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Vortrag Dr. Werner Max Ruschke, Perthes-Werk Münster

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<strong>Werner</strong> M. <strong>Ruschke</strong><br />

Gnadenlos – oder aus Gnade leben?<br />

Konkurrenz oder Toleranz zwischen Jung und Alt<br />

Impulsvortrag am 19.9.2013 im Evangelischen Gemeindehaus Iserlohn-Oestrich<br />

Sehr verehrte Damen, meine Herren!<br />

Im Jahre 2008 wurde von der Evangelischen Kirche in Deutschland die Luther-Dekade<br />

eröffnet: zehn Jahre bis zum Reformationsjubiläum 2017, wobei von 2009 bis 2016 jedes<br />

Jahr unter ein reformationstypisches Thema gestellt wird. Bisher ging es dabei um<br />

Bekenntnis, Bildung, Freiheit und Musik, 2013 nun um Toleranz.<br />

1 Die ‚Intoleranz‘ der Reformation<br />

Allerdings erschließt sich mir im Unterschied zu den bislang behandelten Aspekten kaum,<br />

was Toleranz ursächlich mit der Reformation zu tun hat. Unser gegenwärtiges Verständnis<br />

von Toleranz jedenfalls ist weit von dem entfernt, was man als Toleranz in der<br />

Reformationszeit herausarbeiten könnte. Von einem heutigen Toleranzverständnis aus kann<br />

man zugespitzt sogar sagen: Die Reformation war eine intolerante Bewegung. Luther war<br />

aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr bereit, seine Kirche länger so zu tolerieren, wie<br />

sie sich ihm darstellte, weshalb er sie verändern und reformieren wollte. Dieser <strong>Dr</strong>ang war<br />

ihm so stark, dass er darüber sogar eine von ihm ursprünglich nicht gewollte Kirchenspaltung<br />

in Kauf nahm. Der Luther zugeschriebene Satz „Ich stehe hier und kann nicht anders“ ist<br />

treffender Ausdruck dieser Unduldsamkeit. Diese Unduldsamkeit gegenüber der<br />

spätmittelalterlichen Papstkirche setzte sich alsbald nahtlos fort in den Unduldsamkeiten, die<br />

in der reformatorischen Kirchenfamilie zu beklagen sind. Da konnten sich Lutheraner und<br />

Reformierte gegenseitig das Christsein absprechen, und die Anhänger des linken Flügels der<br />

Reformation, die damals sogenannten Wiedertäufer, mussten gar um ihr Leben fürchten.<br />

Zum Beispiel Paul Gerhard: Der Dichter von uns bis heute erfreuenden und tröstenden<br />

Liedern musste sein Berliner Pfarramt verlassen, weil er als Lutheraner seine reformierten<br />

Zeitgenossen nicht ausstehen konnte. Die Katholiken, so beharrte er sinngemäß, sind<br />

schlimm, aber immerhin Christen; schlimmer als sie sind die Reformierten, denn sie sind<br />

keine Christen. Und viele Reformierte zahlten damals mit gleicher Münze zurück.<br />

2 Heutige Toleranz-Verständnisse<br />

Ich springe in die Gegenwart. Um zu überprüfen, ob der Toleranzbegriff theologisch und<br />

diakonisch fruchtbar gemacht werden kann, gehe ich zunächst vom allgemeinen<br />

gegenwärtigen Sprachgebrauch aus. Danach ist jemand tolerant, der aufgeschlossen,<br />

duldsam, freizügig, großmütig, liberal oder vorurteilsfrei ist, möglicherweise auch einfach<br />

gleichgültig. Ein toleranter Mensch ist nicht kleinlich und lässt fünfe schon mal gerade sein.<br />

Dies deutet bereits an, dass der Begriff der Toleranz weit weniger eindeutig ist, als er auf<br />

dem ersten Blick zu sein scheint. Und auch die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen<br />

Wortes tolerare – aushalten, erleiden, erdulden, ertragen – hilft nur begrenzt weiter, denn<br />

mit Toleranz wird heute doch mehr und auch anderes in Verbindung gebracht.<br />

2.1 Vier Konzeptionen von Toleranz bei Rainer Forst<br />

Der Sozialphilosoph Rainer Forst unterscheidet vier unterschiedliche Verständnisse und<br />

Konzeptionen von Toleranz, die man auch als Stufenfolge mit fließenden Übergängen<br />

betrachten kann. Sie haben sich vornehmlich seit der Aufklärung entwickelt und sind bis<br />

heute wirksam, auch in Kirche und Diakonie; meine Beispiele stammen aus diesen<br />

Bereichen.<br />

1


Eine erste Stufe ist die Erlaubnis-Toleranz. Ein Mächtiger oder eine Mehrheit erteilt dabei<br />

Machtlosen oder einer Minderheit die Erlaubnis, nach ihren Überzeugungen zu leben, ohne<br />

dass diese für alle verbindlich werden. Im Edikt von Nantes gewährt der französische<br />

katholische König Heinrich IV. 1598 den Hugenotten genannten reformierten Protestanten<br />

das Recht, ihren Glauben künftig ohne Diskriminierungen und Verfolgungen zu leben. – Als<br />

sogenannter Tendenzbetrieb hat die Diakonie das Recht, Mitarbeitende auch aufgrund ihrer<br />

religiösen Überzeugung einzustellen oder abzulehnen. In unserem <strong>Perthes</strong>-<strong>Werk</strong> können<br />

auch muslimische Frauen arbeiten. Diese Erlaubnis gilt jedoch dann nicht, wenn eine<br />

muslimische Frau ständig ein Kopftuch als Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung trägt.<br />

Eine andere Voraussetzung hat die Koexistenz-Toleranz. 1648 beendeten in Münster und in<br />

Osnabrück mit dem Westfälischen Frieden die im <strong>Dr</strong>eißigjährigen Krieg sich bekämpfenden<br />

katholischen und protestantischen Parteien ihr bis dahin unerbittliches Gegeneinander,<br />

indem sie sich gegenseitig das Recht zusprachen, künftig friedlich im Nebeneinander zu<br />

leben. Hier sind es etwa gleichstarke Machtverhältnisse, die zur Vermeidung weiteren<br />

Blutvergießens eine Toleranz gleichsam erzwingen. – Das mittlerweile gute Miteinander von<br />

Evangelischen und Katholischen in unserem Lande rührt neben sich erst danach<br />

entwickelten theologischen Einsichten nicht zuletzt darauf, dass in Deutschland beide<br />

Konfessionen etwa gleich stark vertreten sind. Dort wo eine Konfession deutlich in der<br />

Minderheit ist, kann auch in unserem Land dieses Miteinander eher die Form eines<br />

geduldeten Nebeneinanders haben; in anderen Ländern dieser Erde ist sogar ein spürbares<br />

Gegeneinander zu beklagen.<br />

Als dritte Stufe ist die Respekt-Toleranz auszumachen. Danach werden die Überzeugungen<br />

und Lebensweisen anderer anerkannt und verteidigt, auch wenn man selber eine andere<br />

Überzeugung oder Lebenspraxis hat. – In der evangelischen Kirche hat sich in den letzten<br />

Jahrzehnten das Verständnis von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften und von<br />

homosexuellen Lebensformen gewandelt von Ablehnung über Hinnahme zur Anerkennung.<br />

Die vierte Stufe schließlich ist die Wertschätzungs-Toleranz. Die Überzeugungen und<br />

Lebensweisen anderer werden so hoch geschätzt, dass sie durchaus als Vorbild für alle<br />

gelten können. – Man mag hier an Menschen denken, die sich uneigennützig und unter<br />

persönlichen Opfern für andere einsetzen, ohne dass der religiöse oder politische<br />

Begründungshintergrund ihres Handels übernommen wird. Wer die Gewaltlosigkeit eines<br />

Mahatma Gandhi schätzt, muss nicht Hindu sein, und wer Mutter Teresa Hochachtung<br />

entgegenbringt, muss nicht Nonne oder Mönch werden.<br />

Das alles klingt so schlüssig und schön, dass man durchaus fordern kann, Toleranz zu<br />

einem, ja vielleicht sogar zu dem entscheidenden Grundprinzip menschlichen Miteinanders<br />

zu erklären. Dazu neigt die „Erklärung von Prinzipien der Toleranz“ der UNESCO von 1995.<br />

Sie bezeichnet Toleranz unter anderem als „eine Tugend, die den Frieden ermöglicht“. Und:<br />

„Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg.“ Das ist gewiss zutreffend. Allerdings<br />

muss man feststellen, dass nicht alle Unterschiede harmonisiert oder gar bagatellisiert<br />

werden können.<br />

2.2 Grenzen der Toleranz<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg drängte sich verstärkt die Frage auf, wie tolerant eine<br />

Gesellschaft sein darf, ohne in Gefahr zu geraten, Opfer etwa von Rassismus und Intoleranz<br />

zu werden. Der Humorist Wilhelm Busch hatte Jahrzehnte vor den großen politischen<br />

Katastrophen des 20. Jahrhunderts dieses Problem punktgenau formuliert: „Toleranz ist gut,<br />

nicht aber gegenüber den Intoleranten.“ Damit wird deutlich, dass Toleranz nicht grenzenlos,<br />

sondern nur begrenzt möglich ist.<br />

Festgehalten werden muss, dass die oben wiedergegebenen vier Toleranzmodelle<br />

keinesfalls als Stufen in dem Sinne verstanden werden dürfen, als sei nur der wirklich<br />

tolerant, der sich bis zur Wertschätzungs-Toleranz hin entwickelt hat. Für den Bereich der<br />

2


Kirche würde dies eine Selbstaufgabe zur Folge haben. Wie jede auf Dauer angelegte<br />

Institution muss auch die Kirche durch inhaltliche Festlegungen und<br />

Aufgabenbeschreibungen, aber auch durch Grenzziehungen und Abgrenzungen sich<br />

unterscheidbar machen und ihr Fortbestehen sichern. Dazu dienen in der Kirche sich aus der<br />

Bibel begründende Bekenntnisse, die durch synodale Beschlüsse und geschichtliche<br />

Bewährung eine fortdauernde Verbindlichkeit erlangen. Wird dieses Bekenntnis nun<br />

abgelehnt, darf die Kirche dies auf Dauer nicht ignorieren, sondern muss Klarstellungen<br />

vornehmen. Die Aussagen der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 beispielsweise<br />

sind in ihren sechs Thesen parallel in einem <strong>Dr</strong>eischritt aufgebaut. Auf ein begründendes<br />

Bibelwort folgt eine Zustimmungsaussage, dem sich ein Ablehnungssatz anschließt;<br />

Letzterer beginnt jeweils mit den Worten: „Wir verwerfen die falsche Lehre, …“. Eine solche<br />

Verwerfung ist Ausdruck von Intoleranz insofern, als sie eine das Wesen der Kirche<br />

verfälschende Lehre nicht hinzunehmen, zu dulden oder zu tolerieren bereit ist.<br />

3 Toleranz als kirchlich und diakonisch ungeeigneter Leitbegriff<br />

Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen komme ich zu dem Ergebnis, dass der sich so gut<br />

anhörende Begriff der Toleranz nicht geeignet ist, handlungsleitend für Kirche und Diakonie<br />

zu werden. Toleranz ist zweifellos eine Tugend. Eine Tugend aber ist eine vorbildliche<br />

Eigenschaft, durch die Einzelne sich auszeichnen mögen, die jedoch keinesfalls für alle<br />

verpflichtend ist. Kirche und Diakonie dürfen ihr Handeln aber nicht an dem ausrichten, was<br />

vielleicht sein sollte, aber nicht unbedingt sein muss. Das Eintreten von Kirche und Diakonie<br />

für alte und kranke Menschen, für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten und für<br />

Menschen mit Behinderungen hingegen muss seine Begründung haben in einer unbedingten<br />

Verpflichtung.<br />

Toleranz ist somit Ausdruck von Nützlichkeitserwägungen. Grund für diakonisches Handeln<br />

hingegen ist unabhängig von gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen der biblische<br />

Auftrag, benachteiligten, kranken und notleidenden Menschen beizustehen.<br />

Toleranz ist zudem immer Ausdruck von Überlegenheit und Macht, als sie anderen etwas<br />

erlaubt. Die Diakonie darf aber kein Handeln von oben herab sein, und ihr Handeln darf nicht<br />

Ausdruck einer Machtposition sein, sondern muss auf Augenhöhe geschehen.<br />

Damit stellt sich für mich heraus, dass der Begriff der Toleranz viel zu uneindeutig und viel<br />

zu schillernd ist, zu anpassungsfähig und problembehaftet, um als kirchlicher und<br />

diakonischer Leitbegriff zu taugen. – Wenn sich denn in der eigenwilligen Zusammenstellung<br />

Reformation und Toleranz der Toleranz-Teil als theologisch unbrauchbar erweist, soll nun<br />

gefragt werden, was der Reformation-Teil austrägt als Begründung und Impuls für<br />

diakonisches Handeln heute.<br />

4 Martin Luthers Auslegung des vierten Gebotes<br />

Hauptvertreter der Reformation in Deutschland ist Martin Luther. Er soll darum beispielhaft<br />

für ‚die‘ Reformation stehen, auch wenn er keine systematische Zusammenfassung des<br />

christlichen Glaubens aus reformatorischer Sicht verfasst hat. Gleichwohl gibt es von ihm<br />

eine 1529 veröffentlichte wirkmächtige knappe Darstellung und Erläuterung von<br />

wesentlichen Glaubensinhalten, den Katechismus. Der Kleine Katechismus war als Lernbuch<br />

gedacht vornehmlich für Kinder, der Große Katechismus als erläuterndes Lehrbuch für die<br />

Lehrenden.<br />

Zum Verhältnis von Jung und Alt finden sich im Katechismus einige bis heute gültige<br />

Feststellungen, und zwar in der Auslegung des vierten Gebotes. Das vierte Gebot lautet: „Du<br />

sollst Vater und Mutter ehren, auf dass dir‘s wohlgehe und du lange lebest auf Erden.“ Auf<br />

die nach jedem Gebot folgende Frage „Was ist das?“ heißt es im Kleinen Katechismus: „Wir<br />

sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch<br />

erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben.“<br />

3


Zu Recht ist kritisiert worden, dass es in diesem Verständnis des Gebotes offenbar Luthers<br />

Zielrichtung war, Heranwachsende mittels religiöser Begründung und Überhöhung zum<br />

unbedingten Gehorsam gegenüber Eltern, Vorgesetzten und Obrigkeiten anzuleiten; das ist<br />

zutreffend, und hier erweist Luther sich deutlich als Kind seiner Zeit. Dass ein Ehren von<br />

Obrigkeiten sich auch in ihrer Kritik und in Distanzierung von bestimmten Formen<br />

obrigkeitlicher Machtausübung bestehen kann, kam Luther eigenartigerweise nicht in den<br />

Sinn. Das mag insofern verwundern, als seine reformatorische Leistung ja auch im Mut zum<br />

Ungehorsam gegenüber kirchlichen und weltlichen Herrschaften bestand.<br />

Im biblischen Sinne geht es beim vierten Gebot übrigens nicht darum, kleinen Kindern eine<br />

Gehorsamspflicht gegenüber ihren Eltern einzubläuen. Ziel dieses Gebotes ist vielmehr die<br />

Verpflichtung von erwachsenen Kindern, die soziale Versorgung ihrer Eltern dann zu<br />

übernehmen, wenn diese dazu selber nicht mehr in der Lage sind. Um es mit heutigen<br />

Worten auszudrücken: Das vierte Gebote verpflichtet Erwachsene, für ihre arbeitsunfähigen<br />

oder pflegebedürftigen Eltern eine personifizierte Rentenversicherung und ein personifizierter<br />

Pflegedienst zu sein.<br />

Zu Unrecht ist kritisiert worden, dass Luthers Auslegung sich im Wesentlichen auf den<br />

Gehorsam beschränkt und deshalb die ja eigentlich soziale Zielrichtung des vierten Gebotes<br />

außer Acht lässt. In den Erläuterungen seines Großen Katechismus erklärt Luther nämlich<br />

den Lehrenden, auf welche Weise die Kurzauslegung des Kleinen Katechismus zu erläutern<br />

ist. Dort fordert er in einer für unsere Ohren unvertraut klingenden, von mir nur sehr<br />

behutsam angepassten Sprachweise:<br />

„… dass man dem jungen Volk einbilde, ihre Eltern an Gottes Statt vor Augen zu halten und<br />

also denken, ob sie gleich gering, arm, gebrechlich und seltsam seien, dass sie dennoch<br />

Vater und Mutter sind, von Gott gegeben. Des Wandels oder Fehl halber sind sie der Ehren<br />

nicht beraubt. Darum ist nicht anzusehen die Person, wie sie sind, sondern Gottes Willen,<br />

der also schaffet und ordnet. Sonst sind wir zwar vor Gottes Augen alle gleich, aber unter<br />

uns kann es ohn solche Ungleichheit und ordentliche Unterschied nicht sein. … So lerne<br />

man nu zum ersten, was die Ehre gegen die Eltern heiße, … nämlich dass man sie … auch<br />

mit <strong>Werk</strong>en, das ist mit Leib und Gut solche Ehre erweise, dass man ihnen diene, helfe und<br />

versorge, wenn sie alt, krank, gebrechlich oder arm sind und solches nicht allein gerne,<br />

sondern mit Demut und Ehrbietung als für Gott getan. Denn wer das weiß, wie er sie im<br />

Herzen halten soll, wird sie nicht lassen Not noch Hunger leiden, sondern sie über und<br />

neben sich setzen und mitteilen, was er hat und vermag.“<br />

Das sind nun ohne Zweifel deutliche und eindeutige Worte, die Kindern frühzeitig auch ihre<br />

Sozialverantwortung vor Augen stellen und einprägen soll. Wenn man so will, ist dies so<br />

etwas wie ein Generationenvertrag. Theologisch bedeutsam ist, dass die Pflicht zur<br />

Elternehrung bedingungslos gilt. Die Eltern werden als Person betrachtet, auch wenn sie<br />

bestimmte Eigenschaften verlieren mögen, die nach Ansicht mancher heutiger Denker erst<br />

ihr Personsein ausmachen, nämlich die Fähigkeit zum Denken und zur Selbstbestimmung.<br />

Es sind mithin nicht bestimmte Eigenschaften, die den Wert eines Menschen ausmachen,<br />

sondern weil man sie als Person ansieht und sie als wertvoll erachtet. Das gilt eben auch<br />

dann, wenn Menschen im Alter „seltsam“ werden, also sonderlich, absonderlich und<br />

befremdlich infolge von Demenz. Weil Gott ihnen Würde zuspricht, gebietet er uns einen<br />

würdevollen und ihre Würde achtenden und wahrenden Umgang mit ihnen.<br />

„Des Wandels oder Fehls halben sind sie der Ehren nicht beraubt.“ Auch wenn Menschen im<br />

Alter sich so wandeln und verwandeln, dass sie sich und andere nicht mehr zu kennen und<br />

zu erkennen scheinen, auch wenn andere deren altes und ihnen vertrautes Wesen kaum<br />

mehr wiedererkennen können, so haben sie dennoch einen Anspruch auf Wahrung ihrer<br />

Würde. Der Große Katechismus ist ursprünglich auf Lateinisch verfasst, und für „Fehl“ steht<br />

dort das kräftigere „defectus“. Auch wenn ein Mensch defekt ist, wenn ihn die Fähigkeit zu<br />

funktionieren verlassen hat, ja gleichsam geraubt wird, bleibt ihm sein Ehranspruch erhalten.<br />

4


Dieses unbedingte, bedingungslose Ja Gottes zum Menschen ist somit die anthropologische<br />

Kehrseite der von Luther wiederentdeckten neutestamentlichen Gnadenlehre des Paulus.<br />

Angenommen von Gott sind wir „ohne des Gesetzes <strong>Werk</strong>e, allein durch den Glauben“<br />

(Römer 3, 28). Das bedeutet in diesem Zusammenhang: Die Würde des Menschen ist nicht<br />

in seinen Fähigkeiten und Eigenschaften oder gar in deren Qualität begründet, sondern wird<br />

ihm von Gott voraussetzungslos anerkannt. Diese Voraussetzungslosigkeit wird theologisch<br />

als Gnade bezeichnet. Das heißt für die Diakonie: Es ist die Gnade Gottes, es ist sein<br />

Verständnis des Menschen und hier des alten Menschen, die nach Luthers Einsicht die<br />

Pflicht zur Altenhilfe begründen.<br />

5 Der Anlass für das vierte Gebot<br />

Dass Luther diesen Sozialaspekt des vierten Gebotes derart deutlich betont, lässt darauf<br />

schließen, dass die von ihm auf biblischer Grundlage geforderte Altersfürsorge keinesfalls<br />

üblich und gängig war. Wäre es das gewesen, hätte es seiner Ermahnung nicht bedurft. Und<br />

wenn zu biblischen Zeiten die Menschen ihre Generationenverantwortung gegenüber den<br />

Älteren selbstverständlich wahrgenommen hätten, wäre das vierte Gebot nicht nötig<br />

gewesen. Die biblischen Gebote sind ja auch aus ähnlichen Gründen entstanden, wie<br />

Gesetze es heute tun; sie sind in der Regel keine vorausschauende Aktion, sondern eine<br />

nachträgliche Reaktion, die festgestellte Fehlentwicklungen künftig vermeiden will. Eben weil<br />

nicht alle Eltern in der an sich erforderlichen Weise durch Sozialfürsorge im Alter geehrt<br />

wurden, bekam die Pflicht zur sozialen Elternehrung den Rang eines Gottesgebotes. Und<br />

eben weil es auch in biblischen Zeiten nicht selbstverständlich war, mit dementiell<br />

veränderten Menschen würdevoll umzugehen, finden sich in dem von Luther geschätzten<br />

apokryphen Buch Jesus Sirach, das Lebensweisheiten zusammenfasst, Ermahnungen wie<br />

diese in Kapitel 3, Verse 9f und 13-15:<br />

„Ehre Vater und Mutter mit der Tat und mit Worten und mit aller Geduld, damit ihr Segen<br />

über dich kommt. … Liebes Kind, nimm dich deines Vaters im Alter an, und betrübe ihn ja<br />

nicht, solange er lebt; und habe Nachsicht mit ihm, selbst wenn er kindisch wird, und<br />

verachte ihn nicht im Gefühl deiner Kraft.“<br />

6 Unbedachtes Reden über alte Menschen<br />

Die Bibel und Luther lehren, alte Menschen weder als lästig noch als Last empfinden. Leider<br />

gibt es nach wie vor eine Sichtweise, die vor allem jene Belastungen betont, die durch das<br />

Alter entstehen. Krankenversicherungen stellen jährlich heraus, wie sehr sie durch<br />

bestimmte Erkrankungen belastet werden. Zynisch gesprochen bekommt man als Folge<br />

davon fast ein schlechtes Gewissen, wenn man überhaupt zum Arzt gehen muss. Dabei<br />

wurden Krankenkassen eigens zu dem Zweck gegründet und werden von möglichen<br />

Betroffenen eigens dazu finanziert, im Krankheitsfall Zahlungen zu leisten; Gleiches gilt für<br />

die Pflegekassen. Und es ist fatal, wenn in der politischen Debatte häufig der Anschein<br />

entstehen muss, als gefährde die wachsende Zahl alter Menschen die Zahlungsfähigkeit und<br />

somit die Zukunft unserer Gesellschaft.<br />

Eine andere gefährliche Redeweise ist die von einer angeblichen Überalterung unserer<br />

Gesellschaft. Das Vorwörtchen „über“ zeigt in unserer Sprache ja häufig etwas zu<br />

Vermeidendes an: überladen, übersehen, überflüssig. Auf diese Weise wird indirekt und<br />

subkutan, gleichwohl sehr wirksam der Eindruck erweckt, als seien auch alte Menschen<br />

‚über‘, nämlich nicht mehr gewollt und somit überflüssig. Vielleicht mit vor diesem<br />

Hintergrund äußern manche Menschen den Wunsch, sie wollten niemandem zur Last fallen.<br />

– Im Übrigen, wenn man schon diese unglückliche Formulierung gebrauchen will, leidet<br />

unsere Gesellschaft nicht an Überalterung, also an zu vielen alten Menschen, sondern an<br />

Unterjüngung, als an zu wenigen jungen nachgeborenen Menschen; dass dem so ist, darf<br />

nicht den alten Menschen vorgeworfen werden.<br />

5


Und schließlich ist gelegentlich von einer Alterslawine die Rede. Lawinen sind etwas<br />

Bedrohliches und Lebensgefährliches. Alte Menschen sind mithin in diesem<br />

Verstehenskontext ebenfalls bedrohlich, weil sie angeblich die Lebensmöglichkeiten einer<br />

nachwachsenden Generation einschränken. – Derartige Formulierungen sollten wir als<br />

Christenmenschen also tunlichst vermeiden.<br />

7 Das Zusammenspiel von <strong>Perthes</strong>-<strong>Werk</strong> und Kirchengemeinden<br />

Im Evangelischen <strong>Perthes</strong>-<strong>Werk</strong> wissen wir, dass wir die Aufgabe einer sich im Gebot Gottes<br />

gründenden diakonischen Altenhilfe nicht allein aus eigener Kraft bewältigen können. Darum<br />

suchen wir seit jeher eine enge Verbindung mit jenen Kirchengemeinden, in denen unsere<br />

Einrichtungen stehen und auf deren Initiativen sie überhaupt entstanden sind. Unser Ziel ist<br />

es, Kirchengemeinden bei der Erfüllung ihrer diakonischen Aufgaben im Bereich der<br />

Altenhilfe behilflich zu sein. Diese enge Verknüpfung mit örtlichen Kirchengemeinden ebenso<br />

wie mit den entsprechenden Kommunalgemeinden ist wesentlicher konzeptioneller Grund für<br />

den Erfolg unserer diakonischen Arbeit. Gemeinsam mit Kirchengemeinden und ihren<br />

Möglichkeiten – Kindergärten, Gemeindegruppen, Ehrenamtlichen – zeigen wir tagtäglich,<br />

dass und wie ein konkurrenzfreies und gnädiges Miteinander von Jung und Alt möglich und<br />

gestaltbar ist. Davon profitieren beide, Junge und Alte.<br />

8 Recht statt Toleranz<br />

Bei diesem Miteinander geht es nun nicht um Toleranz alten Menschen gegenüber, also um<br />

einen Gnadenerweis von oben nach unten. Vielmehr ist dieses Miteinander ein Ausdruck<br />

dessen, dass wir alle und gemeinsam aus der Gnade Gottes heraus leben und von ihm als<br />

gleichwertig, gleichwürdig und gleichberechtigt anerkannt sind. Im Wort ‚gleichberechtigt‘<br />

steckt das Wort ‚Recht‘. Um Recht geht es in der Diakonie, um Ge-Recht-igkeit, also um das<br />

Durchsetzen eines von Gott gebotenen Rechtsanspruches.<br />

Für das Verhältnis von Jung und Alt ist der in Gottes Willen begründete Rechtsanspruch im<br />

vierten Gebot und in Luthers Katechismus in Anlehnung an 2. Mose 20, 12 ebenso knapp<br />

wie einprägsam formuliert: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s<br />

wohlgehe und du lange lebest auf Erden.“<br />

Literatur<br />

Der kleine Katechismus <strong>Dr</strong>. Martin Luthers; in: Die Bekenntnisschriften der Evangelischlutherischen<br />

Kirche. Herausgegeben im Jahr der Augsburgischen Konfession 1930; 6.<br />

Auflage Göttingen 1967, 499-542; auszugsweise auch in: Evangelisches Gesangbuch (EG)<br />

Nr. 855 = Seite 1312-1329.<br />

Der große Katechismus <strong>Dr</strong>. Martin Luthers; in: Die Bekenntnisschriften…, 543-733.<br />

Die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen 1934; in: EG Nr. 858 = Seite<br />

1377-1380.<br />

Forst, Rainer: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen<br />

Begriffs; stw 1682, Frankfurt am Main 2003.<br />

UNESCO: Erklärung von Prinzipien der Toleranz (1995);<br />

www.unesco.de/erklaerung_toleranz.html; Aufruf 29.8.2013.<br />

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