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Das moderne Chinesisch als eine isolierende Sprache mit ...

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<strong>Das</strong> <strong>moderne</strong> <strong>Chinesisch</strong> <strong>als</strong> <strong>eine</strong> <strong>isolierende</strong><br />

<strong>Sprache</strong> <strong>mit</strong> flektierendem Charakter<br />

I n s t i t u t f ü r D e u t s c h a l s<br />

F r e m d s p r a c h e n p h i l o lo g i e<br />

Hsien-Hsueh Huang<br />

September 1997


2<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

_________________________________________________________________________<br />

Seite<br />

1 Einleitung 1<br />

1.1 Problemfelder bei der Typisierung der chinesischen <strong>Sprache</strong> 1<br />

1.2 Fragestellungen 2<br />

2 Typisierung der chinesischen <strong>Sprache</strong> 4<br />

2.1 Allgem<strong>eine</strong> Sprachtypologie 4<br />

2.2 Vergleich der Sprachtypologie Humboldts und Schlegels/Schleichers 7<br />

2.3 Typologie der chinesischen <strong>Sprache</strong> 10<br />

2.3.1 Die wichtigen Begriffe der chinesischen <strong>Sprache</strong> 10<br />

2.3.1.1 <strong>Das</strong> Tripelverhältnis von Zeichen-Silbe-Morphem 10<br />

2.3.1.2 Der Begriff „Wort“ 11<br />

2.3.2 Wortbildungsunterschied zwischen dem klassischen und<br />

<strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong><br />

2.3.3 Eigenschaften von Morphemen des <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong> 13<br />

2.3.3.1 Kernmorphem 14<br />

2.3.3.2 Partikelmorphem 15<br />

2.3.3.3 Formbildungsmorphm 15<br />

2.3.3.4 Derivationsmorphem 19<br />

2.4 Abgrenzungskriterien von Formbildungsmorphemen 20<br />

und Derivationsmorpheme im chinesischen<br />

12<br />

3 Schlußbemerkungen 22<br />

4 Literaturverzeichnis 24


1 Einleitung<br />

3<br />

1.1 Problemfelder bei der Typisierung der chinesischen <strong>Sprache</strong><br />

In der Forschung der Sprachtypologie werden die Merkmale des strukturellen Aufbaus der<br />

Wörter der <strong>Sprache</strong>n untersucht und <strong>eine</strong> Kategorisierung der <strong>Sprache</strong>n der Welt<br />

vorangetrieben. Dennoch ist es nicht immer ohne Schwierigkeit, die <strong>Sprache</strong>n nur in<br />

<strong>eine</strong>m einzelnen Typ festzulegen. Ein Grund liegt darin, daß jede <strong>Sprache</strong> ihre<br />

Beliebigkeit genießt. Ein anderer Grund ist, daß sich der strukturelle Aufbau der Wörter<br />

im Laufe der <strong>Sprache</strong>ntwicklung ändern kann. Ein dritter Grund ist dadurch zu erklären,<br />

daß die angewandten linguistischen Begriffe und Terminologie, die die Merkmale <strong>eine</strong>r<br />

<strong>Sprache</strong> beschreiben, nicht unbedingt für alle Sprachsysteme in der Welt allgemeingültig.<br />

Ein offensichtliches Beispiel dafür ist die chinesische <strong>Sprache</strong>. Die chinesische <strong>Sprache</strong> ist<br />

<strong>eine</strong> der ältesten <strong>Sprache</strong>n der Welt. Im Laufe der <strong>Sprache</strong>ntwicklung ist die chinesische<br />

<strong>Sprache</strong> durch das klassische und <strong>moderne</strong> <strong>Chinesisch</strong> zu unterscheiden. Und das<br />

Schriftsystem unterscheidet sich durch die sog. verkürzten und nichtverkürzten Zeichen.<br />

Die chinesische <strong>Sprache</strong> gehört der sino-tibetischen Sprachfamilie an, deren Sprachsystem<br />

sich sehr stark vom indoeuropäischen Sprachsystem unterscheidet. Die Charakterisierung<br />

der chinesischen Wortstruktur ist deshalb ohne besondere Berücksichtigung der<br />

sprachspezifischen Eigenschaften und die eigenen chinesischen linguistischen<br />

Auffassungen kaum vorstellbar. D.h. jede Aussage über die kategorischen Merkmale der<br />

chinesische <strong>Sprache</strong> durch r<strong>eine</strong> Übertragung der westlichen linguistischen Auffassungen<br />

läßt sich nicht plausibel beurteilen.<br />

Die Problemfelder bei der Typisierung der chinesischen <strong>Sprache</strong>n durch die westlichen<br />

linguistischen Auffassungen sind zumindestens aus den folgenden drei Aspekten zu<br />

betrachten.<br />

<strong>Das</strong> erste Problemfeld liegt daran, daß es kein kontinuierlich entwickeltes und ausgereiftes<br />

Gesamtmodell zur Untersuchung der chinesischen Sprachstruktur gegeben hat. Die<br />

Grammatikforschung der <strong>moderne</strong>n chinesischen <strong>Sprache</strong> ist <strong>eine</strong> ganz neue Disziplin in<br />

den chinesischsprachigen Regionen. Sie wurde erst nach der Gründung der Volksrepublik<br />

China im Jahr 1949 vorangetrieben. Vor dieser Zeit hat es zwei extreme


4<br />

Entwicklungsphasen gegeben. Bis zur Mitte der dreißiger Jahre hat sie sich sehr stark an<br />

westlichen traditionellen Grammatikkategorien, insbesondere den englischen und<br />

lateinischen orientiert. Gegen Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre wurde<br />

die westliche grammatische Orientierungshilfe absichtlich abgelehnt. Die chinesischen<br />

Grammatiker forderten <strong>eine</strong> kreative Grammatikbeschreibung, die sich all<strong>eine</strong> an den<br />

spezifischen Eigenschaften der chinesischen <strong>Sprache</strong> orientiert. Da ein Gesamtmodell zur<br />

Untersuchung der chinesischen Grammatikforschung fehlt, erschwert dies <strong>eine</strong>n<br />

kontrastiven linguistischen Vergleich zwischen der chinesischen <strong>Sprache</strong> und anderen<br />

<strong>Sprache</strong>n.<br />

<strong>Das</strong> zweite Problemfeld bezieht sich auf die Unklarheit und Unbestimmbarkeit der<br />

westlichen linguistischen Begriffe und Terminologie, die in der chinesischen <strong>Sprache</strong> nicht<br />

vorhanden sind und deswegen nicht vergleichbar <strong>mit</strong> anderen <strong>Sprache</strong>n sind. Die Begriffe<br />

und Terminologie der westlichen Grammatik lassen sich meistens nicht ohne<br />

Sinnentfremdung auf chinesische Grammatik und Sprachforschung übertragen.<br />

<strong>Das</strong> dritte Problemfeld sind die unterschiedlichen Abgrenzungskriterien unter den<br />

sprachwissenschaftlichen Gegenständen im <strong>Chinesisch</strong>en und in den westlichen <strong>Sprache</strong>n.<br />

Ein Beispiel, das bei der Sprachtypologie <strong>eine</strong> Rolle spielt, ist die Abgrenzung zwischen<br />

der Morphologie und Syntax.<br />

1.2 Fragestellungen<br />

Durch die Beleuchtung der drei Problemfelder sollen die Fragestellungen in der<br />

vorliegenden Arbeit nähengebracht werden.<br />

1. Wie wird die Aussage „die chinesische <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>eine</strong> <strong>isolierende</strong> <strong>Sprache</strong>“ in der<br />

Sprachtypologie begründet? Wir werden uns <strong>mit</strong> der Begründung der<br />

Sprachwissenschaftler zu dieser Aussage auseinandersetzen und auf ihre Richtigkeit<br />

prüfen.<br />

2. Wenn die chinesische <strong>Sprache</strong> außerhalb der <strong>isolierende</strong>n noch <strong>eine</strong> andere Eigenschaft<br />

hat, was ist die Eigenschaft? Und inwieweit ist die andere Eigenschaft von der


5<br />

<strong>isolierende</strong>n Eigenschaft abzugrenzen? Ein Beispiel dafür ist die Abgrenzung von<br />

Flexion und Derivation.<br />

3. Gibt es spezifisch sprachbedingte Elemente in der chinesischen Wortbildung, die in<br />

anderen <strong>Sprache</strong>n bzw. der deutschen <strong>Sprache</strong> nicht vorhanden sind? Aufgrund dessen<br />

soll die Anwendung solcher sprachbedingten Begriffe oder Terminologie in der<br />

chinesischen Wortbildungslehre gerechtfertigt werden.<br />

Bei der Auseinandersetzung <strong>mit</strong> den drei Fragestellungen wird immer auf die drei<br />

Problemfelder Rücksicht genommen, weil die vorliegende Arbeit nicht die Absicht haben<br />

soll, die westlichen linguistischen Begriffe ohne Reflexion über die Übertragbarkeit direkt<br />

auf die chinesische Sprachforschung zu transportieren


2 Typisierung der chinesischen <strong>Sprache</strong><br />

6<br />

2.1 Allgem<strong>eine</strong> Sprachtypologie<br />

Die Begründung der Typologie ist auf Wilhelm von Homboldt zurückzuführen. Er ist der<br />

erste, der den Begriff „Typus“ in der Sprachwissenschaft eingeführt hat. Unter<br />

„Typus“ versteht man das Bildungsprinzip <strong>eine</strong>s Organismus (Cesasre, 1998:115). In der<br />

Sprachtypologie ist nämlich <strong>mit</strong> Organismus die morphologische Struktur der Wörter <strong>eine</strong>r<br />

<strong>Sprache</strong> gemeint. <strong>Das</strong> Wort gilt <strong>als</strong> die kleinste Einheit der Typisierung der <strong>Sprache</strong>. Jede<br />

Worteinheit hat ihre eigene Funktion und Aufgaben. Humboldt geht davon aus, daß <strong>eine</strong><br />

Worteinheit zwei Aufgaben zu erfüllen hat, und zwar die Bezeichnung des Begriffs und die<br />

Andeutung der Kategorie, die dem Wort zugewiesen wird. (Humboldt, 1998:231). 1 Der<br />

Typ <strong>eine</strong>r <strong>Sprache</strong> ist durch den Erfüllungsgrad der Aufgaben von der Worteinheit zu<br />

bestimmen (vgl. Cesare, 1998:120). In der folgenden Abbildung (Abb.1) stellt der heutige<br />

linguistische Sprachgebrauch zu dem humboldtschen Begriffspaar den Sinn des Wortes dar.<br />

W o r t e i n h e i t<br />

Humboldt Bezeichnung des Begriffs Andeutung der modifizierenden<br />

Kategorie<br />

Ineichen<br />

(1979:47)<br />

Stoff <strong>als</strong><br />

Bedeutungsbezeichnung<br />

trägt <strong>eine</strong> denotative<br />

Bedeutung<br />

Form <strong>als</strong><br />

Beziehungsbezeichnung<br />

trägt <strong>eine</strong> grammatische<br />

Bedeutung<br />

Wortelement Stammelement Formelement<br />

Abb 1: <strong>Das</strong> Begriffspaar für den Sinn des Wortes nach Humboldt<br />

Humboldt beschreibt darüberhinaus vier Verfahrensweisen, durch welche der<br />

Erfüllungsgrad der Aufgaben <strong>eine</strong>s Wortes bestimmt wird. Die vier Verfahrensweisen sind<br />

Isolierung, Flexion, Agglutination und Einverleibung bzw. Inkorporation.<br />

1 Humboldt hat in s<strong>eine</strong>m 1836 post erschienenen Werk „ Über die Verschiedenheit des menschlichen<br />

Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ geschrieben: „... der<br />

volle Sinn des Wortes geht zugleich aus jenem Begriffsausdruck und dieser modificierenden Andeutung<br />

hervor. ... Die Bezeichnung des Begriffs gehört dem immer mehr objectiven Verfahren des Sprachsinnes an.<br />

Die Versetzung desselben in <strong>eine</strong> bestimmte Kategorie des Denkens ist ein neuer Act des sprachlichen<br />

Selbstbewußtseins,...“


7<br />

Die Sprachtypen werden vom dominierenden Verfahren, das die Aufgaben des Wortes zu<br />

erfüllen hat, festgelegt. Die von Humboldt eingeführten vier traditionellen<br />

Hauptsprachtypen sind gerade nach den obenerwähnten vier Verfahren zu definieren, und<br />

zwar die <strong>isolierende</strong>, flektierende, agglutinierende und inkorporierende <strong>Sprache</strong>.<br />

Worteinheit<br />

Satzeinheit<br />

Bezeichnung<br />

des Begriffs<br />

<br />

Stammelement<br />

Andeutung der<br />

modifizierenden Kategorie<br />

<br />

Formelement<br />

Isolierende <strong>Sprache</strong><br />

Agglutinierende <strong>Sprache</strong><br />

Flektierende <strong>Sprache</strong><br />

Inkorporierende <strong>Sprache</strong><br />

( : Erfülllungsgrad )<br />

Abb.2: Sprachtypen und ihr Verhältnis zur Worteinheit und Satzeinheit<br />

Anhand der Abb. 2 ist zu ersehen, inwiefern die Worteinheit ihre Aufgaben im jeweiligen<br />

Sprachtyp erfüllt. In der <strong>isolierende</strong>n <strong>Sprache</strong> hat die Worteinheit nur <strong>eine</strong> Aufgabe, und<br />

zwar die Bezeichnung des Begriffs. Und sie wird nur durch das Stammelement besetzt.<br />

Der Formelement bleibt unbesetzt. In der agglutinierenden <strong>Sprache</strong> und flektierenden<br />

<strong>Sprache</strong> enthält die Worteinheit Stammelement und Formelemente. Der Unterschied<br />

zwischen den beiden Typen liegt darin, daß jedes flektierende Formelement der<br />

agglutinierenden <strong>Sprache</strong> s<strong>eine</strong> eigene Funktion hat , und die Funktionen der flektierenden<br />

Formelemente der flektierenden <strong>Sprache</strong> kummulieren sich. In der inkorporierenden<br />

<strong>Sprache</strong> verschmelzt das Stammelement und die Formelemente zu <strong>eine</strong>m einzigen Stamm,<br />

der letztendlich <strong>als</strong> Satz erscheint. Im folgenden werden wir die Unterschiede zwischen<br />

den vier Sprachtypen <strong>mit</strong>tels der folgenden Abbildung aufzeigen.


8<br />

Sprachtyp<br />

F o r m<br />

(Beziehungsbezeichnung /<br />

Grammatische Bedeutung)<br />

S t o f f<br />

(Bedeutungsbezeichnung /<br />

Denotative Bedeutung)<br />

Veränderlichkeit<br />

der Form<br />

Formelement vs.<br />

Stammelement<br />

Funktionskumulierung<br />

durch<br />

Formelement<br />

Syntax-grammatische<br />

Funktion der<br />

Formelemente<br />

Bedeutung der<br />

Formelemente<br />

Standardisiertheit<br />

der Bedeutung<br />

<strong>isolierende</strong><br />

−<br />

Stammelement + ∅<br />

−<br />

agglutinierende +<br />

flektierende +<br />

inkorporierende +<br />

+<br />

Stammelement +<br />

Formelement (Affixe)<br />

+<br />

Stammelement +<br />

Formelement (Affixe)<br />

−<br />

Stamm + Stamm<br />

∅ Formelement ?<br />

−<br />

− (bei innerer aggl.<br />

Spr)./ + (bei äußerer<br />

aggl. Spr.)<br />

+ + + −<br />

Stammelement<br />

beinhaltet <strong>eine</strong> syntakgrammatische<br />

Funktion<br />

+<br />

+ : tendiert ja − : tendiert nein<br />

Abb.3: Eigenschaftsmerkmale der vier Hauptsprachtypen, in Anlehnung an Ineichen, 1979: 55-62)


2.2 Vergleich der Sprachtypologie Humboldts und Schlegels/Schleichers<br />

9<br />

Bevor Humboldt s<strong>eine</strong> Sprachtypologie eingeführt hat (1836-1840), haben bereits einige<br />

Sprachforscher <strong>eine</strong> Kategorisierung der Weltsprachen versucht. Die Vertreter sind die<br />

Brüder August Wilhelm und Friedrich von Schlegel (1808). Sie haben die Weltsprachen<br />

nach vorwiegend morphologischen Merkmalen in drei Grundtypen eingeteilt, und zwar<br />

1) <strong>Sprache</strong>n ohne irgend<strong>eine</strong> grammatische Struktur<br />

2) <strong>Sprache</strong>n, die Affixe verwenden<br />

3) <strong>Sprache</strong>n <strong>mit</strong> Flexion (Kupfer, 1979:165)<br />

Diese drei Grundtypen sind ansch<strong>eine</strong>nd zu vergleichen <strong>mit</strong> den humboldtschen<br />

Sprachtypen. Der erste Grundtyp ist zu vergleichen <strong>mit</strong> der <strong>isolierende</strong>n <strong>Sprache</strong>, der<br />

zweite <strong>mit</strong> der agglutinierenden <strong>Sprache</strong> und der dritte <strong>mit</strong> der flektierenden <strong>Sprache</strong>.<br />

Dennoch ist solch ein Vergleich nicht ohne Probleme zu sehen, denn Humboldt und<br />

Schlegel haben unterschiedliche Ansichten über die menschlichen <strong>Sprache</strong>n. Diese<br />

unterschiedlichen Ansichten schaffen natürlich auch ihre unterschiedlichen Grundlagen zur<br />

Erklärung der Ähnlichkeit und Verschiedenheit der Weltsprachen. Die unterschiedlichen<br />

Ansichten von Humboldt und Schlegel gegenüber menschlichen <strong>Sprache</strong>n werden in<br />

folgendem Schemate erfaßt.<br />

Humboldt<br />

<strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> ein Gegenstand der<br />

menschlichen Tradition<br />

Schlegel/Schleicher<br />

<strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> ein Naturgegenstand<br />

Die einzelnen <strong>Sprache</strong>n sind <strong>als</strong><br />

Individuellen verschieden<br />

Die einzelnen <strong>Sprache</strong>n sind <strong>als</strong><br />

Gattungen unterschiedlich<br />

Die Sprachverwandtschaft und<br />

Sprachfamilie in historischem Sinne<br />

<strong>als</strong> ein Phänomen der Tradition<br />

Die Sprachverwandtschaft und<br />

Sprachfamilie in biologischem Sinne<br />

<strong>als</strong> ein Phänomen der Vererbung<br />

fordert <strong>eine</strong> Autonomie<br />

des Sprachstudiums<br />

<strong>Sprache</strong>n sind Indizien<br />

der Genealogie der Völker<br />

Abb.4: Vergleich derAnsichten der menschlichen <strong>Sprache</strong>n von Humboldt und Schlegel<br />

(In Anlehnung an Di Cesare, 1998)


10<br />

Humboldt geht von <strong>eine</strong>r humanistischen Ansicht aus und meint, daß jede <strong>Sprache</strong> ein<br />

eigenes Individuum für sich ist. Die Ähnlichkeit und Verschiedenheit zwischen den<br />

<strong>Sprache</strong>n sind ein Phänomen der Tradition des menschlichen Denkens und Verhaltens. Die<br />

Phänomene der verschiedenen Traditionen sind nicht qualitativ einzustufen. Im Gegensatz<br />

dazu sind Schlegel und Schleicher stark von Darwins evolutionärer Entwicklungstheorie<br />

beeinflußt und fassen die <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>eine</strong>n sich gesetzmäßig entwickelnden Teil der Natur<br />

auf. Dem evolutionären Prozeß von der Isolierung über die Agglutination zur<br />

vollkommenen Form der Flexion sind alle <strong>Sprache</strong>n unterworfen, so wie das Werden von<br />

Organismen durch die drei Entwicklungsstadien Kristall, Pflanze, Tier markiert wird (vgl.<br />

Kupfer, 1979:167). Die Sprachtypologie ist zugleich <strong>mit</strong> der biologischen<br />

Evolutionsentwicklung in <strong>eine</strong>r qualitativen Einstufung in niedrigere und höher<br />

Entwickelte zu vergleichen. Einige Aussagen im folgenden sind zu verdeutlichen: „ In<br />

den <strong>isolierende</strong>n <strong>Sprache</strong>n besteht ein Satz aus der Aneinanderreihung von Wurzeln, die<br />

zugleich <strong>als</strong> Wörter fungieren. Diese „einsilbigen <strong>Sprache</strong>n blieben am frühesten in der<br />

Entwicklung stehen.“ (Kupfer, 1979:167) 2 „Während die flektierenden <strong>Sprache</strong>n den<br />

Status der Vollkommenheit erreicht haben, stehen die <strong>isolierende</strong>n <strong>Sprache</strong>n, angefangen<br />

<strong>mit</strong> dem <strong>Chinesisch</strong>en, auf der untersten Stufe. Letztere sind dadurch charakterisiert, „daß<br />

alle Wörter <strong>eine</strong>r solchen <strong>Sprache</strong> Wurzeln sind, aber unfruchtbare Wurzeln, die weder<br />

Pflanzen noch Bäume hervorbringen“, dagegen könnte man die ersteren „die organischen<br />

<strong>Sprache</strong>n nennen, weil sie allein, wenn ich so sagen darf, <strong>eine</strong> überreiche und fruchtbare<br />

Vegetation besitzen.“ (Kupfer, 1979:166) 3<br />

Ob die Sprachtypologie <strong>mit</strong>tels sprachlicher Entwicklungsstufen im Sinne der drei Stadien<br />

der evolutionären Vorgänge berechtigt ist, bleibt heutzutage offen. Daß die flektierenden<br />

<strong>Sprache</strong>n, vor allem die indoeuropäischen <strong>Sprache</strong>n, am fortgeschrittensten seien, um von<br />

da her andere <strong>Sprache</strong>n zu beurteilen, halte ich für nicht berechtigt.<br />

Humboldt sieht in zeitgemäßer Weise zwar die Vollkommenheit in den flektierenden<br />

<strong>Sprache</strong>n, schenkt aber andererseits den Tatsachen Beachtung, daß „die einfachen (hier die<br />

<strong>isolierende</strong>n <strong>Sprache</strong>n) ihre Würde und die komplizierten (hier die flektierenden <strong>Sprache</strong>n)<br />

ihre Klarheit besitzen.“ (Kupfer, 1979:169, Zitat aus Humboldt...) Er hat auch erkannt, daß<br />

2 Kupfer zitiert aus Schleicher: „Linguistische Untersuchungen“, 2. Teil: „Die <strong>Sprache</strong>n Europa in<br />

systematischer Übersicht“, Bonn 1850, S.10ff., zitiert bei Arens (1969:253).<br />

3 Kupfer zitiert und übersetzt aus A. Schlegels „Observations...“, S.14f., von Arens (1969:187-188)


11<br />

in der alten chinesischen <strong>Sprache</strong> alle „gewichtigen Begriffe un<strong>mit</strong>telbar aneinander<br />

treten“ und „alle unnützenden Nebenbeziehungen wegfallen.“ (Kupfer, 1979:169) 4 . Die<br />

<strong>Sprache</strong> besitzt „<strong>eine</strong>n hohen Grad der Trefflichkeit und übt <strong>eine</strong>, wenn gleich einseitig,<br />

doch möchtige Einwirkung auf das geistige Vermögen aus.“ (Zitat aus Humboldt,<br />

1998:379)<br />

Wir haben uns in diesen zwei Abschnitten <strong>mit</strong> den Haupttypen der Weltsprachen nach dem<br />

humboldtschen Modell auseinandergesetzt. Humboldt typisiert <strong>eine</strong> <strong>Sprache</strong> nach dem<br />

Erfüllungsgrad der Aufgaben der Worteinheit der <strong>Sprache</strong>. Ferner haben wir erkannt, daß<br />

<strong>eine</strong> <strong>Sprache</strong> nicht nur <strong>eine</strong>n Sprachtyp besitzen kann. Der Sprachtyp besagt nur, daß die<br />

jeweilige <strong>Sprache</strong> von bestimmten Eigenschaften dominiert ist, und diese <strong>Sprache</strong> könnte<br />

noch einige Züge von anderen Sprachtypen haben. Die qualitative Bewertung der<br />

Sprachtypen nach naturwissenschaftlich orientierten Entwicklungsstadien läßt sich wegen<br />

mangelnder Objektivität nicht belegen.<br />

4 Kupfer zitiert aus Humboldt „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus...“


2.3 Typologie der chinesischen <strong>Sprache</strong><br />

12<br />

Die chinesische <strong>Sprache</strong> wird in der Linguistik immer <strong>als</strong> ein typisches Beispiel für den<br />

<strong>isolierende</strong>n Sprachtyp genannt. In der Tat hat sich die Wortbildungsstruktur der<br />

chinesischen <strong>Sprache</strong> im Laufe der <strong>Sprache</strong>ntwicklung geändert und folgte nicht völlig<br />

strickt der <strong>isolierende</strong>n Eigenschaft. Zu nennen ist die Reform des klassischen <strong>Chinesisch</strong><br />

zum <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong>. Wir werden uns in den folgenden Abschnitten <strong>mit</strong> den<br />

Eigenschaften der chinesischen <strong>Sprache</strong> beschäftigen und daraus die Typologie der<br />

chinesischen <strong>Sprache</strong> noch genauer bestimmen.<br />

2.3.1 Die wichtigen Begriffe der chinesischen <strong>Sprache</strong><br />

2.3.1.1 <strong>Das</strong> Tripelverhältnis von Zeichen-Silbe-Morphem<br />

Die sprachliche Einheit der Lexik im <strong>Chinesisch</strong>en wird durch drei Elemente ausgedrückt,<br />

und zwar Schriftzeichen – Silbe – Morphem. Im <strong>Chinesisch</strong>en wird dies bezüglich vom<br />

xíng-yin-yì (Form – Laut – Bedeutung) gesprochen (Karl, 1993:4). Mit Form ist die Form<br />

des chinesischen Schriftzeichens gemeint. Der Laut bezeichnet die Lautstruktur der Silbe,<br />

und die Bedeutung spricht von der Bedeutung des <strong>mit</strong>tels dieses Zeichens fixierten, meist<br />

einsilbigen Morphems.<br />

1) Schriftzeichen (zì):<br />

Die chinesische Schrift gehört zum logographischen Schriftsystem. Jedes Schriftzeichen<br />

besteht aus <strong>eine</strong>r bestimmten Anzahl von Strichen <strong>mit</strong> festgelegten Strichfolgen, die vom<br />

Schreiber in <strong>eine</strong>m festgelegten Raum zu schreiben sind. Jedes Schriftzeichen ist <strong>eine</strong> in<br />

sich geschlossene Organisation, die völlig unabhänigig von der lautsprachlichen Struktur<br />

ist (Karl, 1993:5 und Günther, 1988:46).<br />

Beispiel 1:<br />

大<br />

2) Silbe (yinjíe):<br />

Jedes Schriftzeichen vertritt <strong>eine</strong> Silbe. Die Einsilbigkeit der Schriftzeichen gilt <strong>als</strong> das<br />

bekannteste Merkmal der chinesischen <strong>Sprache</strong>. Die Silbe trägt <strong>eine</strong>n


13<br />

bedeutungsdifferenzierenden Ton (siehe Beispiel). Eine Silbe wird in der Regel durch ein<br />

Schriftzeichen repräsentiert.<br />

Beispiel 2:<br />

- zhong (Mitte)<br />

- zhòng (gewinnen)<br />

3) Morphem<br />

In der Linguistik wird das Morphem allgemein <strong>als</strong> die kleinste bedeutungstragende Einheit<br />

definiert. Doch ist diese Definition für die chinesische <strong>Sprache</strong> ziemlich vage. In der<br />

chinesischen Linguistik wird das Morphem aufgrund der besonderen Rolle der Silbigkeit<br />

der <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> die kleinste bedeutungstragende Silbe betrachtet, d.h. ein Morphem ist<br />

<strong>eine</strong> Einheit der Laut-Bedeutungszuordnung. Man kann das Morphem genauer <strong>als</strong> die<br />

kleinste Laut-Bedeutungseinheit definieren (Karl, 1993:7) 5 . Ein Morphem besteht im<br />

Prinzip aus <strong>eine</strong>m Schriftzeichen. Es gibt auch manche Morpheme, die zwei oder mehrere<br />

Schriftzeichen haben. D.h. 1 Morphem ≥ 1 Schriftzeichen<br />

Beispiel 3: 1 Morphem = 1 Schriftzeichen<br />

hua (Blumen)<br />

Beispiel 4: 1 Morphem > 1 Schriftzeichen<br />

ganlan (Olive)<br />

gan und lan tragen eigentlich ganz andere Bedeutung<br />

<strong>als</strong> Olive.<br />

2.3.1.2 Der Begriff „Wort“<br />

Zu erwähnen ist der Begriff „Wort“. In der indoeuropäischen Linguistik wird der Begriff<br />

Wort aus der morphemischen Ebene <strong>als</strong> aus <strong>eine</strong>m oder mehreren Morphemen bestehende<br />

Einheit und aus der semantisch-lexikalischen Ebene <strong>als</strong> kleinster, selbständiger<br />

sprachlicher Bedeutungsträger definiert (Lühr, 1993:131f.). Dieser Begriff war eigentlich<br />

im <strong>Chinesisch</strong>en nicht vorhanden. Er wurde erst um Anfang des 20. Jahrhunderts aus der<br />

indoeuropäischen Linguistik in der chinesischen Linguistik eingeführt. Wenn wir die<br />

indoeuropäische linguistische Definition vom Wort auf die chinesische <strong>Sprache</strong> übertragen<br />

dürfen, dann soll der Begriff „Wort“(cí) nicht <strong>mit</strong> dem Begriff „Schriftzeichen“(zì)<br />

5 Karl übernimmt die Definition von Lu, Zhiwei, der diese Definition in Hànyude gòcífa (1957) eingeführt<br />

hat.


14<br />

verwechselt werden. Auf <strong>Chinesisch</strong> heißt das Wort cí. Ein cí besteht aus <strong>eine</strong>m oder<br />

mehreren Schriftzeichen.<br />

Beispiel 5:<br />

<strong>Das</strong> cí chifàn (Speise, Essen, Mahlzeit)<br />

= chi + fàn<br />

essen (allgemein) + Reis (zubereiteter), Speise<br />

Wenn man das Wort chifàn segmentiert, bekommt man zwei selbständige Wörter, die<br />

jeweils einsilbige Morpheme (Schriftzeichen) <strong>mit</strong> selbständigen Bedeutungen sind. Wenn<br />

man sagt, „ta chifàn“ (er speist), bedeutet das nicht unbedingt, daß er nur Reis ißt, sondern<br />

daß er <strong>eine</strong> Mahlzeit einnimmt. Deswegen kann die Bedeutung <strong>eine</strong>s Wortes (cí) nicht<br />

immer segmentiert verstanden werden. Der Begriff Wortes (cí) im <strong>Chinesisch</strong>en kann<br />

deshalb wie nach Lu Zhiweis Ansicht (1957) <strong>als</strong> kleinste bewegliche Einheit definiert<br />

werden (Karl, 1993:7)<br />

2.3.2 Wortbildungsunterschied zwischen dem klassischen und <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong><br />

Die Hauptänderung vom klassischen <strong>Chinesisch</strong> zum <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong> ist die<br />

Veränderung von der Einsilbigkeit des lexikalischen Morphems zur Zwei- bzw.<br />

Mehrsilbigkeit des lexikalischen Morphems. Dennoch behalten die meisten <strong>moderne</strong>n<br />

chinesischen Wörter noch das Morphembestandteil der klassischen chinesischen Wörter.<br />

Im folgenden wird beispielhaft aufgezeigt, wie die Bildungsformen der <strong>moderne</strong>n<br />

chinesischen Wörter aus den klassischen chinesischen Wörtern umgewandet werden.<br />

1) Einsilbiges Morphem <strong>mit</strong> der gleichen Bedeutung, aber unterschiedlichem<br />

Schriftzeichen.<br />

Beispiel 6: klassisch. modern.<br />

shí ⇒ chi (essen)<br />

zhúo ⇒ chuan (sich anziehen)<br />

wú ⇒ wo (ich)


15<br />

2) Zweisilbiges Morphem (<strong>mit</strong> zwei Schriftzeichen); <strong>eine</strong>r der Zeichenteile behält noch<br />

das klassische chinesische Schriftzeichen.<br />

Beispiel 7: klassisch. modern.<br />

mù ⇒ yanjing (Auge)<br />

rì ⇒ tàiyáng (Sonne)<br />

3) Zweisilbiges Morphem; die erste Morphemsilbe (<strong>als</strong> Stammorphem) wird vom<br />

klassischen chinesischen Zeichen besetzt. <strong>Das</strong> andere Morphem beschreibt oder<br />

verstärkt in den meisten Fällen die lexikalische Bedeutung des Stammorphems.<br />

Beispiel 8: klassisch. modern.<br />

yùe ⇒ yùelìang (Mond) (liang : hell)<br />

er ⇒ erduo (Ohr) (duo : Läppchen)<br />

4) Zweisilbiges Morphem; <strong>eine</strong> der Morphemsilben behält das klassische chinesische<br />

Zeichen und die andere wird von <strong>eine</strong>m Derivationsmorphem besetzt, das nicht<br />

wurzelfähig ist.<br />

Beispiel 9: klassisch. modern.<br />

shi ⇒ laoshi (Lehrer)<br />

ju ⇒ chezi (Auto)<br />

5) Zweisilbiges Morphem, das von dem einsilbigen klassischen chinesischen Morphem<br />

abgeleitet worden ist. Die Schriftzeichen sind nicht gleich wie das klassische<br />

Beispiel 10: klassisch. modern.<br />

nùo ⇒ qùshì (tot, sterben)<br />

wù ⇒ méiyóu (nichts, kein)<br />

2.3.3 Eigenschaften von Morphemen des <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong><br />

Nachdem wir die Züge der Wortbildungskonstruktion des <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong> im vorigen<br />

Abschnitt eingekreist haben, wollen wir in diesem Abschnitt noch näher auf die<br />

Eigenschaften von Morphemen des <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong> eingehen.


16<br />

Kupfer (1980) und Karl haben die Eigenschaften von Morphemen des <strong>moderne</strong>n<br />

<strong>Chinesisch</strong> nach einigen Kategorien klassifiziert. Die beiden Klassifikationsversuche<br />

haben viele Gemeinsamkeiten. Wir werden die beiden Ansichten in den folgenden<br />

Schemata vergleichen und in Zusammenhang bringen.<br />

Nach Kupfer sind die Unterscheidungsmerkmale Offen-/Geschlossenheit der Morpheme,<br />

Frei-/Gebundenheit der Morpheme, ihre Produktivität, Tonalität.<br />

offen frei produktiv wurzelfähig Ton<br />

Kernmorphem + ± + + +<br />

Partikelmorphem − + − + ±<br />

Formbildungsm. − − − −<br />

Derivationsm. − − − / (+) − −<br />

Abb. 5 Eigenschaften von Morphemen des mordernen <strong>Chinesisch</strong><br />

(entnommen aus Kupfer, 1980:65)<br />

Karl (1993) unterscheidet die Eigenschaften der chinesischen Morpheme nach vier<br />

Aspekten in vier Typen.<br />

Morphem<br />

typ<br />

Semantik/<br />

Inhalt<br />

Positionierung d.<br />

Wortbildungskonstruktion<br />

Rolle<br />

Kombinierbarkeit<br />

a denotativ-sem. frei wurzelfähig relativ breit<br />

b operativ-sem. frei/(fest?) wurzelfähig beschränkt<br />

c kategorieal-sem. fest nicht-w-fähig beschränkt<br />

d rein funktional fest nicht-w-fähig relativ breit/<br />

beschränkt<br />

Abb. 6: Typen von Morphemen des <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong> (entnommen aus Karl, 1993:12)<br />

2.3.3.1 Kernmorphem<br />

Beim „Kernmorphem“ und Typ a, Morphem <strong>mit</strong> denotativ-semantischen Strukturen,<br />

handelt es sich um die Morpheme, die wurzelfähig sind und <strong>eine</strong> denotativ-semantische<br />

Bedeutung haben. Sie werden <strong>als</strong> „Grundmorpheme“ oder „Basismorphem“ bezeichnet.<br />

Ihre Kombinierbarkeit ist relativ breit, d.h. sie haben <strong>eine</strong> äußerst produktive Fähigkeit,


17<br />

sich virtuell <strong>mit</strong> anderen Morphemen zu neuen Lexemen zu verbinden. Dennoch meint<br />

Kupfer, daß sie sich in beschränkten Maßen <strong>mit</strong> Partikels- und Derivationsmorphemen<br />

verbinden.<br />

Beispiel 11:<br />

kong (leer, Luftraum)<br />

kongyùn (Lufttransport)<br />

tiankong (Himmel)<br />

kongwuzi (leeres Haus)<br />

*kongshu (leeres Buch)<br />

2.3.3.2 Partikelmorphem<br />

In der zweiten Kategorie spricht Kupfer von Partikelmorphemen. Sie sind freie,<br />

wurzelfähige Morpheme. Produktiv sind sie nicht wie Kernmorpheme, weil sie nur <strong>mit</strong><br />

bestimmten Morphemen bzw. anderen Partikelmorphemen zu verbinden sind. Die<br />

Wortarten, die meistens zu diesem Morphemtyp gehören, sind Präpositionen,<br />

Konjunktionen und Partikeln. Diese Art von Morphemen hat eigentlich <strong>eine</strong> operative<br />

Funktion und verweist auf Zusammenhänge zwischen einzelnen sprachlichen Elementen.<br />

Beispiel 12:<br />

hé (und)<br />

yinci (deswegen)<br />

yinwèi (weil)<br />

2.3.3.3 „Formbildungsmorphem“<br />

Den dritten Morphemtyp bezeichnet Kupfer <strong>als</strong> Formbildungsmorphem. Kupfer hat den<br />

Terminus eingeführt aus der von der Sowjetlinguistik beeinflußten chinesischen<br />

Grammatiktheorie, deren Vertreter Solncev, Korotkow und Jachontov sind. Hier handelt<br />

es sich um einige Morpheme im <strong>Chinesisch</strong>en, die im bestimmten Grad den flektirenden<br />

Charakter enthalten (siehe Abb.7). Sie sind weder offene, wurzelfähige noch freie<br />

Morpheme. Sie haben <strong>eine</strong> feste Position in der Wortbildungskonstruktion und sind nicht<br />

beliebig zu kombinieren. Auf der semantischen Ebene reflektieren sie nicht direkt ein<br />

Denotat, sonderen <strong>mit</strong>telbar. Beispiele dafür sind die verbalen Suffixe –le und –guo. Sie<br />

drücken die Vollendung <strong>eine</strong>r Handlunng aus. Sie sind aber nicht wie bei den


18<br />

flektierenden <strong>Sprache</strong>n nur der grammatische Kategorie zuzuordnen. Sie sind letztendlich<br />

<strong>als</strong> Flexionsmorpheme zu bezeichnen. Die Vollendung der Handlung ebenso wie der<br />

Inhalt der Handlung wird im Bewußtsein des Sprechers selbst reflektiert. Solche<br />

Morpheme sind mehr oder weniger <strong>mit</strong>telbar der semantischen Kategorie relevant, d.h. sie<br />

werden abhängig von der Semantik der betreffenden Lexeme verwendet. Aus dem<br />

obengenannten Grund vertritt Karl (1993) die Meinung, daß diese Morpheme <strong>eine</strong><br />

„zusätzliche Bedeutung“ haben, und zwar die kategorieale Bedeutung(siehe Abb.6) (vgl.<br />

Karl 1993:244f). Der Morphemtyp c ist <strong>mit</strong> dem Formbildungsmorphem im Sinne von<br />

Kupfer(siehe Abb.5) dementsprechend zu vergleichen. Da diese Morpheme mehr oder<br />

weniger semantisch bedingt sind, können sie nicht <strong>als</strong> Flexionsmorpheme zur Konjugation<br />

definiert werden, wie die verbalen Flexionsmorpheme bei den flektierenden <strong>Sprache</strong>n. Im<br />

folgenden werden wir anhand einiger Beispiele in Abb.7 die Argumente ausführlicher<br />

vorbringen.<br />

Arten der Flexion<br />

(Formbildung)<br />

<strong>Chinesisch</strong><br />

Deutsch<br />

Aktionsart<br />

Beispiel:<br />

• Durativität<br />

13. Ta chizhe.<br />

• Er ißt.<br />

Konjugation<br />

• Perfektivität<br />

• Präteritalität<br />

• Inchoativität<br />

14. Ta chile yikuai dangao.<br />

15. Ta chiguo zhezhong<br />

dangao.<br />

16. Zhe yizi zuoqilai hen<br />

shufu.<br />

• Er hat ein Stück<br />

Kuchen gegessen.<br />

• Er hat einmal solchen<br />

Kuchen schon<br />

gegessen.<br />

• Dieser Stuhl ist sehr<br />

gemütlich fürs Sitzen.<br />

Deklination<br />

Numerus<br />

• Singular /<br />

Beispiel:<br />

17. wo / women<br />

• ich / wir<br />

Plural<br />

18. pengyou / pengyoumen<br />

• Fruend / Fruende<br />

Komparation<br />

des Adjektivs<br />

• Komparativ<br />

• Superlativ<br />

Beispiel:<br />

19. hao – genghao, jiaohao<br />

20. hao - zuihao<br />

• schön – schöner<br />

• schön – am schönsten<br />

Ordinalzahlen bildendes Präfix 25. diyi, dier, zuihouyige • erste, zweite, letzte<br />

Abb. 7 <strong>Chinesisch</strong>e Morpheme <strong>mit</strong> flexivischem Charakter<br />

(vgl. Flunk u.a., 1984:27ff und Kupfer, 1980:56ff)


19<br />

Zuerst geht es um die verbale Flexionsmorphologie bei der Aktionsart. Die Aktionsart ist<br />

<strong>eine</strong> semantische Kategorie des Verbs, die den verbalen Vorgang in s<strong>eine</strong>r je besonderen<br />

Art und Weise charakterisiert (Lewandowski, 1994:37f). Und die semantische Ausdrücke<br />

im <strong>Chinesisch</strong>en sind im Gegensatz zum Deutschen nicht strickt auf die syntaktische<br />

Formalität angewiesen, d.h. die verbalen Suffixe sind in der Wortbildungskonstruktion<br />

syntaktisch gesehen nicht obligatorisch. Sie können meistens von <strong>eine</strong>r adverbiale Angabe<br />

ersetzt werden und sind weglaßbar. Im Beispiel 13, Ta chizhe, „-zhe“ drückt <strong>eine</strong> durative<br />

Handlung aus, die präsent ist. Hier kann man „-zhe“ auch durch ein temporales Adverb<br />

ersetzen, und zwar Ta zhengzai chi. (Er ißt jetzt gerade). In Hinsicht auf die<br />

Flexionsmorphologie der flektierenden <strong>Sprache</strong> kann das Suffix -zhe nämlich nicht zum<br />

Flexionsmorphem kategorisiert werden. Beim Beispiel 14 kann man sogar statt „Ta chile<br />

yikuai dangao.“ „Ta ganggang (oder gangcai) chi yikuao dangao.“ (Er hat gerade ein<br />

Stück Kuchen gegessen.) sagen. Ganggang (oder gangcai) bedeutet gerade. Wenn dieses<br />

temporale Adverb in Verbindung <strong>mit</strong> <strong>eine</strong>m Verb benutzt wird, dann drückt es im<br />

<strong>Chinesisch</strong>en bereits <strong>eine</strong> Handlung in <strong>eine</strong>r abgeschlossenen Zeit aus. Im Gegensatz zum<br />

<strong>Chinesisch</strong>en dienen die Flexionssuffixe bei der verbalen Konjugation der deutschen<br />

<strong>Sprache</strong> zum Ausdruck grammatischer Kategorien. Sie sind obligatorisch und nicht<br />

weglaßbar.<br />

Bei der Deklination des Numerus dient das substantivische Suffix –men zur Markierung<br />

des indefiniten Plur<strong>als</strong> bei Personen. Wiederum kann das Suffix durch andere Numeralen<br />

ersetzt werden wie das indefinite Pronomen gewei- (jeder) oder xuduo (einige), suoyou<br />

(alle) usw., weil diese Numerale bereits den Plural andeutet. –men ist in dem Fall nicht<br />

obligatorisch und weglaßbar.<br />

Bei der Komparation des Adjektivs sind die Präfixe geng-, jiao- zum Ausdruck des<br />

komparativen Verhältnisses und zui- zum Ausdruck des superlativen Verhältnisses<br />

obligatorisch. Eine Ersetzung zum Ausdruck solcher ist im <strong>Chinesisch</strong> nicht vorhanden.<br />

Sie sind nicht weglaßbar. Ob sie <strong>als</strong> Flexionsmorpheme für Komparation bezeichnet<br />

werden können, ist auch sehr umstritten. Aber im Vergleich zu verbalen<br />

Flexionsmorphemen behalten sie doch alle Eigenschaften der Flexion von <strong>eine</strong>r<br />

flektierenden <strong>Sprache</strong>.


20<br />

Bei dem letzteren geht es um das Präfix für die Ordinalzahlen. Im Deutschen wird die<br />

Ordnung bloß durch die ordinalen Adjektive zum Ausdruck grbracht. Eine Präfigierung<br />

der Ordinalzahlen ist nicht vorhanden. di- und zuihou- sind bei der Nennung der<br />

Ordinalzahlen obligatorisch. Insbesondere kann zuihou- (das letzte) nicht durch di- ersetzt<br />

werden.<br />

Die verbalen Suffixe -zhe, -le, -guo, -qilai, und die substantivische Plurarendung -men<br />

sind zwar unselbständige/gebundene Morpheme und haben die grundlegende Aufgabe des<br />

Flexionsmorphems erfüllt, die syntaktische Beziehung der Wörter im Satzzusammenhang<br />

zu signalisieren. Doch sind sie in der syntaktischen Ebene fakultativ, weil sie immer durch<br />

andere Wörter sowohl ohne semantische Änderungen <strong>als</strong> auch ohne Verletzung der<br />

syntakgrammatischen Korrektheit ersetzt werden können. In dieser Hinsicht entsprechen<br />

die Charakteristika dieser Morpheme den ursprünglichen Eigenschaften der<br />

Flexionsmorpheme nicht. Aufgrunddessen sind sie nicht <strong>als</strong> Flexionsmorpheme zu<br />

bezeichnen. Diese Morpheme sind eher <strong>als</strong> Formen der sprachlichen Ausdrücke zu<br />

verstehen, die die Beziehung der Wörter im Satzzusammenhang signalisieren. Die<br />

Bezeichnung der Formbildungsmorpheme sind in diesem Zusammenhang durchaus<br />

sinnvoll. Bei den Präfixen der adjektivischen Komparation und Ordinalzahlen handelt es<br />

sich tatsächlich um die Flexionsmorpheme, weil diese Präfixe sowohl in der syntaktischen<br />

<strong>als</strong> auch semantischen Ebene obligatorisch und überhaupt nicht ersetzbar sind. Leider gibt<br />

es k<strong>eine</strong> Präfigierung der Ordinalzahlen in den meisten flektierenden <strong>Sprache</strong>n. Es gibt<br />

nur selbständige Morpheme für Ordinalzahlen. Beispiele sind the first, the second, the<br />

third, ..., the last im Englischen. Aufgrund der Unvergleichbarkeit ist die Präfigierung der<br />

Ordinalzahlen im <strong>Chinesisch</strong>en doch nicht <strong>als</strong> Flexionsmorphem zu bezeichnen.<br />

Wir können aus der oben aufgeführten Diskussion <strong>eine</strong>n Schluß ziehen, daß die<br />

chinesischen Formbildungsparadigmen <strong>mit</strong> syntaktischen und lexikalischen<br />

Ausdrucksmöglichkeiten korrelieren, und zwar meistens im komplementären Sinne. Wir<br />

stellen weiter fest, daß <strong>eine</strong>rseits das <strong>Chinesisch</strong> inhaltliche und strukturelle Redundanzen<br />

kaum toleriert, wie sie in flexionsreichen <strong>Sprache</strong>n geläufig und sogar obligatorisch sind.<br />

Andererseits ist die Fakultativität grammatischer Formen im <strong>Chinesisch</strong>en. Sie orientieren<br />

sich nicht absolut an <strong>eine</strong>r bestimmten Struktur, sondern sind auch vom sprachlichen und<br />

situativen Kontext abhängig (Kupfer, 1980:59).


21<br />

2.3.3.4 Derivationsmorphem<br />

Bei Derivationsmorphemen handelt es sich um Morpheme, die auch geschlossen,<br />

gebunden und nicht wurzelfähig sind. Sie sind größtenteils nicht produktiv. Doch sind sie<br />

zum Teil auch sehr produktiv. Ihre Kombinierbarkeit ist deswegen beschränkt oder auch<br />

relativ breit zu unterstellen. Im folgenden sollen die produktiven und unproduktiven<br />

Derivationsmorpheme des <strong>Chinesisch</strong>en aufgezeigt werden. Die Anzahl der relativ<br />

unproduktiven bzw. der beschränkt kombinierbaren Derivationsmorpheme beträgt nach<br />

<strong>eine</strong>r Untersuchung knapp zehn Elemente (Kupfer, 1980:64, Beutel, 1993:41). Sie werden<br />

im folgenden aufgezählt.<br />

• lao- (vor manchen einsilbigen Tiernamen)<br />

Beispiel 26<br />

láohu (Tiger), láoshu (Ratte)<br />

Leider kann lao- nicht vor allen einsilbigen Tiernamen stehen.<br />

Beispiel 27<br />

*laolóng (Drachen), *laoshi (Löwe)<br />

sondern lóng shizi<br />

• -er, -tou, -zi (Nomin<strong>als</strong>uffixe)<br />

Beispiel 28<br />

nüér (Tochter), xiaoér (Kind, Mein Kl<strong>eine</strong>s) (Wortartsänderung:<br />

nü (weiblich), xiao (klein) Adjektiv <br />

Substantiv)<br />

Beispiel 29<br />

zhitou (Zettel), shouzhitou (Finger), shitou (Stein)<br />

Beispiel 30<br />

rìzi(Tag), fángzi(Haus), chezi(Auto)<br />

Beispiel 31<br />

pàngzi (Dicker), shazi (Dummer) (Wortartsänderung:<br />

pàng (dick), sha (dumm) Adjektiv Substantiv)<br />

• -miàn, -bian, tou, jian (für lokale und abstrakte Positionsbezeichnungen)<br />

Beispiel 32<br />

limian (drinnen), libian (drinnen), litou (drinnen),


eryuejian (innerhalb Februar)<br />

(Wortartsänderung: Substantiv Adverb)<br />

• -de, -zhe (für Personenbezeichnungen)<br />

Beispiel 33<br />

xiezùode (Schriftsteller), jiaoshude (Lehrer)<br />

dúzhe (Leser), zùozhe (Autor) (Wortartsänderung:<br />

Verb Substantiv)<br />

22<br />

Unter diesen Morphemen (von Beispiel 26 bis Beispiel 32) ist ein Punkt zu beachten,<br />

nämlich ob die Wortarten der Wörter durch die Derivationsmorpheme geändert werden<br />

oder nicht. Bei Beispiel 26, 29, 30 gibt es k<strong>eine</strong> Wortartsänderung nach der Derivation.<br />

Auf der semantischen Ebene sind sie rein funktional. Sie sind formale Strukturbildungen,<br />

um sich zu bisyllabisieren (vgl. Karl, 1993:290). Bei Beispiel 28, 31, 32, 33 ist<br />

Wortartänderung aufgetreten, was das wichtigste Merkmal der Derivation aufweist. Die<br />

oben aufgelisteten Derivationsmorpheme sind die Wortbildungsmorpheme, die manchmal<br />

schwierig von Formbildungsmorphemen zu unterscheiden sind. Es gibt noch einige<br />

Derivata, die relativ produktiv und leicht zu erkennen sind wie ke- (-bar), -dù (-grad), -fa (-<br />

methode), -huà (-ieren), -shì (-förmig, -weise), -xìng (-keit) usw.<br />

2.4 Abgrenzungskriterien von Formbildungsmorphemen und Derivationsmorphemen<br />

im <strong>Chinesisch</strong>en<br />

Im <strong>Chinesisch</strong>en ist die Gesamtmenge der Formbildungsmorpheme und Derivata relativ<br />

klein, so daß die Abgrenzungskriterien bzw. die Unterscheidungskriterien leichter zu<br />

erfassen sind <strong>als</strong> in anderen <strong>Sprache</strong>n. Wir werden in diesem Abschnitt versuchen, die<br />

Eigenschaften der Formbildungs- und Derivationsmorpheme zu unterscheiden und einige<br />

Unterscheidungskriterien anhand der vorgegebenen linguistischen Literatur<br />

herauszuarbeiten.


23<br />

Die vorgegebenen Literaturen, die sich <strong>mit</strong> der Abgrenzung von Flexion und Derivation<br />

beschäftigen, beschränken sich natürlich auf die flektierenden <strong>Sprache</strong>n. Wurzel (1984)<br />

hat die Abgrenzung zwischen Flexion und Derivation allgemein in neun Kriterien<br />

aufgestellt. Bassarak (1985) hat anhand türkischer Verbformen die Abgrenzung zwischen<br />

Flexion und Derivation herausgearbeitet. Obwohl die Flexion und die Formbildung im<br />

<strong>Chinesisch</strong>en m<strong>eine</strong>r Meinung nach nicht gleichzusetzen sind, sind die vorgegebenen<br />

Literaturen doch <strong>eine</strong> Orientierung für die Unterscheidung zwischen Formbildungs- und<br />

Derivationsmorphemen im <strong>Chinesisch</strong>en.<br />

Kriterium 1 Wortartkonstanz<br />

Formbildungsmorphologische Operationen sind wortartkonstant, d.h. die Suffigierung<br />

ändert die Wortart des Stammorphems nicht. Derivationsmorphologische Operationen<br />

sind wortartverändert.<br />

Kriterium 2 Die Position der Morpheme im Wort<br />

Die Formbildungsmorpheme nehmen innerhalb des Wortes die äußere Posistion ein, die<br />

Derivationsmorpheme die innere.<br />

Kriterium 3 Bedeutungsvorhersagbarkeit<br />

Die Bedeutung der Derivationsmorpheme ist regulär erschließbar, die Bedeutung der<br />

Formbildungsmorpheme nicht. Dieses Kriterium ist nicht plausibel, weil die Bedeutung<br />

der Derivationsmorphemen nicht ohne Ausnahme erschließbar ist. Bei dem Beispiel 26 ist<br />

die Bedeutung des ormbildungspräfixes –lao ohne das Stammelement nicht erschließbar.<br />

Die ursprüngliche Bedeutung von lao ist alt. Wenn es <strong>als</strong> Präfix verwendet wird, verliert<br />

es s<strong>eine</strong> ursprüngliche Bedeutung.<br />

Kriterium 4 Bildbarkeit<br />

Gemeint hier ist die Produktivität der Morpheme. Bei den Formbildungsmorphemen tritt<br />

<strong>eine</strong> paradigmatische Regelmäßigkeit auf (Kupfer, 1980:57). –men kann an die meisten<br />

personalen Substantive und Pronomen angehängt werden. Fast alle Verben können die<br />

Suffixe –le, -zhe und –guo annehmen. Im Gegensatz dazu beschränken sich die<br />

Derivationsmorpheme lediglich auf <strong>eine</strong>n Bruchteil des Lexembestandes und bringen<br />

größtenteils k<strong>eine</strong> klar bestimmbaren Bedeutungskategorien zum Ausdruck.


3 Zusammenfassung und Schlußbemerkung<br />

24<br />

Wir haben uns in dieser Arbeit hauptsächlich <strong>mit</strong> der Aussage auseinandergesetzt, daß „die<br />

chinesische <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>eine</strong> <strong>isolierende</strong> <strong>Sprache</strong> <strong>mit</strong> flexivischem Charakter sei.“. Wir<br />

haben die Begründung dieser Aussage überprüft und sind zu den folgenden<br />

Schlußfolgerungen gekommen:<br />

1) Die chinesische <strong>Sprache</strong> vertritt in der Sprachtypologie ein typisches Beispiel für die<br />

<strong>isolierende</strong> <strong>Sprache</strong>. Dies gilt nur beim klassischen <strong>Chinesisch</strong>, weil es die<br />

sprachlichen Redundanzen vermeidet und <strong>eine</strong>r der einfachsten Sprachbaus der<br />

Weltsprachen ist. Im Laufe der chinesischen <strong>Sprache</strong>ntwicklung hat sich das<br />

Wortschatzinventar vermehrt, so daß die chinesische <strong>Sprache</strong> durch neue<br />

Ausdruckselemente mehr sprachliche Redundanzen toleriert, und zwar meistens durch<br />

die Änderunng von der Einsilbigkeit zur Zwei- oder Mehrsilbigkeit des Wortes. Die<br />

Haupteigenschaft des <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong> wird gerade dadurch gekennzeichnet.<br />

2) Darüber hinaus enthält die Worteinheit von <strong>eine</strong>r begrenzten Anzahl der <strong>moderne</strong>n<br />

chinesischen Wörtern mehr <strong>als</strong> ein Aufgabeelement, und zwar im Sinne von Humboldt<br />

die Bezeichnung des Begriffs und die Andeutung der grammatischen Kategorie. Die<br />

erste Aufgabe erfüllt nur die <strong>isolierende</strong> <strong>Sprache</strong>, während die flektierende <strong>Sprache</strong> die<br />

beiden Aufgaben zu erfüllen hat. Die Aufgabeerweiterung der <strong>moderne</strong>n chinesischen<br />

Wörter ist ein deutlicher Hinweis dafür, daß diese <strong>Sprache</strong> in gewisser Weise <strong>eine</strong><br />

flektierende Eigenschaft hat.<br />

3) Weiter haben wir die Morpheme des <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong>en in vier Typen klassifiziert.<br />

Insbesondere zu nennen ist das sog. Formbildungsmorphem. Gemeint ist jenes<br />

Morphem, das <strong>als</strong> das Affix auftritt und bei der Erfüllung der Aufgabe <strong>eine</strong>r<br />

Worteinheit zur grammatischen Andeutung dient. Dennoch ist solches Morphem nicht<br />

<strong>mit</strong> dem Flexionsmorphem in flexionsreichen <strong>Sprache</strong>n gleichzusetzen, denn solch ein<br />

grammatisches Andeutungsformelement ist fakultativ bei der Wortkonstruktion des<br />

<strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong>. Dessen Fakultativität hängt hauptsächlich vom sprachlichen<br />

und situativen Kontext ab. Sie ist nicht strukturell-grammatisch bestimmt, sondern<br />

lexikalisch-semantisch bedingt.<br />

4) Die situative Eliminierung der sprachlichen Redundanzen läßt sich zu <strong>eine</strong>m relativ<br />

flexiblen Wortbildungssystem in der chinesischen <strong>Sprache</strong> aufbauen. Diese<br />

sprachliche Besonderheit wurde leider jahrhundertelang von <strong>eine</strong>r großen Anzahl der<br />

sprachtypologischen Forscher <strong>als</strong> die „urspüngliche Armut der <strong>Sprache</strong>“ untergestellt.


25<br />

Die Annahme <strong>mit</strong> qualitativer Bewertung <strong>eine</strong>s Teiles des menschlichen Kulturgutes<br />

kann heutzutage wohl nicht mehr von den meisten linguistischen Fachleuten der<br />

objektiven wissenschaftlichen Methoden akzeptiert werden.


Inhaltsverzeichnis<br />

26<br />

1. Bassarak, A. (1989): Zur Abgrenzung zwischen Flexion und Derivation (anhand<br />

türkischer Verbformen). In: Wurzel, W.U. (Hrsg.): Studien zur Morphologie und<br />

Phonologie I. Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte 126. Berlin: Akademie<br />

der Wissenschaften. S. 1-50.<br />

2. Cesare, D.D. (1998): Einführung, In: Humboldt, Wilhelm von (1998): Über die<br />

Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige<br />

Entwicklung des Menschengeschlechtes, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh. S.<br />

3. Fluck, H.R./Li, Zaize/Zhao, Qichang (1984): Kontrastive Linguistik Deutsch-<br />

<strong>Chinesisch</strong>. Heidelberg: Julius Groos Verlag<br />

4. Humboldt, W.von (1998): Über die Verschiedenheit des menschlichen<br />

Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des<br />

Menschengeschlechtes, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh. S.<br />

5. Ineichen, G. (1991): Allgem<strong>eine</strong> Sprachtypologie. Ansätze und Methoden.<br />

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.2. Auflage.<br />

6. Karl, I (1993): Generelle Aspekte einiger Grundbegriffe der Wortbildung und<br />

Annahmen zu <strong>eine</strong>m Lexikon im <strong>Chinesisch</strong>en. In: Karl, I/Beutel, H/Richter, G/Spies,<br />

G: <strong>Chinesisch</strong>e Wortbildung, Studien zur Theorienbildung und Wortstruktur-<br />

Beschreibung, Heidelberg: Julius Groos Verlag, S. 1-39<br />

7. Karl, I (1993): Zum morphologischen Status der Reduplikation und zu ihrer Rolle in<br />

der chinesischen Wortbildung. In: Karl, I/Beutel, H/Richter, G/Spies,<br />

G: <strong>Chinesisch</strong>e Wortbildung, Studien zur Theorienbildung und Wortstruktur-<br />

Beschreibung, Heidelberg: Julius Groos Verlag, S.231-330<br />

8. Kupfer, P (1980): Morphemklassen und Wortstrukturen im <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong>en.<br />

In: Schützeichel, R: Sprachwisschenschaft. Heidelberg: Carl Winter<br />

Universitätsverlag. S. 53-72<br />

9. Kupfer, P (1979): Wortarten im <strong>moderne</strong>n <strong>Chinesisch</strong>en, Zur Entwicklung und<br />

Etablierung <strong>eine</strong>r grammatischen Kategorie im Rahmen der chinesischen Linguistik.<br />

Bonn.<br />

10. Lühr, R (1993): Neuhochdeutsch, <strong>eine</strong> Einführung in die Sprachwissenschaft.<br />

München: Wilhelm Fink Verlag. 4. Auflage<br />

11. Wurzel, W.U. (1984): Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Berlin: Akademie-<br />

Verlag.

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