18.11.2014 Aufrufe

WALDE+GRAF Joe Brainard Ich erinnere mich - Applaus

WALDE+GRAF Joe Brainard Ich erinnere mich - Applaus

WALDE+GRAF Joe Brainard Ich erinnere mich - Applaus

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Joe</strong> <strong>Brainard</strong><br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong><br />

<strong>WALDE+GRAF</strong>


<strong>Joe</strong><br />

<strong>Brainard</strong><br />

<strong>Ich</strong><br />

<strong>erinnere</strong><br />

<strong>mich</strong><br />

aus dem<br />

Amerikanischen<br />

von Uta Goridis


Die amerikanische Originalausgabe des<br />

vorliegenden Buchs erschien 1975 unter<br />

dem Titel I REMEMBER bei Full Court Press,<br />

New York. Auf folgende drei Publikationen<br />

wurde bei der Auswahl zurückgegriffen:<br />

I REMEMBER (1970), I REMEMBER MORE (1972)<br />

sowie MORE I REMEMBER MORE (1973).<br />

Alle Titel erschienen seinerzeit bei<br />

Angel Hair Books – T.p. verso.<br />

Copyrightangaben zur amerikanischen<br />

Originalausgabe:<br />

I REMEMBER<br />

© 1975 by <strong>Joe</strong> <strong>Brainard</strong><br />

© 2011 by The Estate of <strong>Joe</strong> <strong>Brainard</strong><br />

Foreword © 2011 by Paul Auster<br />

All rights reserved<br />

First published by Full Court Press,<br />

New York<br />

Copyright für die deutschsprachige<br />

Ausgabe:<br />

© 2011 by <strong>WALDE+GRAF</strong> Verlag AG, Zürich<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Weiterverwendung und Vervielfältigung<br />

nur mit ausdrücklicher Genehmigung<br />

des Verlages gestattet.<br />

Übersetzung: Uta Goridis, D-Berlin<br />

Gestaltung und Illustrationen: Bon Bon Büro,<br />

Umschlaggestaltung: Bon Bon Büro, D-Berlin,<br />

unter Verwendung einer Arbeit von<br />

<strong>Joe</strong> <strong>Brainard</strong><br />

Druck und Bindung: Kösel GmbH & Co. KG,<br />

D-Altusried/Krugzell<br />

ISBN 978-3-03774-040-8<br />

<strong>WALDE+GRAF</strong>


Paul Auster über<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> von <strong>Joe</strong> <strong>Brainard</strong><br />

<strong>Ich</strong> kann <strong>mich</strong> nicht erinnern, wie oft ich I Remember gelesen<br />

habe. Entdeckt hatte ich das Buch 1975, kurz nach<br />

seinem Erscheinen, und in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten<br />

bin ich immer wieder darauf zurückgekommen,<br />

insgesamt vielleicht acht Mal. Der Text ist nicht lang (nur<br />

138 Seiten in der Originalausgabe), umso erstaunlicher ist<br />

es, dass ich jedes Mal, wenn ich <strong>Joe</strong> <strong>Brainard</strong>s kleines Meisterwerk<br />

aufschlage, das merkwürdige Gefühl habe, es zum<br />

ersten Mal in der Hand zu halten. Abgesehen von ein paar<br />

unvergesslichen Passagen sind mir dann beinahe alle auf<br />

den Seiten von I Remember festgehaltenen Erinnerungen<br />

wieder entfallen. Es gibt einfach zu viele Details, und zu<br />

viel Leben steckt in <strong>Brainard</strong>s ständig sich verschiebender,<br />

wirbelnder Collage von Erinnerungen, um im Gedächtnis<br />

einer Person über längere Zeit Platz zu finden, und deshalb<br />

<strong>erinnere</strong> ich <strong>mich</strong> zwar an viele Einträge, wenn ich auf sie<br />

stoße, an viele aber auch nicht. Das Buch bleibt neu und<br />

fremd und immer überraschend – I Remember ist zwar<br />

ein schmales Bändchen, aber unerschöpflich. Es ist eines<br />

dieser seltenen Bücher, die einen ein Leben lang bereichern.<br />

<strong>Brainard</strong>, ein äußerst produktiver, bildender Künstler<br />

und bis dato Gelegenheitsschriftsteller, stieß im Sommer<br />

1969 auf das ebenso einfache wie geniale Kompositionsschema<br />

von I Remember. Er war erst siebenundzwanzig,<br />

aber hochbegabt und trotz seiner jungen Jahre ein vollendeter<br />

5


Künstler, eine Art frühreifer „boy artist“, der schon als<br />

Student in Tulsa, Oklahoma, seine Arbeiten ausgestellt und<br />

viele Preise gewonnen hatte. Noch vor seinem zwanzigsten<br />

Geburtstag war er in Manhattans Lower East Side gelandet,<br />

und 1969 gehörte er bereits zu den Veteranen der New Yorker<br />

Kunstszene, bekannt durch mehrere Einzelausstellungen<br />

und zahlreiche Gruppenausstellungen sowie durch die<br />

Cover, die er für Dutzende kleinerer Literaturzeitschriften<br />

und Lyrikbände gestaltet hatte. Dazu kamen Bühnenmalereien<br />

für Theaterstücke von LeRoi Jones und Frank<br />

O’Hara und die (meist äußerst komischen) Comicstrips in<br />

Zusammenarbeit mit einer langen Liste von befreundeten<br />

Poeten. Collagen, große und kleine Assemblagen, Zeichnungen<br />

und Ölbilder – sein Werk war vielfältig, und er<br />

produzierte unablässig – und obendrein fand er auch noch<br />

Zeit zu schrei ben. Vor seinem überraschenden Durchbruch<br />

1969 hatte <strong>Brainard</strong> Gedichte, Tagebücher und kurze Prosastücke<br />

in mehreren, von der New York School herausgegebenen<br />

Literaturmagazinen und Fanzines veröffentlicht<br />

und auch schon seinen eigenen Stil entwickelt – charmant,<br />

augenzwinkernd, unprätentiös, transparent und häufig die<br />

Grammatik missachtend. Diese Eigenschaften zeichnen<br />

auch I Remember aus, nur dass er hier beinahe zufällig<br />

auf ein Ordnungsprinzip gestoßen war, das seiner Prosa<br />

eine ganz andere Dimension verlieh.<br />

Mit seiner ihm eigenen Leichtigkeit und Klarsicht beschreibt<br />

<strong>Brainard</strong> in einem, im selben Sommer verfassten<br />

6


Brief an die Lyrikerin Anne Waldmann die Hochstimmung,<br />

in die ihn sein neues Projekt versetzte: „<strong>Ich</strong> bin völlig überwältigt<br />

von diesem Stück Prosa, an dem ich gerade schreibe.<br />

<strong>Ich</strong> fühle <strong>mich</strong> wie Gott, der die Bibel schreibt. Es ist, als<br />

würde ich nicht selbst schreiben, aber es würde wegen mir<br />

geschrieben. Und ich habe das Gefühl, dass es jeden genauso<br />

betrifft wie <strong>mich</strong>. Das gefällt mir. <strong>Ich</strong> meine, ich<br />

kann <strong>mich</strong> in jeden hineinversetzen. Kein schlechtes Gefühl.<br />

Es wird nicht anhalten. Aber ich genieße es, solange<br />

ich kann.“<br />

I Remember … das Prinzip erscheint so offensichtlich,<br />

so selbstverständlich, so grundlegend und auch so uralt –<br />

wie eine Zauberformel, die seit der Erfindung der Schrift<br />

bekannt ist. Man schreibe die Worte: <strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>,<br />

gehe einen Moment in sich, damit der Geist sich öffnen<br />

kann, und schon wird man sich zwangsläufig erinnern,<br />

und zwar so deutlich und detailliert, dass man erstaunt ist.<br />

Inzwischen wird diese Methode in allen Kursen für kreatives<br />

Schreiben angewendet, bei Kindern, Studenten oder<br />

Senioren, und immer mit dem Ergebnis, dass längst vergessene<br />

Einzelheiten einer gelebten Erfahrung an die Oberfläche<br />

kommen. Siri Hustvedt schreibt in ihrem vor kurzem<br />

erschienenen Buch Die zitternde Frau oder Eine Geschichte<br />

meiner Nerven: „<strong>Joe</strong> <strong>Brainard</strong> entdeckte eine Gedächtnismaschine.“<br />

Aber wenn man diese Maschine entdeckt hat, wie benutzt<br />

man sie dann? Wie bändigt man die Erinnerungen,<br />

7


die durch einen hindurch in das Kunstwerk strömen, wie<br />

macht man ein Buch daraus, das auch andere und nicht<br />

nur einen selbst anspricht? Seit 1975 haben viele ihre eigene<br />

Version von I Remember geschrieben, aber keiner hat es<br />

auch nur annähernd geschafft, den Geist von <strong>Brainard</strong>s<br />

Original zu kopieren; über das rein Private und Persönliche<br />

so hinauszugehen, dass es ein Stück über jeden wird – wie<br />

alle großen Romane jeden von uns spiegeln. Es scheint mir,<br />

dass <strong>Brainard</strong>s Geheimnis das Zusammenspiel verschiedener<br />

Kräfte ist, die gleichzeitig durch das ganze Buch<br />

hindurch wirken: die hypnotische Macht der Beschwörungsformel;<br />

die Ökonomie der Prosa; der Mut des Autors,<br />

private Dinge (meist sexueller Natur) zu enthüllen, die die<br />

meisten von uns schamhaft verschweigen würden; das Auge<br />

des Malers für Details; die Gabe des Geschichtenerzählens;<br />

das Widerstreben, über andere zu urteilen; die innere<br />

Wachsamkeit, der Mangel an Selbstmitleid, die Modulation<br />

des Tons, der mal geradeheraus, mal poetisch ist. Und getragen<br />

wird dies alles von dieser äußerst komplexen (und<br />

äußerst ansprechenden) musikalischen Struktur des Buchs<br />

in seiner Gesamtheit.<br />

Mit Musik meine ich Kontrapunkt, Fuge und Wiederholung,<br />

das Verweben unterschiedlicher Stimmen in<br />

diesen knapp tausendfünfhundert Einträgen des Buches.<br />

Ein Thema wird für kurze Zeit aufgenommen, fallengelassen<br />

und dann wieder aufgegriffen, vergleichbar mit<br />

einem Horn, das für ein paar Augenblicke in einem<br />

8


Orchesterstück ertönt, um von einer Violine abgelöst zu<br />

werden, die wiederum einem Cello weicht, bis das Horn,<br />

beinahe schon vergessen, plötzlich wieder zurückkehrt.<br />

I Remember ist ein Musikstück für mehrere Instrumente<br />

und unter den verschiedenen Saiten- und Holzblasinstrumenten,<br />

die <strong>Brainard</strong> in seiner mäandernden, stets wechselnden<br />

Komposition einsetzt, befinden sich:<br />

Familie (mehr als siebzig Einträge), zum Beispiel: „<strong>Ich</strong><br />

<strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an meinen Vater im Ballettröckchen. Als<br />

Ballerina in einem Varieté-Spektakel in der Kirche.“ … „<strong>Ich</strong><br />

<strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass mir Vater zu förmlich vorkam, und<br />

Daddy sowieso nicht zur Diskussion stand, während Dad<br />

zu gewollt-locker klang. Da es aber das geringste von drei<br />

Übeln zu sein schien, entschied ich <strong>mich</strong> für gewollt-locker.“<br />

… „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an das einzige Mal, dass ich meine<br />

Mutter weinen sah. <strong>Ich</strong> aß einen Aprikosenkuchen.“<br />

Essen (ungefähr hundert Einträge), erwähnt werden gezuckertes<br />

Butterbrot, Salz auf Wassermelonen, Kaubonbons<br />

in Kinos und immer wieder Eiscreme, beispielsweise „<strong>Ich</strong><br />

<strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, wie gut ein Glas Wasser nach einer Portion<br />

Eis schmecken kann.“<br />

Kleidung (ungefähr neunzig Einträge), erwähnt werden<br />

rosarote Hemden, Pillbox-Hüte und mit Fischen bedruckte,<br />

breite Krawatten. (<strong>Brainard</strong>s allererster Berufswunsch war<br />

Modedesigner.)<br />

Filme, Filmstars, Fernsehen und Popmusik<br />

(mehr als hundert Einträge), genannt werden Perry Como,<br />

9


Liberace, Hopalong Cassidy, Dinah Shore, Tab Hunter,<br />

Marilyn Monroe (mehrere Male) Montgomery Clift, Elvis<br />

Presley, Judy Garland, Jane Russel, Lana Turner, der Lone<br />

Ranger und viele andere. „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass Betty<br />

Grables Beine für eine Million Dollar versichert waren.“ …<br />

„<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an Gerüchte darüber, was Marlon Brando<br />

alles für seine erste Rolle machen musste.“ … „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong><br />

<strong>mich</strong> an Gina Lollobrigidas extrem schmale Taille<br />

in Trapez.“<br />

Schule und Kirche (ungefähr hundert Einträge), zum<br />

Beispiel: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, wie wichtig es für <strong>mich</strong> in der<br />

High School war, gut auszusehen und beliebt zu sein.“ …<br />

„<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an einen Geschichtslehrer, der uns damit<br />

drohte, er würde aus dem Fenster (im zweiten Stock) springen,<br />

wenn wir nicht sofort ruhig wären.“ … „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong><br />

<strong>mich</strong>, wie die Uhr von drei auf halb vier vorrückte.“ …<br />

„<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich zwei Jahre lang im Spanischunterricht<br />

mogelte, indem ich die Übersetzungen der Wörter<br />

vorab ganz schwach mit Bleistift eintrug.“<br />

Der Körper (mehr als hundert Einträge), sie reichen von<br />

intimen persönlichen Bekenntnissen: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>,<br />

dass ich mir einmal meinen Schwanz und meine Eier ganz<br />

genau anschaute und absolut abstoßend fand“ bis zur Beobachtung<br />

anderer: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an einen großen<br />

stämmigen Jungen namens Teddy, und wie haarig die Beine<br />

seiner Mutter waren. (Lange schwarze Haare, die von Nylons<br />

platt gedrückt wurden.)“<br />

10


Träume, Tagträumereien, Phantasien (mehr als<br />

siebzig Einträge), häufig sexueller Art: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong><br />

an Wichsphantasien, in denen ich es mit einem Fremden<br />

im Wald trieb“, aber ebenso häufig auch nicht: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong><br />

<strong>mich</strong>, dass ich mir vorstellte, ich wäre ein Sänger und würde<br />

ganz allein auf einer leeren Bühne ohne irgendwelche Requisiten<br />

stehen, außer einem Scheinwerfer, der auf <strong>mich</strong><br />

gerichtet war. <strong>Ich</strong> würde mein Lied herausschmettern und<br />

meine Zuhörer zu Tränen der Liebe und Zuneigung<br />

rühren.“<br />

Feiertage (fünfzig Einträge), sie kreisen um Weihnachten,<br />

Thanksgiving, Ostern, Halloween und den Vierten Juli:<br />

„<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, wie trist der Weihnachtstag ist, nachdem<br />

man die Geschenke ausgepackt hat.“<br />

Gegenstände und Produkte (mehr als 130 Einträge),<br />

darunter Lampen aus Treibholz, Perlen zum Auffädeln, mit<br />

Bohnensäckchen beschwerte Aschenbecher, Plastiktoilettensitze<br />

mit Perlmuttschimmer, mit Edelsteinen besetzte<br />

Flaschenöffner, Ace-Kämme, Rollschuhschlüssel, Aspergum,<br />

verbeulte Tischtennisbälle und Miniaturbibeln. „<strong>Ich</strong><br />

<strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an die ersten Tintenkulis. Sie rutschten auf<br />

dem Papier und bildeten kleine Tintenklümpchen, die sich<br />

an der Spitze sammelten.“<br />

Sex (mehr als fünfzig Einträge), beschrieben werden erste<br />

heterosexuelle Fummeleien auf der High School: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong><br />

<strong>mich</strong>, wie mir zum ersten Mal einer runtergeholt<br />

wurde (ich bin nie von selbst darauf gekommen). <strong>Ich</strong> hatte<br />

11


keine Ahnung, was sie da anstellte und lag wie ein Zombie<br />

einfach nur da, ohne <strong>mich</strong> zu rühren“ – später dann homosexuelle<br />

Erfahrungen und flüchtige Kontakte mit der<br />

homosexuellen Szene: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich mir<br />

Vorwürfe machte, nicht die Jungs abzuschleppen, die ich<br />

wahrscheinlich hätte abschleppen können, weil ich Angst<br />

vor einer Abfuhr hatte“ – und auch allgemeinere (oft sehr<br />

anrührende) Bemerkungen: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an frühe<br />

sexuelle Erfahrungen und weiche Knie. <strong>Ich</strong> bin mir sicher,<br />

dass Sex jetzt viel besser ist, aber weiche Knie vermisse ich<br />

schon.“<br />

Witze und Alltagssprache (mehr als vierzig Einträge),<br />

darunter auch makabre Witze, Mary-Ann-Witze: „<strong>Ich</strong><br />

<strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an ‚Mammi, Mammi, ich mag meinen kleinen<br />

Bruder nicht.‘ ‚Sei still, Mary Ann, du isst, was auf den<br />

Tisch kommt.‘“ Vertreter-Witze und Redewendungen wie<br />

„to coin a phrase“, „See you later alligator“, „Weil ich’s dir<br />

sage, darum“ und „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an den flapsigen<br />

Kommentar ‚oopsy daisy‘, wenn ein Baby umfällt.“<br />

Freunde und Bekannte (mehr als neunzig Einträge),<br />

häufig in der Form von kleinen Geschichten und gewöhnlich<br />

auch länger als andere Teile des Buchs. Ein Beispiel:<br />

„<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an die Bridge-Lehrerin meiner Eltern.<br />

Sie war ziemlich beleibt, ein richtiger Kerl (Kurzhaarschnitt)<br />

und Kettenraucherin. Wie sie stolz verkündete,<br />

brauchte sie keine Streichhölzer mit sich herumzuschleppen,<br />

da sie sich jede neue Zigarette an der alten anzündete. Sie<br />

12


lebte in einem kleinen Haus hinter einem Restaurant und<br />

ist uralt geworden.“ Ein weiteres Beispiel: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong><br />

<strong>mich</strong> an Anne Kepler. Sie spielte Flöte. <strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong><br />

an ihre geraden Schultern. <strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an ihre großen<br />

Augen. An ihre leicht römische Nase. Und ihre vollen Lippen.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an ein Ölbild, das ich von ihr beim<br />

Flöten gemalt habe. Vor ein paar Jahren kam sie bei einem<br />

Feuer in einem Brooklyner Kinderheim um, wo sie ein<br />

Flötenkonzert gegeben hatte. Die Kinder wurden alle gerettet.<br />

Sie hatte etwas von weißem Marmor an sich.“<br />

Autobiographische Fragmente (zwanzig Einträge),<br />

ein von <strong>Brainard</strong> weniger konsequent verfolgtes und erforschtes<br />

Thema, aber von fundamentaler Wichtigkeit für<br />

das Verständnis seines Werks, seines Lebens. Er berichtet<br />

über seine Ankunft in New York, sein Stottern, seine Befangenheit,<br />

seine erste Begegnung mit dem Lyriker Frank<br />

O’Hara, seine Armut, seine völlige Mittellosigkeit während<br />

seiner ersten Zeit in Boston: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, wie ich<br />

aus den Aschern vor dem Bostoner Kunstmuseum Kippen<br />

herausfischte“, über das unglückliche, kurze Zwischenspiel<br />

als Stipendiat am Dayton Art Institute: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong><br />

an die Kunstmesse in Dayton, Ohio“, und er schildert ausführlich,<br />

wie er sich mustern ließ und einen Ablehnungsbescheid<br />

bekam, nachdem er sich als Homosexueller zu<br />

erkennen gegeben hatte (obwohl er damals noch jungfräulich<br />

gewesen ist). Vor Augen steht uns ein von Selbstzweifeln<br />

geplagter Künstler, auf die wahrscheinlich auch sein<br />

13


Entschluss zurückzuführen ist, in den letzten fünfzehn<br />

Jahren seines Lebens nicht mehr auszustellen, wie aus diesem<br />

lakonischen, aber umso eindringlicheren Eintrag zu<br />

ersehen ist: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich <strong>mich</strong> für einen<br />

großen Künstler hielt.“<br />

Erkenntnisse und Geständnisse (vierzig Einträge),<br />

die meisten beschäftigen sich mit <strong>Brainard</strong>s Innenleben<br />

und Charakter und handeln von seiner extremen Schüchternheit:<br />

„<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich nie vor anderen Leuten<br />

weinte.“ … „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich es mir peinlich<br />

war, <strong>mich</strong> in der Öffentlichkeit zu schnäuzen“, seiner Befangenheit<br />

bei gesellschaftlichen Anlässen („<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong><br />

<strong>mich</strong> an Partys, an denen man wirklich alles versucht hat,<br />

um eine Unterhaltung am Leben zu erhalten – sich dann<br />

aber immer noch wie angewachsen gegenüberstand.“), und<br />

hier und da tauchen Beispiele von überwältigender emotionaler<br />

Klarheit auf: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass das Leben<br />

damals schon so schwer war wie heute“, was vielleicht der<br />

wichtigste Satz im Buch ist, der Grund, weshalb sich die<br />

tausendfünfhundert Fragmente von I Remember zu einem<br />

so beständigen und ganzheitlichen Stück zusammenfügen.<br />

Grübeleien (mehr als dreißig Einträge), verfolgt werden<br />

die flüchtigen Gedanken, die einem so durch den Kopf<br />

schießen, die Irrungen und Wirrungen eines Jugendlichen,<br />

der die Welt zu ergründen versucht, die kuriosen Fragen,<br />

die sich jeder irgendwann einmal stellt: „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>,<br />

dass ich nicht verstand, warum die Leute auf der anderen<br />

14


Seite der Erdkugel nicht herunterfielen.“ … „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong><br />

<strong>mich</strong>, dass ich <strong>mich</strong> fragte, ob Mädchen auch furzen.“ …<br />

„<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich <strong>mich</strong> fragte, wie es Schildkröten<br />

machen.“ … „<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich einmal dachte,<br />

nach dem Pinkeln zu spülen sei eigentlich eine Wasserverschwendung.<br />

Und ich <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich mir überlegte,<br />

die Pisse müsse ja zu etwas gut sein, jemand müsste nur<br />

draufkommen, zu was, er könnte ein Vermögen machen.“<br />

Aus diesen verschiedenen Themen ist I Remember Faden<br />

für Faden gewoben. Zu seinen großen Vorzügen zählt,<br />

dass das Buch die sinnlichen Eindrücke in den Mittelpunkt<br />

stellt (was ist es für ein Gefühl, wenn man sich im Friseurladen<br />

die Haare schneiden lässt, wenn „man sich richtig<br />

schnell dreht und dreht, bis man sich nicht mehr aufrecht<br />

halten kann“, wenn man das Wasser in seinem Bauch gurgeln<br />

hört und denkt, man hätte einen Tumor), dass es die<br />

alltäglichen und banalen Details eines amerikanischen<br />

Panoramas der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre<br />

liebevoll auflistet und das Bild eines Individuums vermittelt<br />

– das des bescheidenen, zurückhaltenden jungen <strong>Joe</strong><br />

<strong>Brainard</strong>s. Und das alles ist so genau und frei von jeder<br />

Hemmung beschrieben, dass der Leser unweigerlich sein<br />

eigenes Leben darin wiedererkennt. Die Erinnerungen<br />

stürmen auf einen ein, unbarmherzig und ohne Unterlass,<br />

eine nach der andern, ohne sich von chronologischen oder<br />

geographischen Strukturen einengen zu lassen. Eben war<br />

es noch New York, gleich darauf ist es Tulsa oder Boston;<br />

15


auf eine Erinnerung, die zwanzig Jahre zurückliegt, folgt<br />

eine von der letzten Woche, und je mehr wir uns hineinlesen,<br />

desto stärker wird der Nachhall der einzelnen Stimmen.<br />

Wie <strong>Brainard</strong> bemerkte, als er I Remember verfasste:<br />

Es ist wahrhaftig ein Buch, das jedem gehört.<br />

Aufschlussreich ist auch, was in <strong>Brainard</strong>s Buch nicht<br />

erwähnt wird, all diese Dinge, die die meisten von uns<br />

wahrscheinlich erwähnt hätten, wären wir aufgefordert<br />

worden, uns hinzusetzen und unsere eigene Version von<br />

I Remember zu schreiben. Keine Erinnerung an Konflikte<br />

mit Geschwistern, keine an Gemeinheiten oder physische<br />

Gewalt, keine Wutausbrüche, kein Bedürfnis, eine Rechnung<br />

zu begleichen, keine Bitterkeit. Abgesehen von kurzen<br />

Hinweisen auf die Ermordung Kennedys, „Korea“ (in Anführungszeichen)<br />

und dem „I Like Ike“ Slogan der Präsidentschaftskampagne<br />

Eisenhowers, gibt es auch keine<br />

Erinnerungen an politische, öffentliche oder nationale<br />

Ereignisse. Mondrian, Picasso und van Gogh werden alle<br />

erwähnt, aber kein Wort über <strong>Brainard</strong>s eigene Entwicklung<br />

als bildender Künstler, und abgesehen von seiner<br />

kurzen Bemerkung, dass er in Boston sämtliche Romane<br />

Dostojewskis gelesen habe, keine Erinnerungen an das<br />

Werk anderer Schriftsteller, obwohl <strong>Brainard</strong> ein leidenschaftlicher<br />

Leser von Romanen war. Keine Klagen, keine<br />

Wut und kaum Tränen. Nur ein Eintrag („<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong><br />

<strong>mich</strong>, dass ich völlig hysterisch und verzweifelt in einer<br />

stockdunklen Nacht meine Brille von der Staten Island<br />

16


Fähre ins Meer schleuderte“), lässt seelische Qualen oder<br />

einen Aufruhr der Gefühle erahnen. <strong>Brainard</strong>s Buch wurde<br />

zu einem Zeitpunkt geschrieben, als die sogenannte Bekenntnislyrik<br />

die amerikanische Literaturszene beherrschte.<br />

Sylvia Plath, Anne Sexton und John Berryman (alles Suizide)<br />

waren en vogue, und persönliche Ergüsse waren eine<br />

gängige, ja gepriesene Form des poetischen Diskurses. <strong>Brainard</strong><br />

bekennt, aber er schwadroniert nicht, und er hat kein<br />

Interesse daran, seine eigene Lebensgeschichte zu mythologisieren.<br />

Er verführt uns mit seiner Sanftmut, seinem<br />

Verzicht auf jeden Pomp, seinem unerschütterlichen Interesse<br />

für alles, was die Welt ihm zu bieten hat. Er fängt<br />

klein an und endet klein, aber die kumulative Kraft so vieler<br />

kleiner, wundervoll wiedergegebener Beobachtungen macht<br />

aus seinem Buch ein Werk, das, wie ich glaube, seinen festen<br />

Platz in der amerikanischen Literatur einnehmen wird.<br />

17


<strong>Joe</strong> <strong>Brainard</strong><br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong><br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an das erste Mal, als ich einen Brief<br />

mit dem Vermerk „Nach fünf Tagen an Absender<br />

zurücksenden“ bekam. <strong>Ich</strong> glaubte, ich müsste den<br />

Brief nach den fünf Tagen, die ich ihn behalten durfte,<br />

wieder an den Absender zurückschicken.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, wie aufgeregt ich war, wenn ich<br />

die Schubladen meiner Eltern auf der Suche nach<br />

Parisern (Marke Peacock) durchwühlte.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass Kinderlähmung einmal die<br />

schlimmste Sache der Welt war.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an rosafarbene Anzughemden.<br />

Und an Cowboykrawatten.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass mir ein Kind erzählte, dass<br />

die sauren, kleeblattähnlichen Blätter, die wir häufig<br />

aßen (die mit den gelben kleinen Blüten), deshalb<br />

so sauer schmecken, weil Hunde darauf pinkelten.<br />

Und ich <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass das <strong>mich</strong> nicht davon<br />

abgehalten hat, sie weiterhin zu essen.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an meine erste, bewusst angefertigte<br />

Zeichnung. Es war eine Braut mit einer riesigen<br />

Schleppe.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an meine erste Zigarette. Es war<br />

eine Kent. Auf einem Hügel. In Tulsa, Oklahoma. Mit<br />

Ron Padgett.<br />

19


<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an meine ersten Erektionen. <strong>Ich</strong><br />

dachte, ich hätte irgendeine schreckliche Krankheit.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an das einzige Mal, dass ich meine<br />

Mutter weinen sah. <strong>Ich</strong> aß einen Aprikosenkuchen.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich mir dreimal Süd Pazifik<br />

(den Film) angeschaut habe und dass ich jedes Mal<br />

dabei heulen musste.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, wie gut ein Glas Wasser nach einer<br />

Portion Eis schmecken kann.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an die Ehrennadel, die ich überreicht<br />

bekam, weil ich fünf Jahre lang an keinem<br />

einzigen Vormittag in der Sonntagsschule (der Methodisten)<br />

gefehlt hatte.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> daran, dass ich als Marilyn Monroe<br />

verkleidet zu einer Komm-als-dein-Star-Party ging.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an eines der ersten Dinge, an die<br />

ich <strong>mich</strong> erinnern kann: einen Eisschrank (etwas<br />

anderes als ein Kühlschrank).<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an weiße Margarine in einem<br />

Plastik beutel. Und an ein kleines Päckchen orangefarbenes<br />

Pulver. Das Pulver schüttete man in den<br />

Margarine-Beutel. Dann knetete man das Ganze so<br />

lange kräftig durch, bis die Margarine gelb wurde.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, wie fürchterlich ich gestottert habe.<br />

20


<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, wie wichtig es für <strong>mich</strong> in der High<br />

School war, gut auszusehen und beliebt zu sein.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass man in der High School als<br />

schwul galt, wenn man donnerstags Grün und Gelb<br />

trug.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich mir in der High School<br />

eine Socke in den Slip stopfte.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich Pfarrer werden wollte.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> nicht, wann ich es nicht mehr werden<br />

wollte.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an das erste Mal, als ich ferngesehen<br />

habe. Lucille Ball nahm Ballettunterricht.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an den Tag, an dem John Kennedy<br />

erschossen wurde.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich mir zu meinem fünften<br />

Geburtstag nur ein einschultriges schwarzes Abendkleid<br />

wünschte. Und bekam. <strong>Ich</strong> trug es zu meiner<br />

Geburtstagsparty.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass in einem Traum, den ich<br />

kürzlich hatte, John Ashbery sagte, die Bilder meiner<br />

Mondrian-Periode seien besser als die Mondrians.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich oft den Traum hatte, fliegen<br />

zu können (ohne Flugzeug).<br />

21


<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an viele Träume, in denen ich Gold<br />

und Juwelen gefunden habe.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an einen kleinen Jungen. <strong>Ich</strong> passte<br />

nach der Schule auf ihn auf, wenn seine Mutter<br />

arbeiten war. <strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass es mir einen<br />

Riesenspaß bereitete, ihn zu bestrafen, wenn er böse<br />

gewesen war.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich häufig von einer schönen<br />

roten und gelben und schwarzen Schlange in leuchtend<br />

grünem Gras träumte.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an das St. Louis meiner Kindheit.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an den Tattooladen neben der Bushaltestelle<br />

und an die beiden großen Löwen vor dem<br />

Kunstmuseum.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an den Geschichtslehrer, der uns<br />

damit drohte, er würde aus dem Fenster (im zweiten<br />

Stock) springen, wenn wir nicht sofort ruhig wären.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an meine erste sexuelle Erfahrung<br />

in einer U-Bahn. Ein junger Kerl (ich traute <strong>mich</strong><br />

nicht, ihn anzuschauen) hatte einen Ständer und rieb<br />

sich an meinem Arm. <strong>Ich</strong> wurde richtig geil, und als<br />

meine Haltestelle kam, stürzte ich raus und lief nach<br />

Hause, wo ich versuchte, mit meinem Schwanz als<br />

Pinsel ein Ölbild zu malen.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an das erste Mal, als ich total betrunken<br />

war. <strong>Ich</strong> bemalte mir Hände und Gesicht<br />

22


mit grüner Ostereierfarbe und verbrachte die Nacht<br />

in der Badewanne von Pat Padgett. Sie hieß damals<br />

noch Pat Mitchell.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> noch an eine andere frühe sexuelle<br />

Erfahrung. Im Kinosaal des Museums für moderne<br />

Kunst. An den Film selbst <strong>erinnere</strong> ich <strong>mich</strong><br />

nicht mehr. Zuerst presste sich ein Knie gegen das<br />

meine. Dann kroch eine Hand von meinem Knie<br />

zwischen meine Beine. Wanderte in meine Hose und<br />

dann in meine Unterhose. Es war sehr aufregend,<br />

aber ich traute <strong>mich</strong> nicht, ihn anzuschauen. Er ging,<br />

bevor der Film zu Ende war, und ich dachte, er würde<br />

draußen bei der Ausstellung mit den Lithographien<br />

auf <strong>mich</strong> warten, aber ich stand dort herum,<br />

und niemand interessierte sich für <strong>mich</strong>.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich in der East Sixth Street,<br />

in einem ehemaligen Ladenlokal wohnte. Nebenan<br />

war eine Firma, wo Fleisch verpackt wurde. Ein<br />

enorm dicker Typ, der dort arbeitete und wie ich in<br />

den Diner um die Ecke essen ging, ist mir nach Hause<br />

gefolgt und hat <strong>mich</strong> gefragt, ob er reinkommen<br />

und sich meine Bilder anschauen könne. Kaum war<br />

er drin, hatte er auch schon den Reißverschluss seiner<br />

blutbefleckten, weißen Hose aufgerissen und einen<br />

Riesenschwanz rausgezogen. <strong>Ich</strong> sollte ihn anfassen,<br />

was ich auch tat. So widerwärtig das auch war, so<br />

aufregend fand ich es, außerdem wollte ich seine Gefühle<br />

nicht verletzen. Aber ich sagte dann doch, ich<br />

müsse noch mal raus, und er fragte: „Wir sehen uns<br />

doch wieder?“ und ich sagte, nein, aber er ließ nicht<br />

locker, bis ich schließlich ja sagte. Er war wirklich<br />

23


sehr fett und hässlich und abstoßend, und als unser<br />

Treffen stattfinden sollte, bin ich aus dem Haus gegangen<br />

und habe einen Spaziergang gemacht. Aber<br />

natürlich war er der Erste, dem ich über den Weg<br />

lief, er sah richtig sauber und adrett aus. Es tat mir<br />

leid, ihm sagen zu müssen, ich hätte es mir anders<br />

überlegt. Er bot mir Geld an, aber ich blieb bei meinem<br />

Nein.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an die Bridge-Lehrerin meiner<br />

Eltern. Sie war ziemlich beleibt, ein richtiger Kerl<br />

(Kurzhaarschnitt) und Kettenraucherin. Wie sie stolz<br />

verkündete, brauchte sie keine Streichhölzer mit sich<br />

herumzuschleppen, da sie sich jede neue Zigarette<br />

an der alten anzündete. Sie lebte in einem kleinen<br />

Haus hinter einem Restaurant und ist uralt geworden.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong> an Doktorspiele in der Garderobe.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich in großen, schwarzen<br />

Lettern ICH HASSE TED BERRIGAN auf meine<br />

weißgetünchte Wand malte.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich völlig hysterisch und verzweifelt<br />

in einer stockdunklen Nacht meine Brille<br />

von der Staten Island Fähre ins Meer schleuderte.<br />

<strong>Ich</strong> <strong>erinnere</strong> <strong>mich</strong>, dass ich mir das Gesicht zerkratzte,<br />

weil ich wollte, dass die Leute <strong>mich</strong> fragten, wie<br />

das passiert sei. <strong>Ich</strong> wollte dann sagen, meine Katze<br />

sei’s gewesen, aber natürlich hätte jeder gewusst, dass<br />

es keine Katze gewesen sein konnte.<br />

24

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!