Boeck Artikel_4_K_nig1
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„Der vierte König“ – eine persönliche Annäherung an ein Oratorium von<br />
Ulrich Gasser<br />
Autorin: Christiane <strong>Boeck</strong><br />
Was eigentlich motiviert eine Sängerin in einem Chor interessierter Laien, sich mit einem<br />
auf den ersten Blick äußerst sperrigen Werk auseinander zu setzen und in vielen Proben in<br />
die Musik hineinzuwachsen Wie geschieht der Wandel von „wohlwollender Distanz“ bis<br />
hin zu echter Begeisterung und sogar Angerührtsein<br />
Diesen Prozess möchte ich am Beispiel meiner eigenen Annäherung an Ulrich Gassers Werk<br />
„Der vierte König“ aus dem Jahre 1991 schlaglichtartig auf vier Ebenen beschreiben.<br />
Das Vorfeld: Lust am Neuen<br />
Der Bach-Chor Konstanz, in dem ich seit fast 14 Jahren mitsinge, hat meinen musikalischen<br />
Horizont erheblich erweitert. Hier habe ich nicht nur Gelegenheit gehabt, bei dem<br />
mitzusingen, was auch sonst zum Spektrum eines in einer evangelischen Kirchengemeinde<br />
beheimateten und durchaus ambitionierten Chors gehören mag - Bach, Mozart, Händel,<br />
Brahms, Schütz, Distler, Pepping – sondern neben Werken von Arvo Pärt, Dieter Schnebel,<br />
auch eher experimentelle Werke, oft Erstaufführungen, von Daniel Glaus, Iris Szegey und<br />
Ulrich Gasser. - Zu der Lust am Neuen gehören also auch Proben, in denen man an wenigen<br />
Takten eine halbe Stunde, eine Stunde lang übt, in denen man nicht in schönen Koloraturen<br />
baden kann, bei denen sich kein spontanes Wohlgefühl einstellt.<br />
Erste Grundvoraussetzung: Geschick und Überzeugungskraft des Chorleiters<br />
Vor einigen Jahren hat unser KMD Claus Gunter Biegert bereits das Werk „Hymnos“ von<br />
Ulrich Gasser mit unserem Chor aufgeführt, ein Oratorium, das durch eine russische Ikone<br />
inspiriert war. So wurden bei vielen Chormitgliedern bereits Erfahrungen wach, als der<br />
Name des Komponisten fiel, und häufige Attribute waren wohl: „schwierig“, „sperrig“,<br />
„dissonant“, „anstrengend“, was an sich noch keine - negative – Wertung bedeutet. Dennoch<br />
– um Missstimmungen vorzubeugen und obwohl wir uns gar nicht als Projektchor verstehen,<br />
erhob unser Chorleiter diesmal vor Beginn der Probenarbeit eine Umfrage, die klären sollte,<br />
wer mitsingen oder lieber nicht dabei sein wollte. Diese Selbstbestimmtheit trägt in der<br />
Folge natürlich auch über Durststrecken hinweg: „Ich habe es mir ja so ausgesucht... ich<br />
wollte teilnehmen...“ Mit etwa dreißig Sängerinnen und Sängern näherten wir uns dem Werk<br />
bei einem Probenwochenende außerhalb von Konstanz an.<br />
Claus’ Begeisterung für das Werk steckte uns an, er probte nicht nur in den wöchentlichen<br />
Dienstagsproben mit uns, auch in Sonderproben, Stimmproben, Einzelproben, Proben mit<br />
der tragenden Bläsergruppe und Gesamtproben. Von Anfang Januar zu „Dreikönig“ bis zu<br />
den Aufführungen des „Vierten König“ Ende Mai war es eine dichte Zeit. Mit einem<br />
gewissen Schmunzeln stelle ich heute fest, dass Claus Gunter Biegert zunächst die<br />
eingängigeren Stellen, die uns harmonisch und rhythmisch noch nicht allzu sehr<br />
herausforderten, probte, so dass der Name „Gasser“ sofort anders, milder, konnotiert wurde.<br />
Zweite Grundvoraussetzung: Die Chorgemeinschaft<br />
Der Bachchor besitzt eine außergewöhnlich gute Chorgemeinschaft, in der neue Mitglieder<br />
sich herzlich aufgenommen sehen und die offen für Verschiedenheit der Persönlichkeiten ist.<br />
Ein herausforderndes Werk lässt sich leichter aufführen, wenn über die Begeisterung an der<br />
Musik noch persönliche Ebenen und Verbindungen hinzu kommen. Der Indikator für<br />
solches Wohlfühlen Wer am Konzerttermin Geburtstag hatte – und das kam nun gleich<br />
doppelt vor - feierte den Geburtstagskaffee zwischen Generalprobe und Konzert und ließ die<br />
Party gleich im Bus nach einem gelungenen Konzert und mit dreißig Gästen steigen.
Der Weg entsteht beim Gehen: Das Werk in verschiedenen Dimensionen<br />
Die Vielschichtigkeit des Werkes ist es letztlich, warum für mich die Arbeit an dem<br />
Oratorium sehr erfüllend war. Zunächst war ich neugierig darauf, wie der Stoff, die<br />
Legende, in Musik umgesetzt sein würde. Die Geschichte von dem russischen König, der<br />
dem Stern, seinem Stern folgt, aber mit seinen Gaben für das Jesuskind nicht an der Krippe<br />
in Bethlehem ankommt, sondern, angerührt durch Schicksale und Not auf seinem Weg,<br />
Nächstenliebe übt, sogar zum Galeerensklaven wird, bis er in Golgatha unter dem Kreuz<br />
Jesus begegnet, diese Geschichte ist mir aus meiner eigenen Praxis des Religionsunterrichts<br />
vertraut. Eine Geschichte, in der in einfachen Bildern erkennbar ist, was „Nachfolge“<br />
bedeutet. Wie soll aber daraus ein Musikdrama werden<br />
Gleich zu Beginn lernten wir die verschiedenen Klangqualitäten kennen – zunächst den<br />
„Sternklang“, der anzeigt, dass der König seinen Weg erkennt, ihn findet, ihn trotz<br />
Widrigkeiten vor sich und seinen Zweifeln verteidigt. Viele Passagen des Chors, der die<br />
Funktion des Erzählers besitzt, beginnen mit diesem Sternklang. Mit der Zeit, als wir in<br />
verschiedenen Gesamtproben auch mit dem Vokalensemble Zürich, Instrumentalisten und<br />
Solisten proben, entdeckten wir diesen Klang auch in Passagen, die bei aller Begeisterung<br />
für das Werk zunächst nur befremdlich oder dissonant erschienen. Ein Beispiel:<br />
Nach jeder Probe und Aufführung tauschten wir Sänger uns über unsere Lieblingsstellen<br />
aus. Natürlich waren die harmonischen Stellen dabei – wenn etwa der König von seiner<br />
Heimat Russland träumt, wenn Bettlerin und kleiner König einander die Herzen schenken –<br />
aber zunehmend auch Feinheiten der Komposition, die erst nach mehrmaligem Hören<br />
Gestalt gewannen und sich in den Vordergrund schoben. Der zweite Teil des Werkes,<br />
„Lamentatio“ – ein reines Orchesterstück von etwa acht Minuten Länge, minimalistisch<br />
besetzt, durch Trommeln und Zimbeln strukturiert – war für alle zunächst beim ersten Hören<br />
quälend lang und entsetzlich gleichförmig. Als mir klar wurde, dass Gasser damit wird die<br />
Zeit auf der Galeere darstellt, die quälenden dreißig Jahre Sklaverei, die der König auf sich<br />
nimmt, um den jungen Sohn einer Witwe freizukaufen, gestand ich dem Stück die acht<br />
Minuten gerne zu; ja, diese Passage darf lang sein und dem Hörer quälend lang erscheinen.<br />
Als ich kurz darauf erkannte, dass es sich eigentlich um 30 Variationen – für die dreißig<br />
Jahre - handelt und sich der Sternklang gegen Schluss der Passage immer häufiger andeutet<br />
und schließlich klar entfaltet, obwohl der kleine König zu diesem Zeitpunkt „nur noch zum<br />
Sterben taugt“, wie es wenig später im Text heißt, da konnte ich diese Passage ganz neu<br />
hören. Und den anderen erging es – ganz unabhängig – genauso! Mehr und mehr bedauerten<br />
wir nun die Zuhörer, die nur einmal in den Genuss des Werks kommen und den Prozess der<br />
Aneignung nicht so schrittweise mitvollziehen können. - Ein Mehr Wissen und Erkenntnis<br />
geht also Hand in Hand mit der je eigenen Einfühlung, wenn man über längere Zeit so<br />
intensiv mit einem Stück lebt.<br />
Die Angaben zur Artikulation für den Chor waren zunächst ebenfalls befremdlich. Von den<br />
Vokalen geht man schnell auf die Konsonanten über - aus einem konventionell gesungenen<br />
Ste-e-e-rn wird nun ein Stern-n-n-n-, Diphthonge werden anders als sonst in der Musik<br />
üblich behandelt – aus dem „kla-a-a-inen“ König wird der kle-i-i-i-ne König, was eine<br />
bessere Textverständlichkeit für den zuhörer bereits in der Komposition festlegt. Schnell<br />
setzte sich dafür im gesamten Chor eine neue Wortschöpfung durch: das „gassern“. „Gassert<br />
nicht so!“ hieß es neulich in einer Probe für eine Schütz-Motette, als wir unsere neu (und<br />
schwer) erworbenen Artikulationsgewohnheiten auch für die alte Musik unbewusst<br />
umsetzten.<br />
Die szenische Arbeit war dann gegenüber der konzertanten nochmals ein qualitativer Sprung<br />
in Richtung Anschaulichkeit und An-Eignung. Hier kamen nicht nur kleine gestalterische<br />
Aufgaben für den Chor dazu – keine geringe Herausforderung bei unregelmäßigen<br />
Taktwechseln zwischen 2/8, 3/8 und 4/8 Takt – hier konnten wir das Geschehen durch die<br />
Aktion der Solisten verfolgen und mit unseren eigenen inneren Bildern abgleichen. Gerade<br />
die solistischen Passagen, die meinem eigenen Hören viel fremder waren als die häufig
geprobten Chorstellen, wurden zunächst durch das Spiel erhellt, bevor sie mir dann auch<br />
musikalisch näher kamen.<br />
Aufbrechen und seinem Stern folgen – was heißt das für die heutige Zeit In musikalischer<br />
Hinsicht sicherlich: Mut zu zeitgenössischer Musik, ungewohnte Hörerlebnisse zulassen,<br />
sich auch mit weniger – dafür aber meist begeisterten - Konzertbesuchern zufrieden geben.<br />
Und: akzeptieren, dass es deutlich schwerer ist, Bekannte, auch gute Freunde für eine<br />
Aufführung zu begeistern, wenn sie das Jahr der Komposition erfahren - es sei denn, sie<br />
werfen Vorurteile über Bord und kommen schon mal zu Haupt- und Generalprobe.<br />
Christiane <strong>Boeck</strong>, geb. 1959, singt seit früher Kinderzeit in Schul- und Kirchenchören, kann sich für alte wie für neue<br />
Musik begeistern. Vom Beruf Lehrerin am Gymnasium – Deutsch, Religion, Sport und Lehrbeauftragte für Pädagogik an<br />
einem Seminar für Schulpädagogik in Baden-Württemberg. In jeder neuen Stadt sucht sie zunächst einen Chor, der ihr das<br />
Einleben erleichtert.