Flucht und erzwungene Migration: Antwort - unhcr
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Rede<br />
von<br />
António Guterres<br />
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen<br />
"<strong>Flucht</strong> <strong>und</strong> <strong>erzwungene</strong> <strong>Migration</strong>:<br />
<strong>Antwort</strong>en auf die Herausforderungen dieses Jahrzehnts"<br />
(Inoffizielle deutsche Übersetzung)<br />
anlässlich des 10. Berliner Symposiums zum Flüchtlingsschutz<br />
Friedrichstadtkirche Berlin<br />
am 15. Juni 2010<br />
- Es gilt das gesprochene Wort -
Meine sehr geehrten Damen <strong>und</strong> Herren,<br />
ich fühle mich sehr geehrt, heute mit Ihnen hier den 10. „Geburtstag“ dieses<br />
wichtige Denkanstöße vermittelnden Forums feiern zu können. Auch für mich<br />
persönlich ist heute ein besonderer Tag, markiert er doch den ersten<br />
Arbeitstag meiner zweiten fünfjährigen Amtszeit als Hoher Flüchtlingskommissar<br />
der Vereinten Nationen.<br />
Im Dezember dieses Jahres wird UNHCR 60 Jahre alt. Nächstes Jahr wartet<br />
auf uns der 60. Jahrestag der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der 50.<br />
Jahrestag des internationalen Abkommens zur Verminderung der<br />
Staatenlosigkeit. Hinzu kommt der 150. Geburtstag von Fridtjof Nansen, dem<br />
ersten Flüchtlingskommissar des Völkerb<strong>und</strong>es, nach dem auch die höchste<br />
Auszeichnung benannt ist, die UNHCR zu vergeben hat.<br />
Diese nahenden Geburts- <strong>und</strong> Feiertage sind auch ein geeigneter Anlass, auf<br />
die Lage der derzeit weltweit mehr als 43 Millionen Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebene<br />
einzugehen. 15 Millionen von ihnen gelten als Flüchtlinge im engeren Sinne.<br />
Wer dem Schutzbedarf der Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebenen im nächsten<br />
Jahrzehnt gerecht werden will, muss ein klares Verständnis der sich ändernden<br />
Dynamik von <strong>Flucht</strong> <strong>und</strong> Vertreibung haben. Entsprechend muss UNHCR sich<br />
in seiner Arbeit kontinuierlich anpassen.<br />
Das UNHCR-Kernmandat ist es, weltweit Flüchtlinge zu schützen <strong>und</strong> zu<br />
unterstützen sowie für sie dauerhafte Lösungen zu finden - mit Ausnahme<br />
jener, die unter die Verantwortung des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge<br />
(UNRWA) fallen, grob geschätzt ein Drittel der genannten r<strong>und</strong> 15 Millionen<br />
Flüchtlinge.<br />
Bis heute haben 147 Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention bzw. ihr<br />
Zusatzprotokoll oder beide zusammen ratifiziert. Diese Instrumente erfordern<br />
von Staaten, mit UNHCR bei der Ausübung seiner Funktionen<br />
zusammenzuarbeiten. Und sie verleihen der Organisation eine einzigartige<br />
Autorität, sich zugunsten von Personen außerhalb ihres Heimatlandes bei<br />
Nichtvorhandensein von deren nationalen Schutz zu verwenden.<br />
Durch eine Vielzahl von Beschlüssen der UN-Vollversammlung, die bis in das<br />
Jahr 1974 zurückreichen, ist UNHCR auch die internationale Organisation, die<br />
mandatiert ist, sich um die Probleme von Menschen zu kümmern, die<br />
staatenlos sind bzw. die Gefahr laufen, staatenlos zu werden. Ende 2009<br />
waren weltweit 6,6 Millionen Menschen als staatenlos bekannt, inoffiziellen<br />
Schätzungen zufolge waren es sogar bis zu zwölf Millionen.<br />
UNHCR nimmt seine Verpflichtung äußerst ernst, die Achtung für die Integrität<br />
seines Amtes sicherzustellen.<br />
Die Welt ändert sich <strong>und</strong> die internationale Staatengemeinschaft sieht sich<br />
neuen Trends <strong>und</strong> Herausforderungen mit Blick auf <strong>Flucht</strong> <strong>und</strong> Vertreibung von<br />
Menschen konfrontiert.<br />
1
Die globalen Megatrends von heute – Bevölkerungsentwicklung, Urbanisierung,<br />
Nahrungsmittel- <strong>und</strong> Trinkwasserknappheit, Rohstoffmangel <strong>und</strong> vor allem der<br />
Klimawandel – sind zunehmend ineinander verwoben, verschärfen<br />
Konfliktsituationen <strong>und</strong> verbinden sich auf eine Weise, die Menschen zwingt,<br />
ihre angestammte Heimat zu verlassen.<br />
Forscher der Universitäten von Berkeley, Stanford, New York <strong>und</strong> Harvard<br />
haben unlängst eine Studie vorgelegt, mit der die Regenfall- <strong>und</strong><br />
Wettertemperaturrekorde in Afrika zwischen 1980 <strong>und</strong> 2002 <strong>und</strong> dessen<br />
Auswirkungen analysiert wurden. Die Autoren zogen das Fazit, dass mit nur<br />
einem Grad Temperatur-Anstieg das Risiko eines Konflikts um 50 Prozent<br />
erhöht wird.<br />
Die meisten Menschen, die aufgr<strong>und</strong> von Konflikten <strong>und</strong> Verfolgung ihre Dörfer<br />
<strong>und</strong> Städte verlassen mussten, suchten Zuflucht innerhalb der Grenzen ihres<br />
Heimatlandes. In Afrika leben allein 40 Prozent der geschätzten 27 Millionen<br />
Binnenvertriebenen weltweit. Selbst ein sehr niedriger Temperaturanstieg<br />
würde, gemessen an den damit verb<strong>und</strong>enen prognostizierten Auswirkungen<br />
auf den Klimawandel, signifikant Konflikte beschleunigen, die zu <strong>Flucht</strong> <strong>und</strong><br />
Vertreibung führen.<br />
Wenn innerhalb eines Staates Menschen entwurzelt werden, dann liegt die<br />
Verantwortung für diese Menschen zu allererst bei den betroffenen Staaten<br />
selbst. Mit Blick auf Afrika offenbart sich hier aber eine f<strong>und</strong>amentale<br />
Unfairness, ausgelöst durch den Klimawandel: Jene, die am wenigsten dafür<br />
verantwortlich <strong>und</strong> mit den geringsten Ressourcen für eine <strong>Antwort</strong><br />
ausgestattet sind, werden hiervon am meisten betroffen.<br />
Schon jetzt fliehen viele Menschen – als Reaktion auf diese Trends - auch über<br />
internationale Grenzen. Vielleicht erfüllen sie nicht die Kriterien der Genfer<br />
Flüchtlingskonvention, nichtsdestotrotz brauchen sie Schutz <strong>und</strong> Unterstützung.<br />
UNHCR steht nicht allein da mit der Herausforderung, auf Formen von <strong>Flucht</strong>,<br />
Entwurzelung <strong>und</strong> Vertreibung zu reagieren, die das formale Mandat nicht<br />
vorsieht. Die globale humanitäre Gemeinschaft entwickel sich ebenfalls weiter,<br />
es entstehen neue Formen der Zusammenarbeit <strong>und</strong> der Partnerschaft, die<br />
nicht nur die UN, sondern auch die die Rotkreuz/Roter Halbmond Bewegung<br />
<strong>und</strong> andere NGO’s umfassen.<br />
UNHCR sieht sich selbst als eine Organisation mit der notwendigen Erfahrung,<br />
Expertise <strong>und</strong> den Kapazitäten, um ein zentrales Instrument der internationalen<br />
Gemeinschaft zu sein, wenn es darum geht, Staaten dabei zu unterstützen,<br />
Menschen die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen <strong>und</strong> sich nun in<br />
schwierigen Lebensumständen wiederfinden, zu schützen <strong>und</strong> zu helfen<br />
sowie für ihre Probleme Lösungen zu finden, .<br />
In diesem Zusammenhang hat UNHCR Verantwortung auch dann<br />
übernommen, wenn die betroffenen Menschen nicht eine internationale Grenze<br />
überquert haben. UNHCR ist nun federführend bei der Krisenreaktion auf<br />
<strong>Flucht</strong>situationen, die innerhalb eines Staates durch Konflikte ausgelöst wurden<br />
– <strong>und</strong> zwar für die Bereiche Schutz, Unterkunft <strong>und</strong> Camp Verwaltung.<br />
2
Werden wir gefragt, sind wir auch bereit, im Falle von Naturkatastrophen vor<br />
Ort federführend bei Schutzmaßnahmen für die Betroffenen tätig zu werden.<br />
Selbstverständlich würde dies nur in enger Zusammenarbeit <strong>und</strong> Konsultation<br />
mit der jeweils betroffenen Regierung <strong>und</strong> Partnerorganisationen erfolgen, vor<br />
allem mit UNICEF <strong>und</strong> dem Amt der UN-Menschenrechtskommissarin.<br />
Wir haben uns so entwickelt, dass wir zusätzliche Verantwortlichkeiten<br />
übernehmen, dabei aber gleichzeitig die Integrität unseres Kernmandats<br />
wahren können. Wir brauchen diese adaptierte Fähigkeit, um die drei<br />
wesentlichen Herausforderungen annehmen zu können, mit denen UNHCR<br />
heute konfrontiert ist.<br />
Die erste Herausforderung möchte ich charakterisieren als die wachsende Zahl<br />
von hartnäckigen Dauerkrisen. Bei den großen Konflikten wie denen in<br />
Afghanistan, Somalia <strong>und</strong> der Demokratischen Republik Kongo gibt es derzeit<br />
keine Anzeichen für eine Lösung. Konflikte, von denen man meinte, sie seien<br />
bereits beendet oder zumindest auf dem Weg dazu, wie z.B. im südlichen<br />
Sudan oder im Irak, dauern ebenfalls an.<br />
Deshalb war das letzte Jahr auch ein schlechtes Jahr für die freiwillige<br />
Rückkehr von Flüchtlingen. Genau genommen, war es das Schlechteste seit 20<br />
Jahren. Knapp 250.000 Flüchtlinge kehrten letztes Jahr in ihre Heimat zurück.<br />
Das ist lediglich r<strong>und</strong> ein Viertel der durchschnittlichen Zahl der Flüchtlinge, die<br />
im letzten Jahrzehnt pro Jahr heimkehrten.<br />
Schon heute lebt eine Mehrheit von Flüchtlingen fünf Jahre oder länger im Exil.<br />
Ihr Anteil wird unvermeidlich wachsen, wenn immer weniger Flüchtlinge in der<br />
Lage sein werden, nach Hause zurückzukehren.<br />
Wer wird sich um diese Flüchtlinge kümmern Anders als uns populistische<br />
Politiker glauben machen wollen, leben vier Fünftel der Flüchtlinge weltweit in<br />
Entwicklungsländern, zunehmend dort auch in urbanen Ballungszentren. Sie<br />
werden von Menschen <strong>und</strong> Gemeinschaften aufgenommen, die – obwohl<br />
selbst oftmals arm – sie willkommen heißen <strong>und</strong> unterstützen.<br />
Um die relativen Belastungen bei der Unterstützung von Flüchtlingen genauer<br />
zu bestimmen, hat UNHCR einen statistischen Vergleich unternommen <strong>und</strong><br />
die Zahl der jeweiligen Flüchtlinge auf jeweils einen US-Dollar des jeweiligen<br />
Bruttosozialprodukts pro Kopf des Aufnahmelandes umgerechnet. Aus diesem<br />
Vergleich ergibt sich, dass die Top 25 Aufnahmestaaten ausnahmslos<br />
Entwicklungsländer sind, 14 von ihnen gehören sogar zu den Ärmsten der<br />
Armen<br />
Pakistan steht an der Spitze dieser Liste mit 745 Flüchtlingen pro Dollar des<br />
Bruttosozialprodukts pro Kopf. Deutschland ist das erste Industrieland auf<br />
dieser Liste, es liegt an 26. Stelle, mit 17 Flüchtlingen pro Dollar des<br />
Bruttosozialprodukts pro Kopf.<br />
Wir müssen mehr tun, um Lösungen für Flüchtlinge zu finden.<br />
Es gibt einige Situationen, da ist Integration im Erstasylland möglich. In<br />
Staaten, die Asylsysteme kennen, bedeutet jede individuelle Zuerkennung des<br />
Flüchtlingsstatus eine dauerhafte Lösung.<br />
3
Letztes Jahr haben ein Viertel von r<strong>und</strong> einer Million Asylsuchender in Europa,<br />
Nordamerika oder Ozeanien einen internationalen Schutzstatus erhalten.<br />
Jüngst wurde durch die bemerkenswert generöse Haltung der Regierung von<br />
Tansania mehr als 162.000 bur<strong>und</strong>ischen Flüchtlingen die Staatsbürgerschaft<br />
verliehen. Sie waren 1972 aus ihrem Heimatland geflohen.<br />
Es wäre jedoch nicht möglich gewesen, die Voraussetzung für eine Integration<br />
überhaupt realisieren zu können, hätte es in den letzten Jahren nicht auch ein<br />
massives Programm zur freiwilligen Rückkehr nach Bur<strong>und</strong>i <strong>und</strong> ein größeres<br />
Resettlement-Programm gegeben.<br />
Resettlement nennt man den Prozess, durch den Flüchtlinge aus ihren<br />
Erstasylländern (gewöhnlich in Entwicklungsländern) dauerhaft in Drittländern<br />
(zumeist Industriestaaten) neuangesiedelt werden. Flüchtlinge werden<br />
neuangesied elt, wenn sie nicht aus Sicherheitsgründen in ihren<br />
Erstasylländern bleiben können oder dort keine Möglichkeit für einen<br />
dauerhaften Aufenthalt haben.<br />
Letztes Jahr war insofern ein bemerkenswerter Erfolg, da UNHCR mehr als<br />
128.000 Flüchtlinge einer Reihe von Staaten zur Aufnahme vorschlagen<br />
konnte. Innerhalb von fünf Jahren konnte so die Zahl der Resettlement-<br />
Vorschläge verfünffacht werden.<br />
Bedauerlicherweise wird man diese Zahl der Vorschläge nicht aufrechterhalten<br />
können, wenn die Zahl der tatsächlich zur Verfügung gestellten<br />
Aufnahmeplätze damit nicht Schritt hält. Derzeit kann UNHCR weltweit mit<br />
insgesamt r<strong>und</strong> 80.000 Aufnahmeplätzen von Staaten rechnen. Ohne weitere,<br />
zusätzliche Plätze werden wir unvermeidlich eine lange Wartelise für<br />
Flüchtlinge produzieren, die für das Resettlement vorgesehen sind, aber<br />
nirgendwohin gehen können.<br />
Wichtige, wenn auch vorläufige Schritte wurden unternommen, um ein EUweites<br />
Resettlement Programm zu installieren. Ein zahlenmäßig robustes<br />
Resettlement-Programm auf EU-Ebene würde die Zahl der für Flüchtlinge<br />
dringend benötigten Aufnahmeplätze erhöhen. Es wäre zugleich ein konkreter<br />
Beweis für internationale Solidarität <strong>und</strong> Lastenteilung.<br />
Aus meiner Sicht sollte Resettlement ein Eckpfeiler des europäischen Asyls<br />
<strong>und</strong> der Politik internationaler Zusammenarbeit sein. In den letzten Jahren<br />
wurden von Europa r<strong>und</strong> 6.000 Resettlement-Aufnahmeplätze zur Verfügung<br />
gestellt – r<strong>und</strong> neun Prozent aller Plätze weltweit.<br />
Letztes Jahr hat Deutschland Aufnahmeplätze für 2.500 irakische Flüchtlinge<br />
bereitgestellt. Die Save me Kampagne läuft mittlerweile in 55 deutschen<br />
Städten. 23 Stadträte haben ihre Bereitschaft erklärt, „resettelte“ Flüchtlinge<br />
aufzunehmen. Dies zeigt, dass es hierzulande eine breite öffentliche<br />
Unterstützung für ein jährliches Aufnahmeprogramm gibt.<br />
UNHCR würde eine Entscheidung der B<strong>und</strong>esregierung ausdrücklich<br />
begrüßen, die bislang praktizierte ad hoc Aufnahme in ein jährliches<br />
Resettlement-Programm münden zu lassen. Dies wäre ein großer Beitrag, um<br />
Flüchtlingen weltweit zu helfen, die auf einen Aufnahmeplätz warten.<br />
4
Gleichzeitig gilt auch, dass für die meisten Flüchtlinge eine freiwillige Rückkehr<br />
die bevorzugte Lösung bleiben wird. Hier sehe ich die größte Herausforderung<br />
darin, eine freiwillige Rückkehr sinnvoll zu machen. Dies ist vor allem eine<br />
politische Herausforderung - notwendig ist es, einen dauerhaften Frieden zu<br />
schaffen. Wenn Sicherheit herrscht, wird es den Betroffenen möglich<br />
heimzukehren, aber wirtschaftliche Möglichkeiten <strong>und</strong> Entwicklung sind<br />
notwendig, um ihnen in ihrer Heimat dann auch ein Bleiben zu ermöglichen.<br />
Die zweite große Herausforderung, mit der UNHCR konfrontiert ist, betrifft den<br />
schrumpfenden humanitären Handlungsspielraum. Kleinwaffen <strong>und</strong><br />
Banditentum haben sich stark vermehrt. Peacekeepers werden zu Orten<br />
entsandt, wo es keinen Frieden gibt. Unsere Ideen über friedenserhaltende<br />
Maßnahmen haben sich vielleicht durch die tatsächlichen Ereignisse überholt.<br />
Die Menschenrechtsagenda, aus der heraus UNHCR gegründet wurde <strong>und</strong> von<br />
der wir auch abhängig sind, wird zunehmend von der Agenda der Nationalen<br />
Souveränität an die Seite gedrängt. So sollen aktuell n ach dem Willen der<br />
betroffenen Staaten zwei friedenserhaltende UN-Einsätze vom Umfang<br />
reduziert <strong>und</strong> dann eingestellt werden.<br />
Der Handlungsspielraum, in dem UNHCR <strong>und</strong> andere humanitäre Akteure sich<br />
bewegen, wird immer kleiner. Es gibt mehr Angriffe auf humanitäre Helfer,<br />
sowohl durch staatliche wie durch nichtstaatliche Akteure. UNHCR hat<br />
innerhalb von sechs Monaten im letzten Jahr bei einem Einsatz drei Mitarbeiter<br />
durch mehrere, getrennt erfolgte Angriffe verloren. Humanitären<br />
Organisationen wird der Zugang zu notleidenden Zivilbevölkerungen<br />
verweigert. Hilfsprogramme werden zweckentfremdet oder manipuliert.<br />
Humanitäre Organisationen werden des Landes verwiesen.<br />
UNHCR ist tief besorgt über diese Entwicklungen <strong>und</strong> ihre Auswirkungen auf<br />
die Effektivität unserer Arbeit, auf die Sicherheit unserer Mitarbeiter <strong>und</strong> auf<br />
den humanitären <strong>und</strong> unpolitischen Charakter der Organisation als Ganzes.<br />
Es wird eine Priorität der nächsten Jahre sein, dafür einzutreten, den<br />
humanitären Handlungsspielraum zu bewahren <strong>und</strong> auszudehnen.<br />
Entscheidend für den Erfolg dieser Bemühungen wird sein, die Unterstützung<br />
der Entwicklungs- <strong>und</strong> gerade auch der Schwellenländer zu katalysieren,<br />
denen im globalen Kräfteverhältnis unaufhaltsam eine immer größere<br />
Bedeutung zukommt. Wenn diese Staaten nicht wieder für die<br />
Menschenrechtsagenda zu gewinnen sind, werden UNHCR <strong>und</strong> andere<br />
humanitäre Akteure mit ziemlicher Sicherheit den Handlungsspielraum<br />
verlieren, den sie brauchen, um das tun zu können, wozu sie mandatiert<br />
worden sind.<br />
Die dritte große Herausforderung für uns hat besondere Relevanz hier in<br />
Europa: Die Erosion des Asylraumes. Es gibt durchaus einige positive<br />
Entwicklungen, wie z. B. die Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros<br />
für Asylfragen in Malta, das – so unser Kenntnisstand - frühestens im<br />
Dezember dieses Jahres eröffnet werden soll.<br />
Insgesamt aber sind die Trends beunruhigend. Es ist sogar noch schwieriger<br />
für Menschen geworden, Schutz zu suchen <strong>und</strong> Zugang zu Territorien von<br />
5
Staaten zu haben, wo sie Schutz finden können. Zudem gibt es einen<br />
wahrnehmbaren Anstieg von rassistischen <strong>und</strong> fremdenfeindlichen Handlungen<br />
Ebenso beunruhigend wie die Übergriffe selbst, ist auch die anscheinend<br />
wachsende Gleichgültigkeit ihnen gegenüber, wenngleich es wichtig ist<br />
festzustellen, dass einige Regierungen Anstrengungen unternehmen, diese<br />
Fremdenfeindlichkeit zu verurteilen <strong>und</strong> zu bekämpfen.<br />
Starke Gegenkräfte werden gebraucht, um sich gegen wachsende<br />
fremdenfeindliche Stimmungen zu stemmen, besonders an den Schnittpunkten<br />
der sogenannten muslimischen <strong>und</strong> westlichen Welt.<br />
Eine bescheidende aber wichtige Initiative von UNHCR ist in dieser Hinsicht<br />
unser Bemühen, ein besseres Verständnis für die Vereinbarkeit des<br />
Flüchtlingsschutzes <strong>und</strong> des internationalen Flüchtlingsrechts mit der<br />
islamischen Tradition zu erreichen.<br />
Zusammen mit der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) <strong>und</strong> der<br />
Prinz Naif Universität in Saudi-Arabien hat UNHCR ein Buch des Kairoer<br />
Universitätsprofessors Ahmed Abu Al-Wafa zu diesem Thema herausgebracht.<br />
Das Buch zeigt, dass Flüchtlingsrecht nicht eine Zumutung des Westens ist.<br />
Ähnliche Prinzipien von Schutz <strong>und</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft sind seit jeher präsent in<br />
der Arabischen <strong>und</strong> Islamischen Welt.<br />
Hier in Deutschland bin ich doch ermutigt darüber, dass der öffentliche Diskurs<br />
zu diesen Themen relativ positiver <strong>und</strong> maßvoller als in anderen Ländern<br />
geführt wird. Deutschlands Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger haben auch die enormen<br />
Herausforderungen bewältigt, die durch die Wiedervereinigung entstanden<br />
waren. Vielleicht sind sie deshalb weniger eingeschüchtert durch die zwar<br />
unterschiedlichen, aber unzweifelhaft signifikanten Herausforderungen, die sich<br />
durch die Integration von Migranten stellen<br />
Aus meiner Sicht sind multi-ethnische, multi-kulturelle <strong>und</strong> multi-religiöse<br />
Gesellschaften nicht nur gut, sondern unvermeidbar. Wir brauchen überall<br />
Politiker, die dies anerkennen <strong>und</strong> auch hervorheben – <strong>und</strong> so<br />
unmissverständlich den Wert der Toleranz unterstützen. Wir müssen uns für<br />
die Menschen sammeln, nicht gegen sie.<br />
Derzeit wird das Thema Flüchtlinge allzu oft durch eine Kontrollorientierung<br />
geleitet. UNHCR stellt nicht das Recht <strong>und</strong> natürlich auch die Verpflichtung von<br />
Staaten in Frage, ihre Grenzen zu kontrollieren, doch muss dies in völliger<br />
Achtung der internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen geschehen.<br />
Wir möchten sicherstellen, dass Grenzkontrollen nicht in einer Weise<br />
durchgeführt werden, die den Zugang zu schutzbedürftigen Personen<br />
blockieren.<br />
Es ist wichtig, die Dinge nüchtern zu betrachten. Die Gesamtzahl der<br />
Erstasylanträge in allen europäischen Staaten lag im letzten Jahr bei 286.700 –<br />
praktisch die gleiche Zahl wie im Jahr 2008. Zum Vergleich: In Südafrika<br />
wurden im letzten Jahr mehr als 222.000 Asylerstanträge eingereicht.<br />
6
Zwar gibt es einige beunruhigende Tendenzen – so z.B. die wachsende Zahl<br />
unbegleiteter <strong>und</strong> von ihren Eltern getrennter Kinder unter den Asylsuchenden<br />
– doch das eigentliche Thema ist nicht die Gesamtzahl der Anträge, sondern<br />
ihre ungleiche Verteilung.<br />
Da ihre Gesamtzahl in Europa praktisch gleich blieb, muss man davon<br />
ausgehen, dass Anträge, die nicht in einigen Staaten gestellt wurden, dafür<br />
dann in anderen eingereicht wurden.<br />
Im zweiten Jahr in Folge stiegen die Asylanträge in Frankreich stark an. Auch<br />
die Zahl in einigen skandinavischen Staaten ging nach oben. In Deutschland<br />
stieg die Zahl der Asylanträge im letzten Jahr gegenüber 2008 ebenfalls leicht<br />
an, auf 27.600. Dies sind jedoch nur 14 Prozent der Anträge, die hier im Jahr<br />
der Wiedervereinigung 1990 gestellt wurden.<br />
Verständlicherweise suchen Menschen Schutz dort, wo sie ihn zu finden<br />
glauben. Solange es keinen harmonisierten Ansatz für die Feststellung des<br />
Flüchtlingsstatus in Europa gibt, durch den die Asylsuchenden die gleiche<br />
Chance haben, Schutz zu erhalten, unabhängig davon, ob der Antrag in<br />
Griechenland oder Schweden erfolgt, werden wir wohl auch in Zukunft eine<br />
ungleiche Verteilung der Anträge erleben.<br />
Die Realität ist heute, dass Anerkennungsraten für Asylsuchende (egal woher<br />
sie kommen) in einigen Staaten praktisch bei null liegen, während<br />
Asylsuchende, je nachdem woher sie kommen, in anderen Staaten zu über 80<br />
Prozent anerkannt werden können.<br />
Auf dem gesetzgeberischen Weg sind Fortschritte notwendig, was die<br />
Vorschläge der Europäischen Kommission angeht, die Institution des Asyls in<br />
Europa zu stärken. Die vorgeschlagenen Ergänzungen zu den existierenden<br />
Asylinstrumenten – vor allem mit Blick auf die Dublin II-Regelung sowie zu den<br />
Aufnahme-, Qualifikations- <strong>und</strong> Asylverfahrens-richtlinien würden helfen, ein<br />
konsistentes <strong>und</strong> qualitativ hochstehendes europäisches Asylsystem<br />
sicherzustellen.<br />
Ich bin überzeugt, es gibt drei wesentliche Aspekte eines Gemeinsamen<br />
Europäischen Asylsystems. Es muss zugänglich sein für jene, die Schutz<br />
suchen. Es muss eine qualitativ hochwertige <strong>und</strong> konsistente<br />
Entscheidungsfindung im Asylverfahren sicherstellen – an dessen Ende<br />
vielleicht sogar eines Tages ein EU-Flüchtlingsstatus steht. Und es muss die<br />
Solidarität fördern, innerhalb der einzelnen EU-Staaten, zwischen ihnen sowie<br />
zwischen der EU <strong>und</strong> der Außenwelt.<br />
Deutschlands Bereitschaft, 100 international schutzbedürftige Personen von<br />
Malta zu übernehmen, ist eine wichtige Geste in diesem Zusammenhang. Eine<br />
führende Rolle Deutschlands zugunsten eines schutzorientierten Ansatzes bei<br />
der weiteren Harmonisierung der Asylverfahren in der Europäischen Union ist<br />
der Schlüssel zum Erfolg entsprechender Bemühungen.<br />
Ein Wort zu Griechenland, das einen disproportional hohen Anteil von<br />
Asylanträgen aufgr<strong>und</strong> seiner geographischen Lage zu bewältigen hat. Mich<br />
hat der ausdrückliche Wunsch der dortigen Regierung beeindruckt, das<br />
7
Asylsystem in Einklang mit internationalen europäischen <strong>und</strong> internationalen<br />
Standards zu bringen. Im Lichte der anderen gewaltigen Herausforderungen,<br />
denen die griechische Regierung mit ihren vorhandenen Ressourcen ihre<br />
Aufmerksamkeit schenken muss, braucht dies jedoch Zeit. In der Zwischenzeit<br />
bleibt UNHCR bei seiner Empfehlung, Transfers von Asylsuchenden nach<br />
Griechenland im Rahmen der Dublin Regelung auszusetzen.<br />
Als <strong>Antwort</strong> auf die Herausforderungen, die ich Ihnen skizziert habe, sollen<br />
zwei Prioritäten die Arbeit von UNHCR leiten:<br />
Erstens werden wir unsere Kapazitäten verstärken, um den Anforderungen<br />
jener Menschen gerecht zu werden, um die wir uns kümmern. Besondere<br />
Aufmerksamkeit erfordern dabei die Lücken, die derzeit existieren bei<br />
Maßnahmen für Flüchtlinge in kombinierten <strong>Flucht</strong>- <strong>und</strong> <strong>Migration</strong>sbewegungen<br />
sowie für jene Flüchtlinge, die in sogenannten langanhaltenden Situationen<br />
(d.h. fünf Jahre oder länger im Exil) leben, darüber hinaus für<br />
Binnenvertriebene, die außerhalb von Lagern leben, zumeist in urbanen<br />
Ballungszentren.<br />
Zweitens werden wir unsere Nothilfe-Kapazitäten ausbauen <strong>und</strong> dabei auf<br />
Umweltfre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong> Existenzsicherung achten. Dabei werden wir die<br />
Bedürfnisse von Gastfamilien, Gemeinschaften <strong>und</strong> Staaten berücksichtigen.<br />
Mir ist bewusst, dass UNHCR versucht, steigende humanitäre Anforderungen<br />
just zu einem Zeitpunkt besser zu berücksichtigen, an dem die zweite Welle<br />
einer globalen wirtschaftlichen Krise über die Staaten rollt, besonders aber über<br />
Europa.<br />
Durch ein ambitioniertes Reformprogramm hat UNHCR in den letzten vier<br />
Jahren den Umfang seiner Aktivitäten um 50 Prozent gesteigert – bei der<br />
gleichen Personalzahl weltweit <strong>und</strong> mit 30 Prozent weniger Personal in der<br />
Genfer Zentrale. Wir haben die Personal- <strong>und</strong> Verwaltungskosten in der<br />
Zentrale in Relation zu den Gesamtausgaben gesenkt <strong>und</strong> dafür den<br />
Prozentsatz für Mittel zugunsten von Hilfsprogrammen erhöht, die durch<br />
Partnerorganisationen durchgeführt werden. Wir wollten uns so effizient wie<br />
möglich präsentieren, um die verfügbaren Ressourcen zu maximieren, die<br />
direkt den Menschen zu gute kommen, um die wir uns kümmern.<br />
Unsere Geber haben uns bis heute verständnisvoll unterstützt. Wir sind<br />
verpflichtet, ihr Vertrauen auch weiterhin zu rechtfertigen. In Deutschland<br />
stehen erhebliche Haushaltskürzungen an. Dennoch ist es meine große<br />
Hoffnung, dass die deutsche Regierung in der Lage sein wird, ihren Beitrag für<br />
die internationale humanitäre <strong>und</strong> Flüchtlingshilfe auf dem Niveau des letzten<br />
Jahres beizubehalten.<br />
Abschließend will ich noch einmal zu den Jahrestagen zurückkehren, die wir im<br />
nächsten Jahr begehen. Die Aktivitäten, die wir in diesem Zusammenhang<br />
planen, sollen dazu dienen, die Prinzipien des internationalen<br />
Flüchtlingsschutzes <strong>und</strong> der Menschenrechte, von denen die Menschen, für die<br />
wir arbeiten, abhängig sind, zu erweitern <strong>und</strong> zu erneuern.<br />
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So soll ein Ministertreffen im Dezember 2011 stattfinden, bei dem – so hoffen<br />
wir – Staaten konkrete Versprechen abgeben, um spezifische<br />
Flüchtlingssituationen zu lösen. Unser letztendliches Ziel muss es sein, der<br />
<strong>Flucht</strong> <strong>und</strong> Vertreibung sowie der Staatenlosigkeit ein Ende zu setzen <strong>und</strong> eine<br />
würdige, dauerhafte Lösung für jeden Flüchtling zu finden.<br />
Ich rufe die B<strong>und</strong>esregierung <strong>und</strong> die deutsche Zivilgesellschaft dazu auf, sich<br />
maßgeblich an diesen Bemühungen zu beteiligen.<br />
Ich danke für Ihr Interesse, Ihre Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Ihr Engagement.<br />
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