dass dabei „klassische Naturschutzziele<br />

wie Vielfalt <strong>und</strong> Stabilität nicht<br />

mehr primäre Ziele“ seien (auch<br />

wenn sie „als Ergebnis <strong>einer</strong> natürlichen<br />

Dynamik raum-zeitlich befristet<br />

als ‚Sek<strong>und</strong>ärziele‘ auftreten“<br />

können). Ihm geht es dabei um vom<br />

Menschen ungelenkte Naturprozesse,<br />

in erster Linie um die spontane<br />

Waldsukzession. (Der <strong>Umweltethik</strong>er<br />

stellt hier die Ohren auf. Spricht<br />

Sturm natürlichen ökologischen Prozessen<br />

einen moralischen Eigenwert<br />

zu? Aus Sicht der traditionellen<br />

Ethik gilt eine solche Position als<br />

extrem. Ich komme im übernächsten<br />

Abschnitt auf diese Frage zurück.)<br />

Später führte Eckhard Jedicke<br />

(1998) seine vielzitierte Prozessschutz-Definition<br />

ein. Er unterscheidet<br />

darin zwischen „segregativem“<br />

<strong>und</strong> „integrativem“ Prozessschutz.<br />

Der segregative Prozessschutz („Prozessschutz<br />

in engerem Sinne“), der<br />

dem Prozessschutz-Begriff von Knut<br />

Sturm nahe steht, lässt Entwicklungen<br />

zu, die nicht vom Menschen gesteuert<br />

sind. Der integrative Prozessschutz<br />

hat hingegen Prozesse<br />

menschlicher Nutzung zum Gegenstand,<br />

„welche eine Kulturlandschafts-Dynamik<br />

mit positiven Auswirkungen<br />

auf Naturschutzziele (des<br />

Arten-, Biozönosen-, Biotop-, abiotischen<br />

Ressourcen- <strong>und</strong> Kulturlandschaftsschutzes)<br />

als Nebeneffekt bedingen“;<br />

die Vorstellung von Natürlichkeit,<br />

Naturnähe oder Wildnis<br />

spielt hier, anders als bei Sturm, keine<br />

wichtige Rolle (vgl. Bild).<br />

Die konkreten Inhalte von Jedickes<br />

(1998) Prozessschutz-Begriff insgesamt<br />

werden nur noch durch die<br />

Schwerpunkt: <strong>Umweltethik</strong><br />

Prozess-Sichtweise zusammengehalten.<br />

Diese ließe sich jedoch auf so<br />

ziemlich alles ausdehnen. Auch beim<br />

gartenbaulichen Anlegen eines Magerrasens<br />

zum Beispiel sind ja allerhand<br />

Prozesse im Spiel – vom Ausbaggern<br />

des Oberbodens über das<br />

Keimen der Saat bis zur anschließenden<br />

Biozönosenentwicklung –,<br />

<strong>und</strong> „positive Auswirkungen“ auf die<br />

genannten Naturschutzziele hat die<br />

Maßnahme allemal. Wo Sturm hellsichtig<br />

eine Wertediskussion fordert,<br />

um die Rangfolge unterschiedlicher<br />

Naturschutzziele zu klären, verwischt<br />

Jedicke durch seine überdehnte<br />

Prozessschutz-Definition<br />

schon die begriffliche Unterscheidung<br />

dieser Ziele.<br />

Ich folge daher dem schlichteren,<br />

genaueren Prozessschutz-Begriff<br />

nach Sturm (1993), der sich im Kern<br />

mit Wildnisschutz deckt. Dabei setze<br />

ich voraus, dass sich der Begriff von<br />

natürlichen Prozessen <strong>und</strong> Wildnis<br />

nicht auf vollkommen unberührte,<br />

vom Menschen gänzlich unbeeinflusste<br />

Ur-Natur beschränkt – die<br />

gibt es zumal in <strong>Mit</strong>teleuropa nicht<br />

mehr –, sondern eine möglichst<br />

weitgehende Annäherung an diesen<br />

Pol meint, auch (wie bei Sturm) in<br />

der Landnutzung (vgl. Gorke 2006:<br />

90f.).<br />

Praktische Auswirkungen<br />

Macht es überhaupt einen nennenswerten<br />

Unterschied, welches „Oberziel“<br />

wir im Naturschutz verfolgen?<br />

Es ist richtig, dass ein <strong>und</strong> dieselbe<br />

Maßnahme häufig mehreren unterschiedlichen<br />

Naturschutzzielen zuträglich<br />

ist. Doch spätestens wenn<br />

diese Ziele in Konflikt geraten, müssen<br />

wir einem von ihnen Vorrang<br />

einräumen <strong>und</strong> diese Entscheidung<br />

gegenüber Vertretern anderer Meinungen<br />

mit Argumenten verteidigen<br />

können.<br />

Zum Beispiel kann die Einrichtung<br />

eines Wald-Totalreservats der Entstehung<br />

neuer Wildnis zunächst<br />

ebenso nutzen wie dem Erhalt heimischer<br />

Biotope, dem Überleben<br />

gefährdeter Arten <strong>und</strong> dem Ressourcenschutz.<br />

Was aber, wenn sich<br />

nach einigen Jahren herausstellt,<br />

dass im Zuge der ungelenkten Sukzession<br />

im Schutzgebiet der Lebensraum<br />

<strong>einer</strong> gefährdeten Art verschwindet?<br />

Oder wenn eine Schädlingsplage<br />

den Baumbestand drastisch<br />

zu dezimieren droht (so geschehen<br />

mit dem Borkenkäfer im<br />

Bayerischen Wald)? Dient „Prozessschutz“<br />

als <strong>Mit</strong>tel für andere Zwecke<br />

– als Alternative zu Pflegemaßnahmen<br />

–, darf die Verwaltung jederzeit<br />

eingreifen, wenn die spontane Entwicklung<br />

im Schutzgebiet nicht<br />

mehr ihren Vorstellungen entspricht.<br />

Ist das ungelenkte Spiel ökologischer<br />

Prozesse hingegen „Oberziel“ der<br />

Unterschutzstellung, müssten wir es<br />

jedenfalls in erster Näherung vorziehen,<br />

die gefährdete Art lokal aussterben<br />

bzw. den Baumbestand absterben<br />

zu lassen.<br />

Der Praktiker Sturm (1993) ist sich<br />

bewusst, dass angesichts möglicher<br />

Zielkonflikte zwischen Arten-, Biotop-<br />

<strong>und</strong> Prozessschutz „eine umfassende<br />

Zieldiskussion“ notwendig ist,<br />

„die vor allem Wertpositionen bei<br />

der Festlegung des Oberziels offenlegt“;<br />

er führt diese Wertediskussion<br />

aber nicht weiter aus. Ich will sie<br />

hier in aller Kürze nachholen.<br />

Wie lässt sich<br />

Prozessschutz begründen?<br />

Wie von Egan-Krieger & Muraca in<br />

ihrem Beitrag zu diesem Heft erläutern<br />

(Seite 16ff.), lässt sich die<br />

Rücksichtnahme auf eine Entität<br />

entweder direkt – mit ihrem Eigenwert<br />

– oder indirekt – mit ihrem<br />

Wert für ein anderes berücksichtigungswürdiges<br />

Wesen – begründen.<br />

Daher gibt es auch aus sentientistischer<br />

<strong>und</strong> anthropozentrischer Sicht<br />

Gründe für das Laufenlassen natürlicher<br />

Prozesse. Die Wildnis, die auf<br />

diese Weise weiterbesteht oder neu<br />

entsteht, kann Tieren einen besonders<br />

guten Lebensraum bieten, <strong>und</strong><br />

in ähnlicher Weise hat sie vielfältigen<br />

Wert für den Menschen. Sie<br />

22 FORUM GEOÖKOL. 19 (1), 2008


Schwerpunkt: <strong>Umweltethik</strong><br />

Bild: Nebelmeer im Schweizer <strong>Mit</strong>telland – trotz urtümlicher Atmosphäre eine klassische Kulturlandschaft<br />

(Bild: Fridjof Schmidt)<br />

trägt zur Aufrechterhaltung ökologischer<br />

Systemfunktionen wie der<br />

Luft- <strong>und</strong> Wasserreinigung bei, von<br />

denen das Überleben des Menschen<br />

abhängt; sie bietet einen Vorrat zukünftiger<br />

wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten,<br />

etwa als Referenz<br />

für ökologische Vergleichsstudien,<br />

aber auch in Form von bisher<br />

unentdeckten oder unerforschten<br />

Arten, die medizinisches Potenzial<br />

besitzen könnten; <strong>und</strong> sie trägt<br />

als Erlebnisraum <strong>und</strong> geistiger Bezugsort<br />

des Menschen zum guten<br />

Leben bei. Natürliche Prozesse <strong>und</strong><br />

Wildnis sind in diesem Fall jedoch<br />

wohlgemerkt stets <strong>Mit</strong>tel zu anderen<br />

Zwecken, nicht Selbstzweck.<br />

Der holistische <strong>Umweltethik</strong>er Martin<br />

Gorke (2006: 92ff.) erkennt<br />

denn auch fünf Probleme der anthropozentrischen<br />

Begründung.<br />

1. Das Problem des Grenznutzens:<br />

Viele Funktionen von Wildnis<br />

könnten auch maßvoll genutzte<br />

Landschaften erfüllen.<br />

2. Das Problem der Ersetzbarkeit:<br />

„Wenn ein Wildnisgebiet nicht<br />

primär um s<strong>einer</strong> selbst willen,<br />

sondern aufgr<strong>und</strong> von Erfahrungen<br />

geschätzt wird, die prinzipiell<br />

in allen Wildnisgebieten<br />

gemacht werden können, so gibt<br />

es keinen hinreichenden Gr<strong>und</strong>,<br />

gerade dieses Gebiet zu schützen.“<br />

3. Das Problem der verschwindenden<br />

Minderheit: Die sehr geringe<br />

Anzahl von Menschen, die<br />

empfindsam <strong>und</strong> kenntnisreich<br />

genug sind, um die Besonderheiten<br />

von Prozessschutz-Gebieten<br />

zu schätzen, rechtfertige kaum<br />

die hohen Opportunitätskosten<br />

an Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden, die die<br />

Einrichtung solcher Gebiete in<br />

<strong>Mit</strong>teleuropa mit sich bringt.<br />

4. Das Problem der paradoxen Optimierung:<br />

Prozessschutz sei<br />

umso konsequenter verwirklicht,<br />

je weniger Menschen ein<br />

Schutzgebiet betreten; je weniger<br />

Menschen vom Erlebnis der<br />

Wildnis profitieren, desto weniger<br />

Gr<strong>und</strong> gebe es aber, Wildnis<br />

zu erhalten.<br />

5. Die mangelnde Übereinstimmung<br />

mit naturschützerischen<br />

Intuitionen. Dieses fünfte Problem<br />

nennt Gorke das gravierendste.<br />

Auch der Aufsatz von Sturm (1993),<br />

in dem er vom „Oberziel“ Prozessschutz<br />

ausgeht, ist unverkennbarer<br />

Ausdruck der moralischen Intuition,<br />

die <strong>Umweltethik</strong>en wie den Ökozentrismus<br />

oder den pluralistischen<br />

Holismus nach Martin Gorke inspiriert.<br />

Diese Intuition lautet, dass die<br />

(sich selbst organisierende, wilde)<br />

Natur einen Eigenwert habe <strong>und</strong> der<br />

Mensch sich folglich so weit wie<br />

möglich aus ihr heraushalten solle.<br />

Eine Intuition allein ist zwar kein<br />

Argument; wir können aber versuchen,<br />

sie mit Argumenten „einzuholen“.<br />

Zumal eine weit verbreitete,<br />

hartnäckige Intuition wie die vom<br />

FORUM GEOÖKOL. 19 (1), 2008 23


Eigenwert der Natur deutet auf eine<br />

These hin, deren Begründung man<br />

nicht unerforscht lassen sollte. Martin<br />

Gorkes (2006, 2007) pluralistischer<br />

Holismus ist ein beeindruckender<br />

Versuch <strong>einer</strong> solchen Begründung.<br />

Ein anderer Versuch, der Ökozentrismus,<br />

der sich in der amerikanischen<br />

Wildnis-Bewegung entwickelte, hat<br />

(wie Timo Kaphengst in seinem Beitrag<br />

zu diesem Heft erläutert, siehe<br />

Seite 25) nicht nur mit starken Gegenargumenten,<br />

sondern auch mit<br />

schweren Anfeindungen zu kämpfen.<br />

Da der Ökozentrismus den Wert<br />

der Einzelwesen über ihren Nutzen<br />

für das Gesamt-Ökosystem bemisst<br />

<strong>und</strong> allein diesem moralischen Eigenwert<br />

zuerkennt (monistischer<br />

Holismus), wird diese umweltethische<br />

Position gelegentlich als „Ökofaschismus“<br />

beschimpft. Der Gr<strong>und</strong><br />

dafür liegt bei einem wichtigen Prüfstein<br />

ethischer Normen: Verallgem<strong>einer</strong>barkeit.<br />

Die Argumente, die<br />

ich mit Bezug auf den Naturschutz<br />

vorbringe, können logische Folgen<br />

auch für andere Lebensbereiche<br />

(zum Beispiel das Verhältnis von<br />

Einzelmensch <strong>und</strong> Staat) haben, wo<br />

ich sie vielleicht aus guten Gründen<br />

ablehne <strong>und</strong> damit auch innerhalb<br />

der <strong>Umweltethik</strong> unbrauchbar mache.<br />

Insofern ist es bemerkenswert,<br />

dass laut § 1 B<strong>und</strong>esnaturschutzgesetz<br />

der Schutz von Natur <strong>und</strong> Landschaft<br />

nicht nur wegen ihrer Funktion<br />

„als Lebensgr<strong>und</strong>lagen des Menschen“,<br />

sondern auch „auf Gr<strong>und</strong><br />

ihres eigenen Wertes“ gefordert ist.<br />

Mut zur Philosophie<br />

Schwerpunkt: <strong>Umweltethik</strong><br />

Wir sprechen zwar spezifisch von<br />

„<strong>Umweltethik</strong>“ (environmental<br />

ethics), <strong>und</strong> unter diesem Namen ist<br />

das Fach fester Bestandteil von natur-<br />

<strong>und</strong> umweltschutzbezogenen<br />

Studiengängen weltweit. <strong>Umweltethik</strong><br />

ist aber kein „Werkzeugkasten“,<br />

aus dem Naturschützer sich je<br />

nach Bedarf bedienen können, um<br />

die Bevölkerung (psychologisch<br />

möglichst geschickt) zu einem umweltfre<strong>und</strong>lichen<br />

Verhalten zu motivieren.<br />

Sie ist auch kein „Laberfach“<br />

(als das die Ethik in der Schule oft<br />

in Verruf gerät), in dem wir einander<br />

unser Herz ausschütten, mit<br />

niedrigen Ansprüchen an die Strenge<br />

der Argumentation. <strong>Umweltethik</strong><br />

bezeichnet vielmehr die philosophische<br />

Reflexion unseres Umgangs mit<br />

der Natur. Wer den Mut zur Philosophie<br />

aufbringt, gewinnt eine Herangehensweise,<br />

die in der Naturschutzpraxis<br />

dabei helfen kann, zum<br />

Beispiel Zielkonflikte zu klären – die<br />

sich aber auch auf jeden anderen<br />

Gegenstand anwenden lässt. <strong>Umweltethik</strong><br />

bietet damit einen reizvollen<br />

Quereinstieg in die allgemeine<br />

Ethik <strong>und</strong> Philosophie <strong>und</strong> kann das<br />

Leben über Fachfragen hinaus bereichern.<br />

Summary<br />

Like professionals in medicine, business<br />

and other fields, ecologists and conservationists<br />

must not hide behind established<br />

technical routines but have to<br />

deal with the ethical implications of<br />

their work. To show how ethical and<br />

broader philosophical questions are ingrained<br />

in conservation practice, I analyse<br />

meanings and consequences of Prozessschutz<br />

(process protection), a buzzword<br />

in German-language conservation<br />

circles since the early 1990s. One important<br />

practical benefit of environmental<br />

ethics is its ability to explicate conflicts<br />

between different conservation objectives,<br />

e.g. species and process protection,<br />

and to precisely identify the moral<br />

choices we face there. As a side-door<br />

into general ethics and philosophy, environmental<br />

ethics can make ecologists’<br />

and conservationists’ lives richer even<br />

beyond professional issues.<br />

Dank<br />

Ich danke Stefan Zerbe für einen<br />

Literaturhinweis <strong>und</strong> Martin Gorke<br />

für ein anregendes Gespräch.<br />

Literatur<br />

• Gorke, M. (2006): Prozessschutz<br />

aus Sicht <strong>einer</strong> holistischen Ethik.<br />

Natur <strong>und</strong> Kultur 7(1): 88–107.<br />

• Gorke, M. (2007): Eigenwert der<br />

Natur. Ethische Begründung <strong>und</strong><br />

Konsequenzen. Habilitationsschrift,<br />

Mathematisch-Naturwissenschaftliche<br />

Fakultät, Ernst-Moritz-Arndt-<br />

Universität Greifswald. 281 S.<br />

• Jedicke, E. (1998): Raum-Zeit-<br />

Dynamik in Ökosystemen <strong>und</strong> Landschaften.<br />

Kenntnisstand der Landschaftsökologie<br />

<strong>und</strong> Formulierung<br />

<strong>einer</strong> Prozeßschutz-Definition. Naturschutz<br />

<strong>und</strong> Landschaftsplanung<br />

30(8/9): 229–236.<br />

http://www.jedicke.de/media/files<br />

/Prozessschutz_NuL.pdf<br />

• Sturm, K. (1993): Prozeßschutz –<br />

ein Konzept für naturschutzgerechte<br />

Waldwirtschaft. Zeitschrift für Ökologie<br />

<strong>und</strong> Naturschutz 2(3): 181–<br />

192.<br />

Philipp P. Thapa<br />

ist <strong>Mit</strong>arbeiter am Lehrstuhl für Geobotanik<br />

& Landschaftsökologie der<br />

Uni Greifswald <strong>und</strong> promoviert zu<br />

Evolution <strong>und</strong> <strong>Umweltethik</strong>. Er war<br />

Entwicklungshelfer beim Deutschen<br />

Entwicklungsdienst (DED) in Nepal<br />

<strong>und</strong> wirkt als Übersetzer <strong>und</strong> Verleger.<br />

Institut für Botanik <strong>und</strong> Landschaftsökologie<br />

der Universität Greifswald<br />

Grimmer Str. 88<br />

D-17487 Greifswald<br />

E-Mail: thapa at uni-greifswald.de<br />

24 FORUM GEOÖKOL. 19 (1), 2008

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