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PDF Redemanuskript - Peutinger Collegium

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Hermann Scheuringer (Universität Regensburg)<br />

2013<br />

München, 10. Juli<br />

Traditionsbewusstsein bei kultureller Vielfalt –<br />

Bayerische Sprache und bayerische Identität<br />

Verehrtes <strong>Collegium</strong>, sehr geehrte Damen und Herren,<br />

seit heuer ist auch Deutschland Mitgliedsstaat des Unesco-Abkommens zum Schutz des<br />

Immateriellen Kulturerbes und weil Deutschland sehr groß ist, sind zuerst die Bundesländer<br />

aufgefordert, dafür Listen zu erstellen. Die Bayerische Staatszeitung hat ihre Leser um Vorschläge<br />

gebeten und die meisten Zuschriften kamen – zum Thema Sprache und Dialekt.<br />

Eine Zuschrift wird zitiert mit den Worten „Bei der bairischen Sprache geht es um die Substanz<br />

der bairischen Identität.“ Den Bayern, zumindest vielen von ihnen, ist Sprache, ihre<br />

Sprache, also wichtig. Weit über ihren simplen Kommunikationszweck hinaus stecken in<br />

Lauten und Wörtern Geschichte und Geschichten, Traditionen und Erinnerungen, Gewohnheiten,<br />

Bräuche, Heimat vor allem, letztlich Identität. Ein Themenheft der Politischen Studien<br />

der Hanns Seidel Stiftung trug im Jahre 2003 den Titel Heimat Bayern – Identität mit<br />

Tradition und Zukunft, und auch einer ganzen Reihe von Seminaren zu Sprache in Bayern,<br />

die ich zusammen mit Regensburger und Münchner Kollegen vor Jahren in Wildbad Kreuth<br />

hielt, gaben wir den Titel Sprache schafft Identität. Und zum gefragtesten und meistzitierten<br />

Dichterwort in solchen Zusammenhängen ist ein Satz Goethes aus Dichtung und Wahrheit<br />

geworden, der da lautet: „Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das<br />

Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft.“<br />

Das ist großartig bis pathetisch formuliert und bewegt uns, doch zum besseren Verständnis<br />

muss noch dazugefügt werden, dass zu Goethes Zeiten Provinz noch nicht den<br />

schlechten Beigeschmack hatte wie heute, also vielleicht mit Gegend oder einfach Land<br />

übersetzt werden könnte oder etwas moderner mit Region, und auch Dialekt hieß früher<br />

mehr als heute, eher – nun wirklich erschreckend nüchtern formuliert – Regionalsprache<br />

oder regionale Sprachform. Das ist es auch, worum es hier im Folgenden gehen soll: nicht<br />

oder erst in zweiter Linie um die eigentlichen Dialekte, ihre Lautungen, Formen und Wörter,<br />

sondern um unsere regionale Sprachform insgesamt, mehr auch darüber, welch große Geschichte<br />

in dieser Sprachform steckt, über den Wert, den wir dieser beimessen und im Laufe<br />

unserer Geschichte beigemessen haben, über Werthaltungen zu dieser Sprache. Ich


zitiere gerne einen meiner heurigen Vor-Redner vor diesem Kollegium, Ministerpräsident<br />

Seehofer, der am 8. April diesen Jahres mit durchaus nachvollziehbarem Selbstbewusstsein<br />

gesagt hat: „Wir können auch Hochdeutsch“, gemeint sicherlich „Wir können alles, auch<br />

Hochdeutsch“, denn sein Nachsatz lautete: „Das unterscheidet uns von Baden-Württemberg.“<br />

Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verstehen alle unter Ihnen diese Anspielung. Das<br />

mag hier vorderhand einmal als Beweis für die – so heißt es oft – Genialität des badenwürttembergischen<br />

Werbeslogans gelten, zumindest für seine Ohrwurmqualität, und ich<br />

werde auf diesen auch noch einmal zu sprechen kommen. Vorerst einmal soll damit darauf<br />

hingewiesen sein, dass wir dem Thema bayerische Sprache, d.h. unserer gesamten<br />

Sprachwirklichkeit, keinen Gefallen tun, wenn wir sie auf Dialekt und Dialekte reduzieren.<br />

Denn allzuleicht verbindet man, verbinden auch wir mit Dialekt die folkloristische, klischeehafte<br />

Seite sprachlichen Lebens, das böse Wort vom Seppl-Image, über das wir zwar lächeln<br />

mögen – denn wir wissen ja, dass es ein Klischee ist –, das aber andere in Deutschland<br />

und auch darüber hinaus für bare Münze nehmen und daraus ihre Vor-Urteile ableiten<br />

und damit ihre Vor-Urteile festigen. Beständig schuhplattelnde und maßkrugstemmende<br />

Dialektsprecher gelten auch als engstirnig und kulturell eintönig, und das ist etwas, das man<br />

Bayern nun wirklich nicht nachsagen kann. Ein Blick auf Bayerns kulturelle Vielfalt ist angesagt<br />

– aus dem sprachlichen Blickwinkel natürlich.<br />

Welch Gegensatz offenbart sich da zur dumpfen Einförmigkeit! Nicht nur die Archäologen<br />

haben seit Längerem schon die Ansicht von der einförmig-germanischen, monogenetischen<br />

Volkwerdung, der Ethnogenese der Baiern ad acta gelegt. Erst recht der Blick auf die<br />

sprachlichen Zeugnisse der bairischen Frühzeit und weiterhin auch aktuell im Land Bayern<br />

zeigt uns kulturelle Vielfalt ungeahnten Ausmaßes – Multikulturalität heißt das moderne<br />

Schlagwort, und diese sehen wir in Bayern allerorten, in Form ältester sprachlicher Zeugnisse<br />

sowohl im normalen Wortschatz, Appellativwortschatz heißt das sprachwissenschaftlich,<br />

als auch und ganz besonders im Namenschatz, nicht zu vernachlässigender Teil jeder<br />

sprachlichen Landesidentität. Darum jetzt doch auch, wenn auch vorhin in die zweite Reihe<br />

gerückt, ein paar sprachliche Beispiele dazu.<br />

Auch aktuelle Irritationen in unserem Griechenlandbild werden Europas und damit auch<br />

Bayerns Bildungsschicht nicht vergessen lassen, dass unsere Kultur seit altersher griechisch<br />

unterfüttert ist, und sie basiert in Bayern auch nicht nur auf dem y der Bayern-<br />

Schreibung und dahinter stehendem Philhellenismus im jungen Königreich. Auch sprachlich<br />

sind wir in Grundlegendem griechisch geprägt. So verwenden wir nicht nur das griechische<br />

Wort Dialekt, um unsere Volkssprache zu benennen, in eben diesen Dialekten sind griechi-<br />

2


sche Elemente gleichsam raumprägend geworden. Sie werden zwar zunehmend vergessen,<br />

seit Langem schon vor allem im städtischen Raum, doch auch manchen unter Ihnen<br />

werden sie noch bekannt sein, die beiden in der Dialektforschung als so genannte bairische<br />

Kennwörter geführten alten Namen für den Dienstag und den Donnerstag, Ersterer der Ertag,<br />

in den Dialekten meistens Iada gesprochen, dahinter der antike Presbyter Arius aus<br />

Alexandria, eine wortgeschichtliche Umdeutung zum Kriegsgott Ares. Letzterer, der Donnerstag,<br />

heißt im Bairischen alt Pfinzda und da ist das griechische Bestimmungswort schon<br />

leichter zu erkennen, nämlich pente „fünf“, der Pfinztag somit der fünfte Tag der Woche. Der<br />

Vermittlungsweg, über den die Baiern diese Wörter aufnahmen, läuft über frühen Kontakt<br />

mit den Goten, und dies zeigt uns die Ost-Südost-Ausrichtung bairischen Kulturkontakts,<br />

wie er für weit mehr als ein Jahrtausend prägend war und auch heute nicht vergessen ist.<br />

Direkt von den Goten kam die Dult, ein wahrhaft lebendiges altbayerisches Wort. Zwar heißt<br />

die größte aller Dulten Wiesn, doch kennen wir auch in München eine Auer Dult, ganz zu<br />

schweigen von den großen und traditionsreichen altbairischen Dulten in Regensburg,<br />

Passau oder Salzburg. Die Erfolgsgeschichte eines gotischen Wortes im Bairischen und<br />

lange schon darüber hinaus im ganzen Deutschen ist übrigens das Wort Maut. Grenzorte<br />

heißen in Altbayern oft einfach Mauth, die historische Grundbedeutung von Maut ist in etwa<br />

„Bestechungsgeld“.<br />

Bayerns Latinität hat da eine weit intensivere Qualität. Drei der vier alten bairischen<br />

Bistümer, nämlich Regensburg, Passau und Salzburg, gründen in uralten römischen Städten,<br />

durchaus dazuzustellen hier auch das lange nicht bayerische Augsburg, von großem<br />

Einfluss auch für den Westen Oberbayerns und das mithin ein Grund dafür, dass Alt-<br />

Schwabens Osten nicht nur rein zufällig als Bayerisch-Schwaben organisch ins neue Bayern<br />

eingefügt werden konnte. Bayern südlich der Donau findet sich in den römischen Provinzen<br />

Rätien und Noricum. Latinität ist hier eine Kulturkonstante von zwei Jahrtausenden<br />

und wurde von hier aus auch nach Norden getragen. Aschaffenburgs Pompejanum ist ein<br />

später, umso grandioserer Ausdruck dessen. Sprachlich ist Lateinisches in Bayern allgegenwärtig,<br />

sowieso im großen, gesamtdeutschen Lehnwortschatz, ohne den unser Leben<br />

nicht vorstellbar wäre, mit Wörtern wie Mauer, Ziegel oder Fenster, wie Keller, Straße oder<br />

auch Rettich, als Radi für bayerische Esskultur schlichtweg unverzichtbar. Mit Servus, also<br />

„(Ich bin dein) Diener“, zu grüßen war noch bis vor einem halben Jahrhundert eine rein<br />

bayerische Angelegenheit, übrigens inklusive früher bayerische Pfalz, besonders in den<br />

letzten Jahren ist Servus aber in ganz Deutschland zur Mode geworden und hat nun auch<br />

seinen alten Duzbereich überschritten. Überprüfen Sie einfach Ihren eigenen Sprachge-<br />

3


auch daraufhin, ob Sie Servus in alter bayerischer Weise nur mit Duzpartnern verwenden<br />

oder ob Sie auch Ihren Sprachgebrauch diesbezüglich schon modernisiert haben.<br />

Noch zahlreicher steckt Lateinisches im Nicht-gleich-Erkennbaren, wiederum ganz auffällig<br />

in der Namenlandschaft. Ursus, der Bär, steckt als Personenname im Irschenberg, ein<br />

Marcelinus in Marzling bei Freising, die römische Bataver-Kohorte im Namen Passaus. Die<br />

von den Baiern Walchen genannten Romanen finden sich im Wallgau, im Walchensee und<br />

in vielen Walchen-Orten Oberbayerns, Traunwalchen zum Beispiel. Ganz zu schweigen von<br />

vielem weiterhin Verdecktem. Vieles spricht dafür, dass auch eine fürs Deutsche recht ungewöhnliche<br />

Wortbildung wie Seeshaupt am Starnberger See nach lateinischem Muster<br />

und auf römischem Ursprung gebildet ist, entsprechend etwa italienischem Capolago im<br />

Tessin, das wie Seeshaupt am oberen Ende seines Sees, dort des Luganersees, liegt. Dieser<br />

bairisch-lateinische Kontakt ist bayerisch-italienischer Kontakt bis heute, natürlich mit<br />

Wörtern unterlegbar ohne Zahl, darunter Spaß genauso wie der gerade für München stehende<br />

Zamperl, und auch Altbayerns große Liebe zu Südtirol ist wohl nicht nur über Speck<br />

und Traminer zu erklären, sondern damit, dass wir dort zwar noch immer Bairisch reden<br />

können, aber uns auch schon Italien zu Füßen liegt.<br />

Auch Frankreich und das Französische sind Teil bayerischer Geschichte und auch bayerischer<br />

Sprache, wiederum auch über den großen Anteil hinausgehend, den das Französische<br />

in Form von Lehnwörtern im gesamten Deutschen einnimmt. Merkmal aber hier ist<br />

doch, dass hier zunehmendes Vergessen einsetzt, die Blütezeit der Vorbildhaftigkeit Frankreichs<br />

ist, scheint’s, vorbei, Paraplü und Potschamperl sagen nur noch die ganz Alten, auch<br />

kaum noch jemand, der sich auf ein Trottoir begibt. Es gibt auch schon lange keine Gendarmerie<br />

mehr, immer noch aber den Schanti, wohl auch bei Jüngeren noch eine Schäsn.<br />

Wir sehen schon, allein der Wortschatzbereich, in dem wir französische Wörter im Bairischen<br />

finden, steht nicht im Mittelpunkt gehobener Lebensart, ein bemerkenswertes Symptom<br />

dahinter stehender kultureller Vorgänge. Auch bei den letzten hier für Bayern unbedingt<br />

zu nennenden Kontaktpartnern, den Slawen und Ungarn, ist ein Prestigegefälle zu konstatieren,<br />

hier wohl seit altersher – obwohl die Durchdringung intensiv ist und der östlichsüdöstlich<br />

anschließende slawische, dann slawisch-ungarische, herrschaftlich ungarische<br />

Raum für die Baiern der Durchdringungsraum schlechthin war. Historisch sind die Verbindungen<br />

von allen vier alten Zentralorten in den Osten eng. Regensburg ist die Mutterdiözese<br />

von Prag, erst 973 wurde Böhmen aus dem Bistum Regensburg ausgegliedert. Passau<br />

und Salzburg sind die Diözesen schlechthin der bairischen mittelalterlichen Südostsiedlung,<br />

Passaus Heiliger Stephan ist nicht nur der Patron seiner Tochterkirche, des Wiener Ste-<br />

4


phansdoms, sondern auch der Hl. Stephan Ungarns, übrigens auch des slowakischen Stephanskreuzes,<br />

und auch Freising hat bemerkenswerte Kolonisationsarbeit in diesem Raum<br />

geleistet, die ältesten Denkmäler der slowenischen Sprache, Markstein slowenischer<br />

Sprach- und Kulturgeschichte, sind, um das Jahr 1000 herum entstanden, die Freisinger<br />

Denkmäler. Auch das heutige Bayern kennt noch eine sogenannte Bavaria slavica in seinem<br />

Osten, östlich und nördlich von Regensburg, mit slawischen Ortsnamen und mit Slawen<br />

anzeigenden Ortsnamen, Windischeschenbach zum Beispiel, und auch slawische<br />

Wörter im Bairischen und auch im Fränkischen. Meistens sind das aber landwirtschaftliche<br />

Wörter, und dass zum Beispiel ein ganz markantes unter ihnen, nämlich das Wort Kren, seit<br />

dem 19. Jahrhundert in Bayern aus seiner Hochsprachlichkeit gefallen und mittlerweile auf<br />

der Ebene der Schriftsprache de facto jetzt gesamtbundesdeutschem Meerrettich gewichen<br />

ist – nur noch in Österreich ist das Wort auch schriftsprachlich – mag auch als Symptom<br />

von Mehrwert und Minderwert gelten. Die bairisch-slawischen Beziehungen über die Jahrhunderte<br />

sind von Auf und Ab gekennzeichnet, man denke nur an die bayerisch-böhmische<br />

Konfliktgemeinschaft, wie es jetzt heißt, von den Hussitenstürmen, die noch immer im Gedächtnis<br />

Ostbayerns haften, bis zum Trauma schlechthin, dem 20. Jahrhundert mit der Vertreibung<br />

der Sudetendeutschen. Hier lässt uns gerade die jüngste Geschichte nach<br />

Seehofer-Besuch in Prag und Nečas in München sehr optimistisch in die Zukunft blicken.<br />

Es mag auch der dann vor allem neuzeitliche Ost- und Südostkontakt Deutschlands eine<br />

vornehmlich habsburgisch-österreichische Angelegenheit sein, doch auch Bayern hat diese<br />

Richtung nie aus den Augen verloren und gerade die aktuellen Bemühungen Bayerns in<br />

diesem Raum in Form einer über die Staatskanzlei konzipierten „bayerischen Europapolitik“<br />

sind sicher nicht nur Ausdruck wirtschaftlicher Interessen, sondern auch Folge alter Kulturzusammenhänge.<br />

Weitere Beispiele für die auch sprachliche kulturelle Vielfalt Bayerns seit Anbeginn will<br />

ich mir hier versagen. Vieles wäre noch anzubringen, die Grußformel Grüß Gott zum Beispiel,<br />

nichts exklusiv Bayerisches, doch innerhalb der Bundesrepublik mittlerweile dominant<br />

bayerisch. Grüß Gott hat übrigens im Norden des Freistaats in den letzten Jahren den<br />

deutschland- und europaweit dominanten Gruß Guten Tag – auch die Romanen, Slawen<br />

und Ungarn sagen Guten Tag – markant zurückgedrängt, so sehr, dass nach der Grenzöffnung<br />

1989 Sachsen und Thüringern gerade diese Grußform zuvorderst als „typisch bayerisch“<br />

aufgefallen ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist Grüß Gott im Übrigen mit den irischen<br />

Missionaren des Frühmittelalters nach Bayern gekommen.<br />

5


Rückblickend und mit wachen Augen auch in unserer Gegenwart sehen wir also Vielfalt<br />

zuweilen ungeahnten Ausmaßes, eine Vielfalt, die zur Grundlage einer traditionsgeprägten<br />

Landes- und Staatskultur geworden ist, die in dem weit mehr als einem Jahrtausend bayerischer<br />

Staatstradition auch nicht merklich an Traditionsbewusstsein verloren hat. Und das,<br />

obwohl diese Staatlichkeit in Form dessen, was wir seit dem Aufkommen des Nationalstaats<br />

„nationale Souveränität“ nennen, seit frühesten Zeiten angegriffen und in Frage gestellt<br />

wurde und wird. Das beginnt schon 788 mit der Absetzung Herzog Tassilos III. durch den<br />

Franken Karl, der sich „der Große“ nennen ließ – wozu aus bayerischer Sicht nun wirklich<br />

kein Anlass besteht. Ingo Reiffenstein schreibt in seiner großen und großartigen bayerischen<br />

Sprachgeschichte den schlichten Satz „[…] das bayer. Eigenbewußtsein hat die Katastrophe<br />

von 788 überstanden.“ Solcherlei Katastrophen sind in der bayerischen Geschichte<br />

noch mehrere zu verzeichnen, dezidiert dazuzuzählen ist hier 1156, als Kaiser Friedrich<br />

Barbarossa im berühmten Privilegium minus den Babenberger Heinrich Jasomirgott mit<br />

Österreich belehnte, das damit als selbständiges Herzogtum aus Bayern ausgegliedert<br />

wurde. „Es ist dies“ – und ich zitiere hier den Regensburger bayerischen Landeshistoriker<br />

Bernhard Löffler – „[…] die Gründungsurkunde österreichischer Staatlichkeit und markiert<br />

zugleich eine, wenn nicht die Verluststory bayerischer Geschichte.“ Bernhard Löffler verweist<br />

in seinem unlängst in der Regensburger Universitätszeitschrift „Blick in die Wissenschaft“<br />

erschienenen Beitrag auch auf den Mediävisten Kurt Reindel, der schon im Handbuch<br />

der bayerischen Geschichte darauf hingewiesen hat, dass es folgerichtiger gewesen<br />

wäre, hätte Heinrich Jasomirgott „sein Werk eines [bayerischen] Staatsaufbaus […] von<br />

Wien aus“ fortsetzen können und hätte nicht der Kaiser dem Welfen Heinrich dem Löwen<br />

nachgegeben, ihn mit Bayern belehnt und er damit Bayern geteilt. Löffler weiter: „Die organische<br />

Entwicklung spräche also eher für Bayern als Teil Österreichs und nicht andersherum.<br />

[…] Allgemeine Folgerung: Die Kanonisierung von Geschichtsbildern läuft nicht über<br />

schwere Handbücher, sondern eher über die leichteren.“ Dem können wir uns wohl nicht<br />

vorbehaltlos anschließen, allenfalls einer hypothetischen Mischvariante, in der Bayern als<br />

Staatsname und dann eben auch als Staatstradition geblieben wäre, nun aber mit Hauptstadt<br />

Wien. Das darf man auch in München sagen, denn 1156 gab es München zwar schon,<br />

aber von Hauptstadt noch keine Rede. Wie auch immer, alles Hypothesen. Drittes und letztes<br />

Datum hier: 1866. Im deusch-deutschen Krieg stand Bayern nach Jahrhunderten Verlustgeschichte<br />

gegenüber Österreich nun an dessen Seite gegen Preußen. Den Ausgang<br />

kennen wir, schon 1870 war Bayern mit Preußen und seitdem – sagen manche – in Preußen,<br />

das sich nun seit 1949 Bundesrepublik Deutschland nennt. In einer Nockherberg-Rede<br />

6


hat der große Münchner Volksschauspieler Walter Sedlmayr diese bayerische Zwickmühle<br />

im Verhältnis zu den großen Akteuren deutscher und europäischer Geschichte einmal auf<br />

seine Art kommentiert: „Wir Bayern sind prinzipientreu: Mit Frankreich gegen Österreich, mit<br />

Österreich gegen Preußen, mit Preußen gegen Frankreich.“ Das ist nun natürlich Sedlmayrs<br />

Privileg, die Sache so zu formulieren, ich schließe mich da schon eher dem ehemaligen<br />

Intendanten des Bayerischen Rundfunks, Albert Scharf, an, der in einem im vorigen Jahr in<br />

der Schöneren Heimat, der Zeitschrift des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege,<br />

erschienenen Beitrag patriotisch-engagiert Bayerns Zwänge als Überlebensstrategien bezeichnet<br />

und klar macht, dass, was wir alle wissen, alles nur eine Frage des Blickwinkels ist<br />

und auch der Geschichtsschreibung der Mächtigen. Zu diesen hat Bayern, so groß und<br />

stark es auch ist, nach 788 im Grunde nie mehr gehört, und so ist es doch auch wieder ein<br />

bisschen bemerkenswert, dass die staatliche und kulturelle Traditon und eben das entsprechende<br />

Traditionsbewusstsein bis heute – weitgehend – unbeschadet dastehen. Auch deswegen<br />

zum Beispiel konnten die nach und ab 1806 – bis zum Beitritt Coburgs 1920 – hinzugewonnenen<br />

Landesteile in bemerkenswerter Weise in den bayerischen Staat und auch<br />

in bayerisches Staatsbewusstsein integriert werden – mag sein, in Schwaben vielleicht ein<br />

bisschen zu Lasten einer spezifisch schwäbischen Identität, Franken aber, inklusive der<br />

großen alten Reichsstadt Nürnberg, das zwar schon seit 1501 in einem „fränkischen<br />

Reichskreis“ zusammengefasst war, hat doch zweifellos nicht nur an bayerischer, sondern<br />

auch an fränkischer Identität gewonnen. Kulturelle Zugehörigkeiten und Traditionen flackern<br />

dann auch – für viele überraschenderweise – auch in ganz aktuellen Diskussionen immer<br />

wieder einmal auf. So gesehen, als jüngst der italienische Philosoph Giorgio Agamben in<br />

der Pariser linksliberalen Zeitung „Libération“ angesichts der drohenden Spaltung Europas<br />

in einen reichen Norden und einen armen Süden von einem „empire Latin“, einem lateinischen<br />

Reich, träumte, das dem Norden in Sachen Lebensstil und Lebenskunst bei Weitem<br />

überlegen sei. Zum Norden rechnet er natürlich Deutschland, aber bald meldeten sich<br />

Stimmen, die fragten, ob man das auf ganz Deutschland umlegen könne und ob man da<br />

nicht doch noch feiner differenzieren solle. Nicht nur Österreich, sondern auch Bayern sehen<br />

da manche im „lateinischen Reich“. Kultur- und Bewusstseinsgeschichte, möchte man<br />

sagen, ist nicht so einfach gestrickt wie Staatsgeschichte, die wir heute einfach an Staatsgrenzen<br />

festmachen, die, wie wir aber alle wissen, letztlich nur Produkt der Zufälligkeit sind.<br />

Wenn ich nun den Sprach-Faden ein bisschen verlassen habe, dann nicht ohne Absicht.<br />

Vermittelt werden sollte der größere europäisch-deutsche historische Hintergrund, für<br />

Bayern über weite Strecken doch eine „Bedrängungsgeschichte“, eine Geschichte von<br />

7


Zwängen und Notwendigkeiten, von Anspruch und Wirklichkeit, seit dem 19. Jahrhundert<br />

nun einer starr nationalstaatlich organisierten, vor allem so gedachten Welt, in der eigene<br />

Traditionen und eigene, nicht auf den größeren Nationalstaat gerichtete Identität zu bewahren<br />

eine permanente Anstrengung bedeuten. Dass dies gelingen konnte, basiert gewiss auf<br />

den anfangs beschriebenen Grundlagen der frühen Staatlichkeit, auf Geschick und zuweilen<br />

auch Realitätssinn. Die Geschichte der deutschen Sprache in Bayern bis zu ihren ganz<br />

aktuellen Entwicklungen ist wie alle Sprachgeschichten von Anfang bis Ende außersprachlich<br />

bestimmt, in unserem Falle von Zielen, oft nicht erreichten, und von Konzessionen, oft<br />

notwendig gewordenen. So wie bayerische Landesgeschichte innerhalb einer deutschen<br />

Reichs- und Staatsgeschichte zu sehen ist, steht bayerische Sprachgeschichte innerhalb<br />

einer deutschen Sprachgeschichte. Jene, die auch heute noch von Fall zu Fall von einer<br />

eigenen bayerischen Sprache träumen, träumen zwar nichts, das nicht hätte werden können,<br />

aber etwas, das nicht mehr werden kann. Niederländisch ist schon lange nicht mehr<br />

Deutsch, auch wenn die Engländer es immer noch so nennen, nämlich Dutch, auch Luxemburgisch<br />

ist in den letzten Jahren Realität geworden, weil ein zwar kleiner, aber eben<br />

doch zur Verfügung stehender Nationalstaat Luxemburg existiert. Allenfalls die Schweiz,<br />

immerhin schon 1648 aus dem Deutschen Reich ausgeschieden, sehen manche als<br />

exemplarischen Kandidaten für eine auch eigene Schweizersprache, doch fehlt auch dort<br />

das politische Wollen. Die nötige Abgrenzung im größeren deutschen, heißt: deutschsprachigen<br />

Zusammenhang leistet der staatsspezifisch dominante Dialektgebrauch, die spezifische<br />

Schweizer Identität konstruiert man nicht über eine Staatssprache, sondern über die<br />

drei bis vier Staatssprachen, die zusammen das Spezifische am Schweizervolk ausmachen.<br />

Bayerische Sprache ist also eine Variante, sprachwissenschaftlich sagt man Varietät der<br />

deutschen Sprache.<br />

Gemeint ist hier freilich das, was wir heute unter deutscher Hochsprache verstehen,<br />

und diese können wir in ihrer Existenz in etwa seit dem 18. Jahrhundert ansetzen. Die mehr<br />

als tausend Jahre zuvor sind großteils dialektgeprägt und -bestimmt, will heißen: verschiedene<br />

germanische Dialekte, die man ab ungefähr dem Jahr 1000 auch als „deutsch“ versteht,<br />

mehr aber im politischen Sinne deutsch, und die dann mit beginnender Neuzeit aus<br />

politischen und wirtschaftlichen Zwängen verstärkt unter Druck geraten, nämlich dahingehend,<br />

sich aus- und anzugleichen, um über das ganze Reichsgebiet hinweg leichtere Verständlichkeit<br />

und Administrierbarkeit zu gewährleisten. Dies war vorher Aufgabenbereich<br />

des Lateinischen, erst mit der Emanzipation der eigenen Sprache, im Zusammenhang mit<br />

dem gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums, erwächst diese Notwendigkeit. „Aus-<br />

8


gleichsnotwendigkeiten“ davor sind innerhalb anderer Zusammenhänge als jener des heutigen<br />

National- oder Bundesstaates zu sehen. Eine ganz frühe Form von Ausgleich stellt hier<br />

auch der Sprachwechsel der nichtgermanischen Bevölkerungsteile hin zum Bairischen dar,<br />

der Romanen im Voralpenland und an der Donau und der Slawen in den Gebieten der heutigen<br />

Oberpfalz und Oberfrankens vor allem. Altbairisch als gemeinsame Sprachform des<br />

Frühmittelalters ist im Grunde nicht fassbar, lediglich gemeinsame Dialektmerkmale wie<br />

zum Beispiel das bis heute das Bairische, aber eben nur dialektal, prägende und auch abgrenzende<br />

Personalpronomen es mit seiner Objektform enk für ihr und euch, mancherlei<br />

regionale Wörter, zunehmend auch durch den staatlichen Zusammenhang bestimmt, wie<br />

die Hofmark oder auch der Vitztum aus lat. vice-dominus, quasi der Stellvertreter des (weltlichen)<br />

Herrn, ein auch heute noch häufiger bayerischer Familienname. Bayern im Besonderen<br />

ist im ausgehenden Mittelalter noch kaum spezifisch auszumachen, allenfalls eine im<br />

südöstlichen deutschen Kulturzusammenhang stehende „südostoberdeutsche Schreibsprache“,<br />

wie Reiffenstein es nennt. Nicht nur die uralten kulturellen Zusammenhänge verbinden,<br />

trotz aller dynastisch-kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Habsburg und<br />

Wittelsbach, sondern doch auch laufende Gemeinsamkeiten. Mit aufkommender Reformation<br />

ist das vor allem das Beharren im alten Glauben, dann auch die gemeinsame Türkenabwehr.<br />

Gleichsam als Negativfaktor einzurechnen, in dem Sinne nämlich, dass er eine<br />

frühere sprachliche Einigung speziell auf wittelsbachischem Territorium verhindert bzw. verzögert<br />

hat, sind wohl auch die bayerischen Teilungen. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts<br />

bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts sehen wir eine gemeinsame, vor allem von Bayern und<br />

Österreich getragene, oberdeutsche – bis weit ins 19. Jahrhundert hat man zum südlichen<br />

Deutschland vom Elsass über Baden, Württemberg und Bayern bis Österreich Oberdeutschland<br />

gesagt – also oberdeutsche Ausgleichssprache, gemeint: Schriftsprache, denn<br />

mündliche Quellen fehlen uns. Bayern war in dieser Zeit die Führungsmacht der katholischen<br />

Seite, stand nach dem Dreißigjährigen Krieg gestärkt da, erhielt 1623 die Kurwürde.<br />

Trotzdem war die Machtbasis zu klein, vor allem das 18. Jahrhundert ist dann geprägt von<br />

habsburgischen Machtansprüchen und Annexionsbestrebungen, letztlich 1779 ist man gezwungen,<br />

die seit altersher bairischen Landesteile östlich von Inn und Salzach mit den alten<br />

Städten Braunau und Schärding abzugeben – der letzte große Landverlust vor den großen<br />

Zugewinnen mit und nach Napoleon. In der Schreibsprache zeigen sich noch viele alte bairisch-oberdeutsche<br />

Formen wie ai-Schreibungen für die alten ei-Lautungen wie zum Beispiel<br />

im Baiern-Namen selbst, in Wörtern wie heiß oder breit, immer dann, wenn wir im Dialekt<br />

oa sagen. Es zeigen sich aber auch schon die ersten aus dem Norden, speziell aus<br />

9


Sachsen, kommenden Formen, kommen zum Beispiel statt des einheimischen kummen.<br />

Ganz charakteristisch für die bairische Hochsprache der Zeit ist Fehlen des auslautenden e<br />

auch in der Schreibung, also Gnad und Ehr und Täg für heutiges „Tage“. Gerade über Katholizismus<br />

und Gegenreformation läuft im 18. Jahrhundert noch eine deutliche Konfessionalisierung<br />

des Sprachgebrauchs. Das auslautende e, eben in Wörtern wie Gnade und Ehre<br />

und Tage, wird instrumentalisiert und zum „e saxonicum“, später dann zum lutherischen<br />

e.<br />

Während für eine größere deutsche Hochsprachgeschichte die Mitte des 17. Jahrhunderts<br />

als deutlich merkbarer Übergang zu einer vor allem aus dem mitteldeutschen Raum<br />

kommenden, später Meißnisch genannten Vorbild- und Einheitssprache zu sehen ist,<br />

sträubt sich Bayern noch ein Jahrhundert länger gegen diese Entwicklung, und das kann<br />

wohl auch vor dem Hintergrund seiner Staatsgeschichte gesehen werden. Das 17. Jahrhundert<br />

noch ist glanzvoll, absolutistisch und barocke Machtentfaltung, das 18. Jahrhundert<br />

mit seinen Bedrängnissen drängt auch sprachlich zur Konzession. Bayern muss sich fügen,<br />

wird aber gerade in diesem 18. Jahrhundert noch einmal zum Vorreiter deutscher, nun nicht<br />

mehr nur bairischer Sprachgeschichte. Hierfür steht der 1722 in München gegründete Parnassus<br />

Boicus, eine „gelehrte Zeitschrift“, deren Beiträge programmatisch, wie es heißt, „in<br />

der teutschen Sprach“, also nicht Lateinisch oder Französisch, publiziert wurden. Sie ist<br />

noch merkbar gegen die neue, aus dem Norden eindringende Sprache gerichtet, publiziert<br />

ja auch in der „teutschen Sprach“ – ohne „lutherisches e“. 1759 wird die Bayerische Akademie<br />

der Wissenschaften gegründet. Sie ist bis heute beachtenswerte Hüterin der deutschen<br />

Sprache in Bayern, nun aber der neuen deutschen Sprache, auf die zuzugehen sie<br />

sich auch zum Ziel setzt. Heinrich Braun wird vom Kurfürsten auf einen neuen Lehrstuhl der<br />

deutschen Sprach- und Redekunst „in Unserer Residenz-Stadt“ berufen und es wird ihm<br />

aufgetragen, „eine nach der hiesigen Landes-Beschaffenheit und Mundart soviel möglich<br />

eingerichtete Anleitung zur deutschen Sprachkunst“ zu verfassen – was er auch tut. Seine<br />

Anleitung lehrt aber schon die Kenntnis der neuen meißnischen Sprache, freilich vor dem<br />

Hintergrund der „Landes-Beschaffenheit“, also kontrastiv. Spätestens um 1800 ist die einheitliche<br />

Hochsprache in Deutschland erreicht. Die Fragen, die sich nun stellen: Ist Bayern<br />

nun eingepasst? Läuft Bayerisches nur noch über Bayerns Dialekte? Oder bietet auch die<br />

neue Hochsprache noch Raum, lässt sie noch Luft für Landesspezifika, wie sie nun einmal<br />

auch für eine sprachliche Landesidentität notwendig sind?<br />

Zweifellos ist die deutsche Hochsprache auch heute nicht hundertprozentig einheitlich.<br />

Trotz allen politischen Druckes in Richtung Einheitssprache, in Richtung eine Norm, „reines<br />

10


Hochdeutsch“ oder wie auch immer das man auch genannt hat, ist das Deutsche auch heute<br />

noch auch auf seiner quasi höchsten Ebene regional. Wir können weiterhin grundsätzlich<br />

Nord- und Süddeutsch erkennen, auch in der gesprochenen Hochsprache. So sprechen wir<br />

im Süden des Deutschen zum Beispiel keine sogenannten „stimmhaften“ s. Wir zagen nicht<br />

Zonne und zieben, sondern Sonne und sieben, doch auch fertig und König, nicht nur fertich<br />

und Könich. Im Süden des Deutschen ist man auch gesessen und gestanden, man<br />

hat nicht gesessen und gestanden, auch auf der Ebene der Hochsprache existiert weiterhin<br />

süddeutscher Wortschatz: Bub neben gesamtdeutschem Junge, gesamtdeutsches, ursprünglich<br />

nur süddeutsches Samstag neben norddeutschem Sonnabend, und auch ein<br />

Wort wie heuer ist in Bayern ein hochdeutsches Wort und nicht nur ein Dialektwort. Wer’s<br />

nicht glauben will, weil er starr an einer so gelernten Normvorstellung festhält, braucht nur<br />

in gehobenen Texten nachzusehen, in seriöser Belletristik zum Beispiel oder auch in überregionalen<br />

Zeitungen aus dem Süden. Wir haben auch weiterhin vieles, das auf dem bairischen<br />

Sprach- und Kulturraum aufbaut und uns natürlich mit Österreich, oft auch mit der<br />

Schweiz verbindet: absperren statt abschließen, schauen statt gucken, Semmel statt Brötchen,<br />

auch manches nicht so plakativ Bekanntes: Nachspeise statt Nachtisch, klauben statt<br />

auflesen, alt zumindest noch Gehsteig statt Bürgersteig. Wenn Ihnen manches hier nicht<br />

mehr ganz selbstverständlich vertraut ist oder Sie manches hier nach dem „statt“ genannte<br />

genauso als einheimisch empfinden, dann sehen wir schon ganz junge Entwicklungen der<br />

letzten Jahrzehnte. Vieles, das Bayern noch bis zum Zweiten Weltkrieg sprachlich auch<br />

ausgemacht hat, ist im Abkommen. Die alte süddeutsche Stiege weicht rapide der ursprünglich<br />

nur norddeutschen Treppe, Stiege wird zum hochsprachlichen Austriazismus, in Bayern<br />

zum reinen Dialektwort. All diese Beispiele sind aber noch nicht bayern-spezifisch, es gibt<br />

solches sehr wohl, ist uns oft aber nicht entsprechend bewusst.<br />

Originär altbayerisch und über die Jahrhunderte bis heute in der gesprochenen Hochsprache<br />

bewahrt ist im Lautlichen die Trennung der a-Laute in dunkle, hierzulande qua definitione<br />

normale a und in helle á. Wir verwenden a in sogenannten nativen, altheimischen<br />

Wörtern, á in Fremdwörtern und aus ein paar weiteren Quellen heraus. Jeder weiß: Es<br />

heißt Tag, Vater und Wasser und es heißt Átlás, Dátum und Másse. Deswegen sprechen<br />

wir auch von Wassermássen und von mássenhaft und sagen nicht Wássermassen oder<br />

massenháft. Diese Aussprachetradition ist hochsprachlich und weiterhin intakt, ich komme<br />

gleich noch einmal auf sie zurück. Nach spezifisch Bayerischem und im Übrigen auch nicht<br />

Österreichischem müssen wir auch im Wortschatz nicht lange suchen: Brotzeit und Sanka<br />

und Kaminkehrer sind bayerisch-hochsprachliche Wörter, auch vieles aus dem schulischen<br />

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Bereich, die Schulaufgabe und die Ex, die ganz amtliche und nur bayerische Stegreifaufgabe,<br />

natürlich auch vieles aus dem kulinarischen Bereich, dem Nur-Dialektalen längst entwachsen,<br />

wie Wammerl, Obatzer und Zwetschgendatschi, die Sie überall auch geschrieben<br />

vorfinden. Spezifisch bayerische Beispiele zu finden ist nicht schwer, doch was machen wir<br />

daraus? Und hier kommt bei realistischer Sicht die staatspolitische Position Bayerns ins<br />

Spiel. In Bayern sagen nur noch alte Bauern Jänner, obwohl doch die Königsurkunde am 1.<br />

Jänner 1806 in München datiert ist, Jänner ist zum Austriazismus geworden, und genauso<br />

Kren und Topfen und Dutzende andere. Das sind die schon mehrfach genannten Konzessionen<br />

an den Gang der politischen Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert. Auch nicht so<br />

schlimm, sage ich, gibt ja genug, vorhin angesprochen, Bayern-Spezifisches. Doch wiederum:<br />

Was machen wir daraus, nämlich im Konzert der sogenannten Varietäten des Deutschen?<br />

In Österreich hat man sich in den letzten Jahren auf die Hinterfüße gestellt und ein<br />

Bewusstsein für österreichisches Deutsch geschaffen, durchaus auch zu hinterfragen, denn<br />

auch im Zusammenhang eines meines Erachtens schändlichen und geschichtsverleugnenden<br />

Sich-Davonstehlens aus der deutschen Geschichte und der deutschen Verantwortung,<br />

doch letztlich mit Erfolg. Auf bayerische Staatstradition, auch bayerische Sprachtradition zu<br />

verweisen, die Basis eines Jahrtausends, wie ich es hier getan habe, dafür anzuführen,<br />

beeindruckt, so hoffe ich es, Sie, verehrtes Publikum, weil Sie, so hoffe ich abermals, dafür<br />

empfänglich sind und uns eine gemeinsame Grundhaltung verbindet. Doch beeindruckt das<br />

auch andere in Deutschland und in der Welt? Aus dem sprachverwandten Österreich Unterstützung<br />

erwarten: Fehlanzeige! Für die Bewusstmachung von österreichischem Deutsch<br />

ist bayerisches Hochdeutsch letztlich eine Gefahr, zuviel an Überschneidungsflächen, die<br />

die erwünschte Abgrenzung zu Deutschland erschweren könnten. Schlussfolgerung daraus:<br />

Eine wünschenswerte Stärkung und Bewusstmachung von bayerischem Deutsch kann nur<br />

in Bayern und durch Bayern geschehen. So sehr ich auch die Dialekte als Teil bayerischer<br />

Identität schätze, so gefährlich ist es, Wertschätzung über Dialektgebrauch erreichen zu<br />

wollen.<br />

Das Schweizer Modell ist einzigartig und taugt nicht zur Nachahmung. Im ganzen weiteren<br />

Raum des Deutschen als Muttersprache und, mindestens so wichtig, des Deutschen<br />

als Fremdsprache ist weiterhin Dialektdiskriminierung angesagt. Es ist das Verdienst der<br />

Augsburger Dialektologen, in den letzten Jahren ins Bewusstsein gerückt zu haben, dass<br />

wir uns heute allerorten hüten, sprachlich zu diskriminieren: Zu einer jungen Frau noch<br />

Fräulein zu sagen, gilt als diskriminierend, ebenso, wir wissen es, Zigeuner und Schwarzer,<br />

sowieso Neger, auch Studenten statt Studierende, was auch immer. Da sind wir sensibel<br />

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geworden, vielleicht übersensibel, doch über Dialekte und Dialektsprecher lachen wir weiterhin,<br />

ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, bevorzugt und oft bezeugt gerade bei<br />

Schul- und Kindergartenkindern, gerade auch bei oberbayerischen Kindern, und die merken<br />

sich’s dann mit einem Minderwertigkeitsgefühl fürs Leben. In Bayern, das bezeugen entsprechende<br />

Untersuchungen seit Jahrzehnten, sprechen zwei Drittel der Landesbewohner<br />

alltäglich Dialekt. Auch Baden-Württembergs millionenschwerer Werbeslogan „Wir können<br />

alles – außer Hochdeutsch“ ist, hier schließe ich mich Werner König von der Universität<br />

Augsburg an, höchst kontraproduktiv, er zementiert und bestätigt Vorurteile und trägt gerade<br />

nicht zur Wertschätzung jener bei, die nicht immer Hochdeutsch sprechen, sondern zu<br />

Diskriminierung. Ich zitiere hier explizit Werner König: „Ein ganzer Forschungszweig wie die<br />

feministische Linguistik wäre unnötig und überflüssig, wenn man leugnen würde, dass bestimmte<br />

Sprachformen nicht die Wahrnehmung der Welt beeinflussen würden“. Doch Hochsprachgebrauch<br />

feit auch nicht unbedingt vor Diskriminierung, jedenfalls dann nicht, wenn<br />

man sich einer bayerischen Varietät der deutschen Standardsprache bedient. Entsprechende<br />

Diskriminierungsmechanismen haben eine lange Geschichte, insbesondere im Rahmen<br />

der deutschen Nationalstaatswerdung im 19. Jahrhundert und danach. Der Nationalstaat,<br />

wie zufällig er auch geworden sein mag, auch der deutsche, ist – noch – das Maß aller Dinge,<br />

ein sich geradezu trotzig ebenfalls Staat nennendes Land wie Bayern, bekannterweise<br />

größer und wirtschaftsstärker als zahllose Staaten dieser Welt, hat auch nicht das Recht,<br />

innerhalb einer sonst gemeinhin akzeptierten, so genannten plurizentrischen Sprachauffassung<br />

eine bayerische Varietät der deutschen Standardsprache für sich zu beanspruchen,<br />

auch dann nicht, wenn die Indizien mächtig sind und qualitativ und quantitativ nicht so viel<br />

anders da stehen als zum Beispiel so genannte Austriazismen oder Helvetismen. Ein Erfahrungsbericht<br />

zur vorhin angeführten, in Bayern hochsprachlichen Unterscheidung der a-<br />

Aussprachen, ebenfalls Werner König zitierend: „Bei einem Berufungsverfahren für einen<br />

germanistischen Lehrstuhl an einer bayerischen Universität fiel zu einer Bewerberin mit<br />

bairischem Akzent in der Kommission der Satz: ‚Die Frau kann ja nicht mal richtig Hochdeutsch’<br />

und das im Prinzip nur deswegen, weil sie den a-Laut etwas dunkler aussprach als<br />

die anderen Kandidaten.“ Die dazugehörigen konkreten Namen könnte ich nennen. Auch<br />

bayerische Lehrer streichen weiterhin heuer an und ersetzen es durch dieses Jahr, darum<br />

noch einmal: Nur in Bayern und durch Bayern kann dem entgegengewirkt werden, auch<br />

dem immer häufiger zu hörenden Umschalten auf norddeutschen Tonfall im Hochsprachgebrauch.<br />

Zugegeben, dahinter steht eine lange Entstehungsgeschichte. Vor fast 200 Jahren<br />

schon heißt es in einem Tagebucheintrag Johann Andreas Schmellers: „Wenn ich manch-<br />

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mal die Leute beobachte, die mit so tiefer Verachtung […] auf unser gutes Volk herabsehen<br />

als groß die Besoldungen sind die sie beziehen […], so kann ich mir immer besser jenes<br />

kaum zu beseitigende Anstreben der wahren Bayren besonders gegen die Norddeutschen<br />

erklären.“ Das Gegenmittel, noch einmal, findet sich aber hier, nicht in Norddeutschland.<br />

Bayern damals war ein zutiefst bäuerliches, armes Land, doch Bayern heute ist, erlauben<br />

Sie mir diese stilistische Abweichung, stinkreich, gerade hier im Ballungsraum München<br />

gilt das, und strotzt vor Selbstbewusstsein, warum nicht auch vor sprachlichem<br />

Selbstbewusstsein? Die Remedur liegt zuallererst im persönlichen nicht nur Dialekt-, sondern<br />

viel mehr auch Hochsprachgebrauch von uns allen, natürlich auch in Begleitmaßnahmen.<br />

Erfreulicherweise ist in den letzten Jahren diesbezüglich vieles erreicht worden. Die<br />

bayrischen Lehrpläne fordern in allen Jahrgangsstufen sprachliche Sensibilität und Respekt<br />

vor Dialekt und Regionalsprache. Es fehlt noch, und darin ist die Sprachwissenschaft gefordert<br />

– und wir arbeiten auch daran –, ein sogenanntes Kodexwerk, ähnlich dem gesamtdeutschen<br />

Duden, in dem die bayerische Varietät der deutschen Hochsprache, gesprochen<br />

wie geschrieben, verzeichnet ist und das im Idealfall auch in den Schulgebrauch eingeht.<br />

Es fehlen auch, z.B. in Form zumindest eines Masterstudiengangs an zumindest einer bayerischen<br />

Universität, Bayernstudien – wir können sie für das internationale Publikum ruhig<br />

auch Bavarian Studies nennen –, die das ganze Spektrum bayerischer Kultur lehren, Geschichte,<br />

Wirtschaft, auch Sprache. Dies ist auch ein – nicht versteckter, sondern offener –<br />

Appell an Sie und uns alle um Unterstützung, zugegebenerweise auch finanzielle, vor allem<br />

aber politische und ideelle. Gerade die wirtschaftliche Ausgangslage könnte heute besser<br />

nicht sein, das Fundament im Sinne bayerischer Tradition und bayerischen Traditionsbewusstseins,<br />

und dies hoffe ich mit meinen Ausführungen gezeigt zu haben, ist quantitativ<br />

wie qualitativ beachtlich und imposant.<br />

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

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