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Heft 02 Heft_02_2009.indb 1 16.2.2009 12:14:08 Uhr - qubus

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<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 1<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:<strong>08</strong> <strong>Uhr</strong>


2<br />

Impressum<br />

<strong>Heft</strong><br />

<strong>Heft</strong> <strong>02</strong>, Februar 2009 | www.meinheft.ch<br />

Publikation des Verbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer für Bildnerische Gestaltung LBG-EAV<br />

Redaktion: Mario Leimbacher, Verena Widmaier, Markus Kachel, Valeria Soriani<br />

Kontakt/Inserate: Mario Leimbacher, Bergstrasse 38, CH-8165 Schöfflisdorf | lem@ken.ch, www.bildschule.ch |<br />

Informationen für Inserenten: www.bildschule.ch/material.asp<br />

Gestaltung: www.hoppingmad.ch<br />

Verlag/Bestellungen: Verlag Pestalozzianum an der Pädagogischen Hochschule Zürich<br />

www.verlagpestalozzianum.ch | verlag@phzh.ch<br />

Druck: Feldner Druck AG, Feldmeilen | Auflage: 1000<br />

© alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren<br />

«Phantom»<br />

Thomas Ott, geboren 1966, lebt und arbeitet in Zürich als selbständiger Illustrator und Comiczeichner<br />

Im April 20<strong>08</strong> ist sein neues Buch «Die Nummer 73304-23-4153-6-96-8» bei Edition Moderne, Zürich, erschienen.<br />

«Phantom» ist sein Comic-Held aus der Tagblattzeit, für unser <strong>Heft</strong> auferstanden.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 2<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:<strong>08</strong> <strong>Uhr</strong>


<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 3<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>


4<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 4<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>


5<br />

<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />

Formen der Artikulation<br />

Impressum 2<br />

Verena Widmaier<br />

Einleitung 9<br />

Verena Widmaier<br />

Gesichtet 11<br />

Urs Widmer, Valentin Lustig<br />

«…Verlangen, zu sehen, ob da innen etwas Wunderbares sei…» 13<br />

Artikulation: vermittelt 17<br />

Mario Leimbacher<br />

Artikulation im Blick auf den Unterricht 19<br />

Dina Blattmann, KS Stadelhofen<br />

Das Fest 23<br />

Judith Bosshart , Kantonsschule Stadelhofen ZH<br />

Dialog Zürich 27<br />

Frei Andrea (KZU) / Gabriella Hunya (Liceo Artistico)<br />

Photoshop – surrealer Raum (Stuhlprojekt) 33<br />

Lüthi Denise , Kantonsschule Beromünster, Langzeitgymnasium<br />

Gestalterisches Tagebuch, Porträt 37<br />

Lüthi Denise, Kantonsschule Beromünster, Langzeitgymnasium<br />

Von der schematisierten Zeichensprache zu neuen Formulierungen 43<br />

Nicole Eisler und Samuel Schütz, KS Enge Zürich<br />

Filmset 49<br />

Hanna Schmid, Gymnasium Untertrass<br />

Umsetzung eines expressionistischen Gedichtes in ein Bild 59<br />

Monika Lürkens, Kantonsschule Stadelhofen ZH<br />

Poesie aus meiner Hand – Märchen im Alltag<br />

Bildergeschichte-Bildersequenz–Comics 67<br />

Brigitte Bovo und Annette Bürgi<br />

Vom Schuh zum Gestiefelten Kater 69<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 5<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>


6<br />

Regula Stücheli<br />

Masken: Gestalten und Spielen 81<br />

Katja Büchli<br />

Was bleibt Was bleibt. 91<br />

Flavia Keller<br />

Zwei zeichnerische Haltungen 105<br />

Béatrice Gysin<br />

Nonverbales Artikulieren von Wahrnehmungs-, Denk-, Empfindungs- und<br />

Erinnerungsvorgängen. 117<br />

Artikulation: sichtbar <strong>12</strong>7<br />

Joel Marti<br />

Mein Leben mit Graffiti <strong>12</strong>9<br />

anonym<br />

Graffiti 135<br />

Dario Lüdi<br />

Tags <strong>14</strong>1<br />

Edith Glaser<br />

«Die Aussicht, die man hat» 157<br />

Peter Geimer im Gespräch mit Hannes Rickli<br />

ÜBERSCHUSS 171<br />

Daniel Reichenbach<br />

Warum ich als europäischer Zeichner arabische Kalligrafie betreibe 189<br />

Samuel Schütz<br />

«9/11» in Mednipure, Indien 197<br />

Artikulation: denkbar 203<br />

Mario Leimbacher<br />

Fragestellungen zu Artikulation und Interpretation 205<br />

Leo Gehrig<br />

Was Zeichnungen auszudrücken vermögen, was Worte nicht können 211<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 6<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>


7<br />

<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />

Georg Peez<br />

«Dass sich jeder verändern kann, aber das immer noch ist.» 239<br />

Susanne Sauter<br />

Über das künstlerische Schaffen sprechen 255<br />

Thomas Sieber<br />

Im Netz der visuellen Kultur 259<br />

Eva Sturm<br />

Die Artikulation der Werke 281<br />

Mieke Bal<br />

Sagen, Zeigen, Prahlen 313<br />

Beate Florenz<br />

Potentiale und Grenzen verbaler Artikulationen in der Kunstvermittlung 359<br />

Stand der Dinge 367<br />

Mario Leimbacher, 29.<strong>12</strong>.20<strong>08</strong><br />

Notizen zu HSGYM 369<br />

HSGYM-BG Situationsanalyse und Empfehlungen 371<br />

Verena Widmaier<br />

Bildung für alle: Kultur von allen! 383<br />

Notizen 389<br />

Rezensionen 391<br />

Vorschau auf <strong>Heft</strong> 03 396<br />

Hochschule der Künste Bern, HKB, Katja Büchli<br />

Die Hochschule der Künste Bern dockt an 401<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 7<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>


8<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 8<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>


9<br />

<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />

Verena Widmaier<br />

Einleitung<br />

Liebe Leserinnen und liebe Leser<br />

Das <strong>Heft</strong> <strong>02</strong> ist ganz den «Formen der Artikulation» gewidmet.<br />

Wir laden zu einem weit angelegten Spaziergang ein. Er führt den<br />

Grenzen von Anschauungen und Zugriffen auf Darstellbares entlang.<br />

Erst an den Grenzen wird klar, was sich alles herausbildet<br />

oder sich unterscheidet und wie sich verschiedenartige Denkweisen<br />

und Haltungen in Bildern, Gesten, Objekten, Aufführungen<br />

und Ausstellungen artikulieren. Für unseren Beruf ist es richtig und<br />

wichtig, den Blick auf die Formen der Artikulation zu richten.<br />

Warum Er gibt uns die Chance, die verschiedenen Anforderungen<br />

an die Übersetzung von Botschaften und Informationen zu<br />

studieren und die entsprechenden Bildungsinhalte für Kinder und<br />

Jugendliche sowie auch für uns selber unter einen Hut zu bringen.<br />

Wir brauchen uns nicht mehr «wortreich» vom Wissen über das<br />

Bild abzugrenzen, sondern können ganz einfach auf unser Wissen<br />

und Können vertrauen.<br />

Über «die Formen der Artikulation» können wir auf dem<br />

«Spaziergang» unser Wissen langsam mehren. Denn das Wissen<br />

über die Formen der Artikulation beinhaltet «alles andere» als<br />

nur das «Wort». Sie beinhalten die bildnerische und künstlerische<br />

Arbeit, das Darstellen aus dem bildnerischen Denken und aus der<br />

Vorstellung. Die Formen der Artikulation weisen ebenso auf das<br />

Präsentieren und das Anschauen der Formen und Farben hin und<br />

zeigen, wie wir all das aus dem Bildhaften deuten, erfassen und<br />

übersetzen können.<br />

Daraus ergibt sich ein Reichtum, welcher sich in Bewegungen,<br />

Klängen oder Bildern manifestiert: In der Form des «Tangos»<br />

finden wir zum Beispiel den Ausdruck für Liebe und Tod. Die<br />

Stimme und das Instrument erlauben es uns, im Chor zu singen<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 9<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>


10<br />

oder im Orchester zu spielen und gemeinsam wunderbare Musik<br />

aufzuführen. Wir hören und empfinden: Die Form ist vielleicht ein<br />

«Andante» – und schon schreiten wir mit der Musik voran. Oder<br />

die Form ist ein «Rap» und schon hetzen wir durch die Gefühle<br />

der Menschen. Wir sehen und empfinden: Der Sternenhimmel<br />

oder eine Farbe faszinieren uns. Mit geeigneten Materialien, Mitteln<br />

und Medien transformieren wir unsere Vorstellungswelten<br />

in gegenwärtige Kultur. Die Formen der Artikulation bieten den<br />

Schlüssel zur Erfassung von Informationen und Befindlichkeiten.<br />

Die Beiträge im <strong>Heft</strong> <strong>02</strong> sind für den «Spaziergang» in die sichtund<br />

denkbaren Räume mit verschiedenen Schlüsseln ausgerüstet.<br />

Wir wünschen angenehme An- und Einsichten.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 10<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>


11<br />

<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />

Verena Widmaier<br />

Gesichtet<br />

SF1, nach der Werbung und vor der Tagesschau, oder vor der<br />

Werbung und nach der Unterhaltungssendung, oder zwischen der<br />

Werbung und dem Spielfilm, sicher aber zwischen der Tagesschau<br />

und dem Film wirbeln längliche, rot glänzende und angeschnittene<br />

Blöcke durch die Luft. Sie formieren sich unter der Brücke oder<br />

im Nebel zu einem länglichen Turm. Das letzte Teilchen passt sich<br />

in die Spitze und vollendet die Form zu einer architektonischen<br />

Eins. Dazu plätschert ein Diitadü-diitadü-diitadü-blabladibiiii…<br />

und schon steht das Gebilde in zwölf Sekunden fest und wie ein<br />

Fremdkörper in der Idylle.<br />

Eine längere und leider vergebliche<br />

Suche auf der Seite des<br />

Schweizer Fernsehens www.sf.tv<br />

nach den «Pausenanimationen»<br />

bewegt mich, direkt nach diesen<br />

Zwischenfilmchen und ihrer<br />

Entstehungsgeschichte zu fragen.<br />

Prompt kommt die Antwort<br />

Idents (Berg)<br />

vom SF-Creative-Director zurück:<br />

«Herzlichen Dank für Ihre<br />

Anfrage, in der Sie Hintergrundinformationen zu unseren SF 1<br />

Idents wünschen. Gerne beantworte ich Ihnen diese Fragen, wäre<br />

aber sehr dankbar, wenn Sie diese etwas konkretisieren könnten.<br />

Für welche Publikation schreiben Sie» Auf meine ausführliche<br />

Antwort habe ich keine Reaktion mehr erhalten. Immerhin weiss<br />

ich jetzt, dass die Gebilde «Idents» 1 heissen und ich sie unter dem<br />

Link www.sf.tv/unternehmen (Klick>Download) als Filmchen<br />

finden kann.<br />

Ich beginne nun erst recht zu recherchieren. Kein Wunder,<br />

denn ich erinnere mich spontan an einen anderen Film, der mich<br />

nachhaltig beeindruckt hat.<br />

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<strong>12</strong><br />

Screenshot aus «Dawn of the men» in Space Odyssey 2001 von Stanley Kubrick<br />

Nämlich an den Film «Space Odyssey 2001» von Stanley Kubrick:<br />

Da gibt es eine Filmsequenz mit einem ähnlichen Gebilde, welches<br />

eines Morgens wie eine «einzigartige Idee» vor der Höhle der Affen<br />

steht.<br />

Der «erwachende» Mensch wird angesichts der erschreckend<br />

neuen Dimension vor seiner Höhle einen unglaublichen Schritt<br />

Richtung Kultur tun. Er ahnt erst, was ihn alles erwartet und<br />

was er zu schaffen im Stande sein wird. Nun ist die Form des<br />

Gebildes tatsächlich beinahe gleich mit den Idents von SF 1. Das<br />

irritiert mich. Ich vergleiche die Filmstelle sofort. Wenn die Anspielung<br />

auf den Film von Kubrick stimmen würde, dann könnten<br />

die Idents in SF 1 die Frage auslösen: Welche Schritte Richtung<br />

Kultur stehen bevor Welche Menschen ahnen etwas, und wollen<br />

sie noch etwas anderes erschaffen<br />

Verena Widmaier, Dozentin Zürcher Hochschule der Künste, Didaktik/ Fachdidaktik im Bereich Kunst<br />

und Design.<br />

Fussnote<br />

1<br />

Station-Idents und Promo-Verpackung geben den Kanälen SF 1, SF zwei und SF info eine<br />

zielgruppenspezifische emotionale Identität. Signete, Soundgrafiken und Set-Design, Dramaturgie<br />

durch Regiearbeit und auch Mode & Styling geben den jeweiligen Sendungen ein<br />

unverwechselbares und attraktives Gesicht.<br />

SF-Clips zum Herunterladen «Station Idents» sind jene Trailer, die zur Erkennung eines<br />

Senders zwischen die Sendungen und die Werbeblöcke geschoben werden. Die neuen SF-Idents<br />

haben international renommierte Auszeichnungen der TV-Design- und Promotionsbranche<br />

gewonnen.<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>


13<br />

<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />

Urs Widmer, Valentin Lustig<br />

«…Verlangen, zu sehen, ob<br />

da innen etwas Wunderbares<br />

sei…»<br />

Valentin<br />

Du weißt, dass es einen Maler gegeben hat,<br />

der die Natur so verzaubernd genau zu malen<br />

wusste, dass die Betrachter seiner Bilder<br />

sich eine Traube von der Leinwand pflücken<br />

wollten und der wirkliche Hund den auf der<br />

Leinwand anknurrte. Dieser Maler, wisse!,<br />

begann zu glauben, sieh die Warnung seines<br />

Exempels!, er könne die bestehende<br />

Welt so lebendig genau ins Bild setzen,<br />

dass sie und ihr Abbild ununterscheidbar würden. Ja, er kam sehr<br />

weit damit, das ist wahr, er malte auf zuerst atelierbreiten, dann<br />

meilenlangen, endlich horizontfüllenden Leinwänden alles Wirkliche<br />

so rasend präzise, dass du tatsächlich – als sein Freund, sein<br />

Zeitgenosse, sein Opfer – dich vor der falschen Schlange in Acht<br />

nahmst, während die richtige dich zu Tode biss. Höre, warum<br />

der Plan dennoch nicht aufging. Nicht, weil die Erde zu groß war<br />

und die Leinwand zu klein, nein, dieses Problem hatte er gelöst (er<br />

verschuldete sich erheblich, weil auch damals die Leinwände teuer<br />

waren), und auch nicht, weil ein Einzelner (sogar wenn er sehr<br />

schnell malte) so viel Tatsächliches in tunlicher Zeit gar nicht bewältigen<br />

konnte. Nein, nein. Das klappte weit überzeugender, als<br />

es ein jeder erwarten durfte. Alles geriet dem Maler so vortrefflich,<br />

dass du deine Geliebte in die Arme schließen wolltest und<br />

die Lippen voller Ölfarbe hattest und dass du dann, von jähem<br />

Entsetzen erfüllt, Hals über Kopf flohst und dir den Schädel an<br />

der steinharten Leinwand einschlugst, die dir eine ins Offene führende<br />

Lücke im Zaun vorgegaukelt hatte. Nein, Freundin. Nein,<br />

mein Freund. Nein. Der Grund seines Fiaskos war ein anderer.<br />

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<strong>14</strong><br />

Der Maler hatte nicht bedacht, dass die wirkliche Welt keinen<br />

Augenblick lang gleich blieb. Alles floss. Der Fluss sowieso, der<br />

Jangtse oder dann auch der Mississippi, keinen Pinselstrich lang<br />

glitzerte das gleiche Wasser. Das Blatt schaukelte zu Boden, der<br />

Vogel hob vom Ast ab, der Ast wippte nach oben. Die Wolke schob<br />

sich über das Blau von eben. Wenngleich kein Maler auf Erden<br />

je so schnell wie dieses Genie war, auch Rubens nicht und nicht<br />

Cranach, aus deren Ateliers bekanntlich die Venusse, Adame und<br />

Evas im Minutentakt hinausfegten, weil zweihundert oder auch<br />

tausend Lohnmaler gleichzeitig an ihnen arbeiteten: Wie sollte der<br />

Maler denn vorwärtsmalen und gleichzeitig das schon Gemalte<br />

dem neuen Wirklichen anpassen Er versuchte es, hetzte auf und<br />

ab und dahin und dorthin, die tropfenden Pinsel schwingend und<br />

dennoch immer zu spät, weil der eben gelandete Schmetterling,<br />

den er blitzschnell auf die Blüte tupfte, noch fixer als er war und,<br />

wenn er ihn just ins Bild gebannt hatte, bereits wieder auf der<br />

Blume daneben saß. Der Maler wurde darob wahnsinnig, der beste<br />

Maler, der je auf Erden gemalt hatte, und sein Beispiel bewog<br />

spätere Geister – nennen wir sie Picasso –, auf das Naturalistische<br />

ganz zu verzichten. Wir Heutigen haben sein grässliches Los<br />

längst aus unserm kollektiven Gedächtnis verdrängt. Niemand<br />

mehr weiß von ihm, stimmts oder hab ich Recht – Er lebte dann<br />

noch viele Jahre, von Sinnen, in einem Landhaus in den Hügeln<br />

von Siena oder möglicherweise Evora oder allenfalls Iräklion, und<br />

sah zum Horizont hin, von dem er vergessen hatte, ob er ihn einst<br />

gemalt hatte oder eher noch nicht.<br />

Lieber Urs, trotzdem kann ich nicht anders, ich bin halt ein Maler<br />

– io sono pittore –, all diesen Werbern und Computergrafikern<br />

zum Trotz, das ist doch keine Schande! Tizian ist einmal der Pinsel<br />

aus der Hand gefallen, und der große, mächtige Kaiser Carlo<br />

Quinto, der ihn gerade besuchte, bückte sich höchstpersönlich,<br />

hob den Pinsel vom staubigen Boden des Ateliers auf und händigte<br />

ihn dem Meister aus. Ich gebe zu, eine ziemlich alte, aber unvergessliche<br />

Sternstunde dieser Berufsgattung.<br />

Valentin<br />

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15<br />

<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />

Rendezvous unter Kerzenlichtern, 75x95 cm, 2006<br />

Aus «Valentin Lustigs Pilgerreise» von Urs Widmer, 20<strong>08</strong>; Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde;<br />

Mit Briefen des Malers an den Verfasser; Mit der Erlaubnis der Autoren und des Diogenes Verlages<br />

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17<br />

Artikulation: vermittelt<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 17<br />

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18<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>


19<br />

Vermittelt<br />

1<br />

Mario Leimbacher<br />

Artikulation im Blick auf<br />

den Unterricht<br />

Statt Erläuterungen zu den nun folgenden Unterrichtsbeispielen<br />

drucken wir einen Auszug aus dem Einladungstext ab, der an die<br />

Verbandsmitglieder geschickt und auf der Website www.bildschule.ch<br />

als Einladung publiziert wurde. Er schildert die Gründe und<br />

Motive der Anfrage. Die hier publizierten Arbeiten geben einen<br />

punktuellen Einblick in unseren Unterricht, sicher aber keinen repräsentativen.<br />

Was bedeutet Artikulation in unserem Fach<br />

Der Fokus «Artikulation» auf die gestalterische Arbeit bedeutet,<br />

dass das Kommunikative und Sprachliche in unserer Praxis<br />

ins Blickfeld gerückt wird. Visuelle und Bildnerische Gestaltung<br />

werden damit als ein existentieller und zentraler Bereich des<br />

Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhaltens in<br />

Gemeinschaft mit dem, was wir als konventionelles sprachliches<br />

Verhalten bezeichnen, betrachtet.<br />

Diese Fragestellung schärft generell den Blick auf die gestalterische<br />

und inhaltliche Ausdrucksmöglichkeit und umgeht eine<br />

rein rezeptive, wiedergebende oder auf das Technische und Formale<br />

beschränkte Darstellungsweise.<br />

Kategorien der Themen und Aufgabestellungen (Lehrplanarbeit)<br />

Neben einem Einblick in unsere Tätigkeit soll ein Ziel der Aufgabensammlung<br />

sein, Kategorien und Unterscheidungen in unseren Lehrplänen<br />

unter einem erweiterten Gesichtspunkt zu erfahren. Im Hinblick<br />

auf die Standarddiskussion und die Schnittstellendiskussion<br />

(HSGYM) wird dies als hilfreiche Grundlagenarbeit verstanden.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 19<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:11 <strong>Uhr</strong>


20<br />

Es ist auffallend, dass in unseren Lehrplänen mediale, handwerkliche<br />

und technische Begriffe im zeitlichen Raster im Vordergrund<br />

stehen. Es scheint also oft darum zu gehen, in einem<br />

bestimmten Semester Fertigkeiten, handwerkliche Grundlagen<br />

wie z.B. neue Medien zu thematisieren. Der Fokus auf den gestalterischen<br />

Unterricht als Artikulation und nonverbaler Ausdruck<br />

scheint schwerer differenzierbar und damit – aus unserer Sicht<br />

unberechtigterweise – untergeordnet.<br />

Aus diesen Gründen möchten wir eine Diskussion über die<br />

Entwicklung von Unterscheidungskategorien unter dem Gesichtspunkt<br />

der Artikulation versuchen.<br />

Assoziationen zur Fragestellung<br />

Das Augenfällige, das Non-Verbale<br />

Felsritzungen, Höhlenmalerei, bemalte Kiesel, das Vergangene,<br />

das sich dem Auge erschliesst. Durch die Spuren, die hinterlassen<br />

werden, zeigen sich Gesten und Handlungen. Spuren bleiben zurück<br />

und werden lesbar, als Verhaltens- und Handlungsspuren,<br />

als Zeichen, als Bilder.<br />

Anwesenheit, sichtbares Verhalten, Erscheinung, Handeln und<br />

Hervortreten im Raum, in der Umgebung, Verschwinden, erschliessen<br />

sich dem Auge.<br />

Der weitaus grösste Teil dessen, was sich als Artikulation dem<br />

Auge erschliesst – und das ist viel und wird immer mehr - besteht<br />

im Blick, im Schauen und Sehen, und wird damit bildhaft. Ein<br />

kleiner Teil wird verbal und ist damit übersetzbar in seine akustische<br />

oder typografische Form oder eine andere Sprache. Sprache<br />

spitzt sich zu im Verbalen, im Wort.<br />

Sprachlich ist aber Verhalten, Handeln, Kommunizieren schon<br />

weit vorher, darum wäre es seltsam, das «Augenfällige» als das<br />

«Non-Verbale» zu bezeichnen, das Ganze vom Detail, die Basis<br />

von der Spitze aus zu erklären. Auch das Verbale kann bildhaft,<br />

klanglich oder räumlich wirken. Vor, neben oder mit dem Verba-<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 20<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:11 <strong>Uhr</strong>


21<br />

Vermittelt<br />

len ist das Bildhafte, das Räumliche, das Klangliche, das Haptische<br />

und viele weitere Formen des Ausdrucks und der Artikulation.<br />

Artikulationsformen, die sich dem Auge erschliessen, Bildhaftes<br />

Bildhaftes gibt es real, Malerei auf Leinwand, Gezeichnetes in den<br />

Sand, auf Felsen, Knochen oder Papier, Fotografie, Digitales auf<br />

dem Bildschirm. Bildhaftes gibt es aber auch als Gedankliches,<br />

Vorgestelltes, als Erlebtes, als Gelesenes und Gehörtes, Angedeutetes.<br />

Bildhaftes gibt es auch in der Unterscheidung von Wahrnehmungsformen<br />

selber, zwischen bildhaftem und suchendem oder<br />

tastendem Sehen zum Beispiel.<br />

Bildhafte Artikulationsformen bedeuten damit ein Feld mit<br />

vielen Nahtstellen, Übergängen und Schichten zu weiteren Artikulationsformen.<br />

Artikulationsformen in unserem Feld, dem Visuellen,<br />

meint das, worin sich der Mensch dem Auge erschliesst<br />

und wiederfindet, das Bildhafte<br />

Die Suche führt vom Auge, dessen Erfahrungen, Erinnerungen<br />

und Empfindungen weg und wieder zu ihm hin. Das Auge bleibt<br />

jedoch einziges Transportmittel, das Artikulierte wiederzufinden<br />

oder weiterzugeben. Darum geht es um das «Augenfällige», um<br />

Artikulationsformen, die vom Auge berichten, von dessen Erfahrungen<br />

und wieder für das Auge berichten.<br />

Das Sprachliche und Überfachliche<br />

Artikulation meint in jedem Fall, von etwas zu berichten, etwas<br />

Form und Zeichen werden lassen.<br />

Damit ist schon eine Verbindung gegeben zu den anderen Tätigkeiten,<br />

Disziplinen und Fächern. Überall wird bildhafte Wahrnehmung<br />

und bildhafter Ausdruck gebraucht. So wie (fast) jede<br />

Unterrichtsstunde eine Deutschstunde ist, ist jede Lektion eine<br />

Stunde der visuellen Wahrnehmung und der gestalterischen Artikulation.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 21<br />

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22<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 22<br />

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23<br />

Vermittelt<br />

2<br />

Dina Blattmann, KS Stadelhofen<br />

Das Fest<br />

Klasse 1fM / musisches Profil / Grundlagenfach<br />

Ziele<br />

Wahrnehmungsverarbeitung, Impression, Expression, Narration.<br />

Wiedergeben einer erlebten Stimmung, aus der Vorstellung Bilder<br />

finden, Verdichten einer Erinnerung, differenzierte Vorstellung<br />

aufbauen, Detailreichtum.<br />

Artikulation, Aufgabestellung<br />

Gestalten Sie eine Bildserie in 3 Bildern. Sie erzählen in diesen<br />

Bildern einen Moment eines Festes. Dieser Moment umfasst eine<br />

Zeitspanne von ca. 1 Minute. Vom ersten Bild zum zweiten und<br />

dritten ergibt sich ein chronologischer Ablauf. Dabei verändert<br />

sich jeweils nur wenig. Zeichnen Sie linear aus der Erinnerung.<br />

Zentral ist die Stimmung, die Emotionen, welche die Menschen<br />

ausstrahlen. Achten Sie auf Details wie Accessoires, Kleidung,<br />

Style, Mimik, Frisuren usw., aber auch die Szenerie und Umgebung.<br />

Sie können einzelne Bildelemente im nächsten Bild wiederholen<br />

und Überlagerungen erzeugen, so dass sich die Stimmung<br />

verdichtet. Die perspektivische Richtigkeit können sie zu Gunsten<br />

einer virtuosen Gestaltung vernachlässigen. Nehmen Sie Fotos<br />

und Illustrierte zur Hilfe. Sie können mit Durchpaus-Papier Wiederholungen<br />

erzeugen.<br />

Etappen / Arbeitsschritte<br />

>> Bestehende Bilder sammeln, aus der Erinnerung, aus Zeitschriften,<br />

eigene Fotos etc.<br />

>> Skizzen erstellen, Momentaufnahme erinnern<br />

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24<br />

>><br />

>><br />

Karton A4 grundieren, übertragen der Skizzen<br />

Zeichnen auf Karton, dabei muss nicht in der schlussendlichen<br />

Reihenfolge der Bildserie gearbeitet werden<br />

Medien/Techniken<br />

Vervielfältigung, Wiederholung, Verdichtung, Bildabfolge. Narration,<br />

Bildkomposition.<br />

Material<br />

Format: 3 x A4; Material: Bleistift, Kugelschreiber, Fineliner , unfarbige<br />

Stifte; auf weiss grundiertem Karton.<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:11 <strong>Uhr</strong>


25<br />

Vermittelt<br />

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26<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:13 <strong>Uhr</strong>


27<br />

Vermittelt<br />

3<br />

Judith Bosshart , Kantonsschule Stadelhofen ZH<br />

Dialog Zürich<br />

3fM Kurzzeitgymnasium, 3. Klasse musisches Profil BG SP<br />

Ziele<br />

>> Wahrnehmunsverarbeitung, agieren und reagieren unter<br />

Berücksichtigung der jeweiligen Artikulation.<br />

>> Nonverbale, bildgestalterische Kommunikation.<br />

>> Entscheidungen treffen und gestalterische Absichten verfolgen.<br />

>> Persönliche Ausdrucksweise kennenlernen, sich positionieren im<br />

Vergleich mit der Ausdrucksweise der anderen.<br />

>> Eine nachvollziehbare, gesamthaft gut wirkende Kartenserie<br />

verlangt aber auch, sich auf eine gewisse Sprache zu einigen, so<br />

dass ein spannender, harmonischer oder bewusst konträr gesetzter<br />

Dialog entstehen kann.<br />

Artikulation<br />

Ausgangspunkt ist eine Postkarte von Zürich, welche zwischen<br />

zwei SchülerInnen wöchentlich ausgetauscht wird. Der Wandlungsprozess<br />

der Karte ist die Folge der nonverbalen Artikulation,<br />

also des bildgestalterischen Dialogs der beiden. Bei jedem Wechsel<br />

muss die Karte verändert dupliziert werden, sodass ein Unikat<br />

erhalten bleibt.<br />

Etappen / Arbeitsschritte<br />

Die Chronologie ist zwingend. Es verlangt eine genaue Betrachtung<br />

und Interpretation der Vorlage, auf die mit Flexibilität und<br />

Einfühlungsvermögen eingegangen werden muss. Das war je nach<br />

PartnerIn nicht immer einfach. Die Lust selbst, mit seiner eigenen<br />

Sprache, eine Kartenreihe zu entwickeln war manchmal gross.<br />

Spielregel war ja, dass die ganze Kartenserie gut ablesbare, nach-<br />

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28<br />

vollziehbare Arbeitsschritte vorwies, sodass das Ego nicht allzu<br />

sehr ausscheren durfte.<br />

Vorraussetzungen<br />

>> Es setzt Offenheit voraus, sich mit einem bekannten Gegenüber<br />

auf einen gestalterischen Dialog einzulassen.<br />

>> Es braucht Disziplin und Vertrauen, dass der Abtausch pünktlich<br />

erfolgen kann.<br />

>> Neugierde, Lust und Experimentierfreude sind natürlich auch sehr<br />

gefragt.<br />

Erfahrungen<br />

>> Wie schaue ich ein Bild an. Worauf lege ich den Fokus Spricht<br />

mich dieses Bild inhaltlich oder formal an, reizt mich die Farbe<br />

oder das Materielle darin<br />

>> Wie reagiere ich darauf. Mit Assoziation, Abstraktion, Wandlung,<br />

Betonung, neuen Inputs<br />

>> Welche gestalterischen Mittel benutze ich für meine Idee<br />

Medien/Techniken<br />

Die Materialien sind frei. Digitale und analoge Kopie- und Bildbearbeitunsmethoden<br />

sind möglich.<br />

Vorraussetzungen<br />

Für diese Arbeit sollten die bildgestalterischen Werkzeuge grundsätzlich<br />

bekannt sein. Herausforderung ist es, diese sinnvoll und<br />

mit einem persönlichen Anspruch einzusetzen.<br />

Aufgabestellung<br />

Tut Euch zu zweit zusammen, um einen bildgestalterischen Dialog<br />

und Schlagabtausch über «Zürich» abzuhalten.<br />

Input ist je eine Karte, die Zürich zeigt, sei es mit Blick auf<br />

die Stadt, ein Teilstück der Bahnhofstrasse, das Wahrzeichen von<br />

Zürich, ein Trendlokal, Kunst am Bau etc.<br />

Spätestens nächsten Mittwoch, 19. März, überreicht Ihr Euch<br />

gegenseitig die ausgewählte Karte. Nun müsst Ihr auf die Kar-<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:13 <strong>Uhr</strong>


29<br />

Vermittelt<br />

te reagieren, indem Ihr die Karte bildgestalterisch verändert und<br />

abwandelt. Ihr könnt inhaltlich oder formal (assoziierend, ironisierend,<br />

abstrahierend, kontrastierend, beschönigend, zukunftsweisend....)<br />

auf die Vorlage reagieren. Der Wandlungsprozess<br />

wird nun stetig fortgesetzt, indem Ihr Euch jeweils auf die neueste<br />

Rückmeldung bezieht und diese Vorgabe bearbeitet. Jede Woche<br />

müsst Ihr Euch 1x austauschen, sodass jede Person mind. 10 x<br />

geantwortet hat.<br />

Material:<br />

Kopieren und Übermalen, digitale Bildbearbeitung, Collage, freie<br />

Wahl der Zeichen- und Malmittel und des Formates.<br />

Beurteilungskriterien:<br />

>> lustvolle, interessante und nachvollziehbare Bildreihe<br />

>> ernsthaftes, anregendes Agieren und Reagieren<br />

>> Bild- und Stilmittel sind sinnvoll und eigenständig eingesetzt<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:13 <strong>Uhr</strong>


30<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


31<br />

Vermittelt<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 31<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


32<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


33<br />

Vermittelt<br />

4<br />

Frei Andrea (KZU) / Gabriella Hunya (Liceo Artistico)<br />

Photoshop – surrealer Raum<br />

(Stuhlprojekt)<br />

Aufgabestellung, Thema<br />

>> Komposition, Expression (persönlicher Ausdruck – ein für sie<br />

stimmungsvolles Zimmer…)<br />

>> Gestaltung eines surrealen Raumes – darin müssen die<br />

SchülerInnen selber sowie auch gewisse Dinge (Stühle, Tiere, frei<br />

wählbare Gegenstände) vorkommen.<br />

>> Vorlage: einfache lineare Raumzeichnung (Zentralperspektive)<br />

>> Diese Zeichnung wird farblich gestaltet (räumliche Wirkung) und<br />

mit div. Elementen (Stühle, eigene Person, Tiere…) bestückt und so<br />

zu einer surrealen Komposition ausgeformt.<br />

Etappen / Arbeitsschritte<br />

>> Parallelprojektion eines Stuhls zeichnen / Input zu Perspektive<br />

>> Input zu Surrealismus / Kulturgeschichte des Sitzens / Begriffe und<br />

Definitionen rund ums Thema Stuhl und Sitzen<br />

>> Input zu Photoshop (Arbeitsblätter)<br />

>> Arbeit mit Photoshop: Flächen mit Farbe füllen (Mischfarben,<br />

Verläufe…), Objekte freistellen und einfügen, Situation zu einem<br />

Ganzen komponieren<br />

Ziele<br />

>> Farbwahrnehmung<br />

>> Raumwahrnehmung, Massstäblichkeit (verschobene)<br />

>> Alltagsgegenstand «Stuhl» mit div. Teilaufgaben genau betrachten<br />

und umformen.<br />

>> Kompositorische Wahrnehmung, Atmosphäre schaffen.<br />

>> Technisch-handwerkliche Grundkenntnisse im Photoshop<br />

erwerben<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 33<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:15 <strong>Uhr</strong>


34<br />

>><br />

>><br />

Vertiefung in Bild – Raumkomposition<br />

Spielerischer und witziger Umgang mit Bildelementen –<br />

ungewöhnliche, surreale Szenen erzeugen.<br />

Medien/Material<br />

Photoshop, Digitalkamera, Internetrecherchen (eigene Gegenstände<br />

suchen), (Bei den vor- und nachfolgenden Arbeiten kamen<br />

weitere Techniken zum Zuge – siehe Beiblatt)<br />

Bewertungskriterien:<br />

>> Wurden die surrealistischen Elemente im Bild angewendet<br />

>> Technisch-handwerkliches Geschick<br />

>> Bildkomposition, Gesamteindruck<br />

Vorgängige Arbeiten<br />

>> Einführung: einen Stuhl von zu Hause aus der Erinnerung zeichnen<br />

>> Parallelprojektion eines Stuhls aus dem Brockenhaus (A3, A2)<br />

>> Begriffe zu «Stuhl» und «sitzen»<br />

>> Diavortrag zu verschiedenen Stühlen, Kulturgeschichte des Sitzens<br />

>> Bildbetrachtung zu gewählter Kunstpostkarte (mit Figur, sitzender<br />

Person), <strong>12</strong> Fragen<br />

Anschliessende Aufgabe, zusammen mit Werken<br />

>> Der Stuhl wird zerlegt, dekonstruiert und zu einem neuen<br />

skulpturalen Objekt zusammengefügt.<br />

>> Material und Werkzeug: diverses aus der Holzwerkstatt,<br />

Kleisterpapier, Acrylfarbe<br />

>> Exkursion ins Vitra Design Museum mit Führung (ganz am<br />

Schluss des Semesters)<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:15 <strong>Uhr</strong>


35<br />

Vermittelt<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:15 <strong>Uhr</strong>


36<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 36<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:16 <strong>Uhr</strong>


37<br />

Vermittelt<br />

5<br />

Lüthi Denise , Kantonsschule Beromünster, Langzeitgymnasium<br />

Gestalterisches Tagebuch,<br />

Porträt<br />

7 Schüler 3. Klasse, 15 Schüler 4. Klasse, Schwerpunktfach BG,<br />

Beteiligte Lehrpersonen: Sr. Beatrice Kohler und Denise Lüthi<br />

Ziele<br />

Individuelle Ausdrucksfähigkeit<br />

Artikulation<br />

Im Unterricht bleibt oft nur Zeit technische und formale Fertigkeiten<br />

zu üben, jedoch nicht einen eigenen Ausdruck zu entwickeln und zu<br />

festigen. Dazu gehört, dass die Schüler Eingeübtes nicht auf eine<br />

neue Situation adaptieren, in neuen Zusammenhängen anwenden,<br />

sondern wiederholen, kopieren. Die Risikobereitschaft, etwas Neues<br />

zu wagen und dabei auch zu scheitern, ist klein. Das gestalterische<br />

Tagebuch gibt den Rahmen, dies zu üben und zu entwickeln. Der<br />

BG-Unterricht am Gymnasium Beromünster baut auf einer Semesterstruktur<br />

auf. Jedes Semester wird von einem Begriff bestimmt,<br />

der als Dreh- und Angelpunkt fungiert und inhaltlich, gestalterisch,<br />

medial, handwerklich oder technisch sein kann (Aquarell, Film/<br />

Video, Comic, Naturstudium, Fotografie, Typografie, Illustration<br />

etc.). Der im Vordergrund stehende Arbeitsbereich des letzten halben<br />

Jahres im Schwerpunktfach 3. und 4. Klasse war das Porträt.<br />

Die Schüler, die das Schwerpunktfach besuchen, führen ein<br />

gestalterisches Tagebuch. Im gestalterischen Tagebuch beschäftigen<br />

sie sich weitgehend selbständig mit dem Unterrichtsthema.<br />

Sie erstellen wöchentlich in der Hausaufgabenzeit 1–3 Arbeiten.<br />

Die Schüler des Schwerpunktfachs 3. und 4. Klasse arbeiteten im<br />

Format 10x21 cm zum Thema Porträt.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 37<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:16 <strong>Uhr</strong>


38<br />

Den Schülern werden jeweils mündlich kurze Aufgaben gestellt.<br />

Die Aufgaben sind als Hilfestellungen, als Katalysator zu<br />

verstehen, keine Rezepturen. Jede Vorgabe zum Arbeitsverfahren<br />

und jeder Hinweis der Lehrperson lenken individuelle Gedanken,<br />

Assoziationen und Inspirationen. Wenn grundlegende Möglichkeiten<br />

der Gestaltung offen stehen sollen, darf die Aufgabenstellung<br />

nicht zu viele der weiteren Prozesse verhindern, sondern<br />

muss die Möglichkeit der Entscheidungen und des Ausdrucks öffnen.<br />

Deshalb legt das gestalterische Tagebuch Wert auf Aufgaben,<br />

die sich am Inhalt orientieren. Inhaltliche Gebiete werden zum<br />

Gliederungsprinzip gemacht, formale und technische Fertigkeiten<br />

sind untergeordnet, finden sich aber gleichwohl in den Aufgaben<br />

vertreten (am Anfang stärker als gegen Schluss).<br />

Die Schüler erproben sich darin, Beobachtungen und Vorstellungen<br />

in geeigneter Form umzusetzen. Das gestalterische Tagebuch<br />

bietet die Möglichkeit früher angeeignete technische und<br />

formale Fertigkeiten auf neue Inhalte zu übertragen. Dadurch<br />

dass sich die Aufgaben auf die Sache beziehen und nicht auf das<br />

Technische und Formale, entwickeln die Schüler eine individuelle<br />

Ausdrucksfähigkeit.<br />

Im Unterricht werden die entstandenen Arbeiten immer wieder<br />

ausgebreitet und diskutiert. Unterschiedliche Wahrnehmungsund<br />

Ausdrucksweisen werden sichtbar. Die Schüler reflektieren<br />

die eigenen und fremden gestalterischen Lösungen. Es geht um<br />

die Frage, ob etwas stimmt, ob es redundant ist oder zu simpel.<br />

Die Betrachtung der Resultate in der Gruppe führt dazu, Unterscheidungen<br />

zu machen zwischen Selbstgefälligem und Echtem.<br />

Die Schüler erfahren ihre Stärken und Grenzen und gewinnen<br />

Vertrauen in den eigenen bildnerischen Ausdruck. Das eigentliche<br />

Thema lautet also nicht: Gestalterisches Tagebuch oder Porträt,<br />

sondern vielmehr: Vertrauen können auf eigene, gute Lösungen.<br />

Vergleicht man die ersten und die letzten Arbeiten miteinander,<br />

ist eine starke Veränderung zu bemerken. Am Anfang wurde geübt<br />

das Gesicht/den Kopf zu erfassen. Mit der Verzerrung durch<br />

konvexe und konkave Gegenstände wie Büchse, Kaffeekrug, Löffel,<br />

Weihnachtskugel etc., dem Hinzuziehen eines Gegenstandes<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 38<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:16 <strong>Uhr</strong>


39<br />

Vermittelt<br />

in das Bild und dem Schneiden von Grimassen wurde die Darstellungsweise<br />

zunehmend mutiger, freier und mitunter expressiv in<br />

der Formulierung. Es entstanden keine sachlichen Naturstudien<br />

mehr. Die Schüler gewannen in ihren Arbeiten an Sicherheit im<br />

Ausdruck.<br />

Etappen / Arbeitsschritte<br />

Parallel wurden im Unterricht die Proportionen des Gesichtes/<br />

Kopfes studiert, das Erzeugen von Plastizität mittels Schraffur<br />

(Hell-Dunkel, Strichart, Strichstärke, Strichrichtung) wiederholt<br />

und ein Porträt in Acryl auf Leinwand erstellt (Ausgangspunkt<br />

war ein/e Künstler/in, der/die sich mit Porträts beschäftigte. Zur<br />

Auswahl standen z.B. Bruce Naumann, Alexej von Jawlensky, Giorgio<br />

de Chirico, Paula Modersohn-Becker). Aufgabenstellungen<br />

zum gestalterischen Tagebuch in ihrer zeitlichen Folge:<br />

1.<br />

2.<br />

3.<br />

4.<br />

5.<br />

6.<br />

7.<br />

8.<br />

9.<br />

Bilder aus Zeitschriften und Zeitungen sammeln.<br />

Proportionen erfassen: Gesicht in Frontalansicht aus der Bildersammlung<br />

wählen und abzeichnen oder eine Folie auf einen Spiegel<br />

legen und das eigene Gesicht in Frontalansicht auf die Folie zeichnen.<br />

Aus der Bildersammlung eine Fotografie suchen. Die Fotografie als<br />

Bleistiftzeichnung in Hell-Dunkel-Werte umsetzen.<br />

Gesicht in Dreiviertelansicht aus der Bildersammlung wählen. Mit<br />

einem schwarzen Filzstift Linien über das Gesicht zeichnen und so<br />

Vertiefungen und Wölbungen plastischer Formen verdeutlichen.<br />

Gesichtsabbildungen von gleicher Grösse in waagrechte Streifen (Haare,<br />

Augen, Nase etc.) schneiden. Streifen zu neuem Gesicht zusammenstellen.<br />

Das Gesicht soll in seinen Proportionen nicht verloren gehen.<br />

Umsetzung im Schwarz-Weiss-Kontrast: Anregung durch ein/e Künstler/in<br />

Selbstporträt und Verzerrung durch Büchse, Kaffeekrug, Löffel etc.<br />

Selbstporträt in Weihnachtskugel mit Gegenstand in der Hand, Gegenstand<br />

wichtiger als Person. Oder: Selbstporträt in Weihnachtskugel und<br />

Hintergrund einbeziehen, Hintergrund wichtiger als Person.<br />

Selbstporträt in Weihnachtskugel und Grimasse schneiden: a) Zeichnen<br />

aus der Beobachtung, b) Fotografieren, c) Umsetzen der Fotografie<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 39<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:16 <strong>Uhr</strong>


40<br />

Selbstporträt in Weihnachtskugel,<br />

Selbstporträt in Weihnachtskugel mit<br />

Gegenstand in der Hand, Selbstporträt in<br />

Weihnachtskugel und Grimasse schneiden.<br />

Bleistiftzeichnung, weisser Farbstift auf<br />

schwarzem Papier, Farbstiftzeichnung,<br />

Fotografie, Aquarell.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 40<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:17 <strong>Uhr</strong>


41<br />

Vermittelt<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 41<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:17 <strong>Uhr</strong>


42<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 42<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>


43<br />

Vermittelt<br />

6<br />

Lüthi Denise, Kantonsschule Beromünster, Langzeitgymnasium<br />

Von der schematisierten<br />

Zeichensprache zu neuen<br />

Formulierungen<br />

Linoldruck, Klasse 2A 22 Schüler, Klasse 2B 22 Schüler, Klasse 2C 23 Schüler, Grundlagenfach BG,<br />

Beteiligte Lehrpersonen: Sr. Beatrice Kohler und Denise Lüthi<br />

Ziele<br />

Der Beitrag will auf drei Punkte eingehen:<br />

1. Mediale, handwerkliche und technische Begriffe im Lehrplan bieten<br />

Gelegenheit für unterschiedliche inhaltliche Themen.<br />

2. Von der schematisierten Zeichensprache zu neuen Formulierungen.<br />

3. Die Möglichkeiten, die ein längeres Projekt (hier ein Semester) bietet.<br />

Artikulation<br />

1. Der Lehrplan Bildnerisches Gestalten der Kantonsschule Beromünster<br />

gibt im 2. Semester des 2. Schuljahres Untergymnasium den<br />

Linoldruck vor. Das technisch umrissene Thema, drei Parallelklassen<br />

und zwei Lehrpersonen bieten die Möglichkeit unterschiedlich<br />

vorzugehen und inhaltlich verschiedene Schwerpunkte zu setzen.<br />

Die Klasse 2C ist von Bildmaterial ausgegangen. In Zeitschriften<br />

und Zeitungen haben die Schüler Fotografien von Ski-, Snowboardfahrern,<br />

Eiskunstläufern etc. gesucht. Diese haben sie durchgepaust,<br />

räumlich richtig in den Blattraum eingefügt und mit einer<br />

entsprechenden Landschaft ergänzt.<br />

Die Klassen 2A und 2B sind von der eigenen Beobachtung ausgegangen.<br />

Von einem Hügel nahe der Kantonsschule Beromünster<br />

haben die Schüler die Silhouetten von Rigi, Pilatus, Titlis,<br />

Rothorn und von den Wäldern, Feldern und Häusern gezeichnet.<br />

Während die Klasse 2A einen Ausschnitt aus der gezeichneten<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 43<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>


44<br />

Landschaft nach eigenen Vorstellungen weiterentwickelte, machte<br />

sich die Klasse 2B in Partnerarbeit Gedanken über eine farbige<br />

Umsetzung der Landschaft.<br />

Weil sich die Schüler untereinander kennen und sich beim Hausaufgaben<br />

machen im BG-Zimmer treffen, erhalten sie Einblick in<br />

die jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen der einzelnen<br />

Klassen. Zu unserer Freude tauschten sie sich rege darüber aus.<br />

2. Kinder im Alter von <strong>14</strong> Jahren drücken sich oft noch mit einer<br />

vereinfachten Zeichensprache aus. Die Erfahrung, dass man sich<br />

mit Zeichen äussern kann, führte zu leeren Schemata, die aber<br />

allgemein verständlich sind. Unser Ziel war es, die Zeichensprache<br />

aus ihrer Schematisierung zu lösen. Die Beschränkung auf die<br />

Farben Schwarz und Weiss verhalf dazu. (Alle drei Klassen beschäftigten<br />

sich zuerst nur mit den Farben Schwarz und Weiss).<br />

Die Schüler suchten nach neuen Möglichkeiten zur Formulierung<br />

und gelangten zu eigenständigen Lösungen. Jede Druckgrafik ist<br />

Ausdruck derjenigen Person, die sie hergestellt hat. Die dazu benötigte<br />

Sprache der Ausdrucksmittel wurde laufend thematisiert:<br />

Linien zum Beschreiben von Formen, Strukturen zum Erstellen<br />

von Oberflächenbeschaffenheiten und Graustufen, Flächen, um<br />

das Bild zu ordnen.<br />

3. Das vertiefte Arbeiten über längere Zeit an einem Thema ermöglicht<br />

es, sich intensiv mit einem Inhalt zu befassen und den<br />

Gegenstand der Bearbeitung von verschiedenen Seiten her kennenzulernen.<br />

Durch Abwechslung in den angewandten Techniken<br />

(trotz Endprodukt Linoldruck), Abwechslung in den Tätigkeitsformen<br />

können verschiedene Kräfte und Temperamente der Schüler<br />

zum Zuge kommen.<br />

Arbeitsreihe über längere Zeit<br />

>> Landschaft beobachten und mit Bleistift linear zeichnen.<br />

>> Auf die Form von Landschaftselementen (Berge, Häuser, Bäume<br />

etc.) achten. Sie aus schwarzem Papier schneiden und auf weissem<br />

Grund gruppieren.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 44<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>


45<br />

Vermittelt<br />

>> Graustufen und Oberflächenbeschaffenheiten unterscheiden und<br />

mit schwarzen Filzstiften in grafische Zeichen ausdrücken .<br />

>> Eine Kopie einer Druckgrafik auf ein grosses Papier kleben. Nun<br />

das Bild mit schwarzen Filzstiften weiterzeichen und gemäss<br />

eigenen Ideen weitere Details hinzufügen.<br />

>> Für Figuren (Ski-, Snowboardfahrer, Eiskunstläufer etc.) eine<br />

passende Umgebung zeichnen und Räumlichkeit darstellen<br />

(Höhen-, Grössenunterschied, Überschneidung).<br />

>> Linol- und Holzschnitte von Künstlern anschauen und hinsichtlich<br />

der wesentlichen Ausdrucksmittel (Linie, Fläche, Struktur)<br />

besprechen.<br />

>> Fertigen von Entwürfen, bei denen mit einer gewissen<br />

Entschiedenheit ein Ausdrucksmittel, z.B. die Fläche, Vorrang hat.<br />

>> Um Material und Werkzeug kennen zu lernen, in ein kleines Stück<br />

Linoleum Linien, Flächen und Strukturen schneiden.<br />

>> Drucken der Linolplatte mit schwarzer Farbe auf weissem Grund<br />

und weisser Farbe auf schwarzem Grund, Wirkung überprüfen.<br />

>> Beim Drucken mit verschiedenen Papieren (Fliesspapier,<br />

Druckausschuss, Packpapier, Japanpapier) experimentieren.<br />

>> Landschaftsbilder aus der Kunstgeschichte zeitlich ordnen und<br />

beschreiben wie sich die Darstellung im Verlauf der Zeit verändert<br />

hat.<br />

>> Eine Folie oder ein transparentes Papier über ein Landschaftsbild<br />

(z.B. Caspar Wolf, Blick von der Kreuzegg über die<br />

Grimselpasshöhe (…), 1777/79) legen und passende Wörter an die<br />

Stelle schreiben, wo die Begriffe im Bild vorkommen. Es entsteht<br />

ein Wort-Bild.<br />

>> Landschaftsbilder aus der Kunstgeschichte betrachten und das<br />

Wetter, die Tages- oder Jahreszeit beschreiben.<br />

>> Eine schwarz-weisse Kopie eines Landschaftsbildes aus der<br />

Kunstgeschichte mit Farben bemalen. Dieses wird je nach<br />

Helligkeit und Farbwahl unterschiedlich wirken. Die farbige<br />

Reproduktion des Originals mit der eigenen Lösung vergleichen.<br />

Welche Farben wählte der Künstler Was drückt er mit der<br />

Farbwahl aus Wie wirken die Farben des eigenen Bildes<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 45<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>


46<br />

>> Eine selber erstellte lineare Landschaftszeichnung mit Farbstiften<br />

ausmalen und ein bestimmtes Wetter, eine bestimmte Tages- oder<br />

Jahreszeit ausdrücken.<br />

>> Ein Landschaftsbild (z.B. Cuno Amiet, Winterlandschaft, 1907)<br />

zu einer anderen Tageszeit oder im Frühling oder im Herbst<br />

vorstellen und malen.<br />

>> Ein Landschaftsbild in eine Collage umsetzen.<br />

>> Aus verschiedenen Farbpapieren zehn Farbtöne aussuchen, die zu<br />

einem bestimmten Wetter, einer bestimmten Tages- oder Jahreszeit<br />

passen.<br />

>> Experimentieren mit dem farbigen Überarbeiten von<br />

Druckgrafiken.<br />

>> Entwurf für einen mehrfarbigen Linolschnitt fertigen, indem man<br />

sich mit Farbstiften Klarheit über die Vorgehensweise schafft.<br />

>> Planen wie die Druckgrafiken der Klasse zu einer Ausstellung<br />

zusammengestellt werden können.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 46<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>


47<br />

Vermittelt<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 47<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:19 <strong>Uhr</strong>


48<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 48<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:19 <strong>Uhr</strong>


49<br />

Vermittelt<br />

7<br />

Nicole Eisler und Samuel Schütz, KS Enge Zürich<br />

Filmset<br />

Klasse N1c/W1f/W1e; HS 2007/<strong>08</strong><br />

Thema<br />

Modellieren eines erfundenen «Filmsets» (Landschaftsmodell)<br />

Artikulation/Ziele<br />

>> Erfindungsgabe der SchülerInnen sichtbar machen, sowohl textuell<br />

als auch real und räumlich umgesetzt.<br />

>> Modellieren einer fikitven Landschaft (ca. 20x20x10 cm ), die als<br />

«Anschauungsmodell» für Filmaufnahmen dienen könnte.<br />

>> Ausformulierung von Details (Autos, Bäume etc.), die für die<br />

Geschichte notwendig sind.<br />

>> Ca. 1 Seite erfundene Filmstory zum Set und anschliessendes<br />

Fotografieren des Sets mit Digitalkameras in einem abgedunkelten<br />

Raum (Lampen u.a. zum Beleuchten).<br />

Arbeitsschritte<br />

>> Ton -Modell entwerfen und detailliert, masstabgetreu ausführen.<br />

>> Text dazu erfinden; «crime-story, love-story» etc.<br />

>> Dramatisch, inszeniert fotografieren mit Kunstlicht.<br />

>> Text und Fotoausdrucke als «Beleg» für den Filmtake.<br />

Gestalterische-wahrnehmungsbezogene Erfahrungen (Erfahrungswissen)<br />

>> Räumliches Denken und Vorstellung; handwerklich/feinmotorisch.<br />

>> Imagination (Geschichte zum 3D-Set erfinden).<br />

>> Fotografische Dokumentation des Modells.<br />

>> Zusammenhang Text Bild – eine mehrschichtige Geschichte<br />

erfinden.<br />

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50<br />

Medien<br />

Ton, modellieren, schreiben, fotografieren.<br />

technische/mediale Vorraussetzungen<br />

Fotografisches Inszenieren: Beurteilen, wo die interessanten Ansichten<br />

und Details des Modells sind.<br />

Texte zu den Filmsets<br />

Unglück am Rheinwaldhorn von Chloé Berli<br />

Ich befinde mich im Moment über dem Gipfel des Rheinwaldhorns.<br />

Etwas Schreckliches hat sich in der letzen Stunde zugetragen.<br />

Ein Sportflugzeug, eine Cessna, stürzte mit voller Wucht auf<br />

eine Alp, die unterhalb des Berges liegt. Ein Unbekannter filmte<br />

mit seiner Natelkamera aus dem Fenster der gegenüberliegenden<br />

Bergbahn das schreckliche Geschehen.<br />

Ich sehe Bilder, welche meinen Puls auf Hochtouren bringen.<br />

Die Bahn fährt der Sonne entgegen, als plötzlich ein Schatten tief<br />

unten im Tal erscheint, der Schatten eines Flugzeugs. In einem<br />

rasanten Tempo fliegt es über die Bahn hinweg, es streift beinahe<br />

den Mast. Plötzlich bleibt es fast stehen, doch schon beschleunigt<br />

es und setzt zu einem Looping an, welcher mit einem senkrechten<br />

Sturz in die Tiefe endet. Einige Sekunden der Stille umhüllen die<br />

Berglandschaft, bis ein ohrenbetäubender Knall die Touristen aus<br />

ihrer Benommenheit reisst. Das Flugzeug knallt gegen die Felsen,<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 50<br />

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51<br />

Vermittelt<br />

wo es zersplittert, als bestünde es aus Glas. Das Sportflugzeug<br />

wurde von C.R.* geflogen. Leider verlor er bei diesem Unglück<br />

sein Leben. Der Pilot hinterlässt Frau und Kinder (*Name der Redaktion<br />

bekannt).<br />

Der Umweg zur Liebe von Chantel Furrer<br />

Anfang des 19. Jahrhunderts lebte die junge Frau Romina zusammen<br />

mit ihren Eltern in einem kleinen Dorf, das zwischen Bergen<br />

und Flüssen lag. Sie half ihrer Mutter oft zu Hause oder ging mit<br />

zum Markt, um ihr selber angepflanztes Gemüse zu verkaufen. Einen<br />

richtigen Beruf übte sie nicht aus, das störte sie aber überhaupt<br />

nicht.<br />

An einem sonnigen Tag am Markt fiel Romina plötzlich ein<br />

wunderschöner Bursche ins Auge. Durch sein freundliches Lächeln<br />

und seine stahlblauen Augen hatte er sofort ihr Herz Erobert.<br />

Romina hatte noch nie zuvor ein solches Gefühl im Bauch<br />

gehabt. Sie war total überwältigt. Doch als jemand anders vor ihrem<br />

Tisch stand, musste sie den Hübschen aus den Augen lassen,<br />

um ihre Ware weiter zu verkaufe.<br />

Ungefähr zwei Wochen später am Markt suchte Romina wieder<br />

nach diesem jungen Mann. Sie schaute nach links, nach rechts<br />

und als sie dann gerade aus blickte, fing ihr Herz sofort zu rasen<br />

an. Der Schönling starrte sie eine Weile an, bis er Romina<br />

ansprach: «Hallo, ich bin Manuel. Und wie ist Ihr Name, wenn<br />

ich Sie fragen darf» Voller Freude antwortete die hübsche Frau.<br />

Sie plauderten miteinander und verstanden sich von Anfang an<br />

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52<br />

prächtig. Fast den ganzen Tag verbrachten sie zusammen, bis es<br />

wieder Zeit wurde, nach Hause zu gehen.<br />

Von da an trafen sie sich an jedem Markttag, bis sie endlich ein<br />

Paar wurden und sich sogar noch öfters verabredeten. Jedoch war<br />

dies immer versteckt, denn ihre Eltern wussten noch nichts von<br />

dieser Beziehung. Romina hatte noch nie einen richtigen Freund<br />

gehabt und wusste also nicht, wie ihre Eltern reagieren würden.<br />

Die zwei Verliebten waren so glücklich miteinander. Ihr ganzes<br />

Leben wollten sie zusammen verbringen.<br />

Doch eines Tages musste Manuel ihr die schreckliche Nachricht<br />

mitteilen, dass seine Familie an das andere Ende der Brücke<br />

ziehen würde und er es nicht verhindern könne. Romina brach<br />

sofort in Tränen aus. Bedeutete das nun, sie könnten sich nicht<br />

mehr sehen und ihre Beziehung wäre vorbei Denn diese Brücke<br />

durfte man nur überqueren, wenn man einen hohen Betrag zahlte,<br />

der jedoch für normale Bauern unbezahlbar war.<br />

Einen anderen Weg gab es nicht, denn etwa 150 Meter unter<br />

der Brücke floss ein mächtiger Strom. Ausser man ging alles aussen<br />

herum, um die vielen Berge. Das war jedoch ein sehr weiter<br />

Weg und zu dieser Zeit gab es auch noch fast keine Transportmittel.<br />

Die arme Familie besass nicht einmal einen Esel.<br />

Wie man aber sicherlich weiss, tut man für die Liebe alles. Deshalb<br />

beschlossen Romina und Manuel zu heiraten und eine neue<br />

Familie zu gründen. Natürlich mussten sie zuerst ihre Eltern um<br />

Erlaubnis bitten. Da beide sehr aufrichtige und gescheite Menschen<br />

waren, wurde ihnen zugesagt und nun stand nichts mehr<br />

im Weg. Sie konnten glücklich den Rest ihres Lebens miteinander<br />

verbringen.<br />

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53<br />

Vermittelt<br />

Die Flucht von Fardin Javanmard<br />

Wir schreiben das Jahr 2523. Die Welt hat sich seit dem 21. Jahrhundert<br />

stark verändert. Die Welt liegt in Asche. Alles ist zerstört.<br />

Alles wurde zerstört. Nach dem Atomkrieg hat kaum jemand mehr<br />

Lust, Krieg zu führen, aber es wird trotzdem weitergekämpft,<br />

man hat keine andere Welt. Die neue dominante Spezies ist kein<br />

richtiges Lebewesen mehr. Es sind Maschinen, Roboter, die ursprünglich<br />

von Menschen gebaut wurden, um an ihrer Stelle in<br />

den Krieg zu gehen. Diese haben sich, als die künstliche Intelligenz<br />

erfunden wurde, gegen die Menschheit gestellt. Sie schossen sämtliche<br />

Atombomben auf die wichtigsten, grossen Städte der Welt;<br />

Washington DC, Los Angeles, New York, Paris, London, Tokio,<br />

Moskau, einfach alle. Das Pentagon ist ebenfalls vernichtet.<br />

3,5 Millionen Menschen starben dabei, weitere 500 Millionen<br />

starben später an radioaktiver Verseuchung. Die Menschen<br />

wurden alle gejagt. Keiner lebte mehr auf der Erde. Nur noch<br />

in Bunkern im Untergrund gibt es noch Leben. Man kann nicht<br />

flüchten, wohin denn auch, die Maschinen<br />

beherrschen ja schliesslich die ganze<br />

Welt. Schon lange denken die Menschen<br />

an eine Flucht ins Weltall. Überlebenschancen<br />

gibt es schon. Man hat ein Space<br />

Shuttle der ehemaligen persischen Weltraumfahrtbehörde<br />

FASA gefunden. Es ist<br />

ein Modell aus dem Jahr 2350, 10 Jahre<br />

vor der Revolution der Maschinen. Das<br />

Raumschiff ist zwar etwas alt, aber man<br />

kann es immer noch erneuern und aufpeppen.<br />

Genannt hat man das Raumschiff<br />

«Omid» (pers. «Hoffnung»). Es hat nur die Kapazität von<br />

50 Personen, 25 Männer und 25 Frauen. Es sind auserwählte<br />

Menschen, die geeignetsten. Mit einem modernen Hyperantrieb<br />

schafft das Raumschiff eine annähernde Lichtgeschwindigkeit. Es<br />

kann bis zu 295000 km/s fliegen. Das Ziel ist der Stern «Alpha<br />

Centauri». Dort gibt es einen Planeten mit intelligentem Leben.<br />

Wir, die Menschen, haben diesen Planeten und die Zivilisation<br />

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54<br />

dort im Jahr 2213 entdeckt. Damals besassen wir noch nicht die<br />

notwendige Technik dafür, es zu erreichen. Heute ist es endlich<br />

soweit. Sobald sie dort sind, werden sie Hilfe schicken. Bis die<br />

Hilfe da ist, dauert es etwa 20 Jahre, der Stern ist schliesslich 4,5<br />

Lichtjahre entfernt. Wir müssen noch etwa 20 Jahre durchhalten.<br />

Das Schiff «Omid» fliegt heute um 10:25 <strong>Uhr</strong> Ortszeit (MEZ)<br />

ab. Die Maschinen wissen nichts davon, aber egal was passiert,<br />

nachdem das Raumschiff gestartet ist, bleibt nichts anderes mehr<br />

übrig, als abzuwarten und auf Erfolg zu hoffen.<br />

Kratermonster von Muriel Hauser<br />

Man sagt, dass in dem grossen Krater ein riesiges Ungeheuer<br />

wohnt, doch gesehen hat es noch niemand.<br />

Von dem kleinen Dorf aus hört man es immer wieder brüllen.<br />

Doch die Einwohner des Dorfes hat es noch nie richtig gekümmert,<br />

was das Monster treibt. Doch<br />

in letzter Zeit wurde es immer unheimlicher.<br />

Immer wieder, wenn Leute ins Gelände<br />

spazieren gingen, kamen sie nicht<br />

mehr zurück. Es gab viele Vermisste und<br />

wenn man sie suchte, waren sie spurlos<br />

verschwunden.<br />

Das Dorf beschloss, gemeinsam zum<br />

grossen Krater zu gehen, denn wenn alle<br />

gemeinsam vorgehen, haben sie die besten<br />

Chancen.<br />

Und so kam es, dass sie eines frühen Morgens alle gemeinsam<br />

losgingen. Mit Fackeln in der Hand und warm eingepackt marschierten<br />

sie los. Sie gingen ganz leise und sprachen kein Wort, da<br />

sie dachten, das Ungeheuer würde sie so nicht bemerken.<br />

Als sie nun an die Kraterwand stiessen, die so steil und hoch<br />

war, überkam sie die Angst. Die einen rannten vor lauter Furcht<br />

zurück, doch einige Mutige rissen sich zusammen und begannen<br />

den Berg zu besteigen.<br />

Langsam ging die Sonne auf, doch die Hälfte der steinernen<br />

Wand hatten sie schon bestiegen. Nach zwei weiteren Stunden<br />

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55<br />

Vermittelt<br />

hörten sie plötzlich ein riesiges Gebrüll, das vom Innern des Kraters<br />

kam. Da, plötzlich kam am Rand des Kraters ein riesiger<br />

Kopf hervor. Er war hässlich und hatte rote Stacheln, die überall<br />

aus dem Kopf heraus ragten. Die Dorfbewohner nahmen ihren<br />

ganzen Mut zusammen, kamen aus ihrem Versteck hervor und<br />

schossen mit ihren Pfeilen auf den Kopf. Dieser verschwand wieder.<br />

Sie rannten nach oben an die Kante zum Abgrund und da<br />

sahen sie es: Das grosse Ungeheuer, das hilflos und ängstlich aussah.<br />

Und doch, die Leute waren sich sicher, dass es für all die<br />

Menschen, die vermisst wurden, verantwortlich ist. Also schossen<br />

sie mit ihren Pfeilen auf es und stachen mit den Schwertern<br />

gegen seinen Körper. Und da hörte man es: Der letzte klagende<br />

und schmerzvolle Schrei des Ungeheuers. Jetzt war es tot und alles<br />

war vorbei.<br />

Feindschaft von Michelle Liebhart<br />

Es war einmal ein kleines Dörfchen, umgeben von riesigen Bergen,<br />

die weit in die Höhe ragten. Doch eines Tages setzte überraschend<br />

eine starke Regenzeit ein. Es regnete so fest, dass richtige Wasserfälle<br />

von den Bergen flossen und ein Fluss entstand, der das Dorf<br />

in zwei Teile spaltete. Auf der einen Seite waren die Menschen<br />

stets glücklich, auf der anderen Seite sah man nie jemanden mit<br />

einem Lächeln auf dem Gesicht. So ging es weiter und die Feindschaft<br />

zwischen dem einst vereinten Dorf wurde immer grösser.<br />

Doch einige Jahre später liess das Schicksal eine noch stärkere Regenzeit<br />

aufkommen. Schlammlawinen und Überschwemmungen<br />

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56<br />

begannen, beide Teile des Dörfchens zu verwüsten. Erst jetzt, wo<br />

die Not gross war, merkten sie, dass sie nur gemeinsam stark waren<br />

und fähig, eine solche Katastrophe zu überwinden. Und wie<br />

die erste Regenzeit zu einer Teilung des Dörfchens geführt hat,<br />

führte diese es nun wieder zusammen.<br />

Wüstenstadt von Nico Bucklar<br />

Wind bläst durch die Gassen und um verfallene Häuserecken.<br />

Staub wirbelt wie ein Tornado durch die flimmernd heisse Luft<br />

und zerstört die Häuser mehr und mehr.<br />

Die Stadt ist total verlassen, eine Geisterstadt inmitten der Sahara.<br />

Doch dies war nicht immer so.<br />

Einst war an diesem Ort eine blühende Stadt gewesen, eine<br />

riesige Oase, Die Leute hatten Wasser, es ging ihnen gut und sie<br />

hatten ein relativ gutes Leben.<br />

Doch mit der Zeit trocknete die<br />

Oase langsam aber sicher aus. Als das<br />

Wasser definitiv zur Neige ging, entbrannte<br />

ein Streit, ja fast ein Krieg um<br />

das übrige Wasser zwischen den Bewohnern<br />

aus. Sie vertrieben sich und<br />

jagten sich gegenseitig davon, bis keine<br />

Menschenseele mehr übrig war, der<br />

letzte Tropfen Wasser verdunstete und<br />

die Natur eroberte den Ort Stück um<br />

Stück wieder zurück.<br />

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57<br />

Vermittelt<br />

Das Traumpaar von Estelle Caveng<br />

Endlich ist es soweit: Der lang ersehnte Weihnachtsball steht vor<br />

der Tür. Schon ein ganzes Jahr freute ich, Karithlin, mich darauf.<br />

Mit meiner Freundin Marissa planten wir schon den ganzen<br />

Abend. Ryan und Seth sollten uns mit einer weissen Limousine<br />

abholen und direkt zum Ball fahren, ich und Seth würden den<br />

ganzen Abend zusammen tanzen und Marissa und Ryan auch. Sie<br />

würden sich in uns verlieben und um Mitternacht gäbe es dann<br />

den langersehnten Kuss…<br />

Doch da gab es ein Problem: Ryan und Seth waren die beliebtesten<br />

Jungs an unserer Schule, hatten beide eine superreiche,<br />

gutaussehende Freundin, also konnten wir sie eigentlich schon<br />

vergessen. Einen Tag vor dem Ball gingen wir in die Stadt, um ein<br />

Kleid zu kaufen. Also probierten wir alle Kleider, die uns gefielen,<br />

an. Zum Glück gab es zwei Dinge an uns, um die uns alle beneideten:<br />

Wir hatten eine Superfigur und unsere Bankkonten waren<br />

prall gefüllt. Wir kauften ein traumhaftes Kleid, fast zu schön,<br />

um wahr zu sein.<br />

Leider hatten wir nicht den Mut, Seth und Ryan zu fragen, ob<br />

sie mit uns zum Ball gingen, also entschlossen wir uns, ohne Partner<br />

zu hinzugehen. Alles war wie im Märchen… wunderschön.<br />

Wir passten mit unseren Kleidern genau hinein. Als ich mir gerade<br />

einen Drink an der Bar holen wollte, hörte ich eine Stimme hinter<br />

mir: «Wollen wir tanzen» Ich drehte mich um und sah Seth hinter<br />

mir stehen und lächeln…<br />

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59<br />

Vermittelt<br />

8<br />

Hanna Schmid, Gymnasium Untertrass<br />

Umsetzung eines<br />

expressionistischen<br />

Gedichtes in ein Bild<br />

Maturitätsprüfung Bildnerisches Gestalten<br />

In der Beilage zum Prüfungstext finden Sie drei expressionistische<br />

Gedichte (Sonette). Sie handeln vom Leben in der Großstadt beziehungsweise<br />

vom Arbeiten in der Fabrik.<br />

Der Mensch des Expressionismus empfindet diese Welt oftmals<br />

als chaotisch, als bedrohlich, der Natur entfremdet. Er erlebt in<br />

dieser Umgebung den Verfall von Individualität, Anonymität<br />

herrscht. Die Hektik und das Gedränge in der Stadt, die riesigen<br />

Maschinen in der Fabrik sind übermächtig.<br />

Die Überflutung mit Reizen spiegelt sich in den Gedichten wieder:<br />

flüchtig hingeworfene Eindrücke werden aneinander gereiht.<br />

Lesen Sie zuerst den ganzen Prüfungstext durch und wählen Sie<br />

dann das Gedicht, das Sie am meisten anspricht.<br />

1. Einstieg in den Text<br />

Lesen Sie Ihr Gedicht mehrmals aufmerksam durch. Machen Sie<br />

auf dem A-4 Blatt folgende Notizen:<br />

>> Welche Orte werden genannt<br />

>> Welche Dinge werden genannt<br />

>> Gibt es Geruchsassoziationen<br />

>> Werden Geräusche erwähnt<br />

>> Werden Farben erwähnt<br />

>> Gibt es andere Sinneseindrücke, die Ihnen auffallen<br />

>> Welche Stimmung(en) herrscht/herrschen vor<br />

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60<br />

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Was zieht sich durch das ganze Gedicht Was hält es zusammen<br />

Weitere Auffälligkeiten<br />

Diese Notizen machen Sie in erster Linie für sich selber als Einstieg.<br />

Sie sollen lesbar sein und werden abgegeben. Sie geben somit<br />

dem Experten und mir Einsicht in Ihre Arbeitsweise. Es können<br />

auch Notizen in Form von kleinen Skizzen gemacht werden.<br />

>><br />

>><br />

Material:<br />

Schreibwerkzeug<br />

A-4 Blatt<br />

2. Umsetzung des Gedichtes in ein Bild<br />

Wie eingangs erwähnt, werden in diesen expressionistischen Gedichten<br />

Eindrücke aneinandergereiht. Auch Ihr Bild wird einerseits<br />

aus einzelnen Eindrücken bestehen. Es stehen Ihnen dazu<br />

neun Quadrate (10x10cm) zur Verfügung. So, wie das Gedicht<br />

aber auch ein Ganzes ist, sollen andrerseits Ihre neun Quadrate<br />

auch wieder ein Ganzes ergeben, eine Gesamtkomposition, das<br />

heisst, ein Quadrat von 30x30cm.<br />

Zum Vorgehen:<br />

Wie Sie vorgehen, ist Ihnen überlassen:<br />

>> Sie können die einzelnen Quadrate bearbeiten und dann eine<br />

Gesamtkomposition legen. So können Sie mit den Einzelteilen<br />

spielen, ausprobieren. Allenfalls nehmen Sie nachträglich noch<br />

Anpassungen vor.<br />

>> Sie können aber auch die Quadrate von Anfang an zusammenlegen<br />

und das Bild als Ganzes aufbauen.<br />

>> Es sind auch Mischformen denkbar.<br />

>><br />

>><br />

>><br />

Zur Technik:<br />

Folgendes Material steht zur Verfügung:<br />

9 Kartonquadrate 10x10cm<br />

Grundierungsfarbe<br />

Acrylfarben<br />

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Vermittelt<br />

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Zeitschriften zum Collagieren<br />

Leim und Leimpinsel<br />

Bleistifte<br />

Abgabe:<br />

Jedes einzelne Quadrat wird hinten lesbar mit Name und Vorname<br />

bezeichnet (nicht angeschrieben ist nicht bewertbar)<br />

Die Quadrate werden auf der Rückseite fortlaufend nummeriert<br />

von 1–9<br />

Die Schlusskomposition wird von mir zur Sicherheit fotografiert<br />

Alle Notiz-, Skizzen und Entwurfsblätter sollten, bezeichnet mit<br />

Ihrem Namen, ebenfalls abgegeben werden<br />

Bewertungskriterien:<br />

Erster Eindruck: Ist aus dem grossen Quadrat ersichtlich, welches<br />

der drei Gedichte bildnerisch umgesetzt wurde<br />

Komposition<br />

Farbigkeit<br />

Intensität der Auseinandersetzung<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 61<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:21 <strong>Uhr</strong>


62<br />

Georg Heym: Berlin Vlll<br />

Schornsteine stehn in grossem Zwischenraum<br />

Im Wintertag, und tragen seine Last,<br />

Des schwarzen Himmels dunkelnden Palast<br />

Wie goldne Stufe brennt sein niedrer Saum.<br />

Fern zwischen kahlen Bäumen, manchem Haus,<br />

Zäunen und Schuppen, wo die Weltstadt ebbt,<br />

Und auf vereisten Schienen mühsam schleppt<br />

Ein langer Güterzug sich schwer heraus.<br />

Ein Armenkirchhof ragt, schwarz, Stein an Stein,<br />

Die Toten schaun den roten Untergang<br />

Aus ihrem Loch. Er schmeckt wie starker Wein.<br />

Sie sitzen strickend an der Wand entlang,<br />

Mützen aus Russ dem nackten Schläfenbein,<br />

Zur Marseillaise, dem alten Sturmgesang.<br />

Quelle: http://deutsch.pi-noe.ac.at/literatur3/ex_stadt_vfg.htm<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 62<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:22 <strong>Uhr</strong>


63<br />

Vermittelt<br />

Paul Zech: Der Fräser<br />

Gebietend blecken weisse Hartstahl-Zähne<br />

aus dem Gewirr der Räder. Mühlen gehen profund,<br />

sie schütten auf den Ziegelgrund<br />

die Wolkenbrüche krauser Kupferspäne.<br />

Die Gletscherkühle riesenhafter Birnen<br />

beglänzt Fleischnackte, die von Öl umtropft<br />

die Kämme rühren; während automatenhaft gestopft<br />

die Scheren das Gestänge dünn zerzwirnen.<br />

Ein Fäusteballen hin und wieder und ein Fluch,<br />

Werkmeisterpfiffe, widerlicher Brandgeruch<br />

An Muskeln jäh empor geleckt: zu töten!<br />

Und es geschieht, dass sich die bärtigen Gesichter röten,<br />

das Augen wie geschliffene Gläser stehn<br />

und scharf, gespannt nach innen sehn.<br />

Quelle: 131 expressionistische Gedichte,<br />

Herausgegeben von Peter Rühmkorf, Wagenbach Berlin 1993<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 63<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:24 <strong>Uhr</strong>


64<br />

Paul Boldt: Auf der Terrasse des Café Josty<br />

Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll<br />

Vergletschert alle hallenden Lawinen<br />

Der Strassentakte: Trams auf Eisenschienen,<br />

Automobile und den Menschenmüll.<br />

Die Menschen rinnen über den Asphalt,<br />

Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.<br />

Stirne und Hände von Gedanken blink,<br />

schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.<br />

Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,<br />

Wo Fledermäuse, weiss, mit Flügeln schlagen<br />

Und lila Quallen legen – bunte Öle;<br />

Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen. –<br />

Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,<br />

Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.<br />

Quelle: http://hor.de/gedichte/paul_boldt<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 64<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>


65<br />

Vermittelt<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 65<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>


66<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 66<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>


67<br />

Vermittelt<br />

9<br />

Monika Lürkens, Kantonsschule Stadelhofen ZH<br />

Poesie aus meiner Hand<br />

– Märchen im Alltag<br />

Bildergeschichte-<br />

Bildersequenz–Comics<br />

Klasse 2afM, Bildnerisches Gestalten, Herbstsemester 20<strong>08</strong>/09<br />

Angaben zur Aufgabestellung<br />

Zeichnung – Illustration – Collage – Konturzeichnung – Tonwertzeichnung<br />

– Schwarz-Weiss-Bild – Mischtechnik – Malerisch –<br />

Zeichnerisch – Entwicklungsprozess – Bildüberarbeitungen<br />

In einem ersten Schritt machen Sie Skizzen und Zeichnungen von<br />

Ihren eigenen Händen, diese in verschiedenen Lagen, Positionen,<br />

Posen, Inszenierungen, wobei auch die unmittelbare Umgebung selektiv<br />

einbezogen wird. Als nächstes lassen Sie sich von bildlichen<br />

und inhaltlichen Assoziazionen leiten und machen weitere Skizzen,<br />

wobei Sie bereits mit verschiedenen Materialien zeichnen, malen,<br />

kleben, ... können. Dann erproben Sie verschiedene Bildausschnitte<br />

und die Veränderung der Bildaussagen mit Hilfe einer Bildmaske,<br />

mit der sich verschiedene Proportionen und Masse einstellen lassen.<br />

In einem dritten Schritt arbeiten Sie an der Stimmung des Bildes, die<br />

sich mit Farbgebung, hier vor allem aber auch mit den verwendeten<br />

Materialien und mit dem Einsatz von Hell und Dunkel als Tonwerte<br />

oder Schwarz und Weiss ändert. Von einem Bild werden so ca. 3<br />

Versionen erprobt, wobei Bildausschnitte und verschiedene Mischtechniken<br />

verwendet werden. Daraus wählen Sie ein Gestaltungskonzept<br />

aus und realisieren eine Bildsequenz von 2–3 Bildern.<br />

Bewertungskriterien:<br />

Idee/Inhalt, prozesshafte Bildarbeit, Gesamtwirkung Bildsequenz<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 67<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>


68<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 68<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>


69<br />

Vermittelt<br />

10<br />

Brigitte Bovo und Annette Bürgi<br />

Vom Schuh zum Gestiefelten<br />

Kater<br />

Beispiel einer Arbeitsreihe<br />

aus dem Atelier BiG<br />

Im Atelier BiG (siehe unten) arbeiten wir nach der Dreiheit wahrnehmen<br />

– vorstellen – umsetzen. In einer ersten Phase lassen wir<br />

über möglichst viele Sinne erleben: Wir schauen, hören, riechen,<br />

schmecken, tasten und handeln – je nach Aufgabenstellung. Das<br />

über unsere Sinne Wahrgenommene findet Ausdruck in ersten<br />

inneren Bildern, die sich mit unserem Vorwissen und unseren<br />

Erfahrungen verbinden. Diese Vorstellungen, die nun vielleicht<br />

verändert, variiert oder erweitert sind, werden in Form von Zeichnungen,<br />

Malereien und dreidimensionalen Arbeiten umgesetzt. In<br />

unseren Lektionen findet ein ständiger Wechsel statt zwischen<br />

Wahrnehmen, Vorstellen und Umsetzen. Bei dieser prozesshaften<br />

Arbeitsweise kommt das Kind zu neuen bildnerischen Erkenntnissen.<br />

Vom Schuh ...<br />

bg01: Nachdem die Schülerinnen und Schüler ihren eigenen<br />

Schuh als Schattenriss erkannt haben, wählen sie einen Schuh<br />

mit prägnanter Form aus und schneiden davon das Schattenbild.<br />

Die Form entpuppt sich als ziemlich schwierig, sodass sie sich mit<br />

immer neuen Wahrnehmungsübungen an die Form herantasten:<br />

Schuhform und Schattenriss miteinander vergleichen, Merkmale<br />

besprechen, ausmessen, Schuhform mittels Klebband ins Format<br />

einpassen und Horizontale und Vertikale bezeichnen.<br />

Sie zeichnen auch die Umrisslinien, wobei sie Negativformen<br />

und Richtungen beachten. Oder sie tasten sich zeichnend aus dem<br />

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70<br />

Fleck vom Rand her an die Form heran. In einem zweiten Schritt<br />

schneiden sie einen weiteren Schattenriss und vergleichen ihn mit<br />

dem früher entstandenen. Beim Besuch des Bally Schuhmuseums<br />

in Schönenwerd setzen wir uns mit dem sozial- und kulturgeschichtlichen<br />

Hintergrund des Fusswerkes von der Antike bis<br />

heute auseinander. In einer ersten Standortabklärung zeichnen die<br />

Kinder den eigenen Schuh aus der Erinnerung. Nachdem sie die<br />

verschiedenen Teile des Schuhs bezeichnet haben (Vorwissen abrufen),<br />

heften sie Zettel mit Fachbegriffen an die entsprechenden<br />

Stellen (Rahmen, Schaft, Kappe, Lasche oder Zunge, Zierlöcher<br />

usw.). Nun zeichnen sie ihren Schuh noch einmal (Standortabklärung<br />

2), diesmal aber seitenverkehrt im Profil.<br />

lbg<strong>02</strong>: Eine Menge Kunstpostkarten zum Thema liegen ungeordnet<br />

nebeneinander. Ohne Worte gruppieren sie die Kinder nach eigenen<br />

Kriterien (Foto, dreidimensional, sieht wie echt aus, usw.).<br />

Erst im Nachhinein wird über die Ordnungen gesprochen und<br />

notfalls verändert.<br />

lbg03 und lbg04: Jedes Kind stellt einen zweiten und dritten Schuh<br />

zum ersten hin, sodass sich eine spannende Situation ergibt. Was<br />

heisst aber: eine spannende Komposition mit drei Schuhen Wir<br />

diskutieren die Fragestellung und verändern die je eigene Komposition<br />

nach den Begriffen: viel-wenig, vorne-hinten, oben-unten,<br />

angeschnitten, überschnitten-verdeckt, paarweise beieinander, alles<br />

kreuz und quer. Nun vergrössern die Schülerinnen und Schüler<br />

ihr Format mit zusätzlichem Papier und zeichnen ihre Schuhe nach<br />

Anschauung.<br />

lbg05: Schnelle Zeichner erweitern ihr Format beliebig. Wir erzählen:<br />

«Verspätete Schüler sind ins Schulhaus gestürmt und<br />

haben ihre Schuhe in die Ecke geworfen. Nach dem Unterricht<br />

müssen die zusammenpassenden Schuhe zuerst gesucht werden.<br />

So ein Schuhsalat!» Zu den bereits gezeichneten Schuhen werden<br />

weitere gestellt und gezeichnet. Räumliche Angaben können individuell<br />

ergänzt werden. Die Schülerinnen und Schüler stellen ihre<br />

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71<br />

Vermittelt<br />

Schuhkomposition zur Türe, zum Stuhl, Kasten..., beobachten die<br />

Umgebung und ergänzen sie zeichnerisch, je nach Alter nach Anschauung<br />

oder aus der Vorstellung.<br />

lbg06: Als Zwischenarbeit beschäftigen sich die Kinder mit der<br />

Binnendifferenzierung ihres Schattenbildes. Aus verschiedenen<br />

Grau- und Brauntönen schneiden sie die Einzelteile des Schuhs<br />

und gestalten eine Collage.<br />

lbg07–lbg10: Die Schülerinnen und Schüler können wählen, ob<br />

sie einen Schuh nachbauen oder einen für einen bestimmten Menschentyp<br />

wie Ritter, Schlossfräulein, Clown, Bergsteiger usw. entwerfen<br />

wollen. Mit Papier, Scotch und Bostitch gehen sie an die<br />

Arbeit. In jedem Fall soll die Funktion des Schuhs sichtbar sein:<br />

Man kann ihn anziehen, er schützt den Fuss und man kann damit<br />

gehen. In der Auseinandersetzung mit dem Schuhmodell wird<br />

die Begrifflichkeit (Schaft, Kappe usw.) ganz selbstverständlich<br />

angewendet.<br />

... über die Katze ...<br />

bg11: Die Kinder tasten unter einem Tuch verschiedene Spieltiere<br />

und erraten anhand der typischen Kennzeichen, um welches Tier<br />

es sich handelt. Auch setzen sie aus Puzzleteilen die Positiv- und<br />

Negativform einer Katze zusammen.<br />

lbg<strong>12</strong> und lbg13: Das Schattenbild der Katze wird als Positiv- und<br />

Negativform aus dem Fleck erarbeitet, mal ganz klein, dann wieder<br />

in grossem Format.<br />

lbg<strong>14</strong>: Wie ein Bildhauer modellieren die Schülerinnen und Schüler<br />

aus dem Block heraus eine Katze nach Anschauung. Wir arrangieren<br />

weitere Übungen: Ein lineares Bild der Katze, das auf den<br />

Kopf gestellt ist, decken wir langsam auf, währenddem die Kinder<br />

gleichzeitig die Umrisslinien zeichnen. Gemeinsam schauen wir<br />

das Skelett an und überlegen uns, wie die Gelenke funktionieren.<br />

Wir wollen die Bewegungsabläufe verstehen. Daraufhin werden<br />

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72<br />

Gelenke, Schnurrhaare und Augen in die lineare Zeichnung eingefügt.<br />

lbg15–lbg22: Im Tierschutzheim haben wir die Möglichkeit, vor<br />

dem lebenden Tier zu zeichnen.<br />

... und die Landschaft ...<br />

lbg23–lbg25: Anhand von Kunstpostkarten zu Landschaft<br />

thematisieren wir Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Die Kinder<br />

erzählen sich gegenseitig einen imaginären Weg durch eine<br />

Kunstpostkarten-Landschaft und reissen anschliessend die verschiedenen<br />

Schichten in verschiedenen Grautönen. Diese Übung<br />

wiederholen sie mit farbigem Papier in der freien Natur entlang<br />

der Aare, bevor sie dieselbe Situation auch mit Farbe und Pinsel<br />

malerisch umsetzen.<br />

lbg26: Um die raumbildenden Mittel zu verstehen, ordnen die Kinder<br />

verschieden gross kopierte Motive wie Baum, Hund, Mensch<br />

und Zelt auf einem Blatt so zueinander, dass eine zusammenhängende<br />

Landschaft entsteht.<br />

... zum Gestiefelten Kater<br />

Unser Ziel ist es, den gestiefelten Kater aufrecht mit dem Säcklein<br />

über der Schulter durch die Felder und Wiesen zum Schloss wandernd<br />

zu malen.<br />

lbg27 und lbg28: Nachdem sich die Kinder mit dem Märchen<br />

vertraut gemacht haben, spielen sie die Szene: Sie schnüren ihre<br />

Säcklein an Stecken und machen sich auf den Weg zum Schloss.<br />

Dann skizzieren sie Säcklein und Stiefel nach Anschauung, bevor<br />

sie ans Zeichnen einer aufrechten Katze gehen. Dazu dürfen sie jederzeit<br />

Bildmaterial und die ausgestopfte Katze im Nebenzimmer<br />

anschauen gehen, gezeichnet wird aber nach ihren verinnerlichten<br />

Bildern.<br />

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73<br />

Vermittelt<br />

lbg29 und lbg30: Während dem eigentlichen Malprozess setzen<br />

wir uns immer wieder mit konkreten Fragestellungen auseinander.<br />

Wie kann ich das Fell der Katze wiedergeben Wie kann<br />

ich zeigen, dass der Weg zum Schloss durch Wiesen und Hügel<br />

führt Dass es noch eine geraume Weile dauern wird, bis ich beim<br />

Schloss angelangt bin Wir streuen also immer wieder Wahrnehmungsübungen<br />

ein. So tasten die Kinder Fell und versuchen, mit<br />

verschiedenen Werkzeugen Fellstrukturen umzusetzen.<br />

lbg31–lbg33: Wir schauen anhand von Kunstpostkarten unterschiedliche<br />

malerische Lösungen von Blättern, Wiesen, Hügeln<br />

und Bergen an und fragen uns, woher das Licht kommt, welche<br />

Farbe der Schatten hat. Wir ermutigen die Schülerinnen und Schüler<br />

immer wieder, nach eigenen Lösungen zu suchen.<br />

Die dokumentierte Arbeitsreihe erstreckte sich über einen Zeitraum<br />

von 5 Monaten, in unserem Fall bedeutet das 15 Nachmittage<br />

zu 3 Lektionen.<br />

Das Atelier Bildnerisches Gestalten, kurz das Atelier BiG, ist ein<br />

Förderangebot des Departements Bildung, Kultur und Sport des<br />

Kantons Aargau, das im Rahmen der Begabungsförderung von<br />

der Sektion Unterricht realisiert und finanziert wird.<br />

Im Atelier BiG werden Kinder mit hoher Begabung, überdurchschnittlicher<br />

Kreativität und Bereitschaft zu besonderen<br />

Herausforderungen ergänzend zum Schulunterricht im räumlichvisuellen<br />

Bereich gefördert. Wahrnehmungsschärfung und gestalterische<br />

Eigentätigkeit stehen im Vordergrund. Es richtet sich an<br />

Schülerinnen und Schüler von der 3. Primarschulklasse bis zur 4.<br />

Oberstufe. Weitere Informationen sind auf www.ag.ch/bf/de/pub/<br />

regionale foerderangebote/atelier big.php zu finden.<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>


74<br />

Vom Schuh… lbg01<br />

lbg<strong>02</strong><br />

lbg03 bis lbg05<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 74<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:26 <strong>Uhr</strong>


75<br />

Vermittelt<br />

lbg06<br />

lbg07 bis lbg10<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 75<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:27 <strong>Uhr</strong>


76<br />

… über die Katze… lbg11<br />

lbg<strong>12</strong> bis 13<br />

lbg<strong>14</strong><br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 76<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:27 <strong>Uhr</strong>


77<br />

Vermittelt<br />

lbg15 bis lbg22<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 77<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:28 <strong>Uhr</strong>


78<br />

…und die Landschaft… lbg23 bis lbg26<br />

… zum Gestiefelten Kater… lbg27 bis lbg28<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 78<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:29 <strong>Uhr</strong>


79<br />

Vermittelt<br />

lbg29 bis lbg30<br />

lbg31 bis lbg33<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 79<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>


80<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 80<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>


81<br />

Vermittelt<br />

11<br />

Regula Stücheli<br />

Masken: Gestalten und<br />

Spielen<br />

Die Maske als Instrument zur Artikulation des Ich<br />

Allgemein bezeichnet der Begriff «Artikulation» die Ausdrucksformen<br />

des Menschen. Der «Maskenkurs: Gestalten und Spielen»<br />

1 ist ein Beispiel kunstpädagogischer Praxis ausserhalb der<br />

obligatorischen Schulzeit. Den Kindern wurden Materialien und<br />

Methoden zur Verfügung gestellt, um sich als Individuum in der<br />

Gruppe ausdrücken zu können.<br />

Der interdisziplinäre Kurs organisiert vom Schul- und Sportdepartement<br />

der Stadt Zürich fand im April 20<strong>08</strong> an 5 Tagen,<br />

während 6 Stunden mit Pausen und einem Picknick über Mittag<br />

statt. 13 Schülerinnen und Schüler, ab dem dritten bis zum siebten<br />

Schuljahr, haben daran teilgenommen. Von der Idee bis zum<br />

Gebrauch haben die Kinder ihr Maskenobjekt selber gestaltet, wo<br />

nötig mit meiner Hilfe.<br />

Bezug nehmend auf das Thema «Artikulationsformen» lässt sich<br />

folgende These formulieren: Das Kind gestaltet seine Maske und<br />

produziert damit eine neue Identität. Das «Ich» artikuliert sich anhand<br />

eines Maskenobjektes, wie ein Instrument das gespielt werden<br />

kann. Dieser Prozess hat im «Maskenkurs: Gestalten und spielen»<br />

stattgefunden und wird im Folgenden genauer beschrieben.<br />

Einführung und Entwurf<br />

Bevor die Kinder ihre Idee für die Maske entwickelten, führte<br />

ich sie in das kulturgeschichtliche Thema ein. Am ersten Kurstag<br />

betrachteten wir Bildmaterial aus Büchern, z.B. die Masken der<br />

Inuit. Ich erzählte den Kindern von den Ritualen der Inuit, so dass<br />

sie die Bedeutung der Masken und die Rolle der Schamanen im<br />

Überlebenskampf der Naturvölker erahnen konnten. Beispiel: Ein<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 81<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>


82<br />

Schamane der Inuit trägt in einem Ritual die Maske «Negafok»<br />

und kann so angeblich «den Geist der kalten Zeit» besänftigen. 2<br />

Als Überleitung zum Bemalen des eigenen Gesichtes betrachteten<br />

wir verschiedene Figuren der Peking Oper. Wohl, weil sich die<br />

meisten Kinder zu Beginn der Woche nicht kannten, wollten sie<br />

ihre Gesichter nicht anmalen. Am zweiten Kurstag besuchten wir<br />

das Rietbergmuseum. Dort zeichneten die Kinder Abbilder der No-<br />

Masken und afrikanische Masken – mit Bleistift auf Papier. Nach<br />

der theoretischen Einführung zum Thema Masken kam die Entwurfsphase:<br />

Am dritten Kurstag stellte ich den Kindern die Frage<br />

nach dem Gedankenbild, dem Noema ihrer Maske, und forderte<br />

sie auf, den Satz «Ich wollte ich wär…» weiterzudenken. Nachdem<br />

sie ihre Ideen im <strong>Heft</strong> 3 skizzenhaft entwickelt und festgehalten haben,<br />

wussten die meisten wie ihre Maske aussehen sollte.<br />

Produktion und Maskenspiel<br />

Die Kinder modellierten das Tonmodell ihrer Maske. Über den<br />

geformten Ton legten sie nachher eine dünne Plastikfolie, worauf<br />

sie schichtweise Papierfetzen mit Fischkleister aufeinander<br />

klebten. 4 Nachher folgte das Abnehmen der Pappmaché-Schicht<br />

vom Tonmodell. Diesen Schritt erlebten wir «wie eine Geburt» 5 :<br />

Das Hervorbringen einer selbst kreierten Identität. Von diesem<br />

Moment an, können die Kinder ihr Gesicht hinter der Maske verstecken,<br />

sich in ein anderes Wesen verwandeln. Ihr Gedankenbild<br />

wird zum realen, begreifbaren Objekt. Die Rohlarve musste nur<br />

noch bemalt und mit Haaren aus Fell, Wolle, Schnur und Perlen,<br />

Augen etc. ausstaffiert und geschmückt werden.<br />

Die dritte Phase des Prozesses war dem Maskenspiel gewidmet.<br />

Die Kinder wurden aufgefordert, ihre Masken zum Klingen, Sprechen,<br />

Kämpfen, Singen, Spielen und Tanzen zu bringen. Die Masken<br />

stellten Clowns, Hexen, Waldgeister und abstrakte Gesichter<br />

dar. Durch die Bewegung und die Artikulation der Stimme, durch<br />

Musik und Tanz wurden sie zu lebenden Maskengestalten. Die<br />

performativen Ausdrucksformen führten den Gestaltungsprozess<br />

der eigenen Maske über den handwerklichen Entstehungsprozess<br />

des Maskenobjektes hinaus.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 82<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>


83<br />

Vermittelt<br />

Das Objekt zur Artikulation des Individuums, hier die Individualität<br />

der Kinder, ist die Maske. Ähnlich dem Instrument eines<br />

Musikers, der seine individuelle Empfindung durch die Interpretation<br />

des Musikstückes zum Ausdruck bringt, flossen die Empfindungen<br />

der Kinder in das Maskenspiel ein: Wie sie sich fühlen,<br />

was sie aufzeigen möchten, wie sie sein möchten. Z.B. Drei<br />

Freundinnen wollen als solche wahrgenommen werden, weshalb<br />

sie Masken gestalten, die ähnlich aussehen. (Mehr dazu im Abschnitt<br />

«Performance»).<br />

Im gemeinsamen Spiel steigerte die Maske die Wahrnehmung und<br />

Ausdrucksfähigkeit der Kinder. Durch das Verstecken der persönlichen<br />

Identität hinter der Maske, dem gestalteten Anderen,<br />

und im Zusammenspiel mit anderen Maskenwesen verschwanden<br />

Hemmungen und idealerweise auch Verhaltensmuster. Die Kinder<br />

wurden ermutigt, etwas Neues auszuprobieren. Sie konnten<br />

sich selbst neu oder anders erleben, eine neue Identität produzieren.<br />

Dieses Erlebnis teilten sie mit den Zuschauern, ihren Eltern,<br />

Freunden und Geschwistern.<br />

Tanz und Musik<br />

Um der Bewegung und dem Tanzen den Aspekt einer natürlichen<br />

Selbstverständlichkeit zu geben, ermutigte ich die Kinder in Arbeitspausen,<br />

bereits während des handwerklichen Entstehungsprozesses<br />

der Maske, ihre Körper von den Rhythmen einer afrikanischen<br />

Musik-CD in Schwingung bringen zu lassen. Ich forderte<br />

sie zum Tanz auf. Die einen sahen das als lustige Auflockerung;<br />

andere, vor allem Knaben, wehrten sich dagegen. Sie wollten nicht<br />

mittanzen. Wer seine Widerstände überwinden wollte, den lehrte<br />

ich einfache Bewegungsabläufe. In der Improvisation entwickelten<br />

wir ein kleines Tänzchen, das wir dann am Anfang der Aufführung<br />

am Freitag Nachmittag dem Publikum vorführten und dem<br />

wir den Namen «Sonnentanz» gaben.<br />

Die zwei Knaben und ein Mädchen, die nicht tanzten, stellten<br />

sich als Musiker zur Verfügung. Mit Pinsel- und anderen Stielen<br />

trommelten sie auf umgestülpte Plastikbecken und Eierkartons.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 83<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>


84<br />

Performance<br />

Wir probten am letzten Kurstag, kurz vor der Aufführung. Wo<br />

nötig spielte ich die Regisseurin, gab kurze Feedbacks; laut reden<br />

kann für Kinder ganz schön schwierig sein!<br />

Die Aufführung fand am Freitag Nachmittag, draussen auf<br />

dem Pausenplatz statt. Das eingeladene Publikum ist zahlreich<br />

erschienen. Plötzlich ging die Türe des Schulhauses auf. Laut ertönte<br />

die Trommelmusik. Die Maskengestalten kamen eine nach<br />

der anderen und stellten sich zwischen den Trommlern vor dem<br />

Publikum in eine Reihe. Der «Sonnentanz» begann. Je zwei bis<br />

drei Minuten dauerten jeweils die von den Kindern gespielten<br />

Stücke. Den Text für das Zusammenspiel verschiedener Figuren<br />

im Maskenspiel haben sie selber erfunden.<br />

Zuerst kam die «Politikerklinik», in der «Micheline Calmy-Rey<br />

den armen Herr Blocher schön auf das Glatteis führt» 6 . Die Erzählerin<br />

hat den Maskengestalten ihre Rolle gegeben, durch die<br />

Nennung der Namen von bekannten Politikerpersönlichkeiten.<br />

Micheline Calmy-Rey musste plötzlich gebären. Herr Blocher hatte<br />

neben einem Hautausschlag und den zuckenden Bewegungen<br />

auch noch das Bein gebrochen und auch Herr Leuenberger und<br />

Herr Mörgeli spazierten mit zuckenden Bewegungen umher. Es<br />

bestand keine Ähnlichkeit zu den realen Personen. Z.B. wurde<br />

Herr Mörgeli von einer Clownmaske und Herr Leuenberger von<br />

einem Waldgeist gespielt. Die Schauspielerinnen trugen Masken,<br />

die durch ihre frischen Farben eher an die Fasnacht erinnerten<br />

als an den Bundesrat. Dennoch machte wahrscheinlich gerade die<br />

absurde Vermischung zweier Realitätsebenen den Reiz der Sache<br />

aus. Witzig und pointiert erzählte eine Schauspielerin den erfundenen<br />

Text. Die anderen spielten ihre Rolle mit übertriebenen Bewegungen.<br />

Das Publikum lachte.<br />

Das zweite Stück wurde von drei Mädchen gespielt. Sie haben sich<br />

gemeinsam für den Maskenkurs angemeldet und sind befreundet.<br />

Wie bereits erwähnt, haben alle drei ähnliche Masken gestaltet;<br />

einen an traditionelle Appenzeller Fasnachtsmasken erinnernden<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>


85<br />

Vermittelt<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:31 <strong>Uhr</strong>


86<br />

Maskentyp. Sie spielten, teils mit Arabertüchern umhüllt, eine<br />

freundschaftliche Begegnung dreier Figuren, die nach der richtigen<br />

Bezeichnung für ein kleines Ding suchen. Am Anfang reden zwei<br />

der Figuren auf dem Boden sitzend in Kauderwelsch miteinander<br />

und wetteifern später im Stehen mit rhythmischen Wortfolgen:<br />

«mischermän, zischermän, pischermän... zi-zi-zischermän mi-mimischermän...»<br />

Bis die dritte Figur dazustösst und das gesuchte<br />

Etwas, eine kleine Dose mit der Aufschrift «Fisherman» aus dem<br />

Hosensack hervorholt. Ein Aha-Erlebnis folgt und die Schauspielerinnen<br />

sprechen im Chor das gesuchte Wort laut aus.<br />

Das dritte und letzte Stück wurde von zwei Mädchen aufgeführt,<br />

die sich kurz vor der Aufführung spontan zusammengefunden<br />

haben. Mit unterschiedlichen, aber auffallend schönen Masken,<br />

spielten sie eine Begegnung von zwei Figuren. Beide Mädchen waren<br />

in schwarz gekleidet 7 . Zuerst gingen sie von beiden Seiten des<br />

Bühnenraumes her kommend aufeinander zu und trafen sich in<br />

der Mitte, wo sie sich begrüssten. Die eine Figur zeigte der anderen<br />

ihre schöne Kette, worauf diese meinte, so eine hätte sie<br />

auch gerne. Nach dieser Bemerkung verabschiedeten sie sich und<br />

gingen auseinander. Kurz darauf kam die Besitzerin der Kette triumphierend<br />

dahergehüpft. Sie sang: «E-i-n-e s-c-h-ö-n-e K-e-t-t-e,<br />

la la la…» ihren Schatz mit den Händen in die Höhe haltend. Die<br />

Freude war von kurzer Dauer, denn unbemerkt näherte sich die<br />

andere Figur und nahm ihr die Kette aus den Händen. Worauf<br />

diese jammerte und weinte. Bald darauf kam die Diebin wieder<br />

zurück und gab ihr, sich entschuldigend, die Kette zurück.<br />

Das Publikum applaudierte. Die Performance war am Ende<br />

und somit auch der intensiv erlebte 8 Ferienkurs. Ich habe die mit<br />

den Kindern gemeinsam verbrachte Zeit sehr genossen. Ihre sprudelnde<br />

Kreativität hat Form angenommen. Stolz durften alle zum<br />

Schluss ihre Maske nach Hause tragen.<br />

Schluss<br />

Wenn ich heute, mit grösserer Distanz, die Videodokumentation<br />

der Aufführung ansehe, fällt mir auf, wie die Masken nicht<br />

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87<br />

Vermittelt<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:32 <strong>Uhr</strong>


88<br />

im Hinblick auf einen bestimmten Text, eine Figur oder Szene,<br />

gestaltet worden sind. Dies im Unterschied zu den meisten Maskenbräuchen,<br />

wie die Fasnacht. Und im Unterschied zum Theater,<br />

wo die Bedeutung der Figuren, Masken oder Rollen meistens im<br />

Voraus festgelegt wird. Mit ihrer Phantasie haben die Kinder eine<br />

Maske und später eine Figur geschaffen. Von einer bildhaften Idee<br />

ausgehend haben sie ihre Maske gestaltet. Meiner Meinung nach<br />

hat dieses Vorgehen, zuerst die Maske und dann den Text für das<br />

Zusammenspiel, eine künstlerische Qualität ermöglicht: Die Maskengestalten<br />

waren phantasievoll, kindlich kreativ. Und die Kinder<br />

wirkten während dem Maskenspiel auffallend unbefangen.<br />

Wahrscheinlich, weil sie die Stücke zur Hauptsache in Eigenregie<br />

erfunden und entwickelt haben. Die Atmosphäre während der<br />

Performance war lustvoll und wirkte authentisch.<br />

Das Vorgehen «Masken gestalten und spielen» ermöglichte den<br />

Kindern fürs Maskenspiel eine Figur oder Identität zu schaffen,<br />

die nicht mit dem Noema der Maske identisch war. Am besten ist<br />

dieser Aspekt beim Stück «Politikerklinik» nachvollziehbar. Auf<br />

der visuellen Ebene waren weder die Schauspielerinnen noch die<br />

Bundesrätin und Bundesräte erkennbar. Die Freundinnen wurden<br />

zu fast identischen Figuren usw. Die Maske ermöglichte den Kindern,<br />

in die Rolle von jemand anderem zu schlüpfen. Aus dieser<br />

Freiheit heraus, wurden die drei unterschiedlich prägnanten<br />

Stücke geschaffen.<br />

Der beschriebene Gestaltungs- und Darstellungsprozess bestätigt<br />

somit die These:<br />

Das Kind gestaltet seine Maske und produziert eine neue Identität.<br />

Die Maske ist ein Objekt, wie ein Instrument, das gespielt<br />

werden kann: Das «Ich» artikuliert sich anhand eines Maskenobjektes<br />

und kann sich vorübergehend neu definieren.<br />

Biografie: Regula Stücheli, (geb. 1963), Kunstpädagogin/Künstlerin an Schulen und freischaffend<br />

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89<br />

Vermittelt<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Titel der Kursausschreibung<br />

2<br />

«Eskimomasken aus Alaska», S. 182f, Edition Amez, Saint-Vit (France), 1993<br />

3<br />

Die Skizzenhefte wurden von den Kindern am Anfang des Kurses selber hergestellt.<br />

4<br />

Dieses vereinfachte skulpturale Vorgehen, ohne Negativform, ist für Maskenarbeiten mit<br />

Kindern empfehlenswert.<br />

5<br />

Diese Aussage der Kursleiterin wurde von mehreren Kursteilnehmern spontan aufgegriffen<br />

und wiederholt angewendet.<br />

6<br />

Aussage der Erzählerin am Schluss des Stückes<br />

7<br />

Die Kostüme haben die Kinder am letzten Kurstag von zu Hause mitgenommen.<br />

8<br />

Die Feedbacks der Eltern und Kinder waren positiv bis begeistert.<br />

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91<br />

Vermittelt<br />

<strong>12</strong><br />

Katja Büchli<br />

Was bleibt Was bleibt.<br />

Forschende Diplomarbeit zu Erinnerungen an<br />

ästhetische Erfahrungen.<br />

Fragestellung<br />

Was bleibt, wenn der Unterricht zu Ende ist, die Schülerinnen und<br />

Schüler sich wieder im Meer der vielen gymnasialen Fächer bewegen,<br />

wenn neue Eindrücke, neues Wissen, der Alltag – essen,<br />

schlafen, laufen, schauen, sprechen, trinken, kochen, lieben – die<br />

gemachten ästhetischen Erfahrungen überlagern<br />

Die Vorüberlegungen zu einer Unterrichtseinheit sind oftmals<br />

sehr reichhaltig und komplex und die Lernziele hoch gesteckt. In<br />

meiner Diplomarbeit an der pädagogischen Hochschule in Bern<br />

am Institut Sek II interessierte mich: Was wirkt nach Welche Bilder,<br />

Erinnerungen, Assoziationen sind auch noch Wochen später<br />

bei den Schülerinnen und Schülern präsent Was ist mit den gemachten<br />

ästhetischen Erfahrungen passiert Finden sie Einzug in<br />

den Alltag, in das gestalterische Tun der Jugendlichen und vielleicht<br />

sogar in andere Fächer<br />

Ausgangspunkt: Doppellektion zum Thema Farbherstellung<br />

Als Untersuchungsgegenstand diente eine Doppellektion mit 20<br />

Schülerinnen und Schüler einer Quarta am Gymnasium Hofwil<br />

in Münchenbuchsee. Das grosse Themenfeld der Farbherstellung<br />

und Farbverarbeitung wurde in einer Laborsituation angegangen.<br />

Im Zentrum stand das eigene Erforschen, Entdecken und Erfahren<br />

der Schülerinnen und Schüler.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 91<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:32 <strong>Uhr</strong>


92<br />

Die räumliche Ausgangsituation gestaltete sich wie folgt: In der<br />

Mitte des Schulzimmers lag unter einem Tuch versteckt ein Farbkreis<br />

aus Pflanzen, Blumen, Gemüse, Früchten und anorganischen<br />

Materialien. Vier Labortische mit Mörsern, Palettenmessern,<br />

Glasplatten, Herdplatten mit Pfannen, Pinseln, verschiedenen<br />

Bindemitteln, Sieben, Hämmern, Gläsern und Löffeln standen<br />

zur Verfügung.<br />

Als Einstieg sollten die Schülerinnen und Schüler versuchen,<br />

aus einem mit gelben Flechten überwachsenem Stück Holz mit<br />

Hilfe von Mörser, Hammer und Wasser die Farbe Gelb auf Papier<br />

zu bringen. Nach dem Erfahrungsaustausch im Plenum folgte ein<br />

kurzer Vortrag zum Gebrauch von Erdfarben in den Höhlenmalereien<br />

bis hin zu den Arbeiten der Gegenwartskünstlerin Elisabeth<br />

Arpagaus. Ebenso wurde die Herstellung und der Gebrauch der<br />

Farbe Blau in den vergangenen Jahrhunderten in Bild und Text<br />

erläutert. Durch Vorzeigen erhielten die Schülerinnen und Schüler<br />

nach dem Theorieteil das nötige praktische Grundwissen zur Herstellung<br />

von Eitempera sowie zum Anmischen von Pigmenten mit<br />

Acryl, Kleister und Öl. In vier Teams erarbeiteten sich die Schülerinnen<br />

und Schüler anschliessend selbständig und eigenverantwortlich<br />

die Möglichkeiten der Farbherstellung, in dem ihnen zugeteilten<br />

Farbspektrum des Farbkreises (Bilder 1 und 2). In einem<br />

Laborprotokoll sowie auf Papier- und Stoffstreifen wurden die<br />

Experimente festgehalten und am Schluss der Klasse präsentiert.<br />

Forschungsanlage<br />

Die Doppellektion ist durch den Umstand, dass sie zugleich eine<br />

Prüfungslektion war, von zwei Personen sehr gut fotografisch<br />

dokumentiert worden. Sechs Wochen nach der Lektion wurden<br />

zusätzlich vier Interviews durchgeführt. Zwei dieser Interviews<br />

wurden vor der verbalen Befragung mit einer gestalterischkünstlerischen<br />

Aufgabe ergänzt. Eine Schülerin und ein Schüler<br />

durften vor den Interviews mit einer Auswahl der in der Lektion<br />

verwendeten Materialien fünf Minuten weiterarbeiten. Diese<br />

gestalterisch-künstlerischen «Interviews» waren ein Versuch, das<br />

Hervorholen der Erinnerungen an die Lektion zu verstärken und<br />

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93<br />

Vermittelt<br />

den praktisch gemachten Erfahrungen mit einer adäquaten Interviewform<br />

zu begegnen.<br />

Alle vier Interviews waren von der Frage geleitet, woran sich<br />

die Schülerinnen und Schüler erinnern, wenn sie an die Doppellektion<br />

zurückdenken. Nach der Transkription ab Video und dem<br />

Vergleich der Interviews wurde die Forschungsfrage in acht Teilgebieten<br />

weiterverfolgt. Neben dem «Was» wurde auch das «Wie»<br />

des Sprechens und Handelns miteinbezogen und die Recherche zu<br />

den acht Gebieten in den Interviews wie auch im Bildarchiv der<br />

Lektion betrieben. Die in den gestalterischen Vorinterviews beobachteten<br />

Arbeitsabläufe und die entstandenen Arbeiten wurden<br />

schlussendlich für diese Arbeit nicht verwendet.<br />

Auszug und Einblick<br />

Die folgenden Kapitel geben Einblick in drei der acht Teilgebiete.<br />

Das erste Kapitel «Wieder holen: am Sonntagstisch die Farben riechen»<br />

sammelt verschiedene Auslöser, die zu einer Erinnerung führen<br />

können und zeigt dabei, wie eng die Verknüpfung von visueller<br />

und olfaktorischer Wahrnehmung sein kann. «Auf- und entdecken:<br />

Handlung» beschäftigt sich mit Gesten des Vorzeigens, sowie auch<br />

mit gestisch unterstützten Nacherinnerungen der Schülerinnen und<br />

Schüler. Als drittes Kapitel geht «Gruppenbild: was bleibt» auf die<br />

Erinnerungen an die verschiedenen Sozialformen ein.<br />

Wieder holen: am Sonntagstisch die Farben riechen<br />

Mit dem Wiederaufgreifen von Handlungen aus der Lektion sollte<br />

in den gestalterisch-handelnden Interviews das (später verbalisierte)<br />

Erinnern erleichtert werden. Der Schüler, welcher nachstehende<br />

Aussage macht, hat im gestalterisch handelnden Interview als<br />

erstes Kaffeebohnen im Mörser zerstossen und mit ihnen gemalt.<br />

Ich habe zuerst mit den zwei Brauntönen angefangen, und mir<br />

ist noch in Erinnerung geblieben, dass wenn man sie nachher<br />

mit Acryl vermischt, dass sie so bläulich werden oder violett,<br />

aber ich wusste nicht mehr, dass, wenn man sie nachher aufs<br />

Blatt aufträgt, dass sie nachher wieder braun werden.<br />

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94<br />

Der Schüler spricht hier von zwei Brauntönen, die aus Erde und<br />

aus Kaffeebohnen entstanden sind. Besonders aufgefallen und<br />

wohl deshalb in Erinnerung geblieben ist ihm die farbliche Veränderung<br />

durch Hinzumischen des Acrylbinders. Dass sich die<br />

Farbe abermals verändert, wenn sie auf dem Papier ist und trocknet,<br />

hatte er allerdings vergessen. Gefragt nach der Wirkung der<br />

gestalterischen Aufgabe für den Erinnerungsprozess sagt er:<br />

Ich denke, das war auch, damit das uns wieder etwas näher<br />

ist, dass man wieder mehr bereit ist im Kopf, und dass wir uns<br />

wieder besser an das erinnern. Ich denke, alle haben sicher jetzt<br />

mit den Sachen, die sie gehabt haben, etwas gemacht, das ihnen<br />

geblieben ist und haben nicht zuerst etwas anderes gemacht.<br />

Und ich denke, hier konnte man auch gleich sehen, welche Farbgruppe<br />

die einzelnen hatten, weil, wenn jemand die Grüntöne<br />

hatte, hätte er hier wohl kaum nur Brauntöne genommen.<br />

Dass er die Brauntöne gebraucht hat, liegt nach seiner Erklärung<br />

demnach darin, dass dieser Schüler bereits in der Lektion mit diesen<br />

Farben und Materialien gearbeitet und somit auf Bekanntes<br />

zurückgegriffen hat.<br />

Wie können Erinnerungsprozesse ausserhalb von bewusst inszenierten<br />

Wiederholungen ausgelöst werden Selten bleibt im<br />

Unterrichtsalltag die Zeit, dieser Frage konkret nachzugehen.<br />

Der Schüler, welcher während des Unterrichts und im gestalterisch-handelnden<br />

Interview die Kaffeebohnen ausgewählt hat,<br />

schilderte eine eindrückliche Assoziationskette.<br />

Haben Sie irgendeinmal nochmals an die Doppellektion gedacht<br />

Wenn ja, wo und warum<br />

Ja, ich glaube, die Lektion war an einem Freitag und an einem<br />

Sonntagmorgen oder so haben meine Eltern einen Kaffee<br />

getrunken und dann hat es nach Kaffeebohnen gerochen, und<br />

dann habe ich eben daran gedacht, dass diese blau geworden<br />

sind, und dass mich das wirklich erstaunt hatte.<br />

Der Geruch der Kaffeebohnen, der in einer komplett anderen Situation<br />

während des Frühstücks wieder bemerkt wurde, löste eine<br />

ganze Bilder- und Gedankenkette aus. Vom Geruch zur Farbe des<br />

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95<br />

Vermittelt<br />

Pigmentes, hin zur farblichen Veränderung während der Verarbeitung<br />

mit Acryl und schlussendlich zur emotionalen Reaktion des<br />

Erstaunens. Der letzte Teil dieser Kette, die abermalige Veränderung<br />

der Farbe nach dem Auftragen auf Papier, fehlt auch hier in<br />

der Erinnerung.<br />

Hans Dietrich Huber stellt in seinem Aufsatz «Die Sinnlichkeit<br />

des Wissens» fest, «dass bei der Geschmackserinnerung sowohl das<br />

Geruchssystem wie das Sehsystem zusammenarbeiten. […]. Das<br />

Zusammenwirken verschiedener modalitätsspezifischer Gedächtnissysteme<br />

erhöht die Zuverlässigkeit der Erinnerung und des Wissens<br />

auf enorme Weise.» 1 Es kann umgekehrt angenommen werden,<br />

dass auch bei der Bilderinnerung andere Gedächtnissysteme<br />

mitspielen, und dadurch die Bilderinnerung verstärken. Es ist keine<br />

neue Erkenntnis, dass die Aktivierung verschiedener Sinne die<br />

Lernleistungen erhöht. Es sind jedoch nicht nur eigene sinnliche Erfahrungen<br />

in einem anderen Zusammenhang wieder aufgetaucht.<br />

Eine Schülerin hat sich während ihres Konfirmationslagers wieder<br />

an den theoretischen Input der Doppellektion erinnert.<br />

Haben Sie nach dieser Lektion irgendeinmal nochmals an diese<br />

gedacht<br />

Ja (unvermittelt). Also, jetzt immer wenn ich mit Farbe arbeite,<br />

dann muss ich schon an das denken, aus was das entsteht und Sie<br />

haben ja auch erzählt, aus was Blau gemacht wird, aus Steinen.<br />

Wir waren im Konfirmationslager an einer Führung in einem alten<br />

Schloss und dort haben sie eben gesagt, dass das Blau aus den<br />

Steinen gemacht wurde, und dass es vermutlich teuer war. Und<br />

das kam mir dann wieder bekannt vor. Das mit den Steinen.<br />

Auch eine andere Schülerin konnte die Erfahrungen mit dem Bindemittel<br />

Eitempera mit ihrem Alltag verknüpfen und dadurch bestätigen:<br />

Mit Eigelb wurde die Farbe glänzend, weil man ja auch den<br />

Zopf mit Eigelb bestreicht.<br />

Wenn es gelingt, den Lerninhalt so zu vermitteln, dass er im Alltag<br />

wieder zum Thema werden kann, erhalten wir eine «gratis»-<br />

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96<br />

Bild 1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5 6<br />

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97<br />

Vermittelt<br />

7<br />

8<br />

9<br />

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98<br />

Repetition des Stoffes. Nicht nur durch den bewussten Bezug zur<br />

Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler während des Unterrichts,<br />

sondern auch durch einen direkten Eingriff in den Alltag kann diese<br />

Verknüpfung hergestellt werden. Hausaufgaben können, was schon<br />

im Begriff selber steckt, das Haus, den ausserschulischen Bereich,<br />

mit dem Schulstoff verbinden.<br />

Gerade im Bildnerischen Gestalten eignet sich das Führen eines<br />

Tage- oder Skizzenbuches hervorragend als Werkzeug dafür. Andrea<br />

Sabisch sieht im Tagebuch den Vorteil, dass jeden Tag wieder<br />

neu angefangen werden kann, die Methoden der Aufzeichnung<br />

gewechselt, Dinge verworfen werden können. 2 «Zudem erlaubt<br />

der Massstab ‹Tag› Bezug zum Alltagsleben. Anschluss an autobiografische<br />

Erfahrungsräume ist für Lehr- und Lernprozesse besonders<br />

wichtig.» 3 In ästhetischer Forschung dienen Tagebücher<br />

gemäss Sabisch also «nicht bloss als Registrierinstrumente, in die<br />

man etwas einträgt. Stattdessen werden sie als Instrumente eingesetzt,<br />

um das Suchen und Forschen voranzutreiben.» 4<br />

Helga Kämpf-Jansen spricht in diesem Zusammenhang treffenderweise<br />

von sichtbar gemachter Wissensorganisation, in der<br />

vorhandene Erfahrungen dokumentiert, reflektiert und kommuniziert<br />

wie auch neue generiert werden können. 5<br />

Damit die Schülerinnen und Schüler die Form des Tage- und<br />

Skizzenbuches auch wirklich einsetzen können, scheinen kompakte<br />

Zeitfenster für diese Aufgabe sinnvoll.<br />

Auf- und entdecken: Handlung<br />

Als Schlussbild erhielten die Schülerinnen und Schüler ein Bild mit<br />

Wolfgang Laib inmitten von gelber Farbe. Auf der aufklappbaren<br />

Rückseite war ein Löwenzahnfeld zu sehen. Nun galt es herauszufinden,<br />

womit Wolfgang Laib hier arbeitet. Erst nach dieser<br />

gedanklichen Aufgabe durften die Schülerinnen und Schüler das<br />

Bild mit dem Löwenzahnfeld aufklappen. Der Moment des Aufklappens<br />

ist der Schülerin im verbal handelnden Interview sichtlich<br />

in Erinnerung geblieben (siehe Bilder 3 und 4).<br />

Im Moment blüht der Löwenzahn. Können Sie sich daran erinnern,<br />

inwiefern dieser einen Bezug zur Lektion hat<br />

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99<br />

Vermittelt<br />

Also, ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob das auf dem Aufklappbild<br />

gewesen ist, oder ob das andere Blumen waren.<br />

Sie meinen das Bild vom Schluss<br />

Ja, einfach das Bild, wo man einen Mann sieht, der malt und<br />

dann kann man so aufklappen und nachher sieht man so<br />

Blumen. Aber ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob das diese<br />

gewesen sind.<br />

Die Schülerin stellt mit ihren beiden Händen den Moment des Aufklappens<br />

dar, als sie sich im Interview an das Bild erinnert. Das<br />

Bild mit Wolfgang Laib wird zum Aufklappbild, die Bezeichnung<br />

bezieht sich auf die Handlung der Schülerin und nicht auf den Inhalt<br />

des Bildes. Schlüsselbild ist hier die Bewegung der Betrachterin.<br />

Eine andere Schülerin bezeichnet das Bild als «Zettel».<br />

Am Schluss haben Sie noch so einen Zettel verteilt, auf dem ein<br />

Künstler noch etwas mit Gelb gemacht oder etwas gemalt hat<br />

und das war vermutlich alles aus Löwenzahn.<br />

Die Bezeichnungen «Zettel» und «Aufklappbild» weisen auf die<br />

unterschiedliche Wertung des Bildes hin. Es bleibt die Frage, inwiefern<br />

das Bild als Projektion und ohne handelndes Dazutun der<br />

Schülerin in Erinnerung geblieben wäre. Durch das kurzfristige<br />

Vorenthalten von Bildern entsteht ein Moment der «Spannung<br />

und Überraschung, [der] ein Staunen vor dem wahrgenommenen<br />

Phänomen auslösen [kann]» 6 . Dies ist nach Georg Peez eine der<br />

Voraussetzungen für eine ästhetische Erfahrung.<br />

Die prägende Wirkung solcher ‹Aufdeckaktionen› ist auch in der<br />

folgenden Passage und den Bildern (Bilder 5–9) beobachtbar:<br />

Also ich kann mich noch sehr gut an den Tisch erinnern, mit<br />

den Esswaren und den Naturprodukten, irgendwie, es war so,<br />

als Sie das abgedeckt haben (macht Abdeckbewegung mit den<br />

Händen), das war zuerst so krass (betont dies mit gespreizter<br />

geöffneter linker Hand). So der Farbkreis und die Farben.<br />

Das gespeicherte Bild von der Auf- und Entdeckung des Farbkreises<br />

bedarf bei der Verbalisierung einer unterstützenden Bewegung<br />

mit den Händen. Während das Aufdecken 1:1 mit den Hän-<br />

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100<br />

den nachgespielt wird, visualisiert die Schülerin den Moment des<br />

Erstaunens mit der visuell starken Gestik der gespreizten Hand,<br />

die auch körperliche Spannung und Energie impliziert. Die Kraft<br />

des Überraschungsmomentes, im Interview verbal bezeichnet<br />

durch «krass», kommt klar zum Ausdruck.<br />

In beiden Fällen ist das Vorenthalten eines Bildes kombiniert mit<br />

der Performance des Aufdeckens entscheidend für die präsenten<br />

Erinnerungen. Obwohl das Bild von Wolfgang Laib bei der Arbeit<br />

nicht gross gemeinsam besprochen und betrachtet wurde und<br />

für die Frage nach der Herkunft der Farbe von Laib knapp drei<br />

Minuten eingesetzt wurden, ist das Bild in der Erinnerung der<br />

Schülerinnen und Schüler haften geblieben. Der materielle wie<br />

auch zeitliche Aufwand für die Schaffung solcher Momente kann<br />

durchaus sehr klein gehalten werden.<br />

Gruppenbild: was bleibt<br />

Viele Interviewpassagen belegen es: Bilder von der Klasse beim<br />

Arbeiten bleiben bei den interviewten Schülerinnen und Schülern<br />

in starker Erinnerung. Gefragt an welche Aspekte der Doppellektion<br />

sie sich noch erinnern kann, erwähnt folgende Schülerin<br />

als erstes die Gruppenarbeit und das Team. Sie erinnert sich an<br />

Gespräche über die Vorgehensweise.<br />

Also das eifach so d groppearbeit, s team, eifach so metenand z<br />

diskutiere, was me no alls chönti mache het mer uu gfalle, ond<br />

eifach so experimentiere met dene natürliche sache, aso d fröcht<br />

ond gmües ond, eifach so, hani u cool gfonde dass me das o met<br />

natürliche sache cha mache.<br />

Immer wieder wird auch betont, dass die Lust und der Spass an<br />

der Sache sich auch in der Arbeitshaltung positiv gezeigt haben.<br />

Ich hatte den Eindruck, dass alle sehr an der Arbeit waren, aber<br />

es war trotzdem sehr locker und man war nicht so verkrampft, also<br />

man konnte auch noch miteinander sprechen, aber man hat trotzdem<br />

noch die Arbeit geleistet, also es war nicht so, dass man nur<br />

noch im Team miteinander gesprochen hat und beispielsweise drei<br />

in der Gruppe diskutiert haben und der vierte alles gemacht hätte.<br />

Ich hatte den Eindruck, es war etwa bei allen gleich, dass alle ihre<br />

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101<br />

Vermittelt<br />

Sache dazu beigetragen haben, es hat einfach gestimmt, finde ich, es<br />

war sehr spassig, und es war trotzdem nicht zu laut, so dass man gut<br />

nachdenken konnte.<br />

Die Arbeitsbeteiligung aller wird nebst der konstruktiven Arbeitsatmosphäre,<br />

dem Spass, dem Gruppenzusammenhalt und dem<br />

Staunen über die Arbeitsergebnisse auch in folgendem Interview<br />

angesprochen.<br />

Die (Arbeitsatmosphäre) fand ich sehr schön. Weil sich alle so<br />

voll darauf eingelassen und sich darauf konzentriert haben. Und<br />

sie hatten auch alle Spass daran, hatte ich das Gefühl. Und eben<br />

so das miteinander Arbeiten. Und keiner war ausgeschlossen<br />

davon. Alle haben mitgemacht. Und waren anschliessend alle,<br />

so glaube ich, erstaunt gewesen, was man alles mit solchen Farben<br />

herstellen und kochen kann. Ich glaube, es hat einfach für<br />

alle «gfägt» (Spass gemacht).<br />

Auch in den anderen Interviews wird die Gruppenarbeit stark betont.<br />

Bei der Frage, woran sie sich in zehn Jahren mutmasslich<br />

noch erinnern wird, meint eine Schülerin:<br />

Ich weiss es nicht so genau. Vermutlich einfach so das Schlussbild,<br />

als wir alle Farben hatten, oder vielleicht auch nur das<br />

Tomatenpüree, aber ich weiss nicht, ob ich mich in zehn Jahren<br />

noch daran erinnern kann. Oder einfach so, vielleicht sehe ich<br />

einfach noch die ganze Gruppe vor Augen. Und das Blatt, auf<br />

das wir geschrieben haben.<br />

Neben dem gestalterischen Schlussbild, dem gebrauchten Material<br />

und dem Farbforschungsprotokoll bleibt dieser Schülerin ein<br />

spezifisches Bild der Gruppe in Erinnerung: «Einfach die ganze<br />

Gruppe sehe ich vielleicht vor den Augen».<br />

Die gut organisierte Lernsituation in Form von Gruppenarbeiten<br />

scheint in dieser Doppellektion von grossem Wert gewesen<br />

zu sein. Die eigenverantwortliche Organisation der verschiedenen<br />

Aufgaben und Arbeitsschritte durch die Gruppe, der dazu notwendige<br />

Austausch der Erfahrungen und der Ansporn, Neues<br />

entdecken und kommunizieren zu können, hat zu einer beeindruckenden<br />

Arbeitsleistung der Schülerinnen und Schüler geführt.<br />

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1<strong>02</strong><br />

Der zeitliche Aufwand der Lehrperson für die Inszenierung einer<br />

solchen Laborsituation für 20 Schülerinnen und Schüler ist<br />

unbestritten gross. Trotzdem darf und soll das Schaffen solcher<br />

Umgebungen im Unterrichtsalltag Platz haben. Durch die Zusammenarbeit<br />

in der Fachschaft und die Wiederverwendung des Labors<br />

in mehreren Klassen lässt sich der Aufwand für die einzelne<br />

Lehrperson reduzieren.<br />

Fazit<br />

Wenn Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Fragen nachgehen<br />

können, bleibt in kurzer Zeit erstaunlich vieles hängen. Wir müssen<br />

unseren Schülerinnen und Schülern handelndes und selbstbestimmtes<br />

Forschen im schulischen Kontext ermöglichen. Das Fach<br />

«Bildnerisches Gestalten» kann durch anregende Forschungsumgebungen<br />

in Atelier-, Labor- oder Werkstattsituationen Kompetenzen<br />

fördern, die fachübergreifend in sämtlichen Forschungsbereichen<br />

von essentieller Bedeutung sind:<br />

>> geschärfte Wahrnehmung von Dingen, Phänomenen und<br />

Handlungen in unserer Umwelt.<br />

>> umfassende Wahrnehmung derselben durch gebildete Hör-, Seh-,<br />

Tast- und Riechsinne.<br />

>> die Fähigkeit, sich mit einer aktiven und fragenden Haltung<br />

Neuem zuzuwenden.<br />

>> die Fähigkeit, forschend Grenzen zu überschreiben.<br />

>> gestalterische und verbale Ausdrucksfähigkeiten.<br />

>> die Fähigkeit, Forschungsfragen zu finden und zu präzisieren.<br />

Wie lange die gemachten Erfahrungen in der Erinnerung der<br />

Schülerinnen und Schüler bleiben, hängt schlussendlich damit zusammen,<br />

wie und wie oft diese wieder aktiviert werden können.<br />

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, dies zu tun. Wichtig ist, dass<br />

die Lektionsinhalte immer wieder untereinander verknüpft und<br />

vernetzt werden, so dass die Erfahrungen und Kompetenzen spiralförmig<br />

wachsen können.<br />

Mentorin: Katharina Bütikofer, Praktikumslehrer: Christian Schneider<br />

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103<br />

Vermittelt<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Huber 2007, S. 326.<br />

2<br />

Sabisch 2006, S. 188.<br />

3<br />

Sabisch 2006, S. 188.<br />

4<br />

Sabisch 2006, S. 189.<br />

5<br />

Kämpf-Jansen 2001.<br />

6<br />

Aussage von Georg Peez am Forschungstag der HKB/PHBern am 1.3.<strong>08</strong>.<br />

Bildnachweis<br />

Katharina Bütikofer, Christian Schneider, Katja Büchli<br />

Literaturangaben<br />

Huber 2007<br />

Huber, Hans Dietrich, Die Sinnlichkeit des Wissens, in: Niehoff, Rolf, Wenrich, Rainer (Hrsg.), Denken und<br />

Lernen mit Bildern. Interdisziplinäre Zugänge zur Ästhetischen Bildung. München: kopaed, 2007. S. 321 – 332.<br />

Kämpf-Jansen 2001<br />

Kämpf-Jansen, Helga, Aesthetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft – Zu einem innovativen<br />

Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Salon Verlag, 2001.<br />

Sabisch 2006<br />

Sabisch, Andrea, Am Anfang steht eine Frage. Das Tagebuch in der Ästhetischen Forschung in: Seydel, Fritz<br />

(Hrsg.), Über Ästhetische Forschung. Lektüre zu Texten von Helga Kämpf-Jansen. München: Schriftreihe<br />

Kontext Kunstpädagogik, 2006.<br />

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105<br />

Vermittelt<br />

13<br />

Flavia Keller<br />

Zwei zeichnerische<br />

Haltungen<br />

Eine Untersuchung<br />

Der folgende Text basiert auf meiner Bachelorarbeit, verfasst am Studiengang für Vermittlung in Kunst und<br />

Design, Hochschule der Künste Bern, Juni 20<strong>08</strong>. Mentorin: Béatrice Gysin, Mentorin Theorie: Sarah Schmidt<br />

Zeichnen aus der Vorstellung und Zeichnen nach Anschauung<br />

sind unterschiedliche zeichnerische Haltungen. Im Rahmen meiner<br />

Bachelorarbeit ging ich den Verschiedenheiten dieser zwei Ansätze<br />

nach und untersuchte über die eigene zeichnerische Tätigkeit<br />

diese unterschiedlichen Positionen. Die theoretische Arbeit diente<br />

der Vertiefung und Reflexion der zeichnerischen Erkundung. Im<br />

ersten Teil beleuchtete ich verschiedene Bereiche, in denen die<br />

Zeichnung zeichnend erforscht wird. Ich ging auf künstlerische<br />

Positionen ein, die sich zeichnend mit dem Medium oder mit dem<br />

Arbeitsprozess auseinandersetzen. Weiter ging ich der Vermutung<br />

nach, dass das Zeichnen durch die Nähe zum Denkprozess ein geeignetes<br />

Werkzeug für die Visualisierung von Überlegungen, Ideenfindung<br />

und Erforschen des eigenen Tuns darstellt. Im zweiten<br />

Teil setzte ich mich in einem Erfahrungsbericht mit meiner eigenen<br />

zeichnerischen Tätigkeit auseinander. Es ging mir darum, die<br />

über das Zeichnen gemachten Erfahrungen zu sammeln und dabei<br />

ausblickend Rückschlüsse für die Vermittlung zu ziehen. Für viele<br />

Menschen ist eine gute, richtige Zeichnung eine möglichst naturalistische<br />

Abbildung. Es ist mir ein Anliegen, das Zeichnen aus<br />

der Vorstellung, welches sich nicht direkt an der äusseren Erscheinungswelt<br />

misst, aufzuwerten. Der folgende Beitrag zeigt eine<br />

Auswahl an Zeichnungen aus der entstandenen Serie sowie einen<br />

Auszug aus der Theoriearbeit.<br />

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106<br />

Versuchsanordnung<br />

Ich untersuche zwei unterschiedliche zeichnerische Haltungen.<br />

Indem ich aus der Vorstellung und nach Anschauung zeichne,<br />

stelle ich Gesehenes und Erfundenes einander gegenüber. Dabei<br />

stehen innere und äussere Realitäten gleichwertig nebeneinander.<br />

Der Kern der Arbeit bildet die Frage, inwiefern sich diese zwei<br />

Haltungen unterscheiden und worin die Gemeinsamkeiten liegen.<br />

Als Zeichenmittel wähle ich einen weichen Bleistift. Menschen<br />

sind mein Sujet. Für die Zeichnungen nach Anschauung verwende<br />

ich Bildmaterial aus dem Internet, aus Fotobänden oder aus der<br />

Presse. Indem ich Menschen, gezeichnet nach Anschauung und<br />

aus der Vorstellung, zusammen auf ein Blatt setze, begegnen sich<br />

Fantasie und Wirklichkeit. In dieser Konstellation entstehen Erzählräume.<br />

(8 Zeichnungen, siehe folgende Seite)<br />

Zeichnerisch Denken<br />

Bereits in der Renaissance wird mit der Intellektualisierung und<br />

Aufwertung der künstlerischen Tätigkeit und der Einführung der<br />

Begriffe «Disegno interno» und «Disegno externo» die Zeichnung<br />

mit künstlerischer Intention und Denkprozess in Verbindung gebracht.<br />

1 Die Zeichnung wird zum Inbegriff der Idee, was bis heute<br />

noch gilt. «Zeichnen ist eine Form von Denken. Aber nicht in<br />

Form von Transkription wie das Schreiben, sondern ein Formulieren<br />

des Denkens selbst im Augenblick, in dem es sich in ein<br />

Bild übersetzt.» 2 Damit kann das Zeichnen als Tätigkeit mit der<br />

Ideenfindung verglichen werden. Heinrich von Kleist beschreibt<br />

in seinem Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken<br />

beim Reden den Ideenfindungsprozess, indem er schildert,<br />

wie der Redner über das Sprechen zu Ideen und Inhalten findet. 3<br />

Gedanken werden über das Schreiben oder das Sprechen geformt<br />

und geordnet. Beim Zeichnen ist ein ähnlicher Vorgang festzustellen.<br />

Béatrice Gysin schreibt: «Ideen entstehen durch Handlung.<br />

Eine Idee, ein Gedanke wird durch die zeichnerische Annäherung<br />

und Konkretisierung zur sichtbaren, mitteilbaren, überprüfbaren<br />

und diskutierbaren Form. Die Idee wird handelnd «erzeichnet»,<br />

findet zur Form durch aktives, visuelles Denken, das durch die<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 106<br />

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107<br />

Vermittelt<br />

Hand fliesst.» 4 Das Zeichnen bietet die Möglichkeit, sich über Bilder<br />

und bildnerisches Denken einer Idee anzunähern und daraus<br />

neue Bilder zu entwickeln.<br />

Erfahrungsbericht<br />

Zwei Sichtweisen<br />

Beim Zeichnen bündle ich meine Aufmerksamkeit und konzentriere<br />

mich auf das Geschehen auf dem Blatt. Zeichnen ist für mich eng<br />

mit dem Sehen verbunden. Ich kann das, was ich tue unmittelbar mit<br />

meinem Blick verfolgen. Je nachdem ob ich aus der Vorstellung oder<br />

nach Anschauung zeichne, ist es nicht dieselbe Art, wie ich schaue.<br />

Beim Zeichnen nach Anschauung handelt es sich um ein stetiges<br />

Vergleichen. Ich konzentriere mich auf Tonwerte, Richtungen<br />

und Formen und muss immer wieder Distanz einnehmen,<br />

um von aussen einen prüfenden Blick auf die Zeichnung und die<br />

Vorlage zu werfen. Ich nehme mir Zeit, etwas genau anzuschauen.<br />

Dabei wird mir bewusst, wie relativ die Wahrnehmung ist.<br />

Wenn ich nach einer längeren Pause das abzuzeichnende Objekt<br />

anschaue und vergleiche mit dem, was ich gezeichnet habe, bin<br />

ich ab und zu verblüfft, was und wie ich gesehen habe. Zeichnen<br />

nach Anschauung ist auch Bewusstmachung der täuschenden<br />

Wahrnehmung und unserer Sehgewohnheiten.<br />

Beim Zeichnen aus der Vorstellung steht ein vages inneres Bild<br />

von einem Menschen am Anfang. Was ohne präzise Planung beginnt,<br />

führt zu einer diffusen Formulierung. Aus dieser Vagheit<br />

entsteht mit der Zeit die gültige Zeichnung durch suchendes Arbeiten<br />

an der Erscheinungsform. Anstelle des Vergleichens leitet<br />

mich das Beobachten der im zeichnerischen Prozess entstehenden<br />

Form. Der Zeichenprozess ist hier geprägt vom Anteil nehmenden<br />

Blick. Ich beobachte meine Hand die zeichnet und verfolge die<br />

Spuren, die der Bleistift hinterlässt. Das Sehen schaltet sich zwischendurch<br />

als beobachtende Instanz ein, um danach wieder der<br />

Hand die Führung zu überlassen. Die Folge ist ein stetiges Reagieren<br />

auf das Entstandene und so entwickelt sich die Zeichnung<br />

auf dem Blatt. Es ist ein fliessender Wechsel zwischen Zeichnen,<br />

Betrachten und Denken.<br />

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109<br />

Vermittelt<br />

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110<br />

Zeichnen heisst Erfinden<br />

Nach Anschauung zeichnen bedeutet, sich mit etwas Sichtbarem<br />

auseinandersetzen. Hier beginnen meine Erwartungen an eine<br />

Zeichnung zu steigen. Ich strebe zwar keine rein objektive, sachliche<br />

Darstellung an, versuche aber z.B. den Ausdruck der darzustellenden<br />

Person zu erfassen, sodass die Person erkennbar ist.<br />

Abzeichnen heisst für mich aber nicht kopieren. Es handelt sich<br />

immer ums Übersetzen vom Dreidimensionalen ins Zweidimensionale,<br />

von einem Medium ins andere. Übersetzen heisst auch<br />

Entscheidungen treffen. Entscheiden darüber, was ich zeichne und<br />

was ich weglasse. Zeichnen bedeutet immer erfinden. Ich kann<br />

beispielsweise eine traurige oder mürrische Person wieder glücklich<br />

machen, indem ich ihr in der Zeichnung den Mundwinkel<br />

etwas hochziehe. Genau diese Möglichkeit – beim Zeichnen etwas<br />

zu erfinden – macht für mich einen grossen Reiz des Zeichnens<br />

aus. Zeichne ich nach Anschauung, ist das abzuzeichnende Objekt<br />

die Referenz, zeichne ich aus der Vorstellung, orientiere ich mich<br />

an der vagen Vorstellung und an der künstlerischen Intention.<br />

Doch trotz meiner Lust, zeichnerisch zu erfinden und trotz dem<br />

weissen Papier, das nicht zensuriert und alles aufnimmt, was ich<br />

zeichne, ist mein Bildspektrum eingeschränkt. Womit hat dies zu<br />

tun<br />

Obwohl ich ohne Vorlage zeichne und somit meinen Erfindungen<br />

freien Lauf lasse, beobachte ich, wie ich beim Zeichnen<br />

immer wieder in ähnliche Muster verfalle. Einerseits hat dies mit<br />

den Rahmenbedingungen zu tun, die ich mir setze. Ich habe eine<br />

Serie von zusammenhängenden Blättern, die gemeinsam als Einheit<br />

erscheinen, zum Ziel. Somit entscheide ich mich nach verschiedenen<br />

Experimenten jeweils für ein Zeichnungsmittel und<br />

eine Zeichnungssprache. Trotzdem fällt mir auf, dass ich immer<br />

wieder in gewisse Schemas verfalle. Es braucht viel Energie, sich<br />

von den eigenen Schemas zu lösen und diese zu überwinden.<br />

Bei Kindern sind diese Schemaphasen in der Zeichnung offensichtlich.<br />

Gabi Koeppe-Lokai erwähnt in ihrer Untersuchung zum<br />

zeichnerischen Prozess bei Kindern die Unterscheidung zwischen<br />

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111<br />

Vermittelt<br />

Gegenstandswissen, Abbildungswissen und Ausführungswissen.<br />

Ersteres bezeichnet den Wissensbereich, der abgerufen wird, um<br />

zu definieren, wie das zu zeichnende Objekt aussieht. Zweiteres ist<br />

das Wissen darüber, wie die Merkmale eines Objektes dargestellt<br />

werden können und das Dritte betrifft Aspekte der motorischen<br />

Umsetzung. Das Gegenstandswissen deckt sich nicht mit dem<br />

Abbildungs- und Ausführungswissen. Es spielt vor allem dann<br />

eine wichtige Rolle, wenn ein Objekt zum ersten Mal gezeichnet<br />

wird. Danach wird es nicht jedes Mal neu aktiviert. Beim späteren<br />

Zeichnen ruft das Kind das einmal installierte Malschema auf.<br />

Wir wissen also mehr als das, was wir zeichnen können. 5 Heinrich<br />

Müller weist darauf hin, dass das gezeichnete Bild Einfluss hat<br />

auf die interne Repräsentation. «Ein einmal gewonnenes Schema<br />

wird während längerer Zeit unverändert beibehalten und in stets<br />

neuen Situationen und Szenerien verwendet. Das öftere Wiederholen<br />

der gleichen Figuren hat eine doppelte Wirkung: Erstens<br />

prägt sich das auf dem Papier (im Aussenfeld) entstandene Bild<br />

durch die stete Mitbeteiligung des Gesichtssinnes ein und wird<br />

als Gestaltvorstellung zum geistigen Besitz; zweitens erfährt der<br />

sensomotorisch eingeübte Prozess des Machens eine innige Verschmelzung<br />

mit der dazugehörigen Gestaltvorstellung.» 6 Über<br />

das häufige Zeichnen überwinde ich die einzelnen Schemata und<br />

eigne mir damit ein immer grösseres Bildrepertoire an, auf das ich<br />

beim erfinderischen Zeichnen zurückgreifen kann.<br />

Zeichnen heisst Nachvollziehen<br />

Eine naturalistische Zeichnung nehmen wir dreidimensional<br />

wahr. Auch eine Zeichnung, die sich nicht an der Natur misst,<br />

kann Dreidimensionalität vermitteln. Beim Zeichnen aus der<br />

Vorstellung setze ich keine Schattenverläufe ein, um eine räumliche<br />

Wirkung zu erzielen, sondern modelliere die Figur mit dem<br />

Bleistift, indem ich mir das gezeichnete Objekt räumlich vorstelle.<br />

Ich versuche, die Körperlichkeit des zu zeichnendes Objekts<br />

auf der Zeichenfläche nachzuempfinden. Gert Selle schildert, wie<br />

diese innere Vorstellung des Körpers auch beim Zeichnen nach<br />

Anschauung von Wichtigkeit ist. «Wenn man sich nur hinsetzt<br />

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1<strong>12</strong><br />

mit einem vorgefassten Ziel – «Jetzt will ich diesen Apfel (...) unbedingt<br />

so, wie ich ihn im Augenblick sehe, darstellen», wird man<br />

in aller Regel an der scheinbar einfachen Aufgabe scheitern. Die<br />

Verpflichtung auf die Erscheinungsabbildlichkeit, über die Auge<br />

und Hand sich meist nur recht und schlecht einigen können, muss<br />

erst überlistet werden, indem man zu einfühlenden Nachvollzügen<br />

der Form, zu Umschreibungen findet – was nichts anderes heisst,<br />

als sich den Vorstellungs- und Bewegungsaktivitäten zu überlassen.»<br />

7 Laut Selle heisst aneignen durch Zeichnen nicht «quälendes<br />

Abbilden-Wollen, sondern Erfassen, Einverleiben, Entäußern in<br />

einer belebenden Zusammenfassung mimetischer Aktivitäten, aus<br />

denen der Körper und die an ihn gebundene Bewegungsphantasie<br />

nicht ausgeschlossen sind.» 8<br />

Sind Zeichnen aus der Vorstellung und Zeichnen nach Anschauung<br />

tatsächlich grundsätzlich unterschiedliche Haltungen<br />

Beim Anblick meiner Zeichnungen zeigen sich deutliche Unterschiede.<br />

Die Figuren nach Anschauung sind detailreicher und<br />

kontrollierter gezeichnet. Gewisse Stellen sind ausgelassen. Ich<br />

kann wirklichkeitsnahe Erscheinungsformen bewusst reduzieren.<br />

Die erfundenen Gestalten sehen aus, als wären sie aus Modelliermasse.<br />

Sie wirken plastisch und roh. Der Anspruch an die Zeichnung<br />

aus der Vorstellung ist ein anderer als der an die Zeichnung<br />

nach Anschauung. Oben ging ich auf die Verschiedenheit des<br />

Blicks ein. Zeichne ich nach Anschauung, vergleiche ich mit der<br />

Realität. Ich halte mich in kontrollierender Distanz zum Objekt<br />

und prüfe mit meinem Blick das Gezeichnete. Zeichne ich aus der<br />

Vorstellung, beobachte ich die aufscheinende Form. Hier leitet<br />

mich mein Körperwissen und nicht der Vergleich mit der äusseren<br />

Wirklichkeit. Ich vergleiche mit vorher entstandenen Zeichnungen<br />

und entscheide, ob das entstandene Resultat in die Serie passt.<br />

Die zwei Haltungen haben auch Gemeinsamkeiten: Sie erfordern<br />

höchste Konzentration und viel Zeit. Beide Prozesse schärfen<br />

die Aufmerksamkeit für die Umwelt. Ich sehe durchs Zeichnen<br />

mehr. Silvia Bächli stellt beim Zeichnen das Entstehen einer<br />

«gewisse[n] Wachheit» fest. 9 Und Cécile Hummel notiert: «Im<br />

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113<br />

Vermittelt<br />

Laufe meiner Tätigkeit ist mir klar geworden, dass es beim Zeichnen<br />

letztlich darum geht, Dinge überhaupt zu sehen. Das Zeichnen<br />

zieht eine Intensivierung der Aufmerksamkeit nach sich, auch<br />

wenn ich Block und Bleistift gerade nicht in den Händen halte.» 10<br />

Ausblick<br />

«Beim Zeichnen hat man stets mit (mindestens) drei Realitäten zu<br />

tun: Mit der draussen in der Welt, mit der im Kopf und mit der auf<br />

dem Papier. (...) Unter gut zeichnen können versteht man im Allgemeinen<br />

(immer noch) die grösstmögliche Übereinstimmung dieser<br />

Realitäten. In der Art der Übereinstimmung oder ihrer Differenz,<br />

der Harmonie oder im Knirschen dieser Realitäten spiegelt sich<br />

das Interesse bzw. das Weltverständnis des Zeichners.» 11<br />

Die Differenz der Realitäten, die sich in Zeichnungen zeigt, erzeugt<br />

eine Spannung. Béatrice Gysin stellt in ihrer Umfrage zum<br />

Zeichnen fest (s. <strong>Heft</strong> 01 S. 131–164), dass die Mehrheit der Befragten<br />

die Fähigkeit «gut» zeichnen zu können mit einer realistischen,<br />

perspektivisch richtigen Darstellung gleichsetzen. Dieser<br />

hohe Anspruch orientiert am Denken der Renaissance mit ihren<br />

Vorbildern führt zur Angst zu scheitern, sobald man eine Zeichnung<br />

beginnt. Beim Zeichnen sind die Konsequenzen des eigenen<br />

Tuns unmittelbar sichtbar. Das Bild ist beim Entstehen kontinuierlich<br />

überprüfbar. Damit ist der Zeichnende beim Zeichnen<br />

auch durchgehend mit seinen Ansprüchen konfrontiert.<br />

Die Umfrage von Béatrice Gysin zeigt auch auf, dass «zeichnen<br />

können» ein grosser Wunsch ist für die meisten Menschen.<br />

93% der Befragten möchten gerne gut zeichnen können. <strong>12</strong> Daher<br />

ist es wichtig, dass gerade die Schule das Zeichnen als eine<br />

Tätigkeit vermittelt, die facettenreich ist. Zeichnen im Rahmen<br />

des Unterrichts sollte nicht auf ein perfektes Resultat hinzielen.<br />

Das Erleben beim zeichnerischen Prozess als Form bildendes,<br />

Fantasie anregendes Ausdrucksmittel sollte eine ebenso wichtige<br />

Wertschätzung erfahren. Zeichnen soll nicht nur mit Scheitern,<br />

Enttäuschung und Bauchschmerzen in Verbindung gebracht werden,<br />

sondern als Mittel, sich lustvoll und selbstbewusst die eigene<br />

persönliche Welt zu erschaffen. Die Tatsache, dass es im Zeichnen<br />

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1<strong>14</strong><br />

keine Orthografie gibt, die mit richtig oder falsch zu beurteilen<br />

ist, birgt eine Chance. Gert Selle plädiert für eine Kunstpädagogik,<br />

die eng mit den Begriffen Wahrnehmen, Reflektieren, Selbsterkenntnis<br />

und Bewusstseinsleistung zusammenhängt. Gerade im<br />

Zeichnen sehe ich ein Potential, diese Begriffe ernst zu nehmen<br />

und in die Vermittlung einzubauen.<br />

Für Kinder ist der zeichnerische Ausdruck selbstverständlich.<br />

Sie setzen sich unbeschwert zeichnerisch mit der Umwelt auseinander.<br />

Hartwig macht darauf aufmerksam, dass sich im Jugendalter<br />

die zeichnerischen Ansprüche verschieben. Es ist eine Tatsache,<br />

«dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Jugendlichen mit<br />

ihrer Zeichenfähigkeit unzufrieden werden, weil sie nicht mehr<br />

bereit sind, subjektive Zeichen für die Gegenstände als die adäquate<br />

Darstellungsform für Realität zu nehmen. Sie insistieren<br />

vielmehr darauf, dass ihr Wissen um die Gegenstandsmerkmale<br />

in die Darstellung einfliesst und fordern, dass ihre Zeichenfähigkeit<br />

in dieser Richtung erweitert wird.» 13 Diese Ansprüche müssen<br />

ernst genommen werden und im Unterricht thematisiert werden.<br />

In der Kunst zeigt sich ein freier Umgang mit Zeichnung, die sich<br />

vom Anspruch entfernt, Abbild von etwas zu sein. Wird im Zeichenunterricht<br />

Wert auf den individuellen Ansatz jedes einzelnen<br />

gelegt, eröffnen sich vielleicht neue Möglichkeiten, dass Zeichnen<br />

als zusätzliches Kommunikationsmittel von vielen Jugendlichen<br />

ins Erwachsenenalter hinüber gerettet wird. Zeichnen nach Anschauung<br />

und Zeichnen aus der Vorstellung sind zwei Artikulationsformen,<br />

die unterschiedliche Fähigkeiten erfordern und Felder<br />

neuer Möglichkeiten eröffnen.<br />

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115<br />

Vermittelt<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Giorgio Vasari schreibt in den Künstler-Viten über den Begriff «Disegno» folgendes: «Die<br />

Zeichnung (disegno) (...) geht aus dem Intellekt hervor und schöpft aus vielen Dingen ein<br />

allgemeines Urteil, gleich einer Form oder Idee aller Dinger der Natur(...).» Die Zeichnung sei<br />

«eine anschauliche Gestaltung und Klarlegung der Vorstellung, die man im Sinne hat, und von<br />

dem, was ein anderer sich im Geiste vorgestellt und in der Idee hervorgebracht hat.» Giorgio<br />

Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister, hrsg. von L. Schorn<br />

und E. Förster, Bd 1, Worms: 1983, S. 63.<br />

2<br />

Emma Dexter (Hrsg.), Vitamin Z. Neue Perspektiven in der Zeichnung, Berlin: 2006, S. 6.<br />

3<br />

Heinrich von Kleist, «Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden»,<br />

in: Sämtliche Werke und Briefe, München: 1982.<br />

4<br />

Béatrice Gysin, Wozu zeichnen Qualitäten und Wirkung der materialisierten Geste durch<br />

die Hand auf die Zeichnenden, (erscheint 2009), Bern: 2003.<br />

5<br />

Gabi Koeppe-Lokai, Der Prozess des Zeichnens, Münster/New York: 1996.<br />

6<br />

Erich Müller 1982, 200 Jahre Zeichenunterricht in Basel, hrsg. von der Gesellschaft für das<br />

Gute und Gemeinnützige, Basel: 1982, S. 26/77.<br />

7<br />

Gert Selle, Gebrauch der Sinne, Reinbek bei Hamburg: 1988, S. 229.<br />

8<br />

ebd, S.229.<br />

9<br />

Silvia Bächli, in: Kunstzeichen Zeichenkunst, Du, Zürich: 1991, S. 17.<br />

10<br />

Cécile Hummel, in: Dorothée Messmer (Hrsg.), Dessine-moi un mouton,<br />

Kunstmuseum Thurgau: 2007, S. 18.<br />

11<br />

Nanne Meyer, Zeichnen, Magazin 4 der Kunsthochschule Berlin-Weissensee, Berlin: 2003.<br />

<strong>12</strong><br />

Béatrice Gysin Wozu zeichnen Qualitäten und Wirkung der materialisierten Geste durch<br />

die Hand auf die Zeichnenden, (erscheint 2009), Bern: 2003.<br />

13<br />

Helmut Hartwig, Sehen lernen, Köln: 1976, S. 89.<br />

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117<br />

Vermittelt<br />

<strong>14</strong><br />

Béatrice Gysin<br />

Nonverbales Artikulieren<br />

von Wahrnehmungs-,<br />

Denk‐, Empfindungs- und<br />

Erinnerungsvorgängen.<br />

Die folgenden Seiten zeigen Resultate zeichnerischer Untersuchungen an Bildvorlagen einer Gruppe<br />

von Studierenden der HKB, Studiengang Vermittlung in Kunst und Design.<br />

Jeweils zu Beginn der Unterrichtseinheit wurden die Studierenden<br />

mit einem Bild konfrontiert. Die Bildvorlage wird als Inspirationsquelle<br />

genutzt. Zunächst findet eine Annäherung an das Bild statt,<br />

indem das ganze Bild oder Teile dessen neu gezeichnet werden.<br />

Während des Zeichnens stellen sich Fragen ein: Was sehe ich Was<br />

fällt zuerst auf Welche Bildteile «fallen ins Auge» Was löst die<br />

Bildlektüre aus Die Aneignung durch die zeichnerische Tätigkeit,<br />

öffnet ein weites Feld an Möglichkeiten, das Gesehene auf persönliche<br />

Weise neu zu «erzählen», zu etwas Eigenem zu machen.<br />

Ein Bild birgt in sich mehrere Bilder. Auf welche innere Reise<br />

schickt es einen Woran erinnern einzelne Teile oder komplexere<br />

Situationen Was hat das Bild – oder Teile davon – mit den Zeichnenden<br />

zu tun Mit diesen Fragen gehen die Studierenden an die<br />

Bildwelten heran. Zeichnerisch/gestalterische Prinzipien, ebenso<br />

wie formale oder inhaltliche Aspekte wurden hinterfragt und erkundet.<br />

Auf welche Weise ist dieses Reagieren auf Bilder mit der<br />

persönlichen Bildwelt verknüpft<br />

Die Studierenden haben in dieser Arbeitsreihe Zeichnen nach Anschauung<br />

und Zeichnen aus der Vorstellung als unterschiedliche<br />

Haltungen erfahren und reflektiert. Sie haben den kritischen,<br />

vergleichenden, eher distanzierten Blick auf die Vorlage und das<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 117<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:36 <strong>Uhr</strong>


118<br />

Erfühlen, das Herantasten an ein nicht klar voraussehbares Resultat<br />

an sich selber erlebt. «Wie bin ich zeichnerisch tätig» «Wie<br />

erscheint das Resultat» (Siehe dazu: «Zwei zeichnerische Haltungen»<br />

von Flavia Keller, <strong>Heft</strong> <strong>02</strong>, Seiten 105–115)<br />

Ziele der Untersuchung waren: Die zeichnerische Kompetenz<br />

in grösserer Breite zu erkunden, die unterschiedlichen Qualitäten<br />

des Abbildens und Erfindens zu erkennen, zeichnerisches traditionelles<br />

«Können» und suchendes Finden individueller Möglichkeiten<br />

als gestalterische «Sprachfähigkeiten» neu zu entdecken.<br />

Am Beispiel des Bildes «Tupperware-Party» der NZZ am Sonntag,<br />

vom 2.3.<strong>08</strong>, lässt sich ablesen, auf welche Art und Weise die<br />

Studierenden zeichnerisch reagierten: Beobachten der Gesamtsituation,<br />

Aufspüren und dokumentieren von Details, Vereinfachen,<br />

suchendes Spurenlegen, Umkreisen und subtiles Animieren<br />

von Einzelfiguren, eine filmische Sequenz erfinden, Erzählen,<br />

Fantasieren.<br />

Am Projekt beteiligte Studierende: Irena Allemann, Nadia Bader, Fränzi Bieri, Lea Fröhlicher, Gabriela<br />

Gerber, Sybill Häusermann, Angela Kummer, Flavia Keller, Tim Leu, Marinka Limat<br />

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119<br />

Vermittelt<br />

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<strong>12</strong>0<br />

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<strong>12</strong>1<br />

Vermittelt<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:38 <strong>Uhr</strong>


<strong>12</strong>2<br />

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<strong>12</strong>3<br />

Vermittelt<br />

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<strong>12</strong>4<br />

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Vermittelt<br />

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<strong>12</strong>6<br />

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<strong>12</strong>7<br />

Artikulation: sichtbar<br />

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<strong>12</strong>8<br />

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<strong>12</strong>9 Sichtbar<br />

1<br />

Joel Marti<br />

Mein Leben mit Graffiti<br />

Seit nun mehr als 11 Jahren wird ein grosser Teil meines Lebens<br />

von Graffiti bestimmt. Im Alter von 9 Jahren nahm ich zum ersten<br />

Mal Graffiti als eine Ausdrucksform wahr. Während einer Reise<br />

durch die USA im Jahr 1997 sah ich, wie viele Jungs Baseballcaps<br />

mit bunten Aufschriften trugen. Als ich wieder in der Schweiz war,<br />

begann ich erste Skizzen mit meinem Namen zu malen. Durch meine<br />

ältere Schwester erfuhr ich, dass ein paar Teenager in meinem<br />

Dorf eine Crew bildeten und jeweils an den Wochenenden in der<br />

Nacht die Zugunterführungen bemalten. Ich hatte bis zu diesem<br />

Zeitpunkt kaum Graffitis näher betrachten können, nun wusste<br />

ich, wo solche zu finden waren. Mit einer Einwegkamera fotografierte<br />

ich alle Graffitis, die ich in meinem Dorf finden konnte.<br />

Nebenbei kopierte ich diese fotografierten Bilder auf Blätter und<br />

v e r s u c h t e , d i e S c h r i f t z ü g e s o g e n a u w i e m ö g l i c h n a c h z u z e i c h n e n .<br />

Im darauf folgenden Winter brachte ich meine Mutter dazu, mir<br />

eine blaue und eine rote Baumarktspraydose zu kaufen. Zuhause<br />

angekommen, packte ich diese aus und sprayte Buchstaben im<br />

Garten auf den Schnee. Noch heute erinnern Fotos an meine ersten<br />

Erfahrungen mit der Dose. Die Zeit verstrich, und ich war<br />

täglich am Graffiti malen. Nichts wurde von meinen Skizzen verschont,<br />

so mussten die Schulhefter und ebenso mein Pult hinhalten,<br />

wenn ich gerade kein leeres Blatt Papier zur Verfügung hatte.<br />

Zwei Jahre nach meinen ersten Erfahrungen gelang es mir, mit<br />

meinem Cousin in der Nacht aus dem Elternhaus zu verschwinden.<br />

Unser Plan war es, die Bahnunterführung in der Nähe meines<br />

alten Wohnortes zu bemalen. Mein Puls raste und ich hatte eiskalte<br />

Finger vom Sprühen. Ich erkannte, wie ich mich von Skizze<br />

zu Skizze verbesserte und wie sich mein Interesse an der Graf-<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>9<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:41 <strong>Uhr</strong>


130<br />

fitikultur vergrösserte. In der Schule hielt ich Vorträge über die<br />

Schweizer Graffitiszene und verfasste mit Kollegen, die sich auch<br />

für Graffiti interessierten, ein kleines Dossier über diese Art der<br />

Artikulation. Mit 13 Jahren kam ich in eine Schule in Zürich.<br />

So verbrachte ich jeden Tag mindestens eine Stunde im Zug. Ich<br />

erkannte, dass Graffitis in der Stadt noch viel präsenter waren als<br />

in meinem kleinen Dorf. Aufmerksam betrachtete ich alle Graffitis<br />

auf der Zugstrecke. Nach einem Jahr konnte ich alle Pieces<br />

(umgangsprachliches Wort für Graffiti Schriftzüge an der Wand),<br />

die auf dieser Strecke gemalt waren, aufzählen. Durch neue Bekanntschaften,<br />

die ebenfalls angefressen von Graffiti waren, kam<br />

ich an die für Graffiti geeigneten Spraydosen ran. Mein ganzes<br />

Sackgeld verprasste ich für Montanas, Beltons und die dazugehörigen<br />

Caps. Im Keller des Hauses lagen versteckt unzählige Dosen,<br />

Latexhandschuhe, Sturmmasken und Farbroller. Ohne es zu<br />

bemerken, war ich mitten in der Graffiti Szene. Durch mein Mofa<br />

gelang es mir, mein Einzugsgebiet zu vergrössern, so fuhr ich in<br />

der grössten Kälte mitten in der Nacht über Feldwege und Landstrassen,<br />

damit mich die Polizei nicht finden konnte.<br />

In einer solchen Nacht sollte es anders kommen. Ein Kollege<br />

und ich planten, an einem exponierten Ort ein grosses Werk zu<br />

gestalten. Gegen 2 <strong>Uhr</strong> schlichen wir neben meinen schlafenden<br />

Eltern in den Keller und bereiteten unsere Utensilien vor. Chrom,<br />

Schwarz und ein Hellgrün jeweils in 600 Milliliter Dosen wurden<br />

vorgeschüttelt. Ein Schütteln der Dosen am Spot hätte zuviel<br />

Lärm gemacht. Bereits beim Verlassen des Hauses schlug mir mein<br />

Puls bis in den Hals hinauf. Wir stiessen das Mofa einige hundert<br />

Meter von meinem Wohnort weg und machten uns dann auf den<br />

Weg. Der schwere Rucksack und mein Kollege auf dem Gepäckträger<br />

des Mofas verhinderte ein schnelles Vorankommen. Vom<br />

Ort aus, wo wir mein Gefährt abstellten, waren es noch etwa 1<br />

Kilometer zu Fuss, bis wir den Spot erreichten. Wir schlichen uns<br />

durch Gebüsche und robbten uns unter Zäunen hindurch. Mein<br />

Puls spürte ich mittlerweile auch schon in der Magengegend. An<br />

einem geschützten Ort vermummten wir uns und legten unsere<br />

Handschuhe an. Beide wussten wir, dass der gefährlichste Teil des<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 130<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:41 <strong>Uhr</strong>


131 Sichtbar<br />

Abenteuers noch bevor stand. Wir mussten noch die letzte Strasse<br />

überqueren, dann hätten wir es geschafft. Mein Kollege kontrollierte<br />

die linke Strassenseite, währendem ich auf der rechten Seite<br />

nach kommenden Autos Ausschau hielt. Keine fünf Sekunden<br />

später schrie mein Kollege, wir müssen sofort die Strasse verlassen.<br />

Aus Schreck überquerten wir die Strasse und legten uns flach<br />

auf den Kiesweg, der neben der Strasse verlief. Ich hörte meinen<br />

Kollegen leise flüstern: «Die Bullen halten neben uns im Wagen».<br />

Ich sah, wie ein Streifenwagen neben uns auf der Strasse hielt.<br />

Der einzige Ausweg nicht geschnappt zu werden, war flüchten.<br />

Wir zählten auf drei und spurteten los, ohne zu überlegen, wohin<br />

wir gehen sollten. Im rechten Augenwinkel sah ich meinen Kollegen,<br />

wie er mit voller Wucht gegen einen Drahtzaun lief und sich<br />

dort offensichtlich schmerzhaft verletzte. Ich rannte, so schnell<br />

ich konnte, weiter und versteckte mich unter einem ausrangierten<br />

Zug. Den Polizeiwagen sah ich nicht mehr und auch meinen<br />

Kollegen konnte ich nirgends erblicken, als es auf einmal in meiner<br />

Hosentasche vibrierte. Erleichtert erklärte mir mein Begleiter,<br />

er habe sich nicht gross weh getan und sei entkommen. Wir<br />

beschlossen, uns zu treffen, um die Situation gemeinsam zu beobachten.<br />

Nach etwa einer halben Stunde entschieden wir uns, das<br />

Bild trotz den Geschehnissen zu beginnen. Bei völliger Dunkelheit<br />

zog ich die ersten Linien, während das Bild von meinem Kollegen<br />

ausgefüllt wurde. Mein Puls hatte sich beruhigt und ich konnte<br />

die Lines, ohne zu zittern, ziehen. Kurze Zeit später sprayte ich<br />

mit Schwarz die Outline, einige Highlights in Grün und setzte das<br />

Crew Tag unter das vollendete Werk. Es war nun bereits gegen<br />

halb Fünf in der Früh und mein Hals kratzte von den Sprühdämpfen,<br />

da ich keine Maske trug. Völlig erschöpft fiel ich in mein Bett<br />

und schlief bis in die Nachmittagsstunden.<br />

In den letzten 5 Jahren bemerkte ich einen regelrechten Graffiti-<br />

Hype, der jedoch bereits wieder am abschwächen ist. Man konnte<br />

beobachten, dass neue Crews in Zürich wie Pilze aus dem Boden<br />

schossen. So schnell wie sie kamen, war es klar, dass die Qualität<br />

der Bilder abnahm. Die Buchstabenstruktur und die Kombination<br />

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der einzelnen Buchstaben werden heute weniger schwer gewichtet,<br />

wie dies noch vor 6 Jahren der Fall war. Es lässt sich darüber<br />

streiten, ob die Szene nun einen Schritt zurück gemacht hat. Dazu<br />

muss man bedenken, dass sich die Anzahl der Pieces an der Wand<br />

vermehrt hat. Ebenso liegt die Risikobereitschaft der Sprüher<br />

über dem Niveau von früher. Die Spots, welche sich die Crews<br />

aussuchen, sind auffallender und die Reputation ist um einiges<br />

grösser als noch vor einigen Jahren. Die Graffiti Szene lebt nicht<br />

nur von der Qualität der Bilder, sondern auch von der Quantität.<br />

Eine Crew, die sich viel Zeit für ein Bild nimmt, kann niemals den<br />

Output einer Crew erreichen, die sich spezialisiert hat auf schnell<br />

gemalte Bilder (sog. Bombings). Die erste Crew bekommt ihren<br />

guten Ruf von den Kennern der Szene, die sich Zeit nehmen, um<br />

z.B. den Oberen Letten zu besuchen, der voll ist mit schönen Bilder,<br />

während die zweite Crew von dem Ruf lebt, überall präsent<br />

zu sein. In der Öffentlichkeit sind also zwangsläufig die Crews<br />

bekannt mit qualitativ schlechteren Bildern. Wie bereits bekannt,<br />

ist auch Graffiti eine Form der gewaltlosen Auseinandersetzung.<br />

Bei Graffiti ist derjenige der Bessere, der mehr oder schönere Bilder<br />

malt. Bei beiden Arten des Erfolgs erhalten die Sprüher in der<br />

Graffiti Kultur genannten «fame». Mit diesem fame erhalten sie<br />

Respekt unter Gleichgesinnten. So hat sich die heutige Graffiti<br />

Szene in Richtung «fame» auf Grund von Quantität entwickelt.<br />

Viele qualitativ hochwertige Sprüher erreichten nun auch eine<br />

gute Reputation in Galerien und schafften den Sprung, mit Graffiti<br />

in die Kunstszene aufgenommen zu werden. Graffiti hat es<br />

geschafft, bei einem breiten Publikum als eine Kunstform wahrgenommen<br />

zu werden.<br />

Eine weitere Entwicklung durchzog sich bei den verschiedenen<br />

Stilen. Zu Beginn der 90er Jahre war Graffiti in der Schweiz bezüglich<br />

der Technik ein reines Zusammenhängen von dickeren<br />

Buchstaben, die nur gering verformt wurden. Durch das steigende<br />

Können der einzelnen Künstler entwickelten sich komplexere Stile<br />

auch in der Schweiz. So kam es, dass nicht jedes gesprühte Bild<br />

auf Anhieb zu entziffern war. Es wurde ein richtiger Trend, die<br />

Buchstaben so zu gestalten, dass es für einen Laien unmöglich<br />

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wurde, ein Bild als Schriftzug zu erkennen. Wie die Buchstaben,<br />

wurden auch die Fill Inns aufwändiger und bei einigen Künstlern,<br />

wie z.Bsp. Daim dreidimensionaler. Es ist heute bereits ein<br />

Gegentrend zu sehen, der wieder zurück geht zu einfachen Buchstabenkombinationen<br />

und gut lesbaren, aber schön gestylten<br />

Buchstaben. Das Graffiti-Bild ist nicht mehr ein reiner Schriftzug,<br />

dieser ist heute meist nur ein Bestandteil eines Gesamtbildes. So<br />

wird die Schrift in ganze Themen eingepackt, wie z. Bsp. eine Gebäudewand<br />

der Firma Leuthard in Rümlang. Die Sprüher wurden<br />

beauftragt, eine komplette Fassade zu gestalten und die Aufgaben<br />

des Unternehmens mit ins Bild einzubringen.<br />

Ich hoffe, dass die Zukunft des Graffitis weiter belebt wird<br />

durch innovative Stile und junge heranwachsende Künstler.<br />

Joel Marti ist Schüler einer Maturklasse der Kantonsschule Enge Zürich<br />

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2<br />

anonym<br />

Graffiti<br />

Es ist Donnerstag Nacht, ich sitze Zuhause an meinem Pult, vor<br />

mir liegen etliche voll geschriebene und gemalte Skizzenblätter,<br />

meine Pläne für heute Nacht sozusagen. Ein kurzer Blick auf die<br />

<strong>Uhr</strong> verrät mir, dass es bald zwei <strong>Uhr</strong> ist, es wird langsam Zeit<br />

den Schritt vor die Tür zu wagen und mich in Richtung Bahnhof<br />

zu bewegen. Es ist die beste Zeit, um draussen zu malen, noch<br />

besser da es unter der Woche ist und alle Menschen müde von<br />

der Arbeit in ihren warmen Betten liegen. Auch die öffentlichen<br />

Verkehrsmittel fahren nicht mehr und wenn doch noch vereinzelt<br />

Menschen unterwegs sind, dann beachten sie mich nicht. Was<br />

ich für meine Aktion heute Nacht brauche, habe ich bereits auf<br />

meinem Bett ausgelegt: zwei grosse Dosen Chrom von Molotow<br />

plus zwei Fatcaps, hoher Druck, fetter Strahl, keine Kugel, perfekt,<br />

um in relativ kurzer Zeit eine grosse Fläche zu füllen. Eine<br />

Dose Schwarz, kein gewöhnliches, sondern einen Bitumenspray,<br />

was bedeutet, dass die Farbe Teer enthält und somit den Chrom<br />

perfekt überdeckt und ausserdem fast nicht mehr zu buffen ist. Diese<br />

benutze ich für die Outlines. Eine kleine Dose Weiss mit einem<br />

skinny Cap für die Highlights, fertig. Diese vier Dosen packe ich<br />

in meinen kleinen, schwarzen Rucksack. Meine Ausrüstung ist,<br />

nachdem ich noch einen fetten Stift, Gummihandschuhe und meine<br />

Atemschutzmaske eingesteckt habe, komplett.<br />

Auf geht`s in die kalte Nacht. Ich laufe mit grossen Schritten<br />

dem Bahnhof entgegen. Schon jetzt spüre ich die Vorfreude auf<br />

das Malen, auf das Geräusch des Sprayens, auf den Geruch der<br />

Farbe, auf den Adrenalinflash und natürlich auf das unbeschreibliche<br />

Gefühl der Freiheit, wenn ich mein Piece abgeschlossen<br />

habe und mich schleunigst aus dem Staub mache, ohne erwischt<br />

worden zu sein...hoffentlich. Unterwegs sehe ich ein Wahlplakat<br />

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eines SVP-Hampelmanns und male ihm ohne zu überlegen einen<br />

Hitlerschnauz auf. Ausserdem setze ich meinen Namen auf den<br />

20-Minutenbehälter beim Bahnhof, als ich diesen endlich erreiche.<br />

Ein kurzer Blick nach links und rechts, um zu sehen, ob<br />

jemand kommt, und ich ziehe mir meine Sturmmaske über den<br />

Kopf und springe auf die Geleise. Nun ist es nicht mehr weit. Den<br />

Ort, an dem ich malen will, habe ich natürlich schon vorher ausgewählt.<br />

Ich war am Tag vorher schon dort und habe ihn ausgekundschaftet.<br />

Gibt es Kameras Ist eine von der Polizei befahrene<br />

Strasse in der Nähe Wo kann ich am schnellsten abhauen, wenn<br />

ich müsste Ich selbst schätze mich als vorsichtig ein, was solche<br />

Dinge betrifft. Es gibt auch Leute, die sich solche Fragen gar<br />

nicht erst stellen und einfach ans Werk gehen. Bei denen ist es aber<br />

(wahrscheinlich) nur eine Frage der Zeit, bis sie angezeigt oder<br />

gar von der Polizei erwischt werden. Leider musste ich dies auch<br />

schon am eigenen Leib erfahren. Darum bin ich heute viel vorsichtiger.<br />

Angekommen an meinem Ziel fällt mir die Kinnlade runter.<br />

Sie steht dort vor mir, die Umrisse im Mondlicht klar erkennbar,<br />

eine leerstehende S-Bahn. Ein Traum für jeden Sprayer. Wenn<br />

man die Chance hat sich auf einem Zug zu verwirklichen, bedeutet<br />

dies, dass sein Bild sozusagen mobil ist und von Leuten überall<br />

gesehen wird. Also: Planänderung! Von der Mauer auf den Zug.<br />

Ich stelle meine Dosen auf den Boden und ziehe die Handschuhe<br />

und Atemschutzmaske an. Ab diesem Moment scheint es, als ob<br />

jemand den Zeitrafferknopf gedrückt hätte. Je schneller das Bild<br />

fertig ist, desto besser. Jede Sekunde, die ich mehr brauche, ist<br />

eine Sekunde, in der plötzlich zwei Männer in Uniform hinter mir<br />

stehen könnten. Dieser Gedanke schwirrt mir immer im Kopf herum<br />

und treibt mich zum schnellen Arbeiten an. Natürlich ist mir<br />

trotzt des Stresses eine saubere Linienführung wichtiger als die<br />

Zeit, die ich dafür benötige, ich will ja nicht als Pfuscher wahrgenommen<br />

werden. Ich beginne damit die Form mit Chrom vorzuzeichnen,<br />

fülle sie danach mit der gleichen Farbe aus und beginne<br />

dann die Outlines zu ziehen mit dem Bitumenspray. Meine Augen<br />

und Ohren sind während des Malens, was die Wahrnehmung von<br />

Reizen betrifft, viel empfindlicher. Eigentlich weiss ich, dass mir<br />

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hier, geschützt von der Dunkelheit, nicht viel passieren kann. Es<br />

lohnt sich trotzdem, aufmerksam zu sein, denn man weiss ja nie.<br />

Immer wieder sehe ich in der Ferne Passanten vorbeilaufen, sehe<br />

sie reden und einmal sogar wie ein Mann seine Begleitung anhält<br />

und auf mich zeigt, danach jedoch wieder friedlich weiter<br />

spaziert. Den meisten Menschen ist es gleichgültig, was ich hier<br />

mache oder sie sagen einfach nichts, weil sie Angst vor Leuten<br />

mit Sturmmasken haben. Plötzlich passiert es: Über die Brücke,<br />

neben der ich am Arbeiten bin, fährt ein Polizeiauto. Ich verharre<br />

regungslos, beobachte genau, was passiert und mache mich schon<br />

mal darauf gefasst, so schnell ich kann, das Weite zu suchen. Das<br />

Auto fährt vorbei und biegt um die nächste Kurve. Sie habe mich<br />

nicht gesehen, Schwein gehabt. Mein Herz schlägt immer noch<br />

wie wild, als ich meine Arbeit fortsetzte. Nur noch die Highlights<br />

gezogen und ein Spruch daneben gesetzt («still free», haha!), um<br />

mein Piece abzurunden, und meine Arbeit ist vollendet. Die leeren<br />

Dosen werfe ich hinter die Böschung, um alle Beweismittel<br />

los zu sein, ab diesem Moment kann mir nichts mehr passieren...<br />

Was ich nun empfinde ist ein Gefühl der Freiheit in ihrer reinsten<br />

Form, ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber all jenen, die nicht<br />

verstehen wollen, warum ich das jetzt gemacht habe. Herrlich!<br />

Sprayen ist wie eine Sucht, die einem nicht mehr loslässt. Es fängt<br />

an mit bescheidenen Tags an Bushaltestellen und Müllcontainern,<br />

später kauft man sich Dosen und beginnt Pieces zu malen. Die<br />

ersten Versuche scheitern bei den meisten kläglich, doch verbessert<br />

man sich mit jeder geleerten Dose. Zuerst malt man an eine<br />

Hauswand, später an den Gleisanlagen und dann vielleicht mal an<br />

einen Zug und so weiter. Der Drang, zu malen und sich immer zu<br />

verbessern, ist immer da. Ich selbst merke dies z.B. in der Schule.<br />

Es gibt kein Blatt in meinem Mäppchen, auf dem nicht irgendwelche<br />

Zeichnungen oder Tags geschrieben/gemalt sind.<br />

Wenn ich tagsüber mit der Bahn in die Stadt fahre, so achte ich<br />

nicht auf die Werbetafeln, Baustellen, Natur oder ähnliches, ich<br />

achte nur auf das, was andere Leute, wahrscheinlich ebenfalls in<br />

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der Nacht an den Mauern und Wänden hinterlassen haben. Ich<br />

schaue, ob es irgendwo ein neues Piece gibt, ob irgendwo eines<br />

gecrosst wurde und ob es irgendwo noch freie Stellen gibt, die ich<br />

selber bemalen könnte. Wenn man immer und überall auf diese<br />

Dinge achtet, lernt man mit der Zeit auch die Botschaften hinter<br />

den Bildern und Schriftzügen verstehen. Man lernt die verschiedenen<br />

Writer nach ihren Styles zu unterscheiden und zu erkennen<br />

und diese schliesslich auch nach ihrem Können zu beurteilen. Hat<br />

es z.B. jemand geschafft, an einem schier unerreichbaren Ort seinen<br />

Namen hinzumalen, gibt ihm das in der Szene Respekt, auch<br />

Fame genannt. Mir gefällt dabei der Gedanke, dass sich Leute ihr<br />

ganzes Leben lang an dich erinnern werden, wenn du es in der<br />

Szene mal zu etwas gebracht hast, auch wenn sie dich vielleicht nie<br />

persönlich kennenlernten, sondern alleine durch die stetige Präsenz<br />

deines Namens in der Stadt von dir wissen. Fame ist natürlich<br />

nicht der einzige Grund für Sprayer das zu tun, was sie tun.<br />

Ich kann hier natürlich nur für mich sprechen, denn ich finde man<br />

sollte und kann diese Leute nicht einem gewissen Schema zuordnen.<br />

Das einzige, was alle Writer gemeinsam haben, ist die Freude<br />

an ihrer Arbeit, den Spass, den sie dabei haben, Farbe oder Tinte<br />

irgendwo hinzumalen. Ich selbst bin da nicht anders. Wenn ich<br />

nachts rausgehe, bewaffnet mit Dosen und Stift, dann tue ich dies<br />

aus reiner Freude an der Sache und an dem Adrenalin. Ausserdem<br />

ist es ein tolles Gefühl, wenn man durch die Stadt geht und überall<br />

seinen Namen sieht. Es ist wie Gratiswerbung und gleichzeitig<br />

auch eine Art Territorialanspruch und Verschönerungsversuch<br />

dieser grauen und langweiligen Stadt, in der ich lebe. Wenn ich<br />

mich schon sonst in allen Bereichen des Lebens der Gesellschaft<br />

anpassen muss, so ist es nur fair, dass ich nachts rausgehe, um<br />

mein eigenes kleines Stück Freiheit zu erfahren.<br />

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Dario Lüdi<br />

Tags<br />

Auszug aus der Maturarbeit 20<strong>08</strong>/2009 von Dario Lüdi, Kantonsschule Enge Zürich<br />

Die Allgemeinheit verachtet oder hasst sie. Von der Polizei werden<br />

sie gejagt und vom Gesetz verurteilt. Als Vandalen verschrien –<br />

Kinder ohne Zukunft. Sie gehören zur Stadt, wie es das Großmünster<br />

auch tut und die Farbtropfen ihrer Schriftzüge rinnen an<br />

grauen Wänden hinab, wie der Regen, der genauso zur Löwenstadt<br />

gehört. Achtet man sich auf ihre Zeichen, so verfolgen einem<br />

diese durch die ganze Stadt. So lernt man Menschen kennen, ohne<br />

zu wissen, wer sie sind. Ihr Name soll möglichst bekannt sein und<br />

gleichzeitig ist die Anonymität ihr einziger Schutz.<br />

Es sind, obwohl auch sehr häufig, nicht pubertierende Jugendliche,<br />

die in ihrem Übermut Gesetze brechen und sich gegen Autoritäten<br />

auflehnen wollen, von denen ich spreche. Es sind, zumindest<br />

mit meinen Augen betrachtet, Künstler, die, sei dies nun auf formeller,<br />

inhaltlicher oder einer ganz eigenen Ebene, kommunizieren,<br />

indem der öffentliche Raum farblich so geändert wird, dass<br />

sogar grauste Mauern zu Trägern von bestimmten Botschaften<br />

werden. Eine Verallgemeinerung, wie gerade geschehen, ist eigentlich<br />

gar nicht möglich, so sind Variationen in Farbe, Schrift, Form<br />

und Lokalität beinahe unendlich groß, was eine sehr hohe Individualität<br />

ermöglicht. Es ist die Rede von «Taggern» oder, wie ich<br />

sie gerne nenne, Urbanen Kalligrafen.<br />

Zu Deutsch heißt das englische Verb «to tag» soviel wie markieren<br />

oder kennzeichnen. Daher stammt auch das Nomen «der<br />

Tagger», der, wie das Verb bereits erahnen lässt, Dinge kennzeichnet.<br />

«Tags», die von einem Tagger angebrachten Markierungen,<br />

werden oftmals fälschlicherweise als Graffiti bezeichnet, jedoch<br />

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sind sie nur deren Vorläufer. Tags sind Namenskürzel, die mit<br />

einem Stift oder Spraydose angebracht werden. Sie sind einfarbig<br />

und oftmals schwarz; gut vergleichbar mit der Unterschrift, wie<br />

sie jedermann kennt und täglich verwendet.<br />

Auf Wänden und Gegenständen Spuren zu hinterlassen, kann<br />

einerseits als Akt des Vandalismus bezeichnet werden, doch wird<br />

bei näherem Betrachten erkennbar, dass es sich oftmals um weit<br />

mehr handelt als das bloße Zerstören. Je länger und intensiver<br />

man hinsieht, umso stärker stört man sich am Begriffe der Zerstörung,<br />

doch wie kann man nur Illegales rechtfertigen Gar nicht!<br />

Schuldzuweisung plagen die Suche nach einer Rechtfertigung:<br />

Ist nun die Gesellschaft schuld, weil sie es nicht versteht, mit jungen,<br />

kreativen Köpfen umzugehen oder sind es genau diese Köpfe,<br />

die unfähig sind, sich so zu präsentieren, dass sie von der Gesellschaft<br />

mit offenen Armen empfangen und geliebt werden<br />

Ich lese keine Bücher, so bin ich jeden Tag viel zu sehr damit<br />

beschäftigt, Strassen zu lesen. Man versetzt sich nicht in die Lage<br />

des Erzählers, hier geht es nur um den Schriftsteller. Ganze Romane<br />

werden mit dem immer selben Wort erzählt, man beginnt<br />

dort zu lesen, wo es einem beliebt. Obschon diese mit wasserfester<br />

Tinte angebracht werden, so verändern sich die Geschichten täglich,<br />

wenn nicht sogar stündlich. Tags werden mit weißer Farbe<br />

übermalen, von Fremden ergänzt oder abgeändert, durchgestrichen<br />

oder wegbewegt, je nachdem, wo ein Tag angebracht wurde.<br />

Es sind ebensolche Geschichten, die mich faszinieren; Geschichten<br />

des Lebens von jedermann für jedermann. Sie sind geprägt von<br />

Freund- und Feindschaft, von Anonymität und Illegalität, von<br />

Leidenschaft und Risiko und von Adrenalin und Kreativität. Irrwitzige<br />

Kombinationen, die einem Außenstehenden völlig fremd<br />

scheinen und nicht nachvollzogen werden können. Hier geht es<br />

um die eigene Handschrift, dem Ein-mal-Eins der Sprache.<br />

Die folgende Erzählung basiert auf Informationen, die ich aus verschiedenen<br />

Interviews erfahren habe. Der Text will weder werten<br />

noch rechtfertigen. Er spielt sich an einem beliebigen Abend in<br />

einer beliebigen Stadt ab und die Personen sind frei erfunden.<br />

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Draußen wird es dunkel, der Entscheid, heute Abend rauszugehen,<br />

fällt spontan und gemeinsam; da draußen will man nicht<br />

unbedingt alleine sein. Auch wenn schon dunkel draußen, ist es<br />

noch viel zu früh, denn die Menschen sollen schlafen, wenn wir<br />

unterwegs sind. Ich freue mich. Gestern habe ich einen neuen<br />

Schriftzug entworfen, der mir sehr gut gefällt. Lange hatte ich<br />

ihn auf Papier geübt, doch nun scheint er zu sitzen. Die neuen<br />

Marker, die ich mir letzte Woche geleistet habe, warten auch<br />

bereits schon auf ihren Einsatz.<br />

Nach dem Abendbrot trinken wir gemeinsam noch ein paar Bier;<br />

die Stimmung ist gut, geprägt von Vorfreude. Wir wissen nicht,<br />

was uns erwartet und doch haben wir klare Vorstellungen von<br />

dem, was heute Nacht geschehen soll. Es ist noch zu früh, um<br />

rauszugehen. Dennoch liegen unsere Stifte schon bereit, schöne,<br />

sorgfältig in Plastiktüten eingepackt, um unsere Hände und<br />

Kleider vor einem möglichen Auslaufen der Farbe zu schützen.<br />

Dies kommt häufiger vor, als man meint, vor allem mit den<br />

Stiften, die in Muttis Garage gebastelt wurden. Doch was nimmt<br />

man nicht alles in Kauf, um den eigenen Style von anderen unterscheidbar<br />

zu machen. Die Farbe unserer selbst gemischten Farbe<br />

klebt mir noch immer an den Händen; jedes Mal vergesse ich die<br />

schützenden Gummihandschuhe anzuziehen, bevor wir unsere<br />

Farben mischen und dann in die Stifte abfüllen. Halb so wild!<br />

Auf dem Tisch liegt ein Stapel Blätter, allesamt voll gekritzelt<br />

mit unseren Namenskürzeln und sonstigen Spielereien, die<br />

wir noch vor dem Abendessen zu Papier gebracht haben. Das<br />

meiste darauf gefällt uns nicht. Es war eher ein Suchen nach<br />

bestimmten Formen und diente auch dem Zweck, die Hand ein<br />

wenig einzuschreiben, bevor er raus geht. Da kommt mir soeben<br />

meine Mutter in den Sinn und wie sie mich gestern fragte, ob<br />

wir bei unseren nächtlichen Ausflügen eigentlich nichts kaputt<br />

machen. Etwas komisch habe ich sie da angeschaut, so hat<br />

sie sich bisher auch nicht an dem gestört, was wir machen.<br />

Ich erklärte ihr, dass wir keine Vandalen seien und fremdes<br />

Eigentum genauso respektierten, wie jeder andere dies auch<br />

tut. Des Weiteren sagte ich, dass wir uns an den grauen und<br />

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dunklen Farbtönen störten die unsere Nachbarschaft seit jeher<br />

dominierten und wir dies gerne ändern wollen, auch wenn es<br />

möglicherweise nicht im Sinne aller Anwohner geschehe. Was<br />

ich ihr zuletzt erläuterte, war ihr wohl am einfachsten begreiflich,<br />

denn ich sagte, dass wir, ganz einfach gesagt, auf eine sehr<br />

leidenschaftliche Art und Weise unsere Handschrift pflegten<br />

und diese Leidenschaft gerne mit Dritten teilen wollten. Eine<br />

Leidenschaft für die es nicht genügt, bloß auf Papier zu stehen,<br />

denn sie lebt davon, in einem öffentlichen Kontext präsentiert<br />

zu werden. Meine Mutter lächelte, was mir als eindeutiges<br />

Zeichen von Vertrauen erschien und nicht von Missmut, wie<br />

anfänglich angenommen.<br />

Es ist Zeit; wir wollen raus. Ich ziehe mir noch kurz einen Pullover<br />

über und stecke meine Plastiktüte mit den Stiften in meine<br />

Hosentasche. Raus! Es ist dunkel; nur noch wenige Lichter<br />

brennen, also genau die richtige Zeit für uns. Erstes Ziel: die<br />

Bahnhofsunterführung. Das kalte Grau des Betons empfängt<br />

uns nicht sehr herzlich. Sie ist leer. Beide haben wir den Stift<br />

in der Hand. Der Abend kann beginnen! Schon beim ersten<br />

Kontakt mit der Mauer tropft der Stift so stark, dass der Tropfen<br />

den Boden mühelos erreicht. Das ganze geht sehr schnell.<br />

Über meine Schulter erblicke ich, dass auch er gleich fertig<br />

ist. Ein letzter Strich. Er hat bemerkt, dass ich ihm zusehe. Er<br />

muss lachen. Deckel drauf und raus. Der Start ist schon einmal<br />

gut gelungen und das Grau der Unterführung hat nun endlich<br />

wieder farbige Gesellschaft. Da kommt auch schon unser Zug,<br />

der uns stadteinwärts bringen soll. Er ist eben so verlassen, wie<br />

es auch die Unterführung war. Er sieht mich an und grinst. Ich<br />

schüttle meinen Kopf. In Zügen habe ich mich beim Schreiben<br />

noch nie wohl gefühlt und es auch meist unterlassen, doch für<br />

ihn scheint es kein Halten zu geben. Ich weise ihn an, noch kurz<br />

zu warten, denn zuerst will ich noch kurz ein Auge ins Abteil<br />

werfen, um auch sicher zu stellen, dass niemand da ist. So ist<br />

es auch; trotzdem bitte ich ihn noch zu warten und den Stift<br />

erst kurz vor unserem Ausstieg auszupacken. So ist es auch. Die<br />

Türen öffnen, er reißt den Deckel von seinem Stift, während<br />

ich raus springe. Zum Glück ist niemand zu sehen. Nun springt<br />

er ebenfalls raus und scheint das Ganze nicht unbeschadet<br />

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überstanden zu haben, denn seine Schuhe sind voller Farbtropfen.<br />

Ich muss lachen, er jedoch scheint dies im ersten Moment<br />

nicht komisch zu finden, doch dann verzieht er sein Gesicht<br />

und springt davon, ich hinten nach. Nun kann kommen, was<br />

wolle. Wir bewegen uns schnell vorwärts, ohne jedoch gute<br />

Gelegenheiten auszulassen, unsere «Tags» anzubringen. Türen<br />

sind beliebt, genauso wie Briefkästen, Tafeln und Schilder<br />

und was man sonst halt spontan noch so findet. Unsere Farbe<br />

scheint in Strömen zu fließen, während Freude und Adrenalin<br />

unsere Wahrnehmung beherrschen. Wir sind in guter Mission<br />

unterwegs, haben wir zumindest das Gefühl, doch die Meinungen<br />

von dritten interessiert uns wenig. Es ist unsere Welt in<br />

unserer Stadt. Wir geben ihr etwas zurück. Wir geben ihr Farbe,<br />

Kontrast und eine Geschichte, die jedermann lesen soll, das hat<br />

sie nämlich verdient. Wir, im Vergleichen zu vielen anderen,<br />

leben unsere Stadt und für mich gehört ein aktives Mitgestalten<br />

genauso dazu, wie etwa das Bezahlen von Steuern.<br />

Die Stifte sind leer, unsere Kleider dreckig und die Gemüter<br />

zufrieden. Wir sind aus dem Alltag der Stadt ausgebrochen<br />

und haben uns eine Abwechslung geschaffen, die uns niemand<br />

nehmen wird. Möglicherweise mag man uns nicht, aber daran<br />

denken wir gar nicht erst; ist man nämlich erst einmal in diese<br />

Welt eingetaucht, so will man da immer wieder rein.<br />

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Interview mit «GANK»<br />

Wie entwirfst du dein «Tag»<br />

Am Anfang ist mir das Wort eigentlich ziemlich unwichtig. Es<br />

geht mir zuerst darum Buchstaben zu finden und diese dann einzeln<br />

zu entwickeln. Erst in zweiter Linie wird für mich dann auch<br />

der Klang des Namens wichtig, aber einen persönlichen Bezug<br />

zu diesem Wort gibt es nicht wirklich. Auch jenes «Tag», das ich<br />

zurzeit verwende, ist erst langsam entstanden. Es sind meistens<br />

bestimmte Momente, in denen dir irgendwelche Namen in den<br />

Kopf schiessen, die einem dann auch gefallen. Dann wird es ein<br />

Ausprobieren, bei dem man sich fragt, wie man einzelne Buchstaben<br />

zusammenhängen und verbinden kann. Sehr viel hängt natürlich<br />

von der eigenen Handbewegung ab, jedoch heisst es nicht<br />

unbedingt, dass wenn einem ein «Tag» missglückt, dieses einem<br />

auch nicht gefällt. Es kann durchaus auch vorkommen, dass man<br />

gerade durch solche Missgeschicke neue Formen findet, die einen<br />

ansprechen.<br />

Kann man sagen, da auch du schon verschiedene Namen angenommen<br />

hast, dass neue Namen eine neue Identität geben<br />

Mir Hm, kommt sehr stark auf die Situation drauf an.<br />

Manchmal behält man einen sehr ähnlichen Stil bei, aber es kann<br />

durchaus auch Wechsel geben. Ich denke eine konkrete Antwort<br />

auf diese Frage gibt es nicht, denn es kommt immer auf die ganze<br />

Situation, den Namen und die Buchstaben drauf an. Denn auch<br />

wenn man mal ein «Tag» angenommen hat, so bleibt dies nicht<br />

für immer bestehen, es verändert sich, teilweise auch sehr stark,<br />

sodass man immer noch dasselbe Wort schreibt, dies nun jedoch<br />

eine komplett neue Form hat.<br />

Was repräsentierst du<br />

Was ich repräsentiere Nichts! Meinen Ausdruck, eine bestimmte<br />

Form, die ich gefunden habe. Noch schwer zu sagen. Indirekt<br />

repräsentiert mein «Tag» mich und meine Person.<br />

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Kennt ein «Tagger» die Stadt besser<br />

Ja ich denke schon. Dies hat ganz einfach damit zu tun, dass<br />

er viel genauer darauf achtet, was es in der Stadt zu sehen gibt.<br />

Bestimmte Orte betrachtet er auch viel genauer, weil ihm halt Sachen<br />

auffallen, die andere Menschen nicht wahrnehmen würden<br />

und dadurch ist es auch klar, dass er eine Stadt besser kennt.<br />

Wie würdest du die Kraft beschreiben, die dich treibt Ist diese<br />

kreativ oder destruktiv<br />

Ich achte vor allem auf Kreativität bei meinen «Tags». Mir geht<br />

es nicht darum, möglichst oft gesehen zu werden. Mir ist es wichtig<br />

möglichst speziell zu schreiben. Dies muss nicht unbedingt einmal<br />

schön sein, denn Schönheit ist ohnehin sehr relativ. Es kann<br />

durchaus auch so sein, dass mir «Tags» gut gefallen, obschon ich<br />

diese nicht wirklich schön finde. Sobald ich sehe, dass es überlegt<br />

ist, dass gewisse Gedanken hinter einem «Tag» stehen und so diese<br />

Kreativität sichtbar wird, kann mir das oft genügen, damit mir ein<br />

«Tag» gefällt. Oftmals ist es auch so, dass ich ein «Tag» als Ganzes<br />

nicht wirklich schön finde, mich jedoch einzelne, darin enthaltene<br />

Buchstaben sehr interessant dünken, da sie gut gestaltet sind.<br />

Kannst du deine Kreativität vollständig mit «Taggen» ausleben<br />

Es ist bestimmt nicht so, dass ich meine Kreativität nur mit<br />

dem «Taggen» auslebe, aber es ist halt ein Teil davon. Wie wichtig<br />

es jedoch für mich ist kann ich nicht wirklich sagen. Es ist einfach<br />

etwas, das mir gefällt und Spass macht. Es ist bestimmt auch ein<br />

Ausgleich. Man kommt von diesem Alltagsstress ein wenig runter<br />

und ist mit sich selbst beschäftigt. Es ist einfach eine willkommene<br />

Abwechslung, denn man macht dies auch nicht tagtäglich,<br />

ausser man ist voll in dieser Szene versifft!<br />

Gibt es bestimmte Regeln, die du beim «Taggen» einhältst<br />

Regeln gibt es keine. Es geht einfach darum, dass man über<br />

bestehende Graffitis oder «Tags» nicht drüber schreibt, also ich<br />

zumindest. Klar gibt es gewisse Kreise, die ein solch aggressives<br />

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<strong>14</strong>9 Sichtbar<br />

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Vorgehen pflegen, gewissermassen Krieg führen mit anderen<br />

«Taggern», aber dazu gehöre ich bestimmt nicht. So etwas interessiert<br />

mich nicht. Ich schaue da manchmal einfach gerne zu,<br />

denn ich finde das oftmals sehr amüsant.<br />

Markers oder Cans<br />

Markers ganz klar!<br />

Zug oder Mauer<br />

Das kommt drauf an, je nachdem wo du deine Kreativität am<br />

besten ausleben kannst. Ich persönlich finde Mauern weniger<br />

interessant. Viel spannender finde ich das «Taggen» auf Gegenständen<br />

wie beispielsweise Ampeln und anderen Dingen die man<br />

auf den Strassen findet. So kann man auch mit der Form des Gegenstandes<br />

spielen und seine Schrift entsprechend variieren. Nur<br />

hat man halt leider meistens nicht allzu viel Zeit. Dadurch, dass<br />

die Zeit begrenzt ist und man auch immer auf neue Gegenstände<br />

triff, lebt man beim «Taggen» von einer sehr spontanen Kreativität.<br />

So besteht auch immer die Möglichkeit, die eigene Schrift zu<br />

verbessern, da sie laufend der Umgebung angepasst wird, obwohl<br />

für mich die Kreativität zuhause beim eigentlichen Entwerfen<br />

am meisten zum Vorschein kommt. Kreativität braucht meiner<br />

Ansicht nach auch Zeit, die man beim «Taggen» draussen sicher<br />

nicht hat, da sind es eher spontane kleine Veränderungen, die man<br />

vornimmt.<br />

Was hältst du von Kalligrafie<br />

Kalligrafie finde ich krass. Die Genauigkeit, mit der gearbeitet<br />

werden muss, beeindruckt mich total und auch die Möglichkeiten,<br />

die eigene Kreativität mit einer derart klassischen Bildung<br />

auszuleben, finde ich bewundernswert.<br />

Kann man sich als «Tagger» etwas von der Kalligrafie abschauen<br />

oder sonst irgendwie davon profitieren<br />

Ja klar. Vor allem die Genauigkeit, die bei den meisten «Tagger»<br />

kaum bis gar nicht vorhanden ist. Auch die ruhige Feder-<br />

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151 Sichtbar<br />

führung, die einen sauberen Strich erst möglich macht, würde<br />

bestimmt auch einem «Tagger» viel nützen. Auf der anderen Seite<br />

ist es auch sehr schwer, Kalligrafie und «Tags» zu vergleichen.<br />

Beim «Tagger» ist die Unterlage oftmals viel härter und vor allem<br />

rauer. Auch die Stifte erschweren genaues arbeiten, da diese halt<br />

oftmals auch unter dem Gebrauch auf diesen Oberflächen leiden<br />

und rasch abgenutzt sind. Auch die verwendete Tinte spielt beim<br />

«Tagger» eine wichtige Rolle. Oftmals spielt dieser mit Farbtropfen,<br />

die bei schnellem Schreiben und je nach Stiftwahl sehr rasch<br />

entstehen. Diese Farbtropfen lassen sich dann nicht kontrollieren<br />

und so spielt auch noch der Zufall eine Rolle.<br />

Was hältst du von Auftrags- und Galleriegraffitis<br />

Finde ich cool. Wenn sich damit Geld verdienen lässt, wieso<br />

nicht Ich kenne auch jemanden, der damit erfolgreich ist und damit<br />

auch ziemlich gut verdient. Natürlich kommt es auch immer<br />

auf den Ort an, denn damit ein Graffiti gut ist, muss auch zu seiner<br />

Umgebung passen, sonst ergibt das Ganze wenig Sinn.<br />

Definiere, was für dich ein gutes «Tag» ausmacht<br />

Ein gutes «Tag»... Schwer zu sagen. Es gibt jeweils mehrere Aspekte,<br />

die entscheidend sind. Auf was ich am meisten achte, ist<br />

ob die Buchstaben gut miteinander verbunden wurden. Wirkt das<br />

«Tag» geschlossen, quasi als eine Einheit oder stehen die Buchstaben<br />

einzeln im Raum. Für mich ist es immer noch das beste, wenn<br />

ein «Tag» in einem Strich gezogen werden kann, ohne Unterbruch.<br />

«Egal wie schön ein Tag ist, diejenigen die am häufigsten zu sehen<br />

sind, werden immer am meisten geachtet, egal wie hässlich diese<br />

teilweise auch sind»<br />

Kann der Style eines «Tags» stellvertretend für den Charakter eines<br />

«Taggers» stehen<br />

Ja, das denke ich schon. Zum Teil merkt man sehr gut, ob ein<br />

«Tagger» seine Hand ruhig führen kann und somit auch mit Sorgfalt<br />

am Werk ist. Teilweise wirken «Tags» auch sehr zerstreut,<br />

was dann eher wieder darauf hin deutet, dass diese Person ein un-<br />

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ruhiges Gemüt hat. Ob ein «Tagger» mit der Absicht seinen Namen<br />

zu verbreiten unterwegs ist oder ob es jemand ist, der seinem<br />

Talent nachkommt, lässt sich auch ganz gut erkennen. Für mich<br />

besteht also klar eine Verbindung zwischen Style und Charakter.<br />

Gibt einem das «Taggen» eine Identität, die im ganzen urbanen<br />

Wirrwarr verloren geht<br />

Ich verstehe nicht weshalb du von Wirrwarr sprichst, denn mir<br />

persönlich ist dies nicht wichtig, davon kriege ich gar nicht viel<br />

mit. Ich beachte es nicht und deshalb verstehe ich nicht, weshalb<br />

ich darin eine Identität suchen sollte. Wenn ich mir das Ganze<br />

einmal durch den Kopf gehen lasse, dann denke ich, dass dies<br />

möglicherweise auf «Tagger» zutrifft, die möglichst häufig ihr<br />

«Tag» setzen und sich so gewissermassen Bekanntheit in der Stadt<br />

verschaffen, aber auf mich persönlich trifft dies gar nicht zu. Lustig<br />

ist es dann, wenn man nur die «Tags», aber nicht die Person<br />

selbst kennt, mit dieser dann aber zu einem späteren Zeitpunkt<br />

einmal Bekanntschaft macht.<br />

Wie wichtig ist die Farbwahl<br />

Die Farbwahl spielt zum Teil schon eine Rolle. Was halt ist, sind<br />

die drei Grundfarben, die es beim «Taggen» gibt und zwar Silber,<br />

Schwarz und Weiss. Klar gibt es auch farbige «Tags», aber diese<br />

sind weniger häufig. Auch dadurch, dass Hauswände oft nicht<br />

richtig weiss sind und auch andere Orte eher einen hellen oder einen<br />

dunklen Farbton haben, erreicht man mit einem Schwarz oder<br />

einem Weiss einfach die besten Kontraste. Dazu kommt noch,<br />

dass mir persönlich farbige «Tags» weniger gut gefallen.<br />

Wie reagiert die Szene auf das Wegputzen von «Tags» Ist dies eher<br />

fördernd oder hemmend für einen «Tagger» zu sehen, wie seine<br />

«Tags» verschwinden<br />

Schwer zu sagen, aber ich denke der grösste Teil der «Tagger»<br />

wird dadurch noch zusätzlich motiviert, denn dadurch wird neuer<br />

Platz geschaffen und wenn man beim «Taggen» davon ausgeht,<br />

dass es darum geht, einen Adrenanlinschub zu holen, dann ist<br />

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153 Sichtbar<br />

das Risiko beim zweiten Mal am selben Ort grösser und somit<br />

auch das Adrenalin stärker, weil man weiss, dass «Tags» dort<br />

nicht erwünscht sind und diese Orte beobachtet oder gar bewacht<br />

werden.<br />

Was gibt es für Alternativen zum «Taggen»<br />

Ich denke Zeichnen wäre durchaus eine Alternative. Sei dies<br />

nun das Zeichnen von Figuren, Kreaturen, was auch immer. So<br />

kann man seiner Kreativität ihren freien Lauft lassen. Meistens ist<br />

das «Taggen» ja auch sehr stark mit dem Graffiti verbunden, also<br />

wäre dies sicher auch eine mögliche Alternative, sei dies nun auch<br />

auf Papier gezeichnet oder an die Wand gesprayt.<br />

Bist du kunstinteressiert<br />

Ja, sehr sogar. Man beachtet halt vieles, seien dies nun Fotos,<br />

Skulpturen, Bilder – alles Mögliche halt. «Taggen» hat mein Interesse<br />

an Kunst sicher auch verstärkt und mein Auge geschult, so<br />

dass ich heute genauer hinsehe, egal durch welches Medium sich<br />

ein Künstler nun ausdrückt.<br />

Welche Risiken nimmst du auf dich<br />

Eigentlich das einzige, aber auch grosse Risiko, das man auf<br />

sich nimmt, sind Probleme mit dem Gesetz. Familiäre Probleme<br />

durch meine Aktivität als «Tagger» sind ausgeschlossen, auch<br />

Probleme mit Freunden deswegen sind bei mir kein Thema.<br />

Wenn du jeweils «taggen» gehst, passiert das spontan oder bereitest<br />

du dich irgendwie darauf vor Gibt es spezielle Abläufe, die du<br />

einhältst<br />

Meistens spontan. Wobei ich ohnehin denke, dass spontane<br />

Aktionen jeweils die besten sind, was möglicherweise auch einfach<br />

damit zu tun hat, dass ich ein sehr spontaner Mensch bin.<br />

Abläufe gibt es keine. Das einzige, was immer gleich bleibt, ist,<br />

dass das Ganze sich jeweils in der Nacht abspielt, wenn es Dunkel<br />

ist draussen, doch das ist wohl klar.<br />

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154<br />

Kann «Taggen» eine Sucht sein<br />

Ja, das denke ich. Dies ist bei mir zwar nicht der Fall, doch<br />

kann ich es mir sehr gut vorstellen. Vor allem halt für Leute, die<br />

sehr häufig, wenn nicht sogar täglich, unterwegs sind. Ich glaube<br />

eine Suchtgefahr ist vorhanden, denn das Gefühl, das man hat,<br />

wenn man «taggen» geht, ist sehr speziell. Dies sind sehr verschiedene<br />

Gefühle, so hat man einerseits ein sehr gutes Gefühl, wenn<br />

einem ein «Tag» gelingt, doch kann es andererseits auch scheisse<br />

sein, wenn eines misslingt. Bestimmt hat das Ganze auch mit Adrenalin<br />

zu tun. Dieses Gefühl zu beschreiben, ist sehr schwer und<br />

kann, so glaube ich, ohnehin nur von Personen nachempfunden<br />

werden, die es selbst draussen auf der Strasse erlebt haben. Man<br />

kann das Risiko auch herausfordern und immer heiklere Sachen<br />

wagen, so dass dieses gefühlte Adrenalin immer stärker wird.<br />

Dies sei jedem selbst überlassen.<br />

Gibt es Orte, die du verschonst<br />

Ja, die gibt es. Die Kirche zum Beispiel, obwohl ich eigentlich<br />

auf die Kirche scheisse. Dies hat einfach mit Respekt zu tun. Es<br />

gibt auch ganz einfach Orte, wo «Tags» nicht hinpassen. Schöne<br />

Architektur ist mir beispielsweise meistens ein Hindernis; würde<br />

da drauf «getaggt», störte ich mich selbst daran. Die Orte, die ich<br />

auswähle, brauchen eine Urbanität, wenn ich dem so sagen kann.<br />

Sie müssen Teil der Stadt sein, sonst passt das ganze nicht.<br />

Findest du deine Stadt ist, auf «Tags» bezogen, überfüllt<br />

Bei uns hier in Biel schon, ja. Allmählich haben sie zwar angefangen,<br />

die Stadt zu säubern, wenn man das so sagen darf, aber<br />

hier sind nach wie vor etwa 40% der Häuser «besprayt» oder<br />

«vertaggt».<br />

Was unterscheidet dich von anderen «Taggern»<br />

Eben, so gut als möglich mein individueller Stil und sonst gibt<br />

es eigentlich keine Unterschiede, denke ich. Es ist auch nicht so,<br />

dass sich mein Stil extrem stark von jenem anderer «Tagger» unterscheidet,<br />

denn so individuell ist er auch nicht. Ich versuche mich<br />

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155 Sichtbar<br />

halt, grob gesagt, durch meine Schrift und meine Buchstaben von<br />

anderen zu unterscheiden.<br />

Schreibst du alleine oder nicht Weshalb<br />

Es kann vorkommen, dass ich alleine unterwegs bin, doch<br />

meistens ist es zu zweit einfach lustiger. Dann ist nämlich auch<br />

jemand mit dabei, der seine Kreativität auslebt, was gewissermassen<br />

inspirierend und auch ein zusätzlicher Antrieb ist. Es macht<br />

dann auch Spass, der anderen Person zuzuschauen und zu sehen,<br />

wie ihm die «Tags» gelingen. So findet ein Austausch statt, von<br />

dem beide lernen und profitieren können. Zudem ist es halt auch<br />

so, dass vier Augen häufig mehr sehen als zwei, also gibt dies<br />

einem auch ein Gefühl von Sicherheit, wenn jemand dabei ist, der<br />

auch darauf achtet, dass einen niemand erwischt.<br />

Was sind Zusammenhänge zwischen Alkohol und «Taggen»<br />

Alkohol senkt bekanntlich die Hemmschwelle und hat somit<br />

auch einen Einfluss aufs «Taggen», sofern man auch einen Stift<br />

dabei hat, wenn man betrunken ist. Man nimmt halt dann viel<br />

grössere Risiken auf sich, doch auch die Qualität des «Tags» leidet<br />

stark. Man «taggt» dann zwar überall, aber die «Tags» sind einfach<br />

hässlich, also ist diese Kombination nicht empfehlenswert!<br />

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157 Sichtbar<br />

4<br />

Edith Glaser<br />

«Die Aussicht, die man hat»<br />

«Am meisten interessierte mich das Bett, wie man das machen sollte.<br />

Denn Frau D hat uns erzählt, wir lägen in einem Bett in einem Schiff. (…)<br />

Und dann – eben, – dass man die Aussicht auch hat, dass man seine Füsse<br />

noch sieht. – Das ist witzig.» (Enia, 10 J.)<br />

Enia zeichnet und spricht über ihre Zeichnung<br />

Enia, eine 10-jährige Schülerin, erzählt im Interview, was sie an<br />

einer Zeichenaufgabe besonders interessiert und wodurch sie sich<br />

herausfordern lässt. Sie ist ein neugieriges Mädchen, das gerne<br />

zeichnet. Es macht ihr Spass, sich auf eine schwierige, komplexe<br />

Aufgabenstellung einzulassen und diese mit persönlichen, bildnerischen<br />

Anliegen zu verknüpfen.<br />

Im Kontext eines Forschungsprojektes<br />

Die Aufgabe «Ich erwache in der Kajüte», von der Enia spricht,<br />

steht im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt ‹raviko› 1 , in<br />

welchem die räumlich-visuellen Kompetenzen von Kindern der<br />

4. bis 6. Jahrgangsklassen untersucht werden.<br />

Ausgangspunkt im Projekt war der Gedanke, dass heute nicht<br />

mehr nur das Modell der Fluchtpunktperspektive als Ideal am<br />

Ende der zeichnerischen Entwicklung stehen soll, wie dies die<br />

bisherigen Kinderzeichnungstheorien annehmen. Vielmehr sollen<br />

im Unterricht Bildnerisches Gestalten sehr unterschiedliche räumliche<br />

Darstellungsformen geschätzt und gefördert werden. Dies<br />

alles vor dem Hintergrund, dass unterschiedliche zeichnerische<br />

Raumdarstellungsformen dank der Globalisierung und Virtualisierung<br />

weltweit ohne Hierarchie bestehen und diese Vielfalt an<br />

Bedeutung gewinnt (interkulturelle Kompetenzen / Google Earth<br />

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und andere bewegte Bilder / Entwurf virtueller Räume mit unterschiedlichen<br />

Entwurfsstadien). Um die zeichnerischen Vorgänge<br />

besser zu verstehen, wird im Projekt ‹raviko› nicht wie bisher in<br />

der Kinderzeichnungsforschung nur das Endergebnis (Zeichnung)<br />

betrachtet, sondern es werden auch der Zeichen-Prozess (mittels<br />

Video) und die Reflexionen der Zeichnerin (mittels Interview)<br />

erfasst. Das Datenmaterial wird durch das Forschungsteam, bestehend<br />

aus fünf Fachdidaktikdozierenden, während einer Aufgabenreihe<br />

im Unterricht Bildnerisches Gestalten erhoben, anschliessend<br />

aufbereitet und ausgewertet 2 .<br />

Zur ausgewählten Aufgabenstellung<br />

Auf der Grundlage einer offensichtlich motivierenden Rahmengeschichte<br />

formuliert die Lehrperson in der vierten Doppelstunde<br />

folgende Aufgabe: «Ihr befindet euch jetzt in einem alten Holzschiff<br />

auf stürmischer See. Beim Erwachen in einem Bett mit<br />

Baldachin blickt ihr in dieses Zimmer, als eben eine Person zur<br />

Türe rein kommt.» Die Klasse wird damit aufgefordert, die in der<br />

Rahmengeschichte geschilderte Situation 3 in einer Zeichnung individuell<br />

weiter auszubauen.<br />

Enias zeichnerische Anliegen<br />

Die Schülerin realisiert schnell, dass ihr gewohntes, abrufbares<br />

bildnerisches Schema zur Darstellung der geschilderten Situation<br />

nicht mehr genügt. Nach alter Gewohnheit hätte sie sich selbst<br />

früher als Figur im vollständig gezeichneten Bett dargestellt und<br />

sich gleichzeitig als Zeichnerin und Betrachterin ausserhalb des<br />

Bildes gedacht. Nun interessiert sich Enia jedoch für die Nuance<br />

in der Aufgabenstellung und versucht sich vorzustellen, was sie im<br />

Bett liegend von sich selbst, vom Bett und vom Zimmer erblicken<br />

kann.<br />

«Ich habe sonst einfach das Bett gezeichnet (zeigt auf die Bildfläche links),<br />

ich drin und dann den Raum (zeigt auf Bildfläche rechts).<br />

Aber dass es aussieht, dass ich schaue, dann muss man es ja so machen.»<br />

(Enia, S4, Z.275–277)<br />

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Sie erfindet eine neue Bildlösung, in der die Person im Bett und<br />

das Selbst der Zeichnerin identisch sind. Das Bett, von oben gesehen,<br />

wird angeschnitten dargestellt. Der Blick der im Bett liegenden<br />

Person gleitet über Bettdecke und Füsse hinweg in den Raum<br />

auf Zimmerdecke, Boden, Seitenwände und die frontale Wand des<br />

Zimmers.<br />

Irritation während des (videografierten) Zeichenprozesses<br />

Im viedeografierten Zeichenprozess sind Enias Schwierigkeiten,<br />

die durch die Suche nach einer neuartigen Lösung entstehen, für<br />

uns Forschende gut nachvollziehbar.<br />

Die Schülerin Enia (10J.) beginnt ihre Zeichnung mit schnell<br />

ausgeführten Strichen. Sie zeichnet die sich nach hinten verjüngende<br />

Zimmerdecke und zieht die Kanten zwischen Front- und<br />

Seitenwänden bis zum untern Blattrand herunter. Der untere<br />

Blattrand wird als Bodenlinie gedacht. Die zentrale Herausforderung<br />

für Enia ist jedoch die Sicht aus dem Bett heraus. Es ist<br />

ein bildnerisches Problem, das sie sich lustvoll zu eigen macht.<br />

Um dieses zu lösen, stellt sie das Bett senkrecht auf die untere<br />

Blattkante und markiert die angeschnittene Bettdecke mit einem<br />

Wellenrand. (Abb.1).<br />

Abb.1<br />

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160<br />

Im weiteren Verlauf des Zeichnens hält sie plötzlich inne. Offensichtlich<br />

überlegt sie sich, was denn nun aus dem Bett heraus<br />

im Zimmer zu sehen ist. Sie betrachtet ihre angefangene Zeichnung,<br />

stellt das Zeichenblatt vor sich auf, legt es wieder auf den<br />

Tisch, denkt lange nach. Plötzlich greift sie entschlossen nach dem<br />

Gummi und radiert Bett und Füsse wieder weg. Im späteren Interview<br />

erinnert sie sich an ihre Überlegung, dass nämlich nach<br />

der ersten Skizze (Abb.1) für all die Dinge, die sie noch zeichnen<br />

wollte, nicht mehr genügend Platz auf dem Zeichenblatt blieb:<br />

Enia: Ich hatte zuerst meine Füsse da oben.<br />

I: aha<br />

Enia: Und dann habe ich gedacht, nein, sonst kann ich ja das hinten nicht<br />

zeichnen. Dann mache ich es lieber ein bisschen mehr<br />

(…unverständlich, zeigt nach unten).<br />

I: ah, weiter unten, damit du mehr Platz hast oben<br />

Enia: mhm (S4, Z.100–107)<br />

Durch den videografierten, sichtbar gemachten zeitlichen Ablauf<br />

lässt sich beobachten, wie Enia zuerst auf das gewohnte Raumkonzept<br />

des Standlinienbildes zurückgreift, in welchem die untere<br />

Blattkante als Boden verstanden wird. Wie sie dann den auftretenden<br />

Krisenmoment meistert, aus dem das Neue entsteht und in<br />

welchem ein Wechsel des mentalen Raumkonzeptes stattfindet.<br />

Enia kürzt die Wände und setzt zwischen Blattunterkante und<br />

Rückwand einen Bodenstreifen ein, auf dessen obere Begrenzung<br />

(eine neue Standlinie) nun die Kiste mit ihren Kleidern drin, Tisch<br />

und Stuhl und die offene Türe gestellt werden können.<br />

Enias Zeichnung<br />

In ihrer Schlusszeichnung (Abb.2) zeigt Enia die Kombination<br />

eines «Streifenbildes» nach orthogonalen Prinzipien und einer<br />

«zentralperspektivischen Darstellung» der Zimmerdecke in der<br />

oberen Bildzone. Dem Konzept «Streifenbild» entspricht die Aufsicht<br />

im unteren Bildstreifen auf Boden, Bett und Teppich und<br />

die Ansicht von Objekten wie Tisch, Schiffskiste etc. vor der getäfelten<br />

Wand im mittleren Streifen. Der mittlere Streifen weist<br />

orthogonale Elemente auf und orientiert sich an einer Standlinie.<br />

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161 Sichtbar<br />

Abb.2<br />

Die Objekte des Mittelstreifens wirken flach und wie an die Wand<br />

geklebt, nur die frontal dargestellte Person steht im Raum drin<br />

auf der Bodenfläche zwischen Bett und Wand.<br />

Der bewusste Perspektivenwechsel ist Enias Stolz<br />

Enia findet eine zeichnerische Lösung, bei der die dargestellte Person<br />

im Bett mit der Identität der Zeichnerin verschmilzt. Vieles<br />

dieser neuen Sichtweise und der entsprechenden Darstellung kann<br />

Enia noch nicht verbal-sprachlich fassen. Sie beurteilt aber die gefundene<br />

Lösung als gut. Sie ist stolz darauf, weil sie, im Gegensatz<br />

zur Mehrheit der andern Schülerinnen und Schüler dieser vierten<br />

Klasse, die neue Herausforderung angenommen und eine ihrer<br />

Meinung nach adäquate, neuartige Lösung realisiert hat.<br />

I: Hast du irgendetwas auf eine Art und Weise gezeichnet, die neu ist<br />

Hast du etwas früher noch nicht so dargestellt<br />

Enia: Fffff (Luft ausgeblasen; lacht dann) – ja, dass es ein Schiff ist.<br />

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Ich mache eigentlich nicht so – Sachen in Schiffen – ja – und die Füsse<br />

sind auch neu, das Bett so zu zeichnen<br />

I: aha<br />

Enia: Das war sehr neu. (lacht)<br />

I: Gut, das war neu. Sonst, wie hast du das Bett sonst gezeichnet<br />

Enia: Ich habe sonst einfach das Bett gezeichnet, ich drin und dann<br />

den Raum. Aber dass es aussieht, dass ich schaue, dann muss man<br />

es ja so machen.<br />

I: mhm<br />

Enia: Ja, ich habe auch, wenn ich durch gegangen bin, – ein paar haben<br />

es auch so gemacht, einfach ein Bett und sich darin und dann die, –<br />

einfach die Sachen.<br />

I: Bei den andern Schülerinnen hast du das gesehen<br />

Enia: (nickt) (S4, Z.263–286)<br />

Enia lässt sich mit Vergnügen auf Überraschendes oder auch Irritierendes<br />

ein. Mit Genuss setzt sie sich ungewohnten Erfahrungen aus<br />

und verfolgt hartnäckig neue bildnerische Darstellungsformen.<br />

Die narrative bildnerische Fantasie und das Sprechen über die eigene<br />

Zeichnung<br />

Die Schülerin lässt sich von der gestellten Aufgabe anregen. Sie<br />

weist zum Beispiel darauf hin, dass von der Decke ein Lampe<br />

hängt: «Die Lampe ist oben angemacht. Das hat man so machen<br />

müssen.» (S4, Z.70/71). Während des Zeichnens baut sie dann<br />

die Szene nach eigenen Interessen weiter aus. Zusätzlich will sie<br />

zeigen, wie stark das Schiff im Sturm schaukelt und dass dadurch<br />

die Lampe ins Schwingen kommt. Man sieht durch die Bullaugen<br />

hohen Wellengang. Die Realisierung ihres Anliegens gelingt ihr<br />

durch die gewagte Formvariation der Lampe und die Bewegungszeichen<br />

links und rechts (Abb.2). Sie erläutert im Interview: «Ja,<br />

das Schiff ist ja im Sturm, und es wackelt sehr. Da hat, – ist eben<br />

die Lampe, die wackelt, hin und her schwingt sie (...) – Da ist sie<br />

gerade auf der linken Seite.» (S4, Z.182–184)<br />

Zirkel, Karte und Globus auf dem Tisch (Abb.3) lassen vermuten,<br />

dass Enia stark handlungsorientiert denkt und zeichnet. In<br />

den Interview-Aussagen weist sie auch auf die auf dem Tisch liegenden<br />

Utensilien der Passagierin hin, die damit ihre Schiffsreise<br />

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Abb.3<br />

plant und kontrolliert. «Ja, die Karte vor allem und dann – (...)<br />

der Zirkel, da kann man Kilometer messen. Und dann noch das<br />

(lacht und zeigt auf den Globus)» (S4, Z.28–32). Sie fährt später<br />

im Zusammenhang mit dem Hinweis auf den Besitzer des Schiffes<br />

in ihrer Beschreibung der Dinge und deren Funktion weiter und<br />

holt fantasievoll aus, geht in ihrer Schilderung auch über das tatsächlich<br />

Dargestellte hinaus:<br />

Enia: (...) und das ist eine Schatzkarte<br />

I: aha<br />

Enia: Von den Franzosen (lacht, ...) Ja. Da ist das Kreuz, das ist eben da bei<br />

diesen dreien, diesen drei (Inseln), und da ist noch ein (unverständlich)<br />

Inselchen, das konnte ich nicht zeichnen; das wäre unmöglich<br />

I: ah gut. Also da hat sich jemand orientiert, wo er gerade segelt<br />

mit dem Schiff<br />

Enia: mhm (S4, Z.<strong>14</strong>4–158)<br />

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164<br />

Die unterschiedlichen Bildelemente werden hauptsächlich unter<br />

inhaltlichen Aspekten betrachtet. Sie charakterisieren die dargestellte<br />

Situation (hin und her schwingende Lampe) oder die Rolle<br />

und Funktion der Personen. Selten fokussiert Enia formale Aspekte,<br />

wie zum Beispiel die räumliche Darstellung von Objekten,<br />

ohne einen konkreten inhaltlichen Bezug herzustellen. Es fehlt<br />

ihr allerdings für die Beschreibung formaler Aspekte ein präziser<br />

Wortschatz. Trotzdem versucht sie zu umschreiben, wie sie Tisch<br />

und Stuhl gezeichnet hat:<br />

Enia: Und dann hab ich noch eben gemacht, dass es ein bisschen<br />

räumlich aussieht, hier da (zeigt) – und dann der Tisch<br />

I: also, wie hast du das gezeigt, ja<br />

Enia: Ich habe beim – Stab, wo man – die Füsse des Stuhls, hab ich ein<br />

bis – also ein bisschen ausgemalt und dann neben dran noch, –<br />

einfach leer<br />

I: aha, also das ist jetzt -<br />

Enia: der Schatten. (...)<br />

I: Und das hast du auch beim Tisch so gemacht<br />

Enia: Ja, beim Tisch, aber da habe ich nicht ausgemalt. (S4, Z.116–134)<br />

Wenige Hinweise in der einführenden Erzählung der Lehrerin<br />

genügen Enia als Auslöser für eigenes assoziatives Fantasieren.<br />

Sie belebt die Kajütenszene. So interpretiert sie die ins Zimmer<br />

tretende Person als «Franzose», namens John McCary, den sie in<br />

historischem Kostüm darstellt. Die Geschichte, die sie sich ausdenkt,<br />

wird mit persönlichem Wissen und mit in der Fantasie Erlebtem<br />

angereichert. Gedanken und Gefühle werden bildnerisch<br />

artikuliert und hinterlassen in der Zeichnung Spuren. Während<br />

des Interviews rekonstruiert und reflektiert sie, was sie im Zeichenprozess<br />

gedacht und erlebt hat:<br />

Enia: Die (Person) ist hier schon im Zimmer. Das ist ein Franzose.<br />

Das Schiff gehört auch dem Franzosen. Derjenige, der es gebaut hat,<br />

war John McCary – Ja (lacht)<br />

I: Ja<br />

Enia: Ja, das war ein Franzose. (lacht) Und das ist sein Diener, die haben<br />

früher so Perücken gehabt, das habe ich auch so gemalt. (lacht)<br />

I: Sehr schön, das sieht man, dass er eine Perücke trägt.<br />

Das ist ein Mann also<br />

Enia: Ja ein Mann. Und dann haben sie noch viel Schmuck gehabt.<br />

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Das ist eben John, sein Diener. (...)<br />

I: mhm – Und was hast du eigentlich hier noch, ist das auf der Türe<br />

oder – daneben<br />

Enia: Nein, die Türe ist offen und das ist dahinten, dann ist so ein<br />

langer Gang, Ja hier ist ein Bild eines Franzosen, das ist, das ist<br />

John McCary und da ist auch noch eine Wachsfigur –<br />

I: ah, – und da sieht man in ein anderes Zimmer hinein<br />

Enia: Nein, da sieht man nicht in ein anderes Zimmer hinein, das war<br />

ein Gang<br />

I: ah ja, ein Korridor.<br />

Enia: Da hinten sind einfach Zimmer. (S4, Z. 211–256)<br />

Mit dem gezeichneten Ausblick durch die geöffnete Türe in den<br />

Gang hinaus erweitert Enia den Bildraum, gleichsam die Bühne,<br />

auf der ihre Geschichte gespielt wird. Sie verknüpft die Gegenwart<br />

des Dieners im Zimmer mit dem Hinweis auf den abwesenden<br />

Schiffsbesitzer, der in Bild und Wachsfigur im Korridor draussen<br />

präsent wird. Die Komplexität wird zusätzlich gesteigert durch<br />

die Verbindung von Kostümen und Utensilien aus vergangener<br />

Zeit mit dem momentan aktuellen Geschehen in der Kajüte.<br />

Vielfältige Artikulation Enias<br />

Die 10-jährige Schülerin Enia setzt Gedanken, Gefühle und Vorstellungen<br />

vielfältig bildnerisch um. Im Interview erläutert und beurteilt<br />

sie, welche Anliegen sie in ihrer Zeichnung verfolgt hat und<br />

ob ihr deren Darstellung gelungen ist. Enia verbindet die schulische<br />

Aufgabe mit ihrer ausgeprägten Phantasiewelt und vermag reichhaltig<br />

bildnerisch zu erzählen. Zusätzlich thematisiert sie in ihrer<br />

Zeichnung und im Interview das Sehen und wechselnde Blickwinkel<br />

– ein quasi filmisch anmutendes bildnerisches Denken.<br />

Sich abzeichnende Tendenzen im Forschungsprojekt raviko<br />

Enias Zeichnung weist eine Mischform zwischen den räumlichen<br />

Darstellungsformen des Streifenbildes und eines zentralperspektivischen<br />

Ansatzes auf, wie wir oben sehen und lesen können. In den<br />

bisherigen Auswertungen im Projekt ‹raviko› 4 entsprechen solche<br />

Zwischen- oder Mischformen der Raumdarstellung einer allgemein<br />

festgestellten Tendenz. Sie treten neben den konventionellen<br />

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166<br />

Raumdarstellungsformen in den Zeichnungen der 83 Kinder sehr<br />

häufig auf. Es ist zudem auffallend, dass Kinder je nach didaktischem<br />

Arrangement Zugriff auf mehrere Varianten von Raumdarstellungsformen<br />

haben, die zu ihrem Repertoire gehören oder<br />

die situativ miteinander kombiniert oder variiert werden. Dies<br />

ist bei Enia u.a. im videographierten Zeichenprozess gut sichtbar,<br />

in welchem sie mit dem Standlinienbild beginnt, um dann<br />

einen Konzeptwechsel hin zum Streifenbild vorzunehmen. Dank<br />

den Interviews mit mehreren Schülern/Schülerinnen wird für uns<br />

Forschende augenfällig, dass hinter den Raumdarstellungsformen<br />

unterschiedliche Verarbeitungsformen, Verarbeitungsmotivationen<br />

und Verarbeitungsintensitäten stehen. Ein Beispiel wird hier<br />

am «Fall Enia» vorgestellt. In den nächsten Untersuchungsphasen<br />

sollen, entsprechend den Projektzielen, aus den festgestellten<br />

Merkmalen des räumlichen Darstellens und mentalen Verarbeitens<br />

die Gruppierung unterschiedlicher Typen des räumlich-visuellen<br />

Wahrnehmens und Darstellens sowie deren Differenzierung<br />

nach Niveau-Stufen bestimmt werden. Die empirisch ermittelten<br />

Ergebnisse können den Weg für eine wirklich schülerorientierte<br />

und binnendifferenzierte Förderung bereiten.<br />

Glaser–Henzer, Edith, Prof., Dozentin für Fachunterricht und Fachdidaktik Bildnerische Gestaltung &<br />

Kunst an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz PH FHNW.<br />

edith.glaser@fhnw.ch<br />

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167 Sichtbar<br />

Verwendete Literatur:<br />

Duncker, L./ Neuss, Norbert (Hrsg.): Ästhetik der Kinder. Frankfurt/M, 1999<br />

Reiss, Wolfgang: Kinderzeichnungen. Wege zum Kind durch seine Zeichnung. Berlin (Luchterhand) 1996. S.7f,<br />

107-136<br />

Peez, Georg: Evaluation ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse. Beispiele zu ihrer empirischen Erforschung.<br />

München (kopaed) 2005. S.13-17<br />

Seydel, Fritz: Biografische Entwürfe. Ästhetische Verfahren in der Lehrer/innenbildung. In: Manfred Blohm<br />

(Hrsg.): Diskussionsbeiträge zur ästhetischen Bildung; Bd.6. Köln (Salon Verlag) 2005. S.156-165<br />

Strübing, Jörg: Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens<br />

der empirisch begründeten Theoriebildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH,<br />

Wiesbaden 2004<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Projekttitel: «Räumlich-visuelle Kompetenzen in Bezug auf ästhetische Erfahrungen im<br />

Unterricht Bildnerisches Gestalten – Eine qualitativ-empirische Untersuchung im Rahmen der<br />

fachdidaktischen Entwicklung von Kompetenzniveaus für Bildungsstandards in den Klassenstufen<br />

4-6» – Laufzeit 2007-2010.<br />

Dies ist ein Forschungsprojekt der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz,<br />

finanziell unterstützt durch die «Jacobs Foundation» und den Verband der «Lehrer<br />

und Lehrerinnen für Bildnerische Gestaltung und Kunst, Schweiz» (LBG)<br />

Weitere Informationen siehe:<br />

www.kunstunterricht-projekt.ch<br />

www.fhnw.ch/ph/ip/forschung/abravikobb-raeumlich-visuelle-kompetenzen<br />

2<br />

Die qualitativ-empirische Untersuchung basiert auf Maximen der «Grounded Theory», auch<br />

«Gegenstandsorientierte Theoriebildung» genannt (Glaser/ Strauss 1967; Strauss/ Cobin<br />

1996; Strübing 2004; Truschkat u.a. 2005).<br />

Mittels dieses Verfahrens werden aus einer geringen Anzahl von Daten gegenstandsbezogene<br />

Theorieaspekte entwickelt. Während der schulischen Förderphase werden in der Regel drei<br />

unterschiedliche Datenformen bei 4 Fällen einer Klasse erhoben: Zeichnung, Zeichenprozess,<br />

Interview. Dieser aus 4 Fällen bestehende Datenkorpus wird ergänzt mit weiteren 4 Fällen,<br />

bei welchen zwei unterschiedliche Daten (Zeichnung und Interview) erhoben werden. Von der<br />

ganzen Schulklasse werden jeweils alle Zeichnungen ausgewertet.<br />

Zum Forschungsteam gehören: Luitgard Diehl Ott, Ludwig Diehl, Edith Glaser – Henzer,<br />

Hermann Graser, Christiane Maier Reinhard und Georg Peez, Professor für Kunstpädagogik<br />

und Didaktik der Kunst, Universität Duisburg-Essen, als wissenschaftlicher Berater.<br />

3<br />

Merkmale der Kajüte im alten Holzschiff: Bett mit Baldachin, Schiffskiste, Pult mit Stuhl,<br />

Globus, getäfelte Wände, Deckenlampe, Fensterlucken an linker Wand, rechts Person, die zur<br />

Türe rein kommt. Diese Begriffe stehen auf Kärtchen geschrieben, welche die Schüler-innen im<br />

Schulzimmer aufhängen. Die Kärtchen dienen während des Zeichnens als Erinnerungsstütze<br />

und Kontrollmöglichkeit.<br />

4<br />

vgl. Zwischenbericht ‹raviko›: www.fhnw.ch/ph/ip/forschung/abravikobb-raeumlich-visuelle-kompetenzen<br />

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169 Sichtbar<br />

5<br />

Vorwort zu ÜBERSCHUSS<br />

Hannes Rickli arbeitet an Stellen, wo die Alltagsästhetik brüchig<br />

ist: Foto- oder videografisch, installativ, öffnet er Durchblicke,<br />

in denen sich eine gesellschaftliche Mechanik im Untergrund der<br />

Medien und ihres Gebrauchs zeigt. Er findet sie in so unterschiedlichen<br />

Bereichen wie dem Parkhaus oder in naturwissenschaftlichen<br />

Laboratorien, wo sich rationale und ästhetische Argumente<br />

überschneiden oder im Widerstreit gebärden.<br />

Er zeigt audiovisuelles Material, das in Messkameras und Mikrofonen<br />

biologischer Laboratorien in Verhaltensexperimenten mit<br />

Fischen und Insekten anfällt. Die operativen Bilder und Klänge<br />

– von den Wissenschaftlern selber nicht weiterverwertet – bergen<br />

einen Überschuss an Zeichen und Bedeutungen, der sich erst<br />

durch die Verschiebung in den Kunstkontext und in den Videoinstallationen<br />

entfaltet. Das ästhetisch-kritische Potenzial dieser<br />

Arbeiten weist über die Laborschwellen hinaus auf den Gebrauch<br />

funktioneller Medienanlagen, die zunehmend gesellschaftliche<br />

Vorgänge steuern und kontrollieren. In welcher Form aber artikuliert<br />

sich hier der Künstler Für wen oder was ist er Sprachrohr<br />

Rickli schreibt dazu in einer Email vom 27.11.20<strong>08</strong> an die<br />

Redaktion:<br />

«Der Künstler nimmt sich vordergründig und scheinbar aus der<br />

eigenen Artikulation heraus, behauptet aber gleichzeitig relevante<br />

Gestaltungen vorzufinden und stellt damit auf die Funktion von<br />

Bildern überhaupt abzielende Fragen (auch an den Kunstbegriff,<br />

denn scheinbar braucht es zur Produktion von Kunst kein Künst-<br />

< Videogramm Trigla, 2007/<strong>08</strong>: Experiment: Akustische Kommunikation bei<br />

Trigla lucerna (Roter Knurrhahn). Experimentalsystem: Aquarium, Hydrophon,<br />

Bioakustikfilter, Infrarot-Videokamera. Philipp Fischer, Biologische Anstalt<br />

Helgoland/Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung<br />

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170<br />

lersubjekt). Motiv wäre dann eine Art Sensibilität als künstlerische<br />

Strategie. Damit kommt der Künstler wieder in den Blick,<br />

als Ordner, Sortierer, Eingeweihter etc. Diese künstlerische Praxis<br />

ist aber hinlänglich schon bekannt (Dada, appropriation, found<br />

footage etc.). Ein neues Feld wird aufgestossen, wenn das Bezugsmaterial,<br />

die Referenz fremd ist, wie in diesem Fall: Die Labormaterialien<br />

zirkulieren in keinem Diskurs, sind als solche weder<br />

theoretisch noch ästhetisch bisher bewertet. In der ästhetischen<br />

Betrachtung erst wird klar, dass sich hier Unkontrolliertes (Unkontrollierbares)<br />

artikuliert und dass sich darin allenfalls überschüssige<br />

Bedeutungen einschliessen, deren Entschlüsselungen für<br />

die Gesellschaft interessant sein könnten. Dazu müssen neue Interpretationsregeln<br />

gefunden werden, was zur ästhetischen Arbeit<br />

wird und/oder diese ausmacht.»<br />

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171 Sichtbar<br />

Peter Geimer im Gespräch mit Hannes Rickli<br />

ÜBERSCHUSS<br />

Überlegungen zu einer Ästhetik von<br />

Nebensachen<br />

Peter Geimer: Als Ausgangspunkt für unser Gespräch haben wir<br />

eines der Videogramme aus deinem Projekt «Arena, Überschuss»<br />

gewählt. Könntest du beschreiben, was du genau unter einem «Videogramm»<br />

verstehst<br />

Hannes Rickli: Die Bezeichnung ist der Terminologie des Internets<br />

entlehnt und wird hier metaphorisch eingesetzt. Videogramme<br />

sind kleine audiovisuelle Sequenzen, die einfach codiert als Video-<br />

Mail verschickt werden und sich auf jedem System direkt abspielen<br />

lassen. Aufgrund ihrer beschränkten Auflösung, Dauer und Datenmenge<br />

haben sie eine Art beiläufigen, inoffiziellen Charakter.<br />

Sie verweisen meist nur auf etwas anderes. Die beiden Merkmale<br />

– Inoffizialität der kleinen Videomitteilung und Verweischarakter<br />

– beschreiben die Eigentümlichkeit der Sequenzen in der Videosammlung<br />

«Arena, Überschuss» recht gut. Die Sammlung ist dadurch<br />

entstanden, dass ich seit längerer Zeit bei Aufenthalten in<br />

Forschungslaboratorien Material sammle, das integrierte Kamerasysteme<br />

im Inneren von wissenschaftlichen Versuchsanordnungen<br />

während des Forschungsprozesses aufzeichnen. Löst man einzelne<br />

Sequenzen aus den oft stundenlangen Videoprotokollen von Vorbereitungs-<br />

und Experimentierhandlungen heraus, erscheinen sie<br />

wie Botschaften aus einer fremden, hermetischen Welt.<br />

Peter Geimer: Wenn man nicht wüsste, dass hier eine verhaltensphysiologische<br />

Versuchsanordnung zu sehen ist, würde man beim<br />

Anblick dieses Videogramms sicherlich an anderes denken. Die<br />

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172<br />

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173 Sichtbar<br />

Klischeevorstellung eines experimentierenden Wissenschaftlers<br />

zeigt uns ja noch immer einen Mann im weissen Kittel im Labor,<br />

der ein Glasröhrchen prüfend gegen das Licht hält, eine komplexe<br />

Apparatur bedient oder sich in das Studium einer elektronenmikroskopischen<br />

Probe versenkt. Hier aber sieht man aus dem Dunkel des<br />

Raumes heraus einen jungen Mann in Shorts zum Vorschein kommen,<br />

mit nacktem Oberkörper, nicht übermässig muskulös, aber<br />

doch trainiert, der behutsam mit einem rätselhaften Objekt hantiert.<br />

Aus der Erläuterung zum Bild wird klar, dass hier ein Experimentalraum<br />

von Staub befreit werden soll, und vermutlich erklärt<br />

sich auch die spärliche Bekleidung des Mannes aus der Absicht,<br />

jede unnötige Kontamination etwa durch winzige Stoffpartikel zu<br />

vermeiden. Auf der zweiten Aufnahme ist das erwähnte Objekt verschwunden,<br />

stattdessen hat die Lichtregie einen Spot auf die rechte<br />

Hand des Mannes gesetzt. Von seinem experimentellen Setting<br />

isoliert, bekommt das Bild eine andere, zusätzliche Qualität. Das<br />

Ganze erinnert jetzt an eine Tanzperformance. Da man nicht genau<br />

weiss, was das rätselhafte Tun im Dunkel bedeutet, könnte man das<br />

Ganze erstmal für Kunst halten. Die Szenerie hält sich dann irgendwo<br />

zwischen experimentellem und ästhetischem Design; Objekte<br />

wie die Kleberolle, die der Experimentator benutzt, um Staub zu<br />

beseitigen, sehen aus wie Requisiten einer theatralischen Aufführung.<br />

Umgekehrt wirken private Objekte und Nebendinge plötzlich<br />

wie integrale Bestandteile des Versuchsaufbaus. Auf beiden Bildern<br />

fällt z. B. der metallene Armreif des Mannes ins Auge: Ein privates<br />

Schmuckstück des Wissenschaftlers, das keinen Bezug zur Arbeit im<br />

Labor hat, nicht zählt und nicht dazugehört, aber trotzdem da ist.<br />

Es wird sogar eigens beleuchtet. Die Isolierung der Aufnahme lässt<br />

also Beiläufiges und Nebensachen – sozusagen im Off des Experiments<br />

– plötzlich in den Vordergrund treten.Vermutlich ist es genau<br />

diese Qualität, die du meinst, wenn du im Titel deiner Arbeit von<br />

«Überschuss» sprichst.<br />

< Videogramm Ormia, 2000: Experiment: Akustische Orientierung bei der Fliege<br />

Ormia ochracea (Grillenparastit). Experimentalsystem: Flugarena, Lautsprecher<br />

(Audiostimulus), 2 computergesteuerte Infrarot-Videokameras/Trackit-System.<br />

Pie Müller, Zoologisches Institut der Universität Zürich<br />

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174<br />

Hannes Rickli: Ja. Es entsteht eine Aufmerksamkeit in einem<br />

Bereich, in dem sie nicht geplant oder gar gewünscht war. Überschuss<br />

im ökonomischen Sinn meint, dass ein zuvor gemachter<br />

Plan übertroffen wird, dass über diesen hinaus etwas produziert<br />

wird, das ausserhalb der vorgängig festgelegten Absicht liegt. Der<br />

Überschuss ist eine Unbekannte in der Rechnung, sonst wäre er<br />

zuvor in der Planung fixiert worden. Erst im Nachhinein lässt sich<br />

ein Überschuss als Überschuss feststellen. Dieser Zeitaspekt setzt<br />

meines Erachtens das ästhetische Potenzial des Überschusses frei:<br />

Er verschiebt die Optik und wirft damit in ganz eigenwilliger, unkontrollierbarer<br />

Weise ein Licht auf die Mechanik eines Prozesses.<br />

In seiner Zwischenstellung ist der Überschuss immer mehrdeutig.<br />

Er markiert Grenzen des Geplanten aus der Rückwärtsperspektive<br />

und fragt gleichzeitig nach den Lücken des künftig Planbaren.<br />

Peter Geimer: Wie äussert sich dieser Aspekt des Überschusses in<br />

den Videogrammen<br />

Hannes Rickli: Auch hier ist der Überschuss mehrfach deutbar.<br />

Zuerst einmal produzieren die Videogramme auf der Ebene<br />

der Zeichen Bedeutungsüberschüsse, sie fokussieren die oben erwähnten<br />

Nebensachen und lenken damit den Blick um. Auf der<br />

anderen Seite sind die Produkte als Zeichenträger selbst Überschuss<br />

oder Ausschuss. Sie entstehen in einem Aufzeichnungssystem<br />

in einem funktionalen Zusammenhang innerhalb des Experimentalsystems.<br />

Aufnahmegeräte steuern Vorgänge, kontrollieren<br />

und vermessen sie. Das Ziel der Aufzeichnungen sind aber nicht<br />

die erzeugten visuellen Resultate. Die Videoprotokolle sind lediglich<br />

Durchgangsstadien, Einzelglieder einer langen transversalen<br />

Kette von Abstraktions- und Reinigungsoperationen. Sie transformieren<br />

im Labor inszenierte Ereignisse – etwa den Flug einer<br />

Fliege im Flugraum des Zoologischen Instituts – in Tabellen, Diagramme,<br />

Formeln, Karten usw. Was die Schwelle des Labors am<br />

Ende dieser Kette übertritt, sind geklärte und stabilisierte Informationseinheiten,<br />

die sich im Austausch mit anderen Institutionen<br />

weltweit verknüpfen lassen. Man könnte auch sagen, diese Informationen<br />

seien globalisiert. Die Bilder meiner Videogramme ge-<br />

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175 Sichtbar<br />

hören nicht zu dieser Sorte von Daten. Sie verbleiben im Dunkeln,<br />

auf der «Nachtseite» der Wissenschaft, wie der Wissenschaftshistoriker<br />

Hans-Jörg Rheinberger die Innenwelten der Laboratorien<br />

bezeichnen würde. Die Videogramme sind Reste, Abfall- oder<br />

Ausschussprodukte. Dennoch sind sie wesentliche Bestandteile<br />

des Plans ihrer Erzeuger: Wissenschaftler wollen komplexe Umwelten<br />

beschreiben und konzeptionalisieren. Dies nicht zuletzt<br />

mit dem Ziel, sie zu beherrschen.<br />

Peter Geimer: Dann würden also gerade in Abfallprodukten von<br />

Experimenten Zugänge zum Verständnis wissenschaftlicher Arbeit<br />

liegen.<br />

Hannes Rickli: Wenn ich die Videogramme aus der Perspektive<br />

des Künstlers als Überschuss bezeichne, meine ich, dass sie in einem<br />

bestimmten Verhältnis zum Plan stehen, der sie hervorbringt. Unter<br />

dem ästhetischen Blickwinkel erzählen sie von Herstellungspraktiken<br />

wissenschaftlicher Tatsachen. Sie eröffnen Einblicke in konkrete<br />

Situationen, zeigen Räume, Lichtverhältnisse, Geräte, Menschen,<br />

Gesten, instabile Basteleien. Sie beleuchten unabsichtlich<br />

verschiedene atmosphärische Schichten des Wissenschaftsalltags<br />

aus der Innensicht. Im Gegensatz zum Bild, das die Wissenschaft<br />

von sich selbst nach aussen projiziert und das den rationalen Zugriff<br />

auf die Welt per se verkörpert, finden wir hier Szenen vor, die<br />

das schiere Gegenteil zeigen: Zögern, Tappen im Dunkeln und das<br />

Scheitern in der physischen Berührung mit dem vorläufig Unbekannten.<br />

Daraus ergeben sich für mich wesentliche Fragen. Blendet<br />

der Wissenschaftsbetrieb diese Dimension des Irrationalen gegenüber<br />

der Aussenwelt aus Ist dieses Ausblenden Zufall oder Absicht,<br />

blinde Taktik, Plan Würden solche Bilder eventuell das Monopol<br />

rationaler Weltbeschreibung stören Immerhin ist die Rationalität<br />

das gewichtige Argument des Wissenschaftsbetriebs,mit dem er<br />

seine machtvolle gesellschaftliche und ökonomische Stellung behauptet.<br />

Auf das Argument der Rationalität gründet schliesslich<br />

auch die vorherrschende Technologie- und Expertenkultur. Um<br />

das Bild des Reifs am Arm des Wissenschaftlers wieder aufzunehmen,<br />

der im Zusammenhang mit einem Experiment fehl am Platz<br />

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176<br />

scheint, stellt sich für mich die Frage, ob solche Intimität lediglich<br />

eine Nebensache ist oder ob wir, wenn sich unser Blick plötzlich<br />

auf Leiblichkeit und Atmosphären fokussiert, Wesentlichem auf<br />

der Spur sind: Störfällen des Rationalen, die das Wissenschaftssystem<br />

unabsichtlich generiert. Von der Kunst wird erwartet, dass<br />

sie den Zugriff auf die Welt um Dimensionen der Leiblichkeit und<br />

Subjektivität erweitert. Vielleicht irritieren mich die Videogramme<br />

gerade, weil sich in ihnen Kunst und Wissenschaft auf rätselhafte<br />

Weise zu überkreuzen scheinen. Sie werden zwar nach rationalen<br />

Kriterien hergestellt, rücken aber trotzdem Privates und Intimes<br />

ins Blickfeld.<br />

Peter Geimer: Ich frage mich, welches Verständnis der Rollenverteilung<br />

von Wissenschaft und Kunst du diesen Überlegungen<br />

zugrundelegst. Ich finde auch, dass sich beim Anschauen der<br />

Videogramme beinahe nicht entscheiden lässt, wo hier die Grenze<br />

zwischen der wissenschaftlichen und der ästhetischen Dimension<br />

verläuft. Das hat aber auch damit zu tun, dass sich diese Bilder<br />

natürlich verändern, wenn sie nicht mehr ausschliesslich innerhalb<br />

der Grenzen des Labors zirkulieren, sondern in den Kunstkontext<br />

gelangen. Die oben skizzierte Arbeitsteilung zwischen Kunst und<br />

Wissenschaft wäre demnach etwa folgende: Auf ihrem Weg der<br />

Wissensproduktion erzeugt die Wissenschaft unaufhörlich Abfall<br />

– Fehlschläge, Irrwege, labile Basteleien und subjektive Einsprengsel.<br />

Aus den stabilen Endprodukten – wie Formeln, Diagrammen,<br />

Tabellen – muss dieser Abfall gezielt ausgeschlossen werden. Er ist<br />

schlicht überflüssig. Nun aber tritt die Kunst hinzu und interessiert<br />

sich genau für diese Ausschlüsse, das Material, das die Wissenschaftler<br />

am Wegrand zurückgelassen haben. Wie würdest du diese<br />

Arbeitsteilung beschreiben Hier sind ja sehr verschiedene Modelle<br />

denkbar: Kunst als externe Beobachtung der wissenschaftlichen<br />

Praxis, als explizite Kritik der blinden Flecke, als Korrektiv oder<br />

Kompensation oder einfach als ein ästhetisches und intellektuelles<br />

Weiterspinnen von Fäden, die im Labor erzeugt, aber dann fallengelassen<br />

und nicht weiter verfolgt wurden.<br />

Hannes Rickli: Das Weiterspinnen abgeschnittener Fäden wäre<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 176<br />

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177 Sichtbar<br />

sicherlich ein reizvolles Spiel. Künstlerinnen und Künstler betreiben<br />

es, indem sie beispielsweise den Faden der technischen Bildherstellung<br />

aufnehmen und eine Maschine, ein Elektronenmikroskop<br />

etwa oder einen grossen Rechner, mit eigenen, kontextfremden Inputs<br />

füttern. Solche Aneignungen erweitern das formale Vokabular.<br />

Mich interessiert jedoch vielmehr die Präsenz sogenannt einfacher<br />

Bildmedien wie Fotografie oder Video als Bestandteile von<br />

High-Tech-Apparaturen. Ihr Schattendasein ermöglicht es diesen<br />

Medien, weil sie von der Wissenschaft nicht eigentlich gemeint<br />

sind, Bilder zu produzieren, die wir durch die Verschiebung in<br />

den Kunstkontext auch als wissenschaftliche Laien lesen können.<br />

Aufgrund ihrer mimetischen, also konventionellen Sprache bieten<br />

sie uns ein Fenster, durch das wir am physischen Umgang mit dem<br />

Nicht- oder Noch-Nicht-Wissen teilhaben können. Wir werden<br />

Zeugen der Fabrikation des Neuen und Unvorhergesehenen in den<br />

frühen Phasen eines Forschungs- und Erkenntnisprozesses. Ich<br />

betreibe eine Art ästhetische Archäologie, indem ich eine Sammlung<br />

von Resten zeitgenössischer funktioneller Bilder anlege. Im<br />

Selektionsakt werden die Fragmente wertvoll, ohne dass ihr Wert<br />

tatsächlich gemessen und auch nur annähernd beschrieben wäre.<br />

Ob mit einer solchen Sammlung Kritik geübt, Beobachtung betrieben<br />

oder gar ein Korrektiv erstellt werden könnte, vermag ich<br />

momentan noch nicht zu beurteilen. Wichtig erscheint mir aber,<br />

dass die Bilder meiner Sammlung ihr Potenzial dadurch entfalten,<br />

dass sie über ihre funktionelle Absicht hinaus agieren, dass sie<br />

mehr sind als die Absicht, die vor und während ihrer Produktion<br />

in sie hineingelegt wurde. Die Arbeit der Kunst wäre demnach<br />

lediglich der Versuch, vorgefundene Bilder zu fokussieren oder zu<br />

rahmen. Es gälte, den Blick auf das Sammelgut so zu justieren,<br />

dass das Potenzial des Absichts-Überschusses aktiviert wird.<br />

Peter Geimer: Es ist interessant, dass du so explizit auf die Rolle<br />

des wissenschaftlichen Laien verweist. Denn natürlich sind wir<br />

angesichts der meisten Aktivitäten, die im Labor entfaltet werden,<br />

Laien. So wie umgekehrt die Naturwissenschaftler ja auch Laien<br />

der Kunst oder der Geisteswissenschaften sind. Die Konsequenz<br />

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aus dieser Allgegenwart des Laientums kann wohl nicht lauten, die<br />

Autoritäten der anderen umstandslos anzuerkennen, sie hinzunehmen<br />

und auf sich beruhen zu lassen. Aber genauso falsch finde ich<br />

es, die Differenzen, die beispielsweise zwischen Wissenschaft und<br />

Kunst unbezweifelbar bestehen, aus ideologischen Gründen abzumildern.<br />

Eine deutsche Museumsdirektorin hat kürzlich in einem<br />

Interview die Ansicht geäussert, Wissenschaft und Kunst kämen<br />

einander, wie in der guten alten Zeit der Renaissance, gegenwärtig<br />

wieder sehr nahe. Ich sehe das gar nicht so und finde ganz im Gegenteil,<br />

dass jede Auseinandersetzung mit einer anderen, hochspezialisierten<br />

Praxis zuerst einmal mit einer Reflexion der Differenzen<br />

anfangen müsste. Das war auch der Hintergrund meiner<br />

Frage nach der Rollenverteilung zwischen Wissenschaft und Kunst.<br />

Wenn sich ein Künstler, wie du es in deinem Beispiel andeutest,<br />

an ein Elektronenmikroskop oder einen Grossrechner setzt, dann<br />

tut er das natürlich als Künstler. Ganz gleich, was er dort anstellt,<br />

es wird gesellschaftlich sofort als Kunst wahrgenommen. Deshalb<br />

kann er auch nicht erwarten, dass sich der Wissenschaftler neben<br />

ihm per se durch diese Arbeit angesprochen fühlt. Was ich sagen<br />

möchte, ist ganz einfach, dass bei solchen Grenzüberschreitungen<br />

meiner Ansicht nach möglichst mitreflektiert werden müsste, von<br />

welchem Ort aus man agiert und wie man Innen- und Aussenperspektive<br />

miteinander vermittelt. Da reicht es nicht aus, wenn man<br />

sagt: Es gibt keine Grenzen mehr, auch Künstler experimentieren,<br />

oder: Kunst ist auch Wissenschaft.<br />

Hannes Rickli: Wie würdest du aus deiner Sicht das Verhältnis<br />

der beiden Systeme in der Videosammlung umschreiben<br />

Peter Geimer: Die Position, die du mit dem Archiv der Resten<br />

einnimmst, verstehe ich vor diesem Hintergrund als eine Art von<br />

abwartender Distanz. Es geht nicht darum, auf dem Terrain der<br />

Wissenschaftler selbst zu operieren und ihre Technologien zu<br />

benutzen, sondern darum, zu sehen, was in den Randzonen eines<br />

solchen Wissenssystems schlummert, was ein solches System offenbar<br />

nicht verwerten kann und uns als Rest zurücklässt. Das wäre<br />

also eine eher beobachtende und beschreibende Haltung, der es<br />

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etwa nicht darum geht, den Männern und Frauen im Labor einen<br />

Spiegel vorzuhalten.<br />

Hannes Rickli: Ich möchte noch einmal das Dilemma ansprechen,<br />

das entsteht, wenn Kunst und Wissenschaft unter demselben<br />

Nenner versammelt werden, unter dem Aspekt, beides<br />

seien gesellschaftliche Praktiken, die an der Symbolisierung der<br />

Welt arbeiteten. Die gemeinsame Klammer bildet dann oft der<br />

Begriff «Experiment». Der Begriff des Experiments ist aber komplex<br />

und in beiden Feldern sehr unterschiedlich konnotiert. Innerhalb<br />

des jeweiligen Systems ist er zudem äusserst heterogen<br />

besetzt, was darauf verweist, dass er eigentlich nicht zum vereinfachenden<br />

Vergleich taugt. Für den französischen Philosophen Jean-Fran-çois<br />

Lyotard etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, ist die<br />

Kunst»experimentieren». In der Postmoderne bestehe die Kunst<br />

aus dem Experiment als eine Art Bewegung, die in ständig zu<br />

erneuernden Anspielungen die Ahnung des Nicht-Darstellbaren<br />

permanent aufrechterhalten soll. Die Kunstproduktion, so Lyotard,<br />

könne dabei nicht von bestehenden Regeln und Kategorien<br />

geleitet sein, für den Betrachter gäbe es daher keinen Trost in der<br />

wiedererkennbaren Form. Die ständige Durchbrechung der Regeln<br />

ziele nicht auf eine Versöhnung mit der Wirklichkeit ab, sie<br />

solle im Gegenteil den Traum der «Umfassung der Wirklichkeit»<br />

als Phantasma darstellen. (Regellosigkeit, so meine ich, könnte<br />

man dann natürlich auch wieder als Regel kritisieren). Der Status<br />

des Experiments in den Wissenschaften und insbesondere des Experimentalsystems<br />

als gegenseitige Durchdringung menschlicher,<br />

technischer und medialer Komponenten wird erst seit relativ kurzer<br />

Zeit von der Wissenschaftsgeschichte und -theorie erforscht.<br />

Was eigentlich ist ein Experiment, was ein Experimentalsystem<br />

Welche Natur, welche Wirklichkeit wird im Experimentalsystem<br />

repräsentiert oder hergestellt<br />

Zurück zu deiner Frage betreffend die Videogramm-Sammlung:<br />

Deine Beschreibung als «abwartende Distanz» trifft ziemlich genau,<br />

vor allem wegen der darin angedeuteten Latenz. Was nämlich<br />

vom Experiment sowohl in den Wissenschaften wie auch in der<br />

Auffassung Lyotards gesagt werden kann und was womöglich den<br />

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einzigen Berührungspunkt zwischen dem Experiment in der Kunst<br />

und dem wissenschaftlichen Experiment darstellt, ist die eigentümliche<br />

Temporalität, die ihm innewohnt. Lyotard spricht vom<br />

Paradox der Vorzukunft und schreibt: «Künstler und Schriftsteller<br />

arbeiten also ohne Regeln; sie arbeiten, um die Regel dessen zu<br />

erstellen, was gemacht worden sein wird. Daher rührt, dass Werk<br />

und Text den Charakter eines Ereignisses haben. Daher rührt auch,<br />

dass sie für den Autor immer zu spät kommen oder, was auf dasselbe<br />

hinausläuft, dass die Arbeit an ihnen immer zu früh beginnt.» 1<br />

Peter Geimer: Wie funktioniert diese zeitliche Nachträglichkeit in<br />

deinen Videos<br />

Hannes Rickli: Ich sehe die Sequenzen als Spuren, die eine allfällige<br />

Wirkung oder Bedeutung erst in einer nachträglichen Lektüre<br />

entfalten. Allerdings gleichen sie in meinen Augen Hieroglyphen,<br />

zu deren Entzifferung die Schlüssel noch gefunden oder entwickelt<br />

werden müssen. Die Verschiebung in den Kunstkontext erfolgt lediglich<br />

aufgrund der Ahnung, dass ein möglicher Schlüssel in der<br />

ästhetischen Betrachtung liegen könnte. Hier taucht manchmal<br />

eine Unsicherheit auf. Wie und wo soll man diese Arbeit einordnen<br />

Oft werde ich gefragt, ob ich ein Künstler sei, der mit wissenschaftlichen<br />

Methoden arbeite oder ein Wissenschaftler, der<br />

künstlerisch agiere. Keines stimmt, ich bin Künstler und nichts<br />

weiter. Meine Arbeit spielt sich denn auch nicht im Zwischenfeld<br />

von Kunst und Wissenschaft ab,sondern ausschliesslich in der<br />

Kunst. Mich interessiert, wie «Präsenz», «Ereignis» oder «Wirklichkeit»<br />

als ästhetische Kategorien verfertigt und inszeniert werden.<br />

Im Arbeitstitel des Sammlungsprojekts «Arena, Überschuss»<br />

ist die «Arena» synonym zu Experimentalsystem zu verstehen als<br />

ein für Inszenierungen und deren mediale Übertragungen präparierter<br />

Ort. Dazu bewege ich mich zuweilen in kunstfremden Territorien,<br />

wo sich die Praktiken nicht primär ästhetisch definieren,<br />

obwohl dort auch ästhetisch gehandelt wird. Der Gegenstand der<br />

Beobachtung wäre vielleicht zu umschreiben mit dem aus Kunstsicht<br />

ästhetisch Unbewussten, dem nicht professionell ästhetisch<br />

Geplanten und Realisierten, in welchem ich ein Potenzial zu er-<br />

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kennen glaube. Dabei geht es nicht um den Gegenstand selbst,<br />

sondern lediglich darum, zu sehen, wie er sich verhält, als Knoten<br />

beispielsweise oder Riss im immer dichter gewobenen Netz absichtlich<br />

gestalteter Oberflächen in unserem Alltag. Solche Momente<br />

finde ich auch in anderen Systemen, etwa dem Parkhaus, als<br />

Besonderheit des Verkehrssystems. Das Parkhaus ermöglicht uns,<br />

einen Blick zu werfen auf die Arbeit des Designs als Verdrängung<br />

des Realen: Die Fahrzeugindustrie verdrängt mit heimeliger Interieurausstattung,<br />

in der Verniedlichung und Vermenschlichung<br />

der Formen, die Luft-, Lärm-, Landschaftsbelastungen, die Ölpolitik<br />

usw. Die Verdrängung wird im Parkhaus aufgehoben, seine<br />

Konstruktion erschreckt uns mit roher Materialität, desorientiert<br />

und lässt die Atmosphäre ins Unheimliche umschlagen. Das Parkhaus<br />

wirft die Frage auf, ob hier die Gesellschaft, oder besser die<br />

Ökonomie, in der autoritären Geste der Massenorganisation ein<br />

ganz anderes Gesicht offenbart, welches nun plötzlich durch die<br />

dünnen Polituren des auf das Individuum ausgerichteten Designs<br />

aufblitzt. Ich glaube, es ist die Mechanik im Untergrund der (Alltags-)<br />

Ästhetik und ihrer Medien, die mich interessiert, und das<br />

Finden von Stellen, wo sich diese durch die Oberfläche hindurch<br />

zeigen kann.<br />

Peter Geimer: Die Deutlichkeit, mit der du sagst «Ich bin Künstler<br />

und nichts weiter», finde ich überzeugend. In seinem jüngsten<br />

Buch hat der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich ja die aktuelle und<br />

ganz gegenteilige Tendenz beschrieben: Offenbar reicht es oftmals<br />

nicht mehr aus, dass Künstler ein bestimmtes Genre der Kunst<br />

beherrschen, sie müssen zudem auch alle erdenklichen Grenzüberschreitungen<br />

praktizieren, sind zugleich Maler, Bildhauer und<br />

Filmer und können im Rahmen dieses Multi-Tasking auch noch<br />

schreiben, kochen, ein Unternehmen führen usw. 2 Ullrichs Frage,<br />

was damit gewonnen sein soll, finde ich ganz berechtigt. Letztlich<br />

steht hinter dieser Idee vermutlich eine sehr romantische Vorstellung<br />

vom Künstler als einer Figur, die in Zeiten höchster Spezialisierung<br />

noch für das Ganzheitliche zuständig sein soll und die<br />

Ausdifferenzierung noch einmal transzendiert. Die Rolle, die du<br />

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beschreibst, finde ich da wesentlich überzeugender: Künstler sein<br />

und nichts weiter, «in kunstfremden Territorien» eine unfreiwillige<br />

Ästhetik aufzuspüren, die gar nicht als solche gemeint war und gewissermassen<br />

brachliegt. Man schwärmt dabei also weniger in alle<br />

erdenklichen Gebiete aus, um sich dort einzuklinken, sondern holt<br />

die Phänomene eher «zu sich», wie eine seltsame Gesteinsformation,<br />

die man am Strand gefunden hat, nach Hause trägt und dort<br />

von allen Seiten betrachtet. Vielleicht können wir dieser Frage aber<br />

noch an einem anderen Bespiel nachgehen, das du schon angedeutet<br />

hast. Ich meine deine Arbeit «Level # I – V». Hier stellt sich die<br />

Frage der Intervention ja doch noch einmal anders, weil du dich<br />

dabei erstens in den Alltag und zweitens in einen halböffentlichen<br />

Raum, das Parkhaus in Basel/Mulhouse, begibst. Worum ging es<br />

dir bei diesem 2003 realisierten «Eingriff»<br />

Hannes Rickli: Die Ausgangslage war folgende: Die damalige<br />

Crossair – heute Swiss International Airlines – baute ein grosses<br />

Verwaltungsgebäude. Zu Beginn des Projekts im Jahr 2001 realisierten<br />

die Ingenieure, dass sie im geplanten Parkhaus mit fünf<br />

riesigen Parkdecks (je 500 Einstellplätze auf 10‘000 m 2 Fläche pro<br />

Etage) ein Gebilde schaffen würden, in dem mit herkömmlicher<br />

Pfeil- und Schrift-Signaletik und mit ein paar Farbapplikationen<br />

keine Orientierung mehr möglich wäre. In der Konstruktionsweise<br />

dieses Gebäudes war der menschliche Aufenthalt nicht vorgesehen<br />

– dies macht ein Parkhaus ja gerade zum Parkhaus. Trotzdem<br />

war klar, dass die hier parkierenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

der Firma täglich mehrere Minuten in den von Stützenkollonaden,<br />

Brandabschnitten, Fahrzeugen, Sprinkler- und Lüftungsinstallationen<br />

verstellten niedrigen Betonkavernen zubringen<br />

würden. Die Ingenieure sahen voraus, dass auch in ihrem nach<br />

den neusten technischen Standards unter Einhaltung sämtlicher<br />

Grenzwerte geplanten Bau wie in allen übrigen Parkhäusern der<br />

Welt die Passanten desorientiert und damit irgendwie vom Gefühl<br />

des Unheimlichen heimgesucht sein würden. Bei einem künstlerischen<br />

Eingriff konnte es nicht darum gehen, diesen Raum nun<br />

zum Aufenthaltsraum umzustilisieren. Dafür wären die räumlichen<br />

Perimeter zu gross, die Betonmassen zu gewaltig gewesen.<br />

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Und mir fehlte das Interesse an kosmetischer Verschönerung. Ich<br />

wollte etwas anderes – den Zusammenbruch des Sehsinns als primäres<br />

Orientierungsorgan unmittelbar nach dem Verlassen des<br />

einparkierten Autos untersuchen. Oder vielleicht besser: Die Verdrängung<br />

des «Lesesinns» durch Gehör, Geruch- und Tastsinn.<br />

Die Tatsache, dass man sich in einer auf dem Plan und im Kopf<br />

geometrisch geordneten, rationalen Struktur im wirklichen Bau<br />

trotz Routine und Piktogrammen nicht zurechtfindet, konnte ich<br />

mir nur mit einer unkontrollierbaren, plötzlichen Verschiebung<br />

der Wahrnehmungsmodi erklären. Das Parkhaus wurde für mich<br />

im Laufe der Recherchen und des Entwurfs immer mehr zum<br />

paradigmatischen Raum, zum «Raumbild», wie Siegfried Kracauer<br />

sagen würde:»Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche<br />

Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die<br />

störende Dazwischenkunft des Bewusstseins in ihm ausdrücken.<br />

Alles vom Bewusstsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich<br />

übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder<br />

sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines<br />

Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund<br />

der sozialen Wirklichkeit dar.» 3 Gerade im Ingenieurbau, dort wo<br />

nicht die geplante Gestaltung «dazwischenkommt», sondern die<br />

Funktion im Zentrum steht, äussert sich das Ästhetische besonders<br />

heftig. Um zu verstehen, weshalb damit ein Schrecken einhergeht,<br />

orientierte ich mich an der urbanen Interpretationsliteratur<br />

im Übergang des 19. zum 20. Jahrhunderts. Exponenten wie Siegfried<br />

Kracauer, Walter Benjamin und Sigmund Freud hatten damals<br />

eine Sensibilität für die Wahrnehmung der aufkommenden<br />

Metropolen entwickelt. Es zeigten sich neue Phänomene, deren<br />

Wirkungen als «Entfremdung» in Form verschiedener Raumkrankheiten<br />

irritierten. In immer neuen Versuchen umspielten die<br />

Autoren die Fragen an die Gesellschaft und deren Verhältnis zum<br />

Individuum. Sie versetzten sich in leicht halluzinierende Zustände,<br />

um wie ein «Träumender» (Kracauer) oder»Erwachender» (Benjamin)<br />

die soziale Wirklichkeit in sich überschneidenden Konflikten<br />

von Nähe/Distanz, Vertrautem/Unvertrautem 4 , Masse/Individuum,<br />

von Vor- und Nachgeschichte 5 , zu ertasten und zu neuen Bil-<br />

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dern zu montieren. Frühe Phasen von Ereignissen, in denen sich<br />

Phänomene zwar erahnen lassen, sich aber vorläufig nur unscharf<br />

abzeichnen und die Fragen und Methoden ihrer Darstellung erst<br />

noch gefunden werden müssen, halte ich für die produktivsten.<br />

Ich meine, dass in den Unsicherheiten von Suchbewegungen zur<br />

Entwicklung neuer Darstellungen Konstruktionsweisen und Fehlschläge<br />

offen daliegen und im Nachhinein sichtbar werden. Sie<br />

ermöglichen das Erkennen von Unvorhergesehenem. Deshalb faszinieren<br />

mich wohl die Anfangsphasen von wissenschaftlichen<br />

Experimenten. Auf deine Frage, worum es mir bei der Arbeit im<br />

Parkhaus ging, kann ich vielleicht so antworten: Zu Beginn war<br />

ich etwas hilflos und wusste nicht recht, was der scheinbar gewöhnliche<br />

Ort Parkhaus genau ist. Im Arbeitsprozess kristallisierte<br />

sich allmählich heraus, dass es eigentlich die Hilflosigkeit,<br />

das Nicht-Verstehen dieses gesellschaftlichen Raumes war, das<br />

mich antrieb. In dem Sinn sehe ich die entstandenen Eingriffe als<br />

Versuche, Fragen an die Raumkonstruktion dieses Parkhauses<br />

zu stellen. Die Interventionen dienten mir als Instrumente, um<br />

Schichten freizulegen, worin sich das Ästhetische als gesellschaftliche<br />

Realität bestimmen liesse.<br />

Peter Geimer: In deiner Beschreibung des Parkhaus-Projekts<br />

finde ich ein Motiv der Videogramme wieder: Das Interesse für<br />

das Uneigentliche, für die Ästhetik dessen, was nebenbei passiert<br />

und nicht eigentlich zählt. In der zitierten Passage Kracauers<br />

taucht das Bewusstsein als Störung auf, als «Dazwischenkunft»,<br />

die etwas hemmt und unterbricht. Dementsprechend wäre also<br />

gerade das Unbewusste und Randständige der Ort, an dem etwas<br />

zum Vorschein kommt: Nicht im laufenden Verkehr, sondern im<br />

Parkhaus, nicht im geheizten Auto oder dem wohl definierten<br />

Arbeitsraum, sondern auf dem Fussweg dazwischen, in einem<br />

Raum, der sozusagen «Nichts» bedeutet, aber trotzdem da ist und<br />

folglich auch irgendwie umbaut und gestaltet werden muss. Und<br />

gerade dort äussert sich, wie du sagst, das Ästhetische besonders<br />

heftig. Ich habe übrigens keinen Führerschein. Das Unheimliche<br />

der Parkhäuser kenne aber auch ich als ewiger Beifahrer sehr gut.<br />

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185 Sichtbar<br />

Die Rolle des Beifahrers müsste auch dir gefallen: Er fährt Auto,<br />

ist aber am Vorwärtskommen nicht eigentlich beteiligt und kann<br />

stattdessen die Begleiterscheinungen dieses Vorwärtskommens<br />

beobachten. Er versteht letztlich nicht, wann und warum man auf<br />

die Kupplung tritt, kennt die Verkehrsregeln nur sehr unzulänglich,<br />

kann den Verkehr aber gerade deshalb besonders gut beobachten.<br />

Der Beifahrer ist auf eine bemerkenswerte Weise überflüssig: das<br />

Unbewusste des Autofahrens, der «Überschuss» der Strassenverkehrsordnung…<br />

Hannes Rickli: In der Tat ein prächtiges Bild und eine schöne<br />

Figur! Der Künstler als Beifahrer. Wie wäre in diesem Fall seine<br />

Tätigkeit als Kunstproduzent zu beschreiben In welchem Wahrnehmungszustand<br />

ist er unterwegs Weil der beifahrende Künstler<br />

die Mechanismen vielleicht nicht kennt,aber mehr noch,weil er sie<br />

nicht beeinflussen kann,ist er in latenter Anspannung. In seiner<br />

Situation zweifelt er, ob alles mit rechten Dingen zugeht, denn<br />

schliesslich steht seine leibliche Unversehrtheit auf dem Spiel. Was<br />

tut er mit seinem Verdacht, dass das System letztlich nicht kontrollierbar<br />

sei Der Beifahrer-Künstler wird aufmerksam auf alles,<br />

was ihm Zeichen sein könnte für den Lauf der Dinge, er wird<br />

wie der Physiognom zum Deuter, der interpretiert, ohne zu wissen.<br />

Selbst Nebensachen geraten unter diesen Verdacht und der<br />

Künstler hebt sie zur späteren Betrachtung vorläufig auf. Zurück<br />

zum Formlosen, zu Staub, Schmutz und Liegengelassenem als besonderen<br />

Zeichen. Im Parkhaus rücken Abgase und Russ in der<br />

Lunge die Materialität des Verkehrssystems ins Bewusstsein, eine<br />

vertraute Wahrnehmung von Schmutz. Doch Verunreinigungen<br />

und Staub sind auch mit anderen Bedeutungen aufgeladen. Die<br />

dadaistische Avantgarde zum Beispiel benutzte den Staub zur ikonoklastischen<br />

Geste 6 und wollte so den Fokus des Ästhetischen<br />

auf die autorlos gestaltende Arbeit der Zeit verschieben. Wenn<br />

wir heute, 85 Jahre nach der Belichtung in Christian Schads Genfer<br />

Hotelzimmer, den fixierten Schattenwurf ausgefallener Haare<br />

und amorpher Staubfusel auf einem winzigen, unregelmässig beschnittenen<br />

Stück Fotopapier betrachten, sehen wir die Spur einer<br />

der ersten Berührungen von Abfall und Technik in der Kunst: eine<br />

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Urszene gewissermassen. Ein frühes Stadium mit ungewissem<br />

Ausgang, das nachhallt. Ich möchte die Staubmetapher noch weitertreiben.<br />

Schauen wir noch einmal kurz dem Experimentator<br />

zu, wie er im besprochenen Videogramm, ausgerüstet mit der<br />

Stirnlampe, das Experimentalsystem vorbereitet. Seine Arbeit besteht<br />

im Aufspüren und Eliminieren von Störpotenzialen in Form<br />

von Staubpartikeln. Indem er den Schmutz entfernt, verhindert er<br />

ungewollte Artefakte, da die Kamera nicht zwischen Staub und<br />

Fliege unterscheidet. Diese Szene scheint mir symptomatisch zu<br />

sein: Die Arbeit der Wissenschaft und der Politik besteht zu einem<br />

grossen Teil in Reinigungsprozeduren. Die Kunst jedoch beschäftigt<br />

sich aus meiner Perspektive damit, den Staub aufzuheben, um<br />

ihn genauer unter die Lupe zu nehmen.<br />

Das Gespräch wurde zwischen Ende November und Mitte Dezember 2004 per E-Mail geführt.<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Jean-François Lyotard, Beantwortung der Frage, was ist postmodern, in Wolfgang Welsch<br />

(Hrsg.), Wege aus der Moderne, Berlin 1994, S. 203<br />

2<br />

Wolfgang Ullrich,Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst, Berlin 2003<br />

3<br />

Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise (1930); in: Ders., Strassen in Berlin und anderswo,<br />

Berlin, 1987<br />

4<br />

Sigmund Freud, Das Unheimliche, Studienausgabe Bd IV, Frankfurt a/Main, 1990<br />

5<br />

Walter Benjamin, Das Passagenwerk, Bd 1 u. 2, Frankfurt a/Main, 1983<br />

6<br />

siehe Christian Schad, Schadographie «Ohne Titel» (8,2 x 5,9 cm), 1919; oder Marcel<br />

Duchamp/Man Ray, «Elevage de poussière», 1920<br />

Hannes Rickli, geb. 1959, Künstler. Studium der Fotografie (1984–1988) und der Theorie der Gestaltung<br />

und Kunst (1999–20<strong>02</strong>) an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. 1986–1992 Arbeit als<br />

Bildjournalist (u.a. für Das Magazin, NZZ,Weltwoche). Seit 1991 freie künstlerische Tätigkeit mit Ausstellungen<br />

im In- und Ausland. Diverse Projekte im öffentlichen Raum und im Bereich Kunst und Architektur.<br />

Diverse Veröffentlichungen in Katalogen und Fachzeitschriften. Publikation «Spurenkugel – ein Schreibspiel»,<br />

Verlag Lars Müller (1996). Seit 1996 Dozent an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.<br />

Peter Geimer, geb. 1965, Promotion in Kunstgeschichte; bis 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im<br />

Sonderforschungsbereich Literatur und Anthropologie der Universität Konstanz, anschliessend am Max-<br />

Planck-Insti-tut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin; seit April 2004 Oberassistent an der Professur für<br />

Wissenschaftsforschung der ETH Zürich. Buchveröffentlichungen: Die Vergangenheit der Kunst. Strategien<br />

der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert, Weimar: VDG 20<strong>02</strong>; Hg. v. Ordnungen der Sichtbarkeit.<br />

Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 20<strong>02</strong> (2. Aufl. 2004);<br />

Mitherausgeber von Kultur im Experiment, Berlin: Kadmos 2003.<br />

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Videostill (23.1.20<strong>08</strong>, <strong>14</strong>:49:03 <strong>Uhr</strong>)<br />

Videostill (29.1.20<strong>08</strong>, 19:51:16 <strong>Uhr</strong>)<br />

Videogramm Trigla, 2007/<strong>08</strong>: Experiment: Akustische Kommunikation bei<br />

Trigla lucerna (Roter Knurrhahn). Experimentalsystem: Aquarium, Hydrophon,<br />

Bioakustikfilter, Infrarot-Videokamera. Philipp Fischer, Biologische Anstalt<br />

Helgoland/Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung<br />

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188<br />

Abb. 1, Das arabische Zitat mit Vokal- und Schmuckzeichen (Schriftstil )<br />

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189 Sichtbar<br />

6<br />

Daniel Reichenbach<br />

Warum ich als europäischer<br />

Zeichner arabische<br />

Kalligrafie betreibe<br />

Ich werde immer wieder gefragt, warum ich mich als Gestalter<br />

mit der arabischen Kalligrafie befasse.<br />

Eine kurze Antwort<br />

Die arabische Kalligrafie ist eine Verbindung von zeichnerischem<br />

Können und grafischem Denken, welche im Entstehungsprozess<br />

zusammenspielen.<br />

Die lange Antwort<br />

Bereits als Kind haben mich fremde Schriften sehr fasziniert. Immer<br />

wieder habe ich versucht, die Bedeutung in den Zeichen zu<br />

erraten. Die kyrillischen Buchstaben, die mich wegen der damals<br />

geheimnisvollen Sowjetunion interessierten, waren einfach zu<br />

lernen. Die chinesischen Zeichen brachte ich erst einmal mit den<br />

Kampfhelden der Kung-Fu-Filme in Verbindung. Die arabische<br />

Schrift gefiel mir besonders gut, weil sie mit ihren temperamentvollen<br />

Schnürchenbewegungen wunderbar in die Sprechblasen<br />

von fluchenden Arabern in meinen Comiczeichnungen passten.<br />

Während meines Grafikstudiums fing ich an, mich ernsthaft mit<br />

der arabischen Kultur auseinander zu setzen. Für die grafische<br />

Abschlussarbeit in der Fachklasse begann ich die Schriften nachzuzeichnen<br />

und suchte nach Büchern mit geeigneten Vorlagen,<br />

nach denen ich im Selbststudium zu lernen begann. Einige Jahre<br />

später hat sich die Kalligrafie als ein wichtiger Bestandteil meines<br />

Lebens erwiesen. Es folgte ein Aufenthalt in Kairo, wo ich bei<br />

einem bekannten Meister lernen konnte. Heute ist die arabische<br />

Kalligrafie zu meinem zweiten Beruf geworden.<br />

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Wenn ich das arabische Schriftbild als Illustrator beschreibe,<br />

rede ich von einer verspielten Landschaft oder von einem üppigen<br />

Garten, in dem verschiedene Insekten tanzen und die Ranken der<br />

Pflanzen ihre Wege suchen. Als Grafiker hingegen achte ich auf<br />

die Ausführung der klaren Linie. Ich bewundere dabei die handwerkliche<br />

Präzision und bestaune die abstrakte Figurenwelt in den<br />

Zeichen. Die arabische Kalligrafie ist für mich Grafikdesign und<br />

Zeichnung in einem Paket. Dieses Paket wurde zu meiner privaten<br />

Denkplattform, welche weder einem wechselnden Trend noch Originalitätsdruck<br />

noch einem Kunstanspruch unterliegt. Während<br />

der Künstler im Motiv und in der Themenwahl über eine uneingeschränkte<br />

Beliebigkeit verfügt, habe ich als Kalligraf den Vorteil,<br />

gleich einem Musiker, auf ein vorgegebnes Schriftensystem zurückgreifen<br />

zu können. Die Kalligrafie ist mein Werkzeug und die<br />

Schrift stellt das Motiv. Diese radikale Kanalisierung gefällt mir.<br />

So wurde der Weg zum Forscher und Entdecker frei. Ich wiederhole<br />

Schriften von Meistervorlagen, um zu lernen als wäre ich ein<br />

Musiker, der die Partitur eines Komponisten abspielt. Sobald ich<br />

mich sicher fühle, beginne ich mit den Tonleitern des Alphabets<br />

zu komponieren. Meine Beschäftigung mit der arabischen Kalligrafie<br />

öffnet mir übrigens im Orient Türen, hinter denen ich im<br />

Austausch mit den Einheimischen viele schöne Momente erlebe<br />

und neue Erkenntnisse gewinne.<br />

Das Hörbare sichtbar machen<br />

Die sinngemässe Übersetzung eines arabisches Sprichwortes lautet:<br />

«Wäre die Malerei eine Art sichtbare Poesie ohne zu tönen, und<br />

wäre die Poesie eine Art hörbare Malerei ohne bildliche Darstellung,<br />

dann müsste die Kalligrafie das Werkzeug des Dichters sein,<br />

welches das Hörbare zum Sichtbaren macht» (Quelle unbekannt,<br />

Abb. 1). Das Werkzeug der arabischen Kalligrafie ist präzis wie ein<br />

Instrument eines Chirurgen. Ich suche ein Schilf- oder ein Bambusrohr<br />

und schneide dessen Spitze zu einer breiten Fläche ab, damit<br />

diese einem Markerstift gleicht. Die ideale Neigung des Rohres<br />

in meiner Hand und die gelöste Haltung des Körpers spielen eine<br />

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Vermittelt<br />

wesentliche Rolle. Ich erlebe oft, dass das Stossen der Feder in die<br />

arabische Schreibrichtung die meisten Anfänger irritiert.<br />

Die Eigenart der Schrift muss ich als Student vorerst durch das<br />

wiederholte Abschreiben verschiedener Beispiele verinnerlichen.<br />

Am Anfang ist der Schreiber an die engen Regeln der arabischen<br />

Kalligrafie gebunden. Es sind die Regeln des Alphabets, die<br />

Strukturen der Grammatik und die Eigenheit der Sprachrhythmen,<br />

welche die Landschaft des Schriftbildes prägen. So sieht eine<br />

arabische Kalligrafie in Persisch oder Urdu anders aus als die im<br />

Arabischen. Es ist die Art der Federführung, es ist der Duktus,<br />

der eine mutige Linie oder Zaghaftigkeit aufweist, und es sind die<br />

Raum- und Abstandgefühle, welche für die Harmonie zuständig<br />

sind. Erst wenn der Schreiber sich dazu reif fühlt, löst er sich von<br />

der Abschrift und beginnt aus seinen inneren Vorlagen heraus zu<br />

schreiben. Unbewusst oder bewusst entwickelt er seine persönliche<br />

Handschrift, bis er schliesslich mit der Kalligrafie Jazz zu<br />

spielen beginnt.<br />

Das Alphabet umfasst achtundzwanzig Buchstaben und jeder<br />

Buchstabe verändert seine Form innerhalb seiner Stellung im<br />

Wort. Man stelle sich zum Beispiel den Buchstaben t vor, der<br />

im Wort Tatort dreimal verschieden aussähe. Im Gegensatz zu<br />

unserem lateinischen Alphabet werden die Buchstaben der arabischen<br />

Schrift nämlich grundsätzlich mit Schnürchen verbunden.<br />

So entstehen recht unterschiedliche positionsbedingte Varianten<br />

ein und desselben Buchstabens. Ligaturverbindungen spielen in<br />

der arabischen Schrift gestalterisch eine wesentliche Rolle. Ausserdem<br />

dürfen je nach Situation auch gedehnte Verbindungslinien<br />

eingefügt werden.<br />

Die Linie ist auch nicht immer gleich breit, sie variiert wie die<br />

Anatomie eines Lebewesens. Die waagrechten Verbindungslinien<br />

wie auch Teile von gewissen Buchstaben erinnern mich zum Beispiel<br />

an Klingenformen von Schwertern oder an Schilflaub im<br />

Wind. Diese Eigenschaften verleiten schnell einmal, die Linie un-<br />

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terschiedlich schnell zu ziehen. Wie der Vergleich des Skispringers<br />

darstellt: Am Start beginnt die langsame Fahrt, in der Mitte folgt<br />

die Beschleunigung, im letzten und schnellsten Abschnitt kommt<br />

die Schanze, die den Springer weg katapultiert. Eine Parallele<br />

dazu beobachte ich beim Anfänger: Am Beginn führt er die Feder<br />

kontrolliert, gegen die Mitte versetzt er sie in Schwung und beim<br />

Schluss verfehlt er jedoch das gewünschte Ziel. Demnach verliert<br />

er während des Prozesses die Spannung und das entstandene Resultat<br />

befriedigt ihn dabei nicht. Er wird daher lernen müssen, sein<br />

Tempo unter Kontrolle zu bringen, das Temperament der Hand zu<br />

zügeln sowie einen harmonischen und langsamen Schreibfluss zu<br />

finden. Dann ist der Verlauf der Linie kein Zufall mehr. Schaut<br />

man die Linie genau an, besteht sie aus einer Summe von kurzen<br />

Federspitzverschiebungen. Mit dieser analytischen Betrachtung<br />

ihres Innenlebens wird sich der Schreibende bewusst, dass die<br />

kalligrafische Linie nach Ehrlichkeit verlangt, dann verschwindet<br />

auch der Raum für Kitsch und Effekthascherei.<br />

Irrtümlicherweise meinen viele, dass der Buchstabe aus einer einzigen<br />

durchgezogenen Linie besteht. Er besteht jedoch aus verschiedenen<br />

Einzelteilen, die in rhythmischer Folge aufeinander<br />

treffen. Die Verbindungsstellen der einzelnen Teile ermöglichen<br />

ein Innehalten. Der Schreiber muss dort über den nächsten Linienverlauf<br />

entscheiden.<br />

Eine spannende Herausforderung ist die Orientierung im Weissraum,<br />

wo sich der Kalligraf seine schwarzen Zeichen erst mal vorstellen<br />

muss. «Die mystische Wüste des Kalligrafen ist die Leere<br />

und der Kalligraf fürchtet sich vor dieser Leere» (Quelle unbekannt).<br />

Je länger ich schreibe, desto mehr interessiert mich die<br />

Kontrasthärte zwischen dem offenen und unfassbaren Bereich des<br />

Weissen gegenüber der streng definierten Materie der Tintenspur.<br />

Sie ist die Spannung zwischen der Offenheit und der Leere.<br />

Das Geniale ist, dass das komplexe Wissen über die Ästhetik in<br />

einem kleinen Alphabet untergebracht ist. Durch intensives Stu-<br />

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193 Sichtbar<br />

dium können wir diese komprimierten Informationen auspacken<br />

und durch Wiederholungen erlebnisvoll nachvollziehen.<br />

Vielschichtigkeiten im gleichen Moment<br />

Die Disziplin der Kalligrafie ist ein Messinstrument des persönlichen<br />

Zustandes und der inneren Reife. Wer eine Stelle oftmals<br />

wiederholt, steckt in der Beglückung des Erfolgs oder in der Bedrückung<br />

des Misslingens. Dieses Sprichwort (Abb. 2) – angeblich<br />

von Platon – finde ich äusserst treffend:<br />

« D i e<br />

Kalligrafie ist die Trense der Gedanken». Im Arabischen kommen<br />

die Wörter Trense und Gedanken interessanterweise von der gleichen<br />

Bedeutungswurzel, vielleicht weil man sich bewusst war,<br />

dass man die Gedanken so kontrollieren muss, wie einen Hengst,<br />

den man auf einem geraden Pfad über eine Weide von rossigen<br />

Stuten lenkt. Wer die Eigenwilligkeit der Pferde kennt, weiss wie<br />

schwierig es ist, auf einem Platz einen korrekten Zirkel zu galoppieren,<br />

ohne dass dieser in eine Eiform zerfällt. Zur Korrektur<br />

muss bei jeder Runde an der Eiform geschliffen werden, damit<br />

der saubere Kreis wieder entsteht. Wie ich die Metapher verstehe,<br />

schleifen wir an unseren Gedanken, um uns zu verbessern.<br />

Die Linie einer Breitfeder besteht aus einer oberen und unteren<br />

Kante, auf die sich der Kalligraf gleichzeitig konzentrieren muss.<br />

Das schwierige ist, die beiden Punkte in einem verharrenden Winkel<br />

parallel und sauber zu verschieben, ohne die Hand zu drehen<br />

oder eine Stelle zu vernachlässigen. Wenn die Feder mit Tinte benetzt<br />

ist und ich mit dem Schreiben beginne, müssen alle zuvor<br />

beschriebenen Mechanismen gleichzeitig in Aktion treten: Das Beherrschen<br />

des Werkzeugs, das gesamte Wissen über die Buchstaben<br />

und der immense Erfahrungsschatz der Ästhetik und der Zustand<br />

der Konzentration. Erst dann glückt die kalligrafische Linie.<br />

Die Lust an der steten Wiederholung lässt mich vermuten, dass<br />

uns diese Linien seit Urzeiten vertraut sind. Sie geistern in unseren<br />

Köpfen, aber wir können sie nicht einfangen, ohne dass wir uns<br />

ihnen in harter Arbeit nähern.<br />

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194<br />

Kalligrafieunterricht<br />

Um ernsthaft Kalligrafie zu lernen, braucht es nicht zwingend<br />

grosses Talent, wichtiger sind: Fleiss, Beobachtungsgabe, Geduld,<br />

Ausdauer, innere Ruhe, Geschick, Leidenschaft und Präzision.<br />

Arabische Sprachkenntnisse verhelfen anfänglich kaum zu besseren<br />

Resultaten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Muttersprachler<br />

oft oberflächlicher beobachten und ihren Vorteil überschätzen.<br />

Ob Buchhalter, Designer, lateinische Kalligrafen, alle beginnen<br />

von Grund auf und müssen eine neue Fertigkeit lernen. Kaum ist<br />

ihnen etwas von früher vertraut. Dabei kommen sie in die Situation,<br />

sich in aller Naivität als Lernende einer neuen Materie zu<br />

erleben.<br />

Meine Kurse baue ich bewusst so auf, dass die Lernenden möglichst<br />

viel handwerkliche Erfahrung machen können. Weil kaum<br />

jemand Vorkenntnisse hat, ist ein Frontalunterricht ungeeignet,<br />

darum zirkuliere ich zwischen den Plätzen und leite die Teilnehmer<br />

individuell an. Dazwischen lasse ich passende Hintergrundinformationen<br />

aus der Geschichte einfliessen.<br />

Bereits nach den einführenden Instruktionen in der ersten Lektion,<br />

ist die Neugier geweckt. Die Schüler und Schülerinnen beginnen<br />

das Kalligrafieren selbständig zu ergründen. In einem<br />

andächtigen Schweigen erforschen sie das Spiel der Linien und<br />

vergessen dabei die Zeit. Abschliessend verstehen sie einiges über<br />

die Machart der Schrift, sie sind dann auch in der Lage ihren<br />

Namen auf Arabisch zu schreiben, was in unseren Breiten immer<br />

noch einen exotischen Reiz hat.<br />

Daniel Reichenbach, Jahrgang 71, Zürich, Fachklasse Grafik in Luzern, lebt heute als Illustrator und<br />

Kalligraf. Er unterrichtet arabische Kalligrafie für Schüler und Erwachsene im In- und Ausland. Von ihm<br />

sind zwei Bücher erschienen, in denen er sich mit arabisch – deutschen Eselsbrücken auseinander setzt:<br />

www.kubri.ch / www.arabische-kalligrafie.ch<br />

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195 Sichtbar<br />

Abb. 2: Das Platon-Zitat (Schriftstil )<br />

Kurze Federspitzverschiebungen<br />

/Kantenlinien<br />

Anfängerbeispiel analog Sprungschanze<br />

Das in Einzenteilen zerlegte Wort<br />

Abfolgen und Rhythmen im Wort<br />

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196<br />

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197 Sichtbar<br />

7<br />

Samuel Schütz<br />

«9/11» in Mednipure, Indien<br />

Wie Kino ist es, wenn in Dörfern West Bengalens Sänger ihre audiovisuellen<br />

Shows vortragen. Singend oder rezitierend rollen sie<br />

gleichzeitig zum Text ihre Bildrollen ab.<br />

Der Ursprung dieser Art von Unterhaltung reicht mehr als 1000<br />

Jahre zurück und zu den traditionellen mythologischen oder religiösen<br />

Themen sind in neuerer Zeit viele mit Gegenwartsbezug entstanden.<br />

Neben Liebesgeschichten, Bildrollen über lokale Mordfälle<br />

und Flutkatastrophen oder Erdbeben gibt es eine ganze Reihe<br />

sogenannter «Social Pats 1 ».<br />

«Im Kummer geboren, vom Schicksal gezeichnet bin ich; mein Leben<br />

war nichts als Leid, oh Gott – oh! Mein verrückter Geist! (...)<br />

Und so verlief mein Leben: Mein ältester Onkel lehrte mich zeichnen,<br />

Grossvater lehrte mich singen; sie nahmen mich mit in die Dörfer.<br />

Nachdem ich vier, fünf Lieder kannte, ging ich allein in die Dörfer;<br />

viel Reis und viele Münzen brachte ich nach Hause, und unsere<br />

Armut nahm ab. 2 »<br />

Die Tradition des Malens und Singens wird innerhalb der Patua 3 -<br />

Familien weitergegeben. Kinder kopieren zunächst spielerisch<br />

einzelne Figuren aus den Pats ihrer Eltern oder Geschwister, mit<br />

zunehmender Übung Einzelbilder oder ganze Sequenzen. So entsteht<br />

ein für Aussenstehende erkennbare «Familienstil» mit charakteristischen<br />

Figurenmerkmalen oder einer bestimmten Farbigkeit.<br />

Der Altmeister Dukhushyam Chitrakar, von dem die obigen<br />

Liedzeilen stammen, hat mehr als <strong>12</strong>0 eigene Lieder komponiert.<br />

Er lehrte in den neunziger Jahren auch einigen Frauen aus dem<br />

Dorf Naya 4 Bildrollen zu malen und zu singen. Swarna Chitra-<br />

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198<br />

kar ist eine der innovativsten und erfolgreichsten Frauen. Mit dem<br />

Verkauf von Bildrollen und der Teilnahme an Folkfestivals kann<br />

sie ihre sechs-köpfige Familie ernähren. Von ihr ist das nachfolgende<br />

Lied:<br />

«9/11»<br />

Hört, hört alle her, ich erzähle Euch die Geschichte<br />

von der Zerstörung des World Trade Center.<br />

Das World Trade Center wurde zerstört.<br />

Das World Trade Center in Amerika wurde in Schutt und<br />

Asche gelegt. (Refrain)<br />

Die Nachricht verbreitete sich und die Dorfleute hörten,<br />

dass viele, viele Menschen ihr Leben verloren.<br />

– Ref.<br />

Es brannte und bis alle Flammen gelöscht werden konnten,<br />

verbrannten viele geliebte Menschen, viele schrien «hai, hai!»<br />

– Ref.<br />

Die Nachricht verbreitete sich und als die Rettungsleute das<br />

hörten, retteten und trösteten sie viele Menschen.<br />

– Ref.<br />

Viele, viele Menschen wurden in Spitäler gebracht.<br />

Dort sagten die Ärzte: «Einige werden ihre Hände und<br />

andere ihre Füsse verlieren!»<br />

– Ref.<br />

Amerika ist eine Stadt 5 , die dem Himmel gleicht.<br />

In dieser Stadt geschah dieses schreckliche Unglück.<br />

– Ref.<br />

Die Nachrichten aus Amerika erfüllte mein Herz mit grosser<br />

Sorge, während dem die Taliban in Afghanistan jubelten.<br />

– Ref.<br />

Als George Bush davon erfuhr, rief er einen Krieg aus gegen<br />

Bin Laden: «sei auf der Hut!»<br />

Das World Trade Center in Amerika wurde in Schutt und<br />

Asche gelegt (Refrain).<br />

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199 Sichtbar<br />

Wie genau Swarna sich darüber informierte, ist mir nicht bekannt.<br />

Sie kennt in Calcutta eine Handvoll Intellektuelle, die sie regelmässig<br />

besucht; sie ist auch schon mehrmals ins Ausland eingeladen<br />

worden – der Text und die Bilder dazu sind aber ganz alleine<br />

ihr Werk und wurden uns im Herbst 2003 erstmal vorgetragen.<br />

Kennengelernt haben wir die Patuas von Naya zufällig bei der<br />

jährlich stattfindenden Buchmesse in Calcutta. Dort sass, hinter<br />

einer Reihe von Wellblechständen, der junge Patua Bahaduhr, vor<br />

sich am Boden einige Pats ausgebreitet. Wir baten ihn, uns am<br />

nächsten Tag in unserem Hotel zu besuchen – was er, zusammen<br />

mit weiteren Jungen aus dem Dorf auch tat. Mit der Zeit sind Patuas<br />

aus anderen Dörfern von Mednipure dazu gekommen. 1994<br />

haben wir das Dorf Naya besucht, 1996 eine grosse Ausstellung<br />

in Calcutta organisiert, unter anderen auch mit Swarna Chitrakar.<br />

In den letzten Jahren haben viele junge Patuas ihr Handwerk<br />

zugunsten von lukrativeren Jobs aufgegeben. Ihr Kunsthandwerk<br />

wird durch die Präsenz von Fernsehen und Videoverleih auch in<br />

den ländlichen Gegenden zusätzlich bedrängt.<br />

Samuel Schütz, Zeichenlehrer, zusammen mit Thomas Kaiser seit 1994,<br />

verschiedene Kunstprojekte in Indien, geb. 1963, wohnt/arbeitet in Zürich.<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Das bengalische Wort Pat, (Pata, Pot usw.) für Bild oder Bildrolle wird auf das Sanskrit<br />

Wort Patta – Jutestoff zurückgeführt. Jute war früher der traditionelle Bildgrund – die<br />

heutigen pats werden auf aneinander genähte Papierstücke gemalt. «Social Pats» entstehen zu<br />

Themen wie Hygiene und Gesundheit, zum Bildungssystem, zur Unterstützung von Impfkampagnien,<br />

es gibt Songs gegen das ruinöse Mitgiftsystem oder Informationen zu verschiedenen<br />

Aspekten von Aids. Die Sänger werden im Auftragsverhältnis von NGO›s oder der kommunistischen<br />

Regierung West Bengalens für jedes nachweislich besuchte Dorf bezahlt.<br />

2<br />

Der Sänger Dukhushyam Chitrakar in seinem Lied «Meine Lebensgeschichte».<br />

3<br />

Die Patua (oder Chitrakar) gehören zu einer sozial niedrig gestellten Kaste von Kunsthandwerkern.<br />

4<br />

Das Dorf Naya im Distrikt Mednipure, West Bengalen, liegt etwas 100 km von Calcutta<br />

entfernt. Es hat innerhalb von 20 Jahren weltweite, mediale Aufmerksamkeit erfahren; neben<br />

Filmen haben auch verschiedene Ethnologen Arbeiten über die dortigen Patuas geschrieben –<br />

vgl. zum Beispiel http://learningobjects.wesleyan.edu/naya/articles/lisbon_intro.pdf<br />

5<br />

Gemeint ist hier wohl New York. Aufnahme und Übersetzung :<br />

Thomas Kaiser, Calcutta 2003, Übersetzung ins Deutsch : Samuel Schütz<br />

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200<br />

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201 Sichtbar<br />

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203<br />

Artikulation: denkbar<br />

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204<br />

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205<br />

denkbar<br />

1<br />

Mario Leimbacher<br />

Fragestellungen zu<br />

Artikulation und<br />

Interpretation<br />

Gibt es einen zeichnerischen Reflex<br />

Bei der Themenfindung für das <strong>Heft</strong> <strong>02</strong> hat uns der Begriff Artikulation<br />

von Beginn an fasziniert. Er schien ein weites Feld zu<br />

öffnen für die Rolle und die Vielfalt unseres Faches. In einzelnen<br />

Beiträgen dieses <strong>Heft</strong>es wird das Feld sehr weit gesteckt und es<br />

zeigt sich, dass die Frage sinnvoll wird, was Artikulation bedeutet<br />

und ob es nahliegend ist, auf die Suche nach den Grenzen zu<br />

gehen. Denn einerseits lässt sich aus der Sicht des Betrachters und<br />

Interpretierenden alles als Artikulation verstehen. Die Berge, die<br />

uns umgeben, sind die Artikulation der Erdkruste und deren Geschichte,<br />

und wie wir mit ihnen umgehen und sie überwinden, ist<br />

auch wieder eine Artikulation unserer Zivilisation. Andererseits<br />

wird der Begriff in anderen Disziplinen wie z.B. der Musik als<br />

enger, technischer Begriff verwendet, so wie er am Schluss dieses<br />

Artikels von Martin Jäger definiert wird.<br />

Wenn wir unseren Schülerinnen und Schülern die Aufgabe stellen,<br />

ein Stillleben mit Früchten zu betrachten und die Situation<br />

zeichnerisch darzustellen, stellt sich die Frage, ob das entstehende<br />

Abbild als Artikulation betrachtet werden kann oder/und als<br />

Resultat eines Wahrnehmungs- und Darstellungsprozesses. Wenn<br />

die Schülerinnen und Schüler aber in einem Comic eine Situation<br />

aus ihrem Alltag schildern, scheint der Fall klar, da die Geschichte<br />

als lesbare und übersetzbare Botschaft verstanden wird. Müssen<br />

wir irgendwo in diesem Feld eine Grenze ziehen zwischen Artikulation<br />

und Übung, zwischen Sprache und technischer Fertigkeit,<br />

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206<br />

zwischen Zeichen und Reflex, eine Grenze, die in den Sprachwissenschaften<br />

als semiotische Schwelle bezeichnet wird<br />

Im Moment des Naturstudiums tritt für die Zeichnerin und<br />

den Zeichner die Frage nach der Artikulation in den Hintergrund.<br />

Wer in diesem Sinn einen Apfel abzeichnet, fragt sich nicht, was<br />

er damit mitteilt. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Wahrnehmung<br />

und die Möglichkeiten der Wiedergabe und Darstellung<br />

dieses Wahrgenommenen. Der Blick hin und her zwischen Gegenstand<br />

und entstehender Zeichnung ist ein prüfender und vergleichender,<br />

nicht ein deutender. Die Zeichnung entsteht in einem<br />

dauernden Wechsel von Abtasten und Umsetzen. Sind diese Begriffe<br />

wirklich präzise genug, den Prozess zu beschreiben<br />

Es tritt in unserer Arbeit kaum die Frage nach der Wiedererkennbarkeit<br />

eines Gegenstandes in den Vordergrund, was z.B.<br />

bei Porträtzeichnungen häufig zu Missverständnissen führt, sondern<br />

die Frage danach, wie Wahrnehmung funktioniert, was für<br />

Perspektiven und Sichtweisen und was für Mittel und Techniken<br />

möglich oder notwendig sind. In diesem Sinn ist unsere Arbeit<br />

einerseits eine naturwissenschaftliche, in der es um unser Sehen<br />

und dessen Bedingungen geht (Sehvorgang, Optik, Licht, Farbe,<br />

Perspektive), und andererseits eine erkenntnistheoretische, in der<br />

es um die individuellen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen<br />

unserer Betrachtungs-, Sichtweisen und Darstellungstraditionen<br />

geht.<br />

Erst wenn wir vom Moment des Naturstudiums weggehen und<br />

die Arbeiten betrachten, tritt die Frage nach Artikulation in den<br />

Vordergrund. Wer oder was artikuliert sich in einem Stillleben<br />

Im spezifischen Motiv und im Duktus artikuliert sich einerseits<br />

das Individuum und andererseits die gesellschaftliche Situation,<br />

da nicht in allen Kulturen Naturstudium ein Thema ist.<br />

Der Schatten eines Baumes auf einer Hauswand ist ein Abbild des<br />

Baumes, aber er ist keine Artikulation. Ist die Zeichnung eines<br />

Baumes auf einem Blatt Papier mehr als ein Abdruck Wer oder<br />

was artikuliert sich in dieser Zeichnung Im Artikel des Psychologen<br />

Leo Gehrig wird eine spannende Sichtweise auf diese Frage<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 206<br />

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207<br />

denkbar<br />

gegeben, die in unserem Unterricht kaum ein Thema ist. Es lässt<br />

sich feststellen, dass Interpretation, also die Frage nach der Artikulation,<br />

kaum Grenzen kennt. Wie tief sind wir bereit, über das Artikulierte<br />

in die Konstitution eines Menschen einzudringen Wo ist<br />

Interpretation eine objektive Beschreibung und von welchem Punkt<br />

an ist die interpretatorische Aussage ein Zeichen des Interpretierenden<br />

selber, die wieder interpretiert werden müsste Die Grenzen<br />

müssen auch mit ethischen und moralischen Fragen geklärt werden.<br />

Auch diese Fragen sind in unserem Fach kaum ein Thema.<br />

Natürlich erkennen wir, wenn wir die Resultate einer Klasse<br />

vor uns ausbreiten und vergleichen, die Individuen dahinter und<br />

können nach einer gewissen Zeit die Werke auch zuordnen. Im<br />

Duktus und weiteren medien- und darstellungsspezifischen Faktoren<br />

kommt die Person zum Ausdruck. Das Individuum drückt<br />

sich in unserem Unterricht in Merkmalen aus, die wir auch nicht<br />

alle mit unseren Kriterien der Aufgabestellung bewerten dürfen.<br />

Es wird sichtbar, dass die Fragestellung ein komplexes Feld<br />

öffnet. Die traditionelle Aufsplitterung dieser Arbeit in die verschiedenen<br />

Disziplinen und Fächer wie Bildnerische Gestaltung,<br />

Visualistik, Semiotik, Kunstgeschichte, Museumspädagogik, Psychologie<br />

usw. verhindert allzu grosse Konfusion. Man macht es<br />

sich aber zu einfach, wenn man sich auf eine dieser Disziplinen<br />

beschränkt. In Nuancen bewegen wir uns als Lehrpersonen in allen<br />

Bereichen und müssen uns bewusst sein, wo und wie wir die<br />

Grenzen setzen und auch transparent vermitteln. Wenn wir aber<br />

Tendenzen und einzelne Werke der Kunst aus dem letzten Jahrhundert<br />

seriös in unsere Betrachtungsweise einbeziehen wollen,<br />

werden wir mit allen diesen Fragekomplexen überflutet. Ein Werk<br />

von Joseph Beuys lässt sich ohne alles Hintergrundwissen wohl<br />

intuitiv und sinnlich erfassen und beschreiben, nur einbetten in<br />

die Geschichte der Kunst und bewusst in unseren Unterricht lässt<br />

es sich nur, wenn z.B. der Kunstbegriff und der Freiheitsbegriff<br />

des Künstlers einbezogen wird. Und dieser berührt ganz provokativ<br />

und bewusst alle oben aufgelisteten Disziplinen.<br />

«Jeder Mensch ist ein Künstler», eine der zentralen Aussagen<br />

von Joseph Beuys, meint nicht, dass jeder Mensch Maler, Foto-<br />

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2<strong>08</strong><br />

graf oder Regisseur ist, sondern dass jeder Mensch das gestalterische<br />

Potential in sich trägt und zumindest im Wahrnehmen,<br />

Denken, Entscheiden und Handeln umsetzen kann. Wir setzen<br />

dieses Potential in unserem Fach schon in der bescheidensten und<br />

allerkleinsten Aufgabestellung ein, wenn wir die Frage einbeziehen,<br />

wieweit wir Konventionen lehren und vermitteln oder Wahrnehmung<br />

schulen und ermöglichen, Sichtweisen und Perspektiven<br />

aufzuzeigen.<br />

Artikulation als Begriff der Musik<br />

Der Begriff «Artikulation» hat in der Musik eine andere Bedeutung<br />

als in der Sprache, wo er sich auf «Aussprache» bezieht. Die<br />

musikalische Artikulation beschreibt die verschiedenen Möglichkeiten,<br />

Töne miteinander zu verbinden oder voneinander abzuheben.<br />

Die grundlegenden Artikulationsmöglichkeiten sind:<br />

> > legato (gebunden) Symbol: Bogen über oder unter mehreren Noten<br />

> > portato (getragen) Symbol: Strich über oder unter dem Notenkopf<br />

> > staccato (kurz angeschlagen) Symbol: Punkt über oder unter dem<br />

Notenkopf<br />

(nicht zu verwechseln mit dem Punkt rechts neben dem Notenkopf<br />

bei punktierten Noten (rhythmische Verlängerung um die Hälfte<br />

des Notenwertes))<br />

Ferner unterscheidet man Zwischenstufen wie<br />

> > non legato (leicht abgesetzt) Symbol: Bogen über oder unter<br />

mehreren Noten und Punkt über oder unter dem Notenkopf<br />

oder Spezialitäten wie<br />

> > tenuto (gehalten) Symbol: «ten.» über oder unter dem Notenkopf<br />

(Die mit «ten.» bezeichnete Note wird in vollem Wert ausgespielt.<br />

In der Regel sind es Einzelnoten.)<br />

> > marcato (betont, abgesetzt) Symbol: Keil über oder unter dem<br />

Notenkopf<br />

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209<br />

denkbar<br />

Je nach Instrument wird die Artikulation anders erzeugt:<br />

>> Bei Tasteninstrumenten durch den Anschlag<br />

>> Bei Streichinstrumenten durch den Bogenstrich<br />

>> Bei Blasinstrumenten durch den Luftstrom und den Zungenstoss<br />

Die Artikulation ist bei vielen Kompositionen nicht exakt notiert.<br />

Es ist oftmals Aufgabe des Interpreten, eine passende Artikulation<br />

anzuwenden. Die Artikulation steht in einer ständigen<br />

Wechselwirkung mit der Phrasierung (Einteilung der Musik in<br />

Atembögen) und der Dynamik (Lautstärke). Schlecht artikulierte<br />

Musik klingt in der Regel langweilig (Anfänger am Instrument).<br />

Differenzierte Artikulation erhöht den musikalischen Genuss und<br />

die Prägnanz eines Stückes.<br />

Martin Jäger<br />

Martin Jäger, Dr. med. und dipl. Schulmusiker II,<br />

Abteilungsleiter Musik an der KS Enge, geboren 1953 in Wädenswil<br />

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210<br />

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211<br />

denkbar<br />

2<br />

Leo Gehrig<br />

Was Zeichnungen<br />

auszudrücken vermögen, was<br />

Worte nicht können<br />

Auszüge aus dem Buch Baumzeichnungen –<br />

Zeichen des Menschen<br />

Seit über dreissig Jahren sammle ich Baumzeichnungen von psychisch<br />

gesunden, gestörten oder kranken Kindern, Jugendlichen<br />

und Erwachsenen. Zu Beginn meiner psychologischen Tätigkeit<br />

an einem psychiatrischen Zentrum hielt ich nichts von der Baumzeichnung<br />

als diagnostischem und therapeutischem Hilfsmittel.<br />

Mit vielen psychisch kranken Menschen ist es schwierig, ein Gespräch<br />

zu führen. Deshalb habe ich meine Meinung geändert. Ich<br />

begann in der Begegnung mit den Kranken auch gestalterische<br />

Mittel einzusetzen. In diesem Sinne liess ich die Patienten auch<br />

einen Obstbaum zeichnen. Immer stärker faszinierten mich ihre<br />

Darstellungen und die Gespräche darüber. Ich begann, die Zeichnungen<br />

systematisch zu sammeln und mit den klinischen Eindrücken<br />

und Befunden, den Selbstschilderungen der Patienten und<br />

den Beobachtungen ihrer Angehörigen zu vergleichen.<br />

Immer in Bildern befangen<br />

Wir machen uns immer Bilder von den andern Menschen. Wir<br />

sind immer in Vorstellungen und Vorurteilen in der Begegnung<br />

mit andern befangen. Von frühester Kindheit an entwickeln wir<br />

so genannte Konstrukte, das heisst Schablonen, Kategorien oder<br />

Muster, durch die wir die Welt wahrnehmen und ordnen. Diese<br />

Konstrukte kanalisieren die Art und Weise, wie wir unsere Mitmenschen<br />

sehen, den Wahrnehmungen Bedeutung verleihen und<br />

sie in einen Sinnzusammenhang stellen.<br />

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2<strong>12</strong><br />

Wir sind auch immer in Bildern (Konstrukten) über uns selbst<br />

verhaftet. Wir sprechen vom Selbstbild, vom Selbstkonzept, vom<br />

Idealkonzept. All diese Konstrukte verändern sich im Laufe der<br />

menschlichen Entwicklung, teilweise eigengesetzlich, bis ins hohe<br />

Alter. Die Vielfalt der Lernerfahrungen und der menschlichen Beziehungen<br />

bestimmen mit, inwieweit sie sich zu unverrückbaren<br />

Vorurteilen verfestigen oder wandelbar sind.<br />

Konstruktbildungen und selektive Wahrnehmung sind in einem<br />

gewissen Grade notwendig. Ohne diese Fähigkeiten wären wir<br />

Menschen in der Erfassung und Deutung der Wirklichkeit überfordert.<br />

Wir werden bei der Zeichnung eines schizophrenen Menschen<br />

sehen, was geschieht, wenn Wahrnehmungen nicht mehr<br />

genügend selektioniert und gefiltert werden können: Ein inneres<br />

und äusseres Chaos bricht aus.<br />

Aus diesen Gründen ist für mich die Baumzeichnung bei der<br />

täglichen diagnostischen, beratenden und therapeutischen Tätigkeit<br />

nur ein Hilfsmittel zur Erweiterung des Deutungshorizontes<br />

und zur Erschütterung meiner eigenen Bilder, die ich von den mir<br />

anvertrauten Menschen mache. Gerade die ungeheure Vielfalt der<br />

Zeichnungen macht mir immer wieder deutlich bewusst, wie einzigartig,<br />

unverwechselbar, vielschichtig jeder Mensch ist. Und dies<br />

wird besonders beim gemeinsamen Gespräch und Deuten mit den<br />

Klienten oder Patienten (mit denen das möglich ist) eindrücklich<br />

erfahrbar. Ihre eigene Zeichnung regt sie oft in einer besonderen<br />

Weise an, Gedanken über sich, ihre Persönlichkeit, über ihr Erleben<br />

und Verhalten, ihre Fähigkeiten, Nöte und Sorgen, manchmal<br />

sogar über ihre Lebensgeschichte zu machen. Darin liegt der eigentliche<br />

Gewinn und der Reichtum dieses Verfahrens für mich:<br />

Mit den Klienten oder Patienten zusammen ihre Zeichnungen in<br />

einer anschaulichen, alltagsnahen Sprache so zu beschreiben, dass<br />

Zwischentöne anklingen und für sie das Unsagbare diskrete Konturen<br />

erhält.<br />

Die Baumzeichnung – ein Zeichen des Menschen<br />

Das Erkennen und Verstehen eines andern Menschen bleibt immer<br />

sehr eingeschränkt. «Ist der Forderung, ‹Erkenne dich selbst,›<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:50 <strong>Uhr</strong>


213<br />

denkbar<br />

schwer und nur unzulänglich nachzukommen, da sich ein jeder<br />

über sich selbst am leichtesten täuscht, so stellt uns gar der Versuch,<br />

den anderen zu erkennen, vor unüberwindliche Schranken.<br />

Mögen wir dem anderen noch so nahe stehen, mögen wir ihn<br />

lieben, achten, oder mögen wir seine Gegner sein, wir kennen<br />

ihn nie, wie er ist, wir kennen nur Zeichen, die von ihm kommen,<br />

Wirkungen, die von ihm ausgehen, Fakten die sich feststellen, zusammenstellen<br />

lassen. Wir erleben den andern, oft eindringlich,<br />

manchmal erschütternd, doch unser Wissen über ihn ist grausam<br />

begrenzt, grausam begrenzt aber auch die Möglichkeit, ihm zu<br />

helfen. Der Raum zwischen den Menschen ist unermesslicher, als<br />

wir das wahrhaben wollen» (Friedrich Dürrenmatt).<br />

Und so verstehe ich die Baumzeichnung nur als ein Zeichen unter<br />

vielen, das manchmal auf verborgene Fähigkeiten und Nöte eines<br />

Menschen hinweist.<br />

Selbstversuch<br />

Vielleicht wollen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch einen Obstbaum<br />

zeichen Dann empfehle ich Ihnen folgendes Vorgehen:<br />

>> Nehmen Sie ein A4-Blatt, einen Bleistift und einen Radiergummi.<br />

>> Zeichnen Sie jetzt einen Obstbaum, Sie dürfen so lange an der<br />

Darstellung arbeiten, bis Sie damit zufrieden sind.<br />

>> Beschreiben und deuten Sie danach ihre Baumzeichnung, vielleicht<br />

zusammen mit einem Ihnen vertrauten Menschen.<br />

Das folgende Kapitel gibt Ihnen dazu einige Anregungen.<br />

Hinweise zur Beschreibung der Baumzeichnung und zum deutenden<br />

Gespräch<br />

Schon aus der Beobachtung, wie der Mensch die Aufgabe bewältigt,<br />

einen Baum zu zeichnen, lassen sich Anregungen für das Gespräch<br />

und das gemeinsame Deuten der Zeichnung gewinnen. Folgende<br />

Fragen können dabei beispielsweise aufgeworfen werden:<br />

>> Wie geht der Zeichner an die Aufgabe heran Hält er inne, überlegt<br />

er oder geht er gleich ans Werk<br />

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2<strong>14</strong><br />

>> Skizziert er zunächst und gestaltet allmählich seine Darstellung aus<br />

oder wirft er den Baum mit raschen, kraftvollen Strichen hin<br />

>> Wie meistert er Schwierigkeiten, zum Beispiel den Übergang vom<br />

Stamm zu den Ästen Braust er auf oder geht er sie in Ruhe an<br />

Verkrampft er sich bei gestalterischen Problemen, äussert er sich<br />

darüber, überspielt er sie, möchte er gleich aufgeben oder zeichnet<br />

er verbissen und wortlos weiter<br />

>> Dominiert die Eigen- oder die Fremdkritik Wertet er die gestellte<br />

Aufgabe völlig ab, kritisiert er nur den Beobachter oder stellt<br />

er nur sich in Frage und entschuldigt sich dauernd für seine<br />

zeichnerische Unfähigkeit und die fehlende Übung<br />

>> Wie ist der Arbeitsstil Verlangt er immer wieder ein neues Blatt,<br />

weil ihn schon seine ersten Striche nicht befriedigen Kommt<br />

er nie zu Ende, weil er an seiner Darstellung ständig etwas<br />

auszusetzen hat oder gibt er sie rasch zurück Zeichnet er hastig,<br />

unkonzentriert, übereifrig oder ausdauernd und hingebungsvoll<br />

>> Stellt der Zeichner dem Beobachter immer wieder Rückfragen, um<br />

sich zu vergewissern, ob er die Aufgabe ordentlich bewältigt oder<br />

ist er auf aufmunternde Worte nicht angewiesen<br />

Solche und ähnliche Beobachtungen teile ich den Ratsuchenden<br />

oder den Patienten beim gemeinsamen Deutungsprozess mit. Oftmals<br />

berichten sie dann von sich aus über gewisse Nöte, Konflikte<br />

oder auch Fähigkeiten. Eine Frau beispielsweise brach in Tränen<br />

aus, als ich ihr mitteilte, das ich mich gewundert habe, dass sie<br />

trotz meines Erachtens sehr guter Ansätze immer wieder von neuem<br />

einen Baum zu zeichnen begann. Sie berichtete, dass es ihr<br />

schon bei alltäglichen Aufgaben häufig so ergehe. Sie werde ganz<br />

allgemein rasch von so starken Selbstzweifeln überfallen, dass sie<br />

oft entscheidungs- und handlungsunfähig sei, selbst bei einfachen<br />

Herausforderungen. Diese Nöte waren wichtige Themen in den<br />

therapeutischen Gesprächen. Dabei kam sie immer wieder auf<br />

ihre Schwierigkeiten beim Zeichnen eines Obstbaumes zurück.<br />

Ganzheitliche Betrachtung<br />

Am meisten Anregungen für das Gespräch und das gemeinsame<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:50 <strong>Uhr</strong>


215<br />

denkbar<br />

Deuten können gewonnen werden, wenn man die Baumzeichnung<br />

zunächst auf sich wirken lässt: Welche Atmosphäre strahlt sie<br />

aus Wirkt sie lebendig, chaotisch, steif, düster, froh, anziehend,<br />

abstossend<br />

Hilfreich ist sodann, wenn man dem dargestellten Baum «mit<br />

vielen Fragen begegnet»:<br />

>> Erinnert die Zeichnung an einen Obstbaum oder eher an eine<br />

Trauerweide, an einen Nadel- oder gar an einen exotischen Baum<br />

>> Wirkt er realitätsnah oder realitätsfern, kräftig und gesund oder<br />

schwach und kränklich<br />

>> Wie wirkt er bei näherer Betrachtung Hält er das, was er<br />

auf den ersten Blick verspricht oder verliert er bei intensiver<br />

Auseinandersetzung an Anziehungskraft<br />

>> Regt er die Phantasie an, löst er viele Fragen aus, macht er<br />

zunehmend neugierig oder langweilt er immer mehr<br />

>> Ist der Baum in eine ruhige Landschaft eingebettet oder hängt er<br />

verloren im luftleeren Raum<br />

>> In welcher Umgebung steht der Baum An der Waldgrenze, auf<br />

einer blühenden Wiese, allein auf einem Hügel oder gar in einer<br />

Wüste<br />

>> Ist der Baum dem Sturm ausgesetzt oder wirft die Sonne ihr Licht<br />

auf ihn<br />

>> Kann man auf den Baum klettern oder benötigt man eine<br />

lange Leiter Halten die Äste Belastungen stand, wenn auf ihm<br />

herumgeklettert wird, oder brechen sie gleich ab<br />

>> Wie reagiert er auf atmosphärische Einflüsse Hält er stärkeren<br />

Winden stand oder bricht er schon bei leichten Windstössen<br />

auseinander<br />

Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die genaue Betrachtung<br />

des Kerns des Baumes. Zusammen mit den Wurzeln bilden der<br />

Stamm, die Äste mit den Zweigen das Gerüst des Baumes, das<br />

dem Wechsel der Jahreszeit widersteht.<br />

>> Ist der Baum im Erdboden verankert, hat er Halt oder ist er trotz<br />

grosser Wurzeln entwurzelt Gehen Stamm, Äste und Zweige<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 215<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:50 <strong>Uhr</strong>


216<br />

>><br />

organisch ineinander über oder sind sie additiv aneinander gelötet<br />

Streben die Äste und Zweige ins Licht oder richten sie sich gegen<br />

den Erdboden<br />

Je konkreter, präziser und anschaulicher der dargestellte Baum<br />

beschrieben wird, desto mehr werden die Phantasien des Zeichners<br />

angeregt und seine Gefühle angesprochen. Mit diesem Vorgehen<br />

wird ihm auch überlassen, worüber er sprechen möchte und<br />

worüber nicht.<br />

Dieses schlichte phänomenologisch-deskriptive Vorgehen ist<br />

vergleichbar mit dem Lesen von literarischen Werken. Literatur<br />

beschreibt das menschliche und zwischenmenschliche Verhalten<br />

und Erleben in so konkreter und anschaulicher Weise, dass dadurch<br />

im Leser solche Bilder, Empfindungen, Gedanken, Erinnerungen<br />

und Phantasien erzeugt werden, die in die Tiefe weisen.<br />

Mit den folgenden Baumzeichnungen von psychisch gesunden und<br />

kranken Menschen soll dieses Verständnis verdeutlicht werden.<br />

Geeinte Harmonie der Gegensätze<br />

Die zwei folgenden Darstellungen stammen von zwei dreissigjährigen,<br />

psychisch gesunden Menschen. Beide haben nur den üblichen<br />

Zeichenunterricht in der Volksschule besucht.<br />

In beiden Darstellungen kommt eine Stimmung zum Ausdruck,<br />

die viele Betrachter anzieht, fesselt, fasziniert. Warum In diesen<br />

Baumzeichnungen finden sich gegensätzliche Elemente, die sich<br />

harmonisch zu einem Ganzen vereinen: ein kräftiger Stamm und<br />

feine Zweige, Äste und Blätter, Tragendes und Getragenes, Licht<br />

und Schatten. Diese geeinten Gegensätzlichkeiten, diese bipolaren<br />

Spannungsverhältnisse sind es, die anziehen, anregen und die<br />

Phantasie des Betrachters wecken.<br />

Ist das Lebensgefühl von uns Menschen nicht dann besonders<br />

gut, wenn es uns einigermassen gelingt, unsere widerstrebenden<br />

Kräfte und Bedürfnisse zu vereinen und mit ihnen umzugehen<br />

Ist das Leben nicht dann erfüllt und befriedigend, wenn es uns gelingt,<br />

Denken und Fühlen, das Bedürfnis nach Nähe und Distanz,<br />

nach tragenden Beziehungen und Alleinsein, nach Ausbeutung<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 216<br />

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217<br />

denkbar<br />

Baumzeichnung 1: Zeichnung einer<br />

dreissigjährigen Frau<br />

2: Zeichnung eines dreissigjährigen<br />

Mannes<br />

des Augenblicks und zielorientiertem Handeln, nach Aktivität<br />

und Ruhe, nach Genuss und Verzicht zu verbinden<br />

Die beiden Zeichner haben bis anhin ihr Leben erfolgreich bewältigt.<br />

Beide sind verheiratet und berufstätig. Die Frau arbeitet<br />

halbtags als Verkäuferin in einer Boutique. Beide schildern sich<br />

als zufriedene und interessierte Menschen. Wie die meisten Menschen<br />

haben auch sie schon schwierige Zeiten durchgemacht. Der<br />

Ehemann der Zeichnerin reagierte auf Probleme am Arbeitsplatz<br />

mit einer schwereren depressiven Verstimmung. Die Frau war ihm<br />

in dieser Zeit die entscheidende Stütze und begegnete ihm in einfühlsamer<br />

Weise. Auch der Zeichner hatte ein schweres Ereignis<br />

zu verarbeiten. Als er achtzehnjährig war, verlor er durch einen<br />

Unfalltod seinen jüngeren Bruder. Die Baumdarstellungen dieser<br />

beiden Menschen deuten an, dass sie über die Kräfte verfügen,<br />

solche schweren Schicksalsschläge zu verarbeiten. Bei näherer<br />

Betrachtung ihrer Zeichnungen fällt auf, dass die Hauptteile des<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 217<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:51 <strong>Uhr</strong>


218<br />

Baumes – Wurzeln, Stamm und Äste – harmonisch ineinander<br />

übergehen. In beiden Darstellungen sind die Wurzeln – wie sie<br />

auch in der Natur wahrgenommen werden – angedeutet. Obwohl<br />

der von der Frau gezeichnete Baum am Abhang steht, ist er im<br />

Erdboden verwurzelt. Bei beiden Darstellungen ist der Stamm,<br />

der Träger der Krone, stark ausgebildet, ebenso die Äste, die zusammen<br />

mit dem Stamm das «Holz», die Substanz, den Kern des<br />

Baumes bilden. Solche Bäume halten auch stärkeren Belastungen<br />

stand. Sind sie eine Projektion der Belastbarkeit, der Konfliktfähigkeit<br />

und des Durchhaltevermögens dieser beiden Menschen<br />

Die Darstellungen sind dreidimensional gestaltet und weisen<br />

eine Oberflächenstruktur auf. Sie sind mit Hingabe und Ausdauer<br />

gestaltet. Sind Sie ein zeichnerischer Ausdruck für die Fähigkeit<br />

der zwei Menschen, auf sich zu hören, eigene Gefühle wahrzunehmen<br />

und sich in andere einzufühlen<br />

Vom Zentrum der Krone streben die Äste ans Licht, um dieses<br />

einzuholen. An den Aussenteilen der Krone verfeinert sich das Geäst,<br />

Blätter werden angedeutet. Diese «Extremitäten» bilden die Berührungszone<br />

mit der Umgebung, die Zone der Wechselwirkung,<br />

der Atmung. Sind sie ein symbolischer Ausdruck der Fähigkeit dieser<br />

beiden Menschen, sich in Beziehungen einzulassen, den Dialog<br />

mit dem Du zu suchen und doch bei sich bleiben zu können<br />

Es ist kaum zu glauben, dass diese Zeichnung (S. 219) von einem<br />

zwanzigjährigen, intelligenten Jugendlichen stammt. Der Baum<br />

erschreckt durch seine Armut und Kälte auf den ersten Blick. Er<br />

erinnert an einen Baumstrunk oder an einen Kaktus. Er hat keine<br />

Krone. Bei vielen Betrachtern löst er viele Fragen aus: Wollte der<br />

Jugendliche überhaupt einen Baum zeichnen Nahm er die Aufgabe<br />

überhaupt ernst Ist er tatsächlich nicht fähig, einen wirklichkeitsnäheren<br />

Obstbaum zu zeichnen Ich liess den Jugendlichen mehrere<br />

Male einen Baum zeichnen. Die Grundstruktur blieb immer<br />

dieselbe. Jedes Mal warf er mit wenigen Strichen einen groben,<br />

kargen Baum hin.<br />

«Das kann doch nicht wahr sein, dass ein intelligenter Junge<br />

einen solchen Baum zeichnet», ist ein häufiger Kommentar. Hier-<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 218<br />

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219<br />

denkbar<br />

3: Zwanzigjähriger Jugendlicher<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 219<br />

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220<br />

zu ist zu bemerken: Was wir von der so genannten Realität oder<br />

Wirklichkeit wahrnehmen, in uns aufnehmen und verarbeiten,<br />

hängt - neben vielen andern Faktoren – von unseren emotionalen<br />

Fähigkeiten ab, beispielsweise von der Fähigkeit zu staunen, sich<br />

zu wundern, zu warten und sich in einen Gegenstand oder Sachverhalt<br />

zu vertiefen. Ist die emotionale Erlebnisfähigkeit in diesem<br />

angedeuteten Sinne mangelhaft entfaltet, so liegt in der Regel auch<br />

ein eingeschränkter und gestörter Realitätsbezug vor, wie das bei<br />

diesem Jugendlichen leider der Fall ist. Sehr auffallend sind auch<br />

die armseligen, lanzenartigen Äste, die nach innen und nach aussen<br />

stechen. Tatsächlich liegt bei diesem Jugendlichen eine ausgeprägte<br />

Auto- und Fremdaggression vor, worüber er erst redete, als<br />

ich ihn im gemeinsamen Deutungsgespräch darauf angesprochen<br />

hatte. Seine Freundinnen, die er rasch wechselt, hat er schon oft<br />

brutal geschlagen, wenn sie auf seine Wünsche nicht eingingen,<br />

ihm Widerstand leisteten oder ihm sich sexuell verweigerten.<br />

Auch seine autoaggressiven Handlungen sind erschreckend. Er<br />

schneidet sich oft Wunden in Arme und Beine. Mit einem Glüheisen<br />

hat er sich ein grosses Kreuz auf seine Brust eingebrannt.<br />

Wir stellten bei ihm neben einer schweren Drogenabhängigkeit eine<br />

schwere äussere und innere Verwahrlosung mit unter anderem folgenden<br />

Befunden fest: Geringe Selbststeuerungsfähigkeit, geringe<br />

Affektkontrolle, geringe Frustrationstoleranz (löst Spannungen und<br />

Konflikte durch Flucht in unreflektierte Handlungen); kann wegen<br />

seiner geringen Willensbildung und Selbstdisziplin seine guten intellektuellen<br />

Fähigkeiten nicht in entsprechende schulische und berufliche<br />

Leistungen umsetzen; ist kontaktfähig, es gelingt ihm aber<br />

nicht, Beziehungen auf längere Sicht zu gestalten und zu pflegen.<br />

Heute ist er vierzigjährig. Er lebt alleine und zurückgezogen in<br />

einer kleinen Wohnung und geht mit Unterbrüchen einer Arbeit<br />

nach. Er muss vom Sozialamt unterstützt werden. Seine Auto und<br />

Fremdaggressionen haben sich verloren. Er konsumiert auch keine<br />

so genannten harten Drogen mehr, hat aber nun ein schweres<br />

Alkoholproblem.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 220<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:51 <strong>Uhr</strong>


221<br />

denkbar<br />

4: Seine Baumzeichnung 16 Jahre<br />

später: Form und Strichführung sind<br />

etwas weicher.<br />

Wie Kinder einen Obstbaum zeichnen<br />

Die Zeichnungen der Kinder lassen oft erkennen, was sie innerlich<br />

beschäftigt und bewegt. Sie zeichnen von innen heraus. Sie stellen<br />

oft dar, was sie erleben und phantasieren, was sie empfinden und<br />

wie sie sich fühlen. Erst ab dem neunten/zehnten Lebensjahr wenden<br />

sich die Kinder mehr der äusseren Realität zu und wollen sie<br />

zeichnerisch wiedergeben.<br />

Vierjährige Kinder sind in der Regel fähig, auf Aufforderung<br />

hin einen Apfel- oder Birnbaum zu zeichnen. Mit wenigen Strichen<br />

stellen sie ihr «inneres Bild» des Baumes dar. Die Zeichnungen<br />

sind so verschieden wie die Kinder selbst.<br />

Bei der Betrachtung und Beurteilung von Kinderzeichnungen<br />

muss immer vor Augen gehalten werden, dass die inter- und intraindividuelle<br />

Entwicklung sehr verschieden verlaufen, das heisst,<br />

der Entwicklungsstand von Kindern gleichen Alters ist sehr<br />

verschieden, und auch beim einzelnen Kind entfalten sich die<br />

verschiedenen Fähigkeiten nicht gleichmässig. So können zum<br />

Beispiel seine sprachlichen Fähigkeiten schon sehr fortgeschritten<br />

sein, während seine zeichnerische Gestaltungskraft noch eher bescheiden<br />

ist.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 221<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:51 <strong>Uhr</strong>


222<br />

Drei Zeichnungen von vierjährigen Kindern: 5, 6, 7<br />

Wir erkennen an diesen vielfältigen Zeichnungen, dass fünf- bis<br />

siebenjährige Kinder den Baum in der Regel aus elementaren Figuren<br />

wie Linien, Kreise, Recht- und Dreiecke in additiver Weise<br />

zusammensetzen. Die flächenhaften Schemen haben verschiedene<br />

Bedeutungen. Die kleinen Kreise können Blätter und/oder Früchte<br />

darstellen, die Dreiecke stehen für Äste und Blätter. Charakteristisch<br />

ist auch, dass sie die Früchte und Blätter im rechten Winkel<br />

an die Äste heften. Mit fünf sind die meisten fähig, die Farben<br />

zu unterscheiden und in ihrer Baumdarstellung realitätsnah zu<br />

verwenden. Der Blattrand wird in der Regel als Boden (Halt) benützt.<br />

Die Krone wird häufig als Kugel gestaltet. Nur wenigen<br />

gelingt es in diesem Alter schon, die Krone nur aus Ästen und<br />

Zweigen zu gestalten.<br />

Der Baum von Roger schwebt verloren im luftleeren Raum, er<br />

ist nicht verwurzelt; der Knabe benützt den Blattrand nicht als<br />

Boden. Auffallend sind auch die blauen Äste, die wie Stacheln<br />

aus dem ganzen Stamm herausragen. (Roger ist sonst fähig, die<br />

Farben zu unterscheiden.) Sein Baum erinnert an einen Kaktus. Ist<br />

er ein Ausdruck seiner ausgesprochenen Aggressivität gegenüber<br />

andern und sich selbst<br />

Roger sucht intensiv die Zuwendung und Anerkennung bei<br />

seinen Kameraden. Sie fürchten sich aber vor ihm, da er sie oft<br />

«grundlos» tätlich angreift. Seine Wut wendet er aber auch gegen<br />

sich selbst. Er kratzt sich oft so lange, bis er blutet.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 222<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:52 <strong>Uhr</strong>


223<br />

denkbar<br />

Baumzeichnungen von fünf- bis siebenjährigen Kindern: 8, 9, 10, 11, <strong>12</strong>, 13<br />

Der Knabe scheint von einem tiefen Misstrauen Menschen gegenüber<br />

erfüllt zu sein. Wenn man ihm zu schnell zu nahe kommt<br />

und gewisse Forderungen an ihn stellt, wehrt er sich dagegen, verschliesst<br />

sich und verfällt in eine Trotzhaltung, aus der er kaum<br />

mehr herausfindet. Sind die vielen Stacheln rund um den Stamm<br />

Hinweise, wie man dem Knaben zu begegnen hat Müssen die<br />

Stacheln nicht vorsichtig etwas zur Seite gedrückt werden, wenn<br />

man dem Baum näherkommen möchte Die Kindergärtnerin jedenfalls<br />

scheint das Zutrauen von Roger etwas gewonnen zu haben.<br />

Ohne sich ihm aufzudrängen, geht sie immer wieder behutsam<br />

auf ihn zu, signalisiert ihm Versöhnlichkeit, wenn er wild um<br />

sich geschlagen hat, und sie wartet auch geduldig auf ihn, wenn er<br />

in seiner Trotzhaltung befangen ist.<br />

Der Vater von Roger ist ein schwerer Alkoholiker. Ab seinem<br />

dritten Lebensjahr wurde er immer wieder bei andern Bekannten<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 223<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:53 <strong>Uhr</strong>


224<br />

<strong>14</strong> (Roger, sechsjährig), 15 (Peter, sechsjährig), 16 (Ramona, sechsjährig)<br />

für einige Wochen untergebracht. Nach der Scheidung der Eltern<br />

kam Roger für zwei Jahre in ein Kinderheim. Als die Mutter wieder<br />

heiratete, holte sie ihn zu sich und ihrem neuen Ehepartner<br />

zurück. Der Stiefvater kann ihm nicht den Halt und die Wärme<br />

geben, die er dringend nötig hätte. Die Mutter bemüht sich redlich<br />

um ihn. Sie wurde als Kind selbst vernachlässigt. Sie ist aber in<br />

ihren erzieherischen Haltungen so widersprüchlich, dass Roger<br />

auch bei ihr wenig Sicherheit und Verlässlichkeit finden kann.<br />

Peter zeichnet, was die Form betrifft, einen seinem Alter entsprechenden<br />

Baum. Auch die Grössenverhältnisse sind ihm gut gelungen.<br />

Auffallend sind die Farbgebung (rote Krone, blauer Stamm)<br />

und die wilde Strichführung. Auch sein Baum hängt in der Luft.<br />

Als Peter diesen Baum gemalt hatte, fiel er der Kindergärtnerin<br />

in seinem Verhalten nicht besonders auf. Zu meinem Erstaunen<br />

schilderte sie den Knaben zu diesem Zeitpunkt als eher verschlossenen<br />

und angepassten, willigen, manchmal «abwesend»<br />

wirkenden und unkonzentrierten Knaben. Nach etwa drei Monaten<br />

berichtete sie mir, dass Peter immer mehr Schwierigkeiten<br />

bereite. Er sei ihr gegenüber frech, plage zunehmend seine Kameraden<br />

und beschädige «böswillig» Material und Einrichtungen.<br />

Zeitweise hingegen sei er ausserordentlich anhänglich und wolle<br />

nach Schulschluss noch etwas länger bei ihr bleiben oder sie nach<br />

Hause begleiten.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 224<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:53 <strong>Uhr</strong>


225<br />

denkbar<br />

In seiner Baumzeichnung hat sich offenbar Peters seelische<br />

Notlage schon zu einem Zeitpunkt gezeigt, als er der Kindergärtnerin<br />

durch sein Verhalten noch kaum Anlass zur Besorgnis gab.<br />

Peters Eltern führen gemeinsam ein eigenes Geschäft. Sie sind beinahe<br />

den ganzen Tag im Betrieb beschäftigt und haben kaum Zeit<br />

für den Knaben. Für ein Kindermädchen fehlt das Geld. So ist<br />

Peter oft allein und verbringt viel Zeit vor dem Fernseher. Ist die<br />

rotglühende Krone mit der wilden Strichführung ein Ausdruck<br />

seines Protestes gegen seine Vernachlässigung Darf sie als ein<br />

früher Hinweis dafür genommen werden, dass sich in Peter Wut<br />

und Ärger darüber stauen, dass sich seine Eltern zu wenig um ihn<br />

kümmern Geht die Interpretation zu weit, wenn man sagt, dass<br />

sich die drohende Entladung seiner gestauten Aggressionen schon<br />

zu einem Zeitpunkt ankündigte, als er in seinem Verhalten noch<br />

kaum auffiel<br />

Der kleine und verloren wirkende Baum von Ramona stimmt<br />

traurig. Er ist ganz in blau gemalt, einige Blätter oder Früchte<br />

sind in einem Ockergelb schwach angedeutet. Im Gegensatz zu<br />

Peter, der einen kraft- und schwungvollen Baum darstellt, wirkt<br />

die Darstellung von Ramona zaghaft.<br />

Das Mädchen und seine Geschwister werden schwerstens vernachlässigt.<br />

Sie ist ein schüchternes und gehemmtes Kind, das<br />

seine Sorgen und Nöte nach aussen hin nicht auszudrücken vermag.<br />

Sie wird von der Kindergärtnerin als ein stilles Mädchen<br />

beschrieben, das sich von seinen Kameradinnen erdrücken lässt.<br />

Sie steht oft abseits und muss zum Spielen mit den andern Kindern<br />

zusammen ermuntert werden.<br />

Im siebten oder achten Lebensjahr befinden sich die meisten Kinder<br />

– einige früher, andere etwas später – in der Phase des ersten<br />

Gestaltwandels. In dieser Zeit verändert sich ihr Äusseres stark.<br />

Sie verlieren nicht nur die ersten Zähne, sondern auch ihr kleinkindhaftes<br />

Aussehen. Die Kinder lösen sich zunehmend von den<br />

Eltern. Die Lehrer und Klassenkameraden werden zu immer wichtigeren<br />

Bezugspersonen. Ihr Urteil ist für sie oft wichtiger als das<br />

der Eltern. Sie sind lernbegierig, und es macht ihnen Freude auf<br />

spielerische Weise zu rechnen, zu lesen und zu schreiben.<br />

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226<br />

17 (Ursula, siebenjährig), 18 (Bruno, siebenjährig)<br />

Es ist eindrucksvoll zu beobachten, wie sich dieser Entwicklungsschritt<br />

in der Regel in der Baumzeichnung spiegelt. In dieser<br />

Phase des ersten Gestaltwandels zeichnen viele Kinder Äste, die<br />

aus dem Stamm wachsen. Die additive Darstellungsweise, wie sie<br />

typisch für das Kindergartenalter ist, wird durch eine mehr organische<br />

Gestaltung abgelöst.<br />

Ursula zeichnet nebst dem kraftvollen Stamm, der im Erdboden<br />

verwurzelt ist, auch starke Äste, die Belastungen standhalten.<br />

Erstaunlich ist ihr auch der schwierige Übergang vom Stamm zu<br />

den Ästen gelungen. Sie ist ein «Zugpferdchen» der Klasse, die<br />

interessiert und lernbegierig ist. Ursula zeichnet neben dem Baum<br />

ein Kind – wahrscheinlich sich selbst – mit einer Blume in der<br />

Hand. Die Lehrerin beschreibt das Kind als lebensfroh, gemütvoll<br />

und aufgeweckt.<br />

Der Baum von Bruno hingegen stimmt traurig. Obwohl er<br />

beim Zeichnen am selben Tisch wie Ursula sass und sie hin und<br />

wieder beobachtete, verwendet er keine Farben. Der Baum hat<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 226<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:54 <strong>Uhr</strong>


227<br />

denkbar<br />

keinen Halt; der Stamm verjüngt sich gegen unten und ist nicht im<br />

Erdboden verwurzelt. Das Kind neben dem Baum – wahrscheinlich<br />

auch ein Selbstbildnis – hat keine Füsse und keinen Halt. Die<br />

Äste in seinem Baum streben nicht ins Licht, – sie sind von aussen<br />

nach innen gerichtet. Das Kind hat keine Hände, und der Kopf ist<br />

gesenkt. Wendet sich Bruno von den Menschen ab Findet er die<br />

Beziehung zum Gegenüber, zum Du nicht Auf die Lehrerin wirkt<br />

der Knabe oft verloren, abwesend, in sich gekehrt. Es scheint, als<br />

trage das Kind einen Rucksack. Ist dies der symbolische Ausdruck<br />

für seinen grossen Kummer In der Mitte der Krone zeichnet der<br />

Knabe einen Vogel mit einem offenen Schnabel. Leidet der Knabe<br />

unter einer mangelnden Nestwärme Ist seine weitere Entwicklung<br />

wegen einer mangelnden Befriedigung seiner psychischen<br />

Grundbedürfnisse gefährdet<br />

Die weitere Entwicklung der Kinderzeichnungen zeigt deutlich<br />

den zunehmenden Realismus der Welterfassung. Jene Kinder,<br />

die Bäume schon mit Überschneidungen von Blättern, Ästen und<br />

Menschen in guter Profildarstellung zeichnen können, sind auch<br />

in ihrem Denken und Sozialverhalten aus der Struktur des «naiven<br />

Realismus» allmählich in die Struktur des «kritischen Realismus»<br />

vorgedrungen.<br />

Baumzeichnungen von zehn- bis dreizehnjährigen Kindern: 19, 20, 21<br />

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228<br />

In diesem Alter versiegt die Bereitschaft zu zeichnen, denn die<br />

«Produkte» können dem kritisch-realistischen Denken des Kindes<br />

nicht standhalten. Die Diskrepanz zwischen der Erscheinung<br />

der Dinge und den Möglichkeiten, diese realistisch wiedergeben<br />

zu wollen, fordert zur Selbstkritik heraus und lässt Gefühle der<br />

Unzulänglichkeit entstehen, die sich der bildnerischen Gestaltung<br />

hemmend entgegenstellen. Ein guter Zeichenunterricht, der<br />

vor allem auch auf die Möglichkeiten nicht-realistischer Darstellungen<br />

hinweist, kann diese Hemmnisse helfend überbrücken. Das<br />

Kind interessiert sich für das aktuelle Tagesgeschehen. Manche<br />

lesen die Tageszeitung oder informieren sich im Internet. Diese<br />

vermehrte Hinwendung zur Aussenwelt findet auch im Zeichnen<br />

seinen Ausdruck. Das Kind entwirft Pläne für ein Wohnhaus oder<br />

es macht Illustrationen zum Abenteuerbuch, das es gerade liest.<br />

Die Zeichnungen von Kindern in dieser Phase des «kritischen<br />

Realismus» wirken im allgemeinen nüchtern. Dies hängt unter anderem<br />

damit zusammen, dass die Kinder die «Realität» so genau<br />

wie möglich abbilden möchten. Sie spüren aber, dass ihnen für<br />

die angestrebte «photographische» Wiedergabe der Aussenwelt<br />

die technischen und gestalterischen Fähigkeiten fehlen. Da sie ihrem<br />

zeichnerischen Gestalten kritisch gegenüberstehen, lassen sie<br />

sich auf keine Risiken ein und geben oft nur das wieder, wovon<br />

sie meinen, es auch einigermassen realitätsgerecht darstellen zu<br />

können. Wir dürfen deshalb nicht erstaunt sein, wenn die Baumzeichnungen<br />

von Mittelstufenkindern im allgemeinen nüchtern,<br />

sachlich wirken.<br />

Die obenstehenden Baumzeichnungen sind typisch für Mittelstufenkinder.<br />

Sie stellen alle wesentlichen Merkmale dar: Wurzeln,<br />

Stamm, Äste und Zweige. Das Grundgerüst des Baumes<br />

steht nun. Was aber meistens noch fehlt, sind die räumliche Darstellung<br />

und die Hell-Dunkel-Schattierungen. Wohl deshalb wirken<br />

die Zeichnungen so nüchtern.<br />

Typisch für manche Baumzeichnungen von diesen Kindern sind<br />

die wuchtigen Kronen mit weit ausladenden Ästen: ein zeichnerischer<br />

Ausdruck ihrer vermehrten Hinwendung zur Aussenwelt,<br />

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229<br />

denkbar<br />

zum Du Recht viele Kinder in diesem Alter legen auch grosses<br />

Gewicht auf die Gestaltung der Zweige und Blätter, welche die<br />

Berührungszone zwischen innen und aussen, die Zone des Stoffwechsels,<br />

der Atmung bilden. Eine symbolische Darstellung ihres<br />

starken Bedürfnisses nach Anregung und «Nahrung» von aussen<br />

22: Urs, elfjährig<br />

Als Urs diesen Baum zeichnete, bereitete er in der Schule grosse<br />

Schwierigkeiten. Der Lehrer hatte Mühe, ihn anzunehmen, gern<br />

zu haben. Urs war frech, vorlaut und störte laufend den Unterricht.<br />

Er war gegenüber seinen Kameraden ausfällig, belästigte fortwährend<br />

die Mädchen und provozierte den Lehrer mit peinlichen<br />

Fragen. Einen ganz anderen Eindruck von Urs vermittelt seine<br />

Baumzeichnung. In der Zeichnung finden sich viele Merkmale,<br />

die auf eine traurige Verstimmung, auf Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühle<br />

hinweisen. Der Baum erinnert an eine Trauerweide.<br />

Die Krone ist wie mit einem Schleier überzogen, der den Blick<br />

in das Innere versperrt. Der Baum steht einsam und ungeschützt<br />

auf einem Hügel, links davon ein Grab. Ist Urs so deprimiert, so<br />

hoffnungslos, so resigniert, dass er dorthin gehen möchte<br />

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230<br />

Bei der Besprechung mit dem Lehrer stellten wir die Hypothese<br />

auf, dass Urs seine Depression nach aussen hin überspiele, «ausagiere»,<br />

und auf unglückliche Weise Zuwendung und Halt bei ihm<br />

und den Kameraden suche. Diese Vermutung bestätigte sich in<br />

der Folge. Dem Lehrer gelang es, wieder eine andere Einstellung<br />

gegenüber Urs zu finden. Die Baumzeichnung habe ihm die Augen<br />

geöffnet für die innerpsychische Not des Knaben.<br />

In den ersten Lebensjahren konnten die Eltern Urs die Geborgenheit<br />

geben, die er brauchte. In Zusammenhang mit dem beruflichen<br />

Aufstieg des Vaters lebten sich die Eltern zunehmend<br />

auseinander. Die Mutter trank heimlich und in immer grösseren<br />

Mengen Alkohol. Sie ist heute kaum mehr fähig, den Haushalt<br />

selber zu besorgen. Urs, ein intelligenter und feinfühliger Knabe,<br />

schämte sich wegen seiner Mutter. Er wagte aber nicht, seine Sorgen<br />

und Nöte anderen Menschen anzuvertrauen. Er suchte Halt<br />

bei seinem Vater, der aber wegen seiner vielen beruflichen und<br />

anderen Verpflichtungen kaum Zeit für ihn hatte. Symbolisiert<br />

das Haus, das Urs im Hintergrund darstellt, den Verlust der familiären<br />

Geborgenheit<br />

In der Vorpubertät und Pubertät bemühen sich die Jugendlichen<br />

mit Licht und Schatten, oft auch mit ellipsenförmigen Strukturen<br />

(siehe Darstellung von Willi), Stamm und Äste plastisch zu gestalten.<br />

Die Plastizität greift allmählich auf den ganzen Baum über.<br />

Die Jugendlichen lassen jetzt die Seitenäste nicht nur nach links<br />

und rechts, sondern auch gegen den Betrachter abzweigen. In Heidis<br />

Darstellung erkennen wir, dass zusätzlich Äste in die Raumtiefe<br />

wachsen. Sie versucht also, die Kugelform der Baumkrone in allen<br />

Dimensionen darzustellen. Neben Licht und Schatten kommt<br />

als neues graphisches Mittel die Oberflächenstruktur hinzu.<br />

In den Baumzeichnungen widerspiegelt sich oft sehr eindrucksvoll<br />

der Prozess der Identitätsfindung. Es gibt Jugendliche, die<br />

schon einen eigenen Stil, eine ganz «persönliche Handschrift»<br />

haben, und andere, die noch stark auf der Such nach ihrem eigenen<br />

Ich sind und die sich auch beim Zeichnen «auf keine Äste»<br />

hinauswagen.<br />

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231<br />

denkbar<br />

Baumzeichnungen von dreizehn- bis sechzehnjährigen Jugendlichen:<br />

23 (Heidi, dreizehnjährig), 24 (Willi, dreizehnjährig)<br />

25 (Thomas, fünfzehnjährig), 26 (Erika, fünfzehnjährig, Gymnasiastin)<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 231<br />

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232<br />

Thomas hat diesen Baum vor vielen Jahren gezeichnet. Seine Lehrer<br />

schilderten ihn damals als intelligenten, fleissigen, aber scheuen<br />

Jugendlichen, der sich unterschätze und deswegen auch nicht<br />

alle seine Möglichkeiten ausschöpfen könne.<br />

Seine Baumzeichnung ist der zeichnerische Ausdruck eines reifen<br />

Jugendlichen, einer schon recht gefestigten Persönlichkeit. Sie<br />

fasziniert durch ihre Stimmung und deutet an, dass der Zeichner<br />

ein reiches Innenleben hat.<br />

Thomas wuchs in einfachen, intakten bäuerlichen Verhältnissen<br />

auf. Nach Schulabschluss machte er eine Lehre als Modellschreiner.<br />

Später bildete er sich auf dem zweiten Bildungsweg zum Physiker<br />

aus. Er gibt heute an, ein erfülltes Leben zu haben. Er ist verheiratet,<br />

Vater von zwei Kindern und Dozent an einer Universität.<br />

Die Zeichnung von Erika, einer Gymnasiastin, erschreckt unter<br />

Berücksichtigung ihres Alters und ihrer Schulbildung. Die Krone<br />

ist im Verhältnis zum Stamm viel zu klein geraten. Die schwachen<br />

Äste sind in additiver Weise an den Stamm geheftet. Sie halten Belastungen<br />

nicht stand. Schwache Winde können die ganze Krone<br />

zerzausen. Die Äpfel sind teilweise im rechten Winkel an die Äste<br />

angefügt.<br />

Erika wurde von ihrer geschiedenen Mutter wegen Übergewicht<br />

und ungenügender Leistungen im Gymnasium zu mir geschickt.<br />

Die Frau machte sich Sorgen darüber, dass ihre Tochter<br />

Kontakte mit Jugendlichen pflege, die auf sie einen schlechten<br />

Einfluss ausüben.<br />

Erikas Mutter ist eine sehr erfolgreiche Rechtsanwältin. Sie<br />

drängte darauf, ohne die Anwesenheit Erikas mit mir zu sprechen.<br />

Sie gab mir gleich beim ersten Kontakt zu verstehen, dass<br />

sie sich im Bereich der Psychologie und Psychiatrie auskenne, und<br />

liess mich bald auch wissen, dass sie eine Analyse hinter sich habe.<br />

Die redegewandte Mutter brachte eine «fertige» Persönlichkeitsbeschreibung<br />

von Erika mit.<br />

Erika kam nur widerwillig zur ersten Besprechung. Sie war<br />

wortkarg, «verstockt», misstrauisch. Im Laufe der weiteren Besprechungen<br />

kam sie etwas mehr aus sich heraus. Sie gab an, sich<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 232<br />

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233<br />

denkbar<br />

zu Hause sehr unwohl zu fühlen. Ihre Mutter lasse ihr keine Freiheit,<br />

schreibe ihr alles vor, und in Diskussionen fühle sie sich immer<br />

unterlegen. Den Stiefvater möge sie nicht leiden, ohne zu wissen<br />

warum. Der einzige Mensch, zu dem sie ein gewisses Vertrauen<br />

habe, sei ihr Vater, den sie aber nur selten treffe, da die Mutter mit<br />

allen Mitteln versuche, ihre Beziehung zu ihm zu stören.<br />

In diesem Fall half die Baumzeichnung, die Mutter auf einer<br />

emotionalen Ebene auf die Sorgen und Nöte Erikas hinzuweisen.<br />

Beim gemeinsamen Phantasieren über die Darstellung von Erika<br />

und von Thomas brach sie in Tränen aus. Sie erkannte im Vergleich<br />

der beiden Zeichnungen die kindliche Darstellungsweise<br />

ihrer Tochter. Sie war erschüttert über die kleine Krone mit den<br />

nach innen gebogenen, schwachen Ästen, die sich in alle Richtungen<br />

biegen lassen. Sie meinte dabei auch, dass sie der Tochter<br />

«zu sehr mit dem Kopf und zu wenig mit dem Herzen» begegne<br />

und sie mit ihrer Redegewandtheit und Waren Vorstellungen so<br />

bedränge, dass es für ihr Kind schwer sei, eigene Ideen zu entwickeln<br />

und Mut in die eigenen Fähigkeiten zu fassen.<br />

Wertvolle diagnostische und therapeutische Hinweise<br />

Selbstverständlich werden auf Grund einer Baumzeichnung und<br />

auch anderer testpsychologischer Befunde allein keine Diagnose<br />

gestellt oder Aussagen über die Persönlichkeit eines Menschen gemacht.<br />

Unter Einbezug der Lebensgeschichte des Patienten, dessen<br />

Aussagen über sein Erleben und Verhalten, der Schilderungen<br />

seiner wichtigsten Bezugspersonen und der klinischen Eindrücke<br />

und Befunde können testpsychologische Ergebnisse aber oft wichtige<br />

weiterführende diagnostische und therapeutische Hinweise<br />

geben. Die testpsychologische Situation erweitert das Beobachtungs-<br />

und damit auch das Hypothesenspektrum. Da der Klient<br />

oder der Patient sich dabei weniger auf gewohnte, eingeschliffene<br />

Verhaltensmuster abstützen kann, werden unter Umständen gewisse<br />

Nöte, Schwierigkeiten und Gefährdungen, aber auch verschüttete<br />

Fähigkeiten oft rascher und deutlicher spürbar als im<br />

Gespräch. Dies möchte ich mit der folgenden Fallskizze abschliessend<br />

illustrieren:<br />

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234<br />

Gedicht an Schwester Ruth<br />

Trauer und Angst verdüstern die Welt; Ich spüre die Stärke deiner<br />

Seele.<br />

Eisiger Reif weht durch das Land: Ich spüre die Wärme deiner Seele.<br />

Ein Blick irrt druch die Zukunft:<br />

Ich spüre die Sicherheit deiner Seele;<br />

Entwurzelt schwanken Bäume; Ich spüre den Halt deiner Seele.<br />

Vergangenheit ist von Krankheit geschwächt; Ich spüre die kräftige<br />

Gegenwart deiner Seele.<br />

Schrille Töne zerreissen das Ohr; In dir ist Ruhe – meine Sehnsucht.<br />

27<br />

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235<br />

denkbar<br />

Baumzeichnung und Gedicht eines achtunddreissigjährigen Gymasiallehrers<br />

Der Baum ist nicht im Boden verwurzelt und droht in der Mitte<br />

zu zerbrechen. «Entwurzelt schwanken Bäume» heisst es im Gedicht<br />

des Patienten an Schwester Ruth (eine psychiatrische Pflegefachfrau).<br />

Mit seinen offenen Ästen ist der Baum schutzlos den<br />

atmosphärischen Bedingungen und Veränderungen ausgesetzt.<br />

Regen, Schnee und Winde können durch die Röhrenäste in ihn<br />

eindringen. «Eisiger Reif weht durch das Land», «Schrille Töne<br />

zerreissen das Ohr», so drückt der Patient in seinem Gedicht seine<br />

Schutzlosigkeit und sein Ausgeliefertsein aus. Beim gemeinsamen<br />

Betrachten seines Baumes gab der Patient an, dass beim Frontalunterricht<br />

die Blicke seiner Schüler so sehr in ihn eindringen würden,<br />

dass ihm oft nichts anderes übrig bleibe, als wegzugehen.<br />

Beim Betrachten der Zeichnung fragt man sich, ob sich der<br />

kranke Baum noch je wird erholen können. Auf jeden Fall muss<br />

er jetzt geschützt werden. «Eisiger Wind» muss durch eine Schutzwand<br />

von ihm ferngehalten werden. Der Stamm droh in sich zusammenzubrechen,<br />

wenn er in der Mitte nicht gestützt wird.<br />

Auch mit seinem Gedicht appelliert der Patient an Schwester<br />

Ruth, ihm das zu geben, was er jetzt dringend braucht: «Wärme»,<br />

«Sicherheit», «Halt», «kräftige Gegenwart». Er sucht derzeit keine<br />

Auseinandersetzung über seine Konflikte und keine Bearbeitung<br />

seiner Lebensgeschichte. Dazu fühlt er sich jetzt zu schwach,<br />

zu zerbrechlich, zu gefährdet.<br />

Wir entschlossen uns, auf Grund all dieser Eindrücke und Befunde,<br />

dem Patienten gegenüber zunächst eine führende und stützende<br />

Haltung einzunehmen und so auf ihn einzugehen, dass er<br />

es wagen würde, sich über seine aktuellen Nöte und sein inneres<br />

Erleben auszusprechen. Dabei traten seine schweren inneren Nöte<br />

deutlicher zutage. Der Patient fühlte sich vom «Untergang» bedroht,<br />

er war sich seiner Identität nicht mehr sicher, konnte oft<br />

zwischen Du und Ich nicht mehr unterscheiden und litt an Verfolgungswahn.<br />

Mit den offenen Ästen in seiner Baumzeichnung<br />

signalisierte er unbewusst diese Ich Demarkationsstörung (Ich-<br />

Grenzauflösung).<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 235<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>


236<br />

Es zeigte sich auch, dass der Patient schon früher mehrere<br />

psychotische Episoden durchgemacht hatte und sich jeweils auf<br />

Anraten seiner Ehefrau oder von Freunden in psychiatrische oder<br />

psychotherapeutische Behandlung begab, die er jeweils nach wenigen<br />

Kontakten wieder abbrach. Es scheint, dass sich dabei immer<br />

wieder dasselbe wiederholte: Er wurde von den Therapeuten<br />

überfordert, weil sie ihn gesünder einschätzten, als er tatsächlich<br />

war. Dass er eine Psychotherapiestation nach zwei Wochen verliess,<br />

war kein Ausweichen des Patienten vor einer Bearbeitung<br />

seiner Konflikte und der schmerzhaften Trennung von seiner Ehefrau,<br />

wie es seine damaligen Therapeuten deuteten, sondern war<br />

für ihn notwendig, ja lebensrettend. Er schützte sich damit wahrscheinlich<br />

vor einem schwereren Zusammenbruch, weil er spürte,<br />

dass er einer aufdeckenden Einzeltherapie und der Auseinandersetzung<br />

in der Gruppe zu jenem Zeitpunkt nicht gewachsen war.<br />

Seine Flucht zur Mutter war kein regressives Verhalten im neurosenpsychologischen<br />

Sinne, wie es die damaligen Therapeuten<br />

haben wollten. Meines Erachtens kehrte er in seiner Einsamkeit,<br />

Schutzlosigkeit, seinem Bedrohtsein durch die Psychose und auf<br />

der Suche nach Halt und Stützung an jenen Ort zurück, der ihm<br />

wenigstens etwas vertraut war.<br />

Nach der Entlassung aus der Klinik kehrte er an seinen früheren<br />

Wohnort zurück und kam von dort regelmässig in die Sprechstunde.<br />

Seinen Beruf als Gymnasiallehrer konnte er nicht mehr ausüben.<br />

Vor einer Klasse zu stehen, wo alle Augen auf ihn gerichtet<br />

sind, war für ihn eine zu grosse Belastung. Er fand eine berufliche<br />

Anstellung, bei der er nicht eng mit Menschen zusammen arbeiten<br />

musste. Heute lebt er zurückgezogen. Er scheint aber mit seinem<br />

Leben nicht unzufrieden zu sein.<br />

Ein heiterer Schlusspunkt!<br />

Ich erlebte beim Sammeln von Baumzeichnungen auch viele heitere<br />

Momente, vor allem bei der Begegnung mit Kindern und Jugendlichen.<br />

Diese letzte Baumdarstellung stammt von Marial, einem<br />

zwölfjährigen, fröhlichen, witzigen und gemütvollen Mädchen.<br />

Es wäre schön, wenn alle Kinder so unbeschwert leben könnten!<br />

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237<br />

denkbar<br />

28<br />

Leo Gehrig, Dr. phil., aufgewachsen in Woltertwil, Vater von drei erwachsenen Kindern, von 1975 bis<br />

1998 Leitender Psychologe am Psychiatrie-Zentrum Hard, Embrach, von 1995 bis 1998 Aufbau und<br />

Leitung der ersten Drogenstation für Jugendliche der Schweiz, seither in eigener Praxis und als Dozent<br />

tätig, Lehrerinnen und Schülerinnenberater.<br />

Zahlreiche Publikationen, unter anderem die Bücher «Verwahrloste Jugend – verwahrloste Gesellschaft»,<br />

«Reden allein genügt nicht», «Kiffen – was Eltern wissen müssen» und «Baumzeichnungen –<br />

Zeichen des Menschen»<br />

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238<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 238<br />

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239<br />

denkbar<br />

3<br />

Georg Peez<br />

«Dass sich jeder verändern<br />

kann, aber das immer noch<br />

ist.»<br />

Verbalisierung ästhetischer Erfahrungs- und<br />

Lernprozesse im Unterricht einer 6. Klasse<br />

Ziele der evaluierten Unterrichtseinheit<br />

Die fachdidaktisch motivierte Frage, wie digitale bildnerische<br />

Gestaltungsmedien in den Kunstunterricht zu integrieren sind,<br />

ist Ausgangspunkt der vorliegenden Darstellung. (Im Folgenden<br />

wird der in Deutschland übliche Begriff «Kunstunterricht» verwendet,<br />

es liesse sich analog auch vom Unterricht in Bildnerischer<br />

Gestaltung sprechen.) Der Kunstunterricht beschäftigt sich von<br />

jeher mit den Möglichkeiten der Praxis bildnerischer Gestaltung<br />

in der Schule. Treten nun neue gestalterische Werkzeuge und Medien<br />

sowohl in der Alltagskultur als auch der Kunst hinzu, so<br />

ist es Aufgabe der Kunstdidaktik, zu erkunden, ob und wie diese<br />

im Kunstunterricht zu nutzen sind (Kirschenmann/Peez 2004).<br />

Knapp und zielorientiert gesagt: Kinder und Jugendliche sind zu<br />

befähigen, bildnerische Gestaltungsmedien aktiv und reflexiv zu<br />

nutzen, nicht nur um diese instrumentell zu beherrschen, sondern<br />

um durch die bildnerische Gestaltung sich selbst und die Welt besser<br />

kennen zu lernen und sich hiermit neue, kreative Artikulationsmöglichkeiten<br />

zu erschliessen.<br />

Eingebettet war die Konzeption und Durchführung des im<br />

Folgenden evaluierten Unterrichts sowie dessen wissenschaftliche<br />

Begleitforschung im Modellprojekt «Multisensueller Kunstunterricht<br />

unter Einbeziehung der Computertechnologie» innerhalb<br />

des Bund-Länder-Programms «Kulturelle Bildung im<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 239<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>


240<br />

Medienzeitalter» (http://netzspannung.org/learning/muse oder<br />

Computer+Unterricht Themenheft 55 «Computer sinnlich und<br />

kreativ» oder www.muse-forschung.de).<br />

Das Modellprojekt (kurz: «MuSe-Computer») setzte sich zur<br />

Aufgabe, Situationen zu schaffen, die «zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit<br />

kreativen Verhaltens» beitragen.<br />

Unterrichtsverlauf und didaktische Vorüberlegungen<br />

Unter dem Titel «Wer bin ich» wurden in einer 6. Gesamtschulklasse<br />

(Frankfurt a.M.) zunächst (1) Porträt- und Selbstporträt-<br />

Zeichnungen mit Bleistift angefertigt, worauf sich (2) die Betrachtung<br />

expressionistischer Porträt-Gemälde anschloss. (3)<br />

Die eigenen Bleistiftzeichnungen wurden nun farbig übermalt.<br />

(4) Parallel machte die Lehrerin Judith Werner Porträtfotos aller<br />

Schülerinnen und Schüler. (5) In einem werkstatt-orientierten<br />

Unterricht gestalteten die Schülerinnen und Schüler diese Fotos<br />

an Arbeits-Stationen um. Sie übersprühten mit Sprayfarbe, sie<br />

übermalten mit Dispersionsfarbe oder bearbeiteten digital mit<br />

Photoshop. Zusätzliche Stationen waren eine Fotoecke mit Digitalkameras,<br />

ein Verkleidungs- und Schminkbereich oder auch die<br />

Möglichkeit, Hip-hop- bzw. Rap-Texte über sich zu verfassen und<br />

diese zu vertonen (Werner 2004). Es ging also knapp gesagt um<br />

die Identitätskonstruktion mittels analoger und digitaler Medien.<br />

Den Zwölf- bis Dreizehnjährigen sollten Wege einer «freieren»<br />

Selbstdarstellung aufgezeigt werden. Weitere Intentionen waren<br />

der spielerische Umgang mit sich selbst sowie die Förderung von<br />

Flexibilität, Toleranz und Selbstironie. All diese Ziele sollten vor<br />

allem durch das weitgehend selbstbestimmte Arbeiten an Stationen<br />

in Kleingruppen erreicht werden sowie durch das Angebot, auch<br />

die digitale Bildbearbeitung zu nutzen. Denn schon in der ersten<br />

Unterrichtsphase der Porträt- und Selbstporträt-Zeichnungen mit<br />

Bleistift zeigte sich deutlich, dass der bereits hohe Anspruch der<br />

naturalistischen Wiedergabe besonders in dieser Altersgruppe im<br />

Widerspruch zum tatsächlichen zeichnerischen Vermögen steht.<br />

Die Aussage der beteiligten Schülerin Mayowa «Dass sich jeder<br />

verändern kann, aber das immer noch ist» (siehe den Kontext des<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 240<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>


241<br />

denkbar<br />

Titel-Zitats weiter unten), fasst viele dieser Optionen zutreffend<br />

zusammen, ohne sie auf ein festes Lernziel engzuführen.<br />

Die Lehrerin selbst hatte noch keine Erfahrungen mit digitaler<br />

Bildbearbeitung im Kunstunterricht gesammelt. In einer projektbegleitenden<br />

Fortbildung war sie – bis dahin völlig ungeübt<br />

– mit den Grundfunktionen des Programms Photoshop vertraut<br />

gemacht worden. Ganz bewusst ging es im Projekt darum, Unterrichtseinheiten<br />

fast «voraussetzungslos» zu entwickeln und auszuprobieren.<br />

Vorerfahrungen der Schülerinnen und Schüler auf<br />

diesem Gebiet waren rudimentär bzw. meist gar nicht vorhanden.<br />

Für die ganze Klasse gab es keine allgemeine Einführung in Photoshop<br />

innerhalb des Projekttages, sondern lediglich in individueller<br />

Form innerhalb der Stationen-Betreuung durch die Lehrerin.<br />

Nach diesem Initial wurden neu zur Station hinzukommenden<br />

Schülern diese Grundfunktionen von den Mitschülern und der<br />

Lehrerin gezeigt, was dem didaktischen Prinzip einer reformpädagogisch<br />

orientierten freien Stationenarbeit ohne restriktive Instruktionen<br />

entspricht.<br />

Forschungsfrage<br />

Will man etwas evaluieren, so sollte zunächst gefragt werden: Worüber<br />

will ich Erkenntnisse erhalten Wie lautet meine Fragestellung<br />

In der vorliegenden Fallstudie ging es um die Art und Weise<br />

der Nutzung digitaler Medien im bisherigen analog ausgerichteten<br />

Kunstunterricht. Wichtige Stichworte sind gemäss den Projektzielen<br />

die Multisensualität und die Prozesshaftigkeit: Wie lassen sich<br />

der Computer und seine Peripheriegeräte innerhalb schulischen<br />

Kunstunterrichts in eher multisensuell ausgelegte bildnerische Gestaltungsprozesse<br />

‹zwischen Realität und Digitalität› integrieren<br />

Im Blickpunkt stehen komplexe Veränderungsprozesse innerhalb<br />

bestimmter Zeiträume.<br />

Wurden im gesamten Projekt sehr unterschiedliche digitale<br />

Gestaltungsmedien und –werkzeuge ausprobiert und kombiniert,<br />

ging es in der evaluierten Unterrichtseinheit primär um die digitale<br />

Bildbearbeitung als einem Stationsangebot. Die bewusst<br />

recht allgemein gehaltene Forschungsfrage der evaluativen Be-<br />

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242<br />

gleitforschung bezogen auf die hier vorgestellte Unterrichtseinheit<br />

lautete: Welche Lernerfahrungen und ästhetischen Erfahrungen<br />

wurden im Kontext der Verwendung der Station «digitale Bildbearbeitung»<br />

gemacht Mit Blick auf den Themenschwerpunkt<br />

«Artikulation» dieses <strong>Heft</strong>es <strong>02</strong> wird hierauf primär eingegangen.<br />

Forschungsmaterial<br />

Nach Abschluss der Unterrichtseinheit wurden hierzu narrative<br />

Einzel- und Paar-Interviews mit zehn Schülerinnen und Schülern<br />

geführt. Die Auswahl dieser Stichprobe erfolgte kontrastierend.<br />

Wichtig war, dass ich selber als Forscher nicht am Unterricht<br />

teilgenommen hatte und den Unterricht auch nicht geplant hatte.<br />

Meine Funktion war es, das empirische Material zu erheben,<br />

aufzubereiten und auszuwerten sowie den verantwortlichen Lehrenden<br />

eine empirisch fundierte inhaltliche Rückmeldung zu geben.<br />

Auf der Basis dieser Rückmeldung wurden dann neue Unterrichtseinheiten<br />

geplant. Die befragten Schülerinnen und Schüler<br />

sahen sofort ein, dass sie mir die Unterrichtseinheit ganz genau erklären<br />

mussten. Die Unterrichtseinheit wurde mir also aus dieser<br />

Perspektive geboten. Die Heranwachsenden waren im Interview<br />

die ‹Experten› für den Unterricht und für die hierin gesammelten<br />

Erfahrungen. Zusätzlich wurden nach dem Interview die<br />

bildnerischen Ergebnisse von mir fotografisch dokumentiert, da<br />

angesichts technischer Probleme oft nur Ausdrucke der eigentlich<br />

digitalen Schülerarbeiten vorhanden waren.<br />

Vor allem soll durch die Analysen ersichtlich werden, welche<br />

Bedeutung die verbale Artikulation für die Reflexion der Schülerinnen<br />

haben kann. Mittels der verbalen Artikulation im Interview<br />

nutzen die zwei Schülerinnen die Möglichkeit, sich ihres<br />

eigenen Tuns gemeinsam bewusster zu werden. Ein zweiter wichtiger<br />

Punkt ist, dass in scheinbar beiläufigen Schüler-Äusserungen<br />

bei näherer Betrachtung häufig Aspekte angesprochen werden, die<br />

für Lehrerinnen und Lehrer von grosser Bedeutung sein können,<br />

weil sie tiefere Einblicke in Erfahrungs- und Lernprozesse geben.<br />

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243<br />

denkbar<br />

1–3: Schülerarbeiten von Zaneta (<strong>14</strong> Jahre), Janine (<strong>12</strong> Jahre) und Mayowa (<strong>12</strong> Jahre)<br />

/ Zaneta, 6. Kl., dig. Bildbearbeitung<br />

Unterrichtsinhalte aus Schülerinnensicht<br />

Im Folgenden analysiere ich auf phänomenologischer Grundlage<br />

und mit sequenzanalytischer Ausrichtung (zu dieser Methode siehe<br />

Peez 2005) ein Interview (in der Transkription 27 Seiten bzw.<br />

987 Zeilen lang) mit Mayowa (<strong>12</strong> Jahre) und Zaneta (<strong>14</strong> Jahre)<br />

in Verbindung mit deren bildnerischen Unterrichtsergebnissen.<br />

Hierfür beginne ich mit einer längeren Passage, in der die beiden<br />

Mädchen über eine ihrer mit Photoshop erstellten Bildbearbeitungen<br />

sprechen (Abb. 1), die sie später als «Unser Meisterwerk»<br />

(Zeile 584) bezeichnen. Von dieser Passage aus werden weitere<br />

Sequenzen knapp erschlossen. (Das gesamte Interview ist verfügbar<br />

unter www.georgpeez.de/texte/download/ikozm03.pdf. In<br />

Klammern steht jeweils nach dem Zitat die Zeilenangabe aus der<br />

originalen Transkription.)<br />

Z. Also, wir haben den Andy als Grundlage genommen.<br />

Und dann haben wir dem Fred seine Nase ausgeschnitten und das<br />

dann auf den draufge..., ja, geklebt.<br />

M. Kopiert.<br />

Z. Kopiert. Und dann Franks Augen mit so einer dicken Brille ...<br />

I. Aha.<br />

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244<br />

Z. Und Evas Mund.<br />

M. Als Hut.<br />

Z. Ja. Äh.<br />

M. Und das danach. Und ähm.<br />

Z. Inams Haare.<br />

M. Nein, oder<br />

Z. Doch.<br />

M. Ja, was denn.<br />

Z. Als Schnurrbart.<br />

M. Ach so, stimmt. (lacht)<br />

Z. Und Freds Ohr und den Hintergrund haben wir dann,<br />

glaub’ ich, lila angemalt.<br />

M. Ja.<br />

I. Ah ja. Das hat doch sicher ziemlich lang gedauert, oder<br />

M. Ja, nein eigentlich gar nicht.<br />

Z. Nein, nur eine halbe Stunde.<br />

I. Ach echt, so schnell!<br />

M. Noch weniger! Wenige Minuten.<br />

Z. Zwanzig Minuten ungefähr.<br />

I. Wie habt ihr denn die Augen zum Beispiel ausgeschnitten<br />

Wie habt ihr das gemacht<br />

M. Also, da war so’n Lasso, sag’ ich jetzt mal und damit konnte man das<br />

dann ausschneiden auf dem Bild und dann kopieren rüber.<br />

I. Aha.<br />

M. Das ist halt …<br />

I. Aber das mit dem Lasso muss man doch wahrscheinlich auch relativ<br />

exakt entlang gehen.<br />

M. Ja.<br />

Z. Nein, muss man nett! Nicht so genau.<br />

M. Muss nicht. Man kann’s ja dann auch übermalen aber ... (Z. 210–244)<br />

Ent-Kontextualisierung und Umdeutung<br />

Den Schülerinnen stehen Porträtfotos am Computer zur Verfügung,<br />

die sie im Unterrichtsverlauf zunächst auf neue Weise wahrnehmen.<br />

Denn sie entkontextualisieren Elemente aus den Fotos. Die Nase von<br />

Fred wird an die Stelle der Nase von Andy gesetzt. «Franks Augen<br />

mit so einer dicken Brille» ersetzen Andys ursprüngliche Augenpartie.<br />

In einem weiter reichenden Schritt vollziehen die beiden Schülerinnen<br />

Umdeutungen des Realen. Sie werden von Zaneta und Mayowa<br />

auch erst als zweites genannt. Diese Umdeutungen, die sich als<br />

vorwiegend spielerisch und experimentell charakterisieren lassen,<br />

münden in eine aktive De-Konstruktion: Bestimmte Elemente der<br />

Gesichter werden ausgeschnitten und in einem Akt der Konstruk-<br />

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denkbar<br />

tion neu zusammengefügt. «Evas Mund» wird zu einem «Hut»,<br />

«Inams» Kopf-»Haare» werden zu einem «Schnurrbart» umgedeutet.<br />

Diese Umdeutungen werden in einer bildnerischen Gestaltung<br />

zunächst probeweise, dann endgültig in die Tat umgesetzt,<br />

um etwas Neues zu kreieren. (In einer separaten, hier aus Platzgründen<br />

nicht dokumentierten Bildanalyse konnten vor allem diese<br />

Aspekte verifiziert werden.) Durch Ent-Kontextualisierungen<br />

und Umdeutungen wird die Flexibilität, auch für absurde bildnerische<br />

Lösungen gefördert.<br />

Ästhetische Erfahrung<br />

Im bildnerischen Gestalten der Zwei scheint demnach ein Merkmal<br />

ästhetischer Erfahrung auf. Die beiden Mädchen sind «von<br />

den Zwängen der Konvention und der Routine befreit und für die<br />

Erfahrung des Augenblicks geöffnet» (Seel 2007, S. 16). Der Philosoph<br />

Martin Seel schreibt, ästhetische Erfahrungen seien «ästhetische<br />

Wahrnehmungen mit Ereignischarakter» (Seel 2007, S. 58).<br />

Und Seel weiter: «Ereignisse in diesem Sinn sind Unterbrechungen<br />

des Kontinuums der biografischen und historischen Zeit» (ebd.,<br />

S. 59). Das Zeitgefühl geht für einen gewissen Moment verloren.<br />

Solche Ereignisse «erzeugen Risse in der gedeuteten Welt» (ebd.).<br />

Zum einen sind sich auch Zaneta und Mayowa über die zeitlichen<br />

Ausmasse ihres Tuns in der Rückschau unsicher («halbe Stunde ...<br />

Wenige Minuten ... Zwanzig Minuten ungefähr»). Zum anderen<br />

sind die «Risse in der gedeuteten Welt» eine offensichtliche Vorstufe<br />

der erfolgten Umdeutungen.<br />

Gestaltungsprinzipien<br />

Martin Seel sagt ausserdem, Kunsterfahrung speise sich aus den<br />

Erfahrungen, die ausserhalb der Kunst gesammelt werden (Seel<br />

2007, S. 66). Wer im Alltag keine ästhetischen Erfahrungen<br />

macht, kann diese später auch nicht in der Kunst-Rezeption machen.<br />

Im hier behandelten Unterricht wird es den Schülerinnen<br />

ermöglicht, ästhetische Erfahrungen in Form einer Ent-Kontextualisierung<br />

und De-Konstruktion zu sammeln. Hierdurch erfahren<br />

sie zugleich zwei grundsätzliche Gestaltungsprinzipien, wie<br />

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246<br />

sie vor allem die Kunst des 20. Jahrhunderts prägten, und wie<br />

sie sich in der Montage oder Collage finden. Kunstströmungen<br />

wie der Kubismus, der Dadaismus, der Surrealismus oder die Pop-<br />

Art basieren u.a. auf diesen Gestaltungsprinzipien; aber auch die<br />

Kunst des Malers Guiseppe Arcimboldo (1527–1593). Haben die<br />

Heranwachsenden diese Prinzipien im eigenen Tun – durchaus<br />

auch als lustvoll – erlebt, so werden ihnen solche Kunststile – der<br />

Argumentation Seels folgend – nicht mehr ‹fremd› sein.<br />

Patchwork-Identitäten<br />

Neben einem bereits dargestellten ‹Personen-Mix› («Evas Augen,<br />

Beates Mund und Janines Haare» Z. 657) geschieht auch eine<br />

Auseinandersetzung mit Medien-Klischees («Ja, das ist die Claudia<br />

als Barbie. (lacht)» Z. 651). Die Mitschülerin Janine treibt in<br />

ihrer Montage das Spiel mit Patchwork-Identitäten noch einen<br />

Schritt weiter (Abb.2) (Das Transkriptionszeichen «@» steht für<br />

lachend gesprochene Passagen.):<br />

M. Wo der Mike @Janines Haare hatte@, hat mir gut gefallen.<br />

I. Was ist da passiert<br />

M. Ja, da hat die Janine halt auch den Mike als Hintergrund genommen ...<br />

I. Ja.<br />

M. Und dann halt ihre Haare drauf gesetzt.<br />

Das sind halt so lange, blonde Haare und dann ...<br />

I. Das sieht komisch aus.<br />

M. Ja. (lacht)<br />

Z. Ja. Und der Mike ist dunkelhäutig und ...<br />

I. Ah ja, o.k.<br />

Z. … und das sah dann so witzig aus. (Z. 470–480)<br />

Zwar wird an dieser Stelle keine explizite verbale Reflexion geleistet.<br />

Doch wird die Montage der Mitschülerin Janine implizit<br />

als bedeutend hervorgehoben («hat mir gut gefallen»; «das sah<br />

dann so witzig aus»). Dass diese Bildbearbeitung symbolisch aufgeladen<br />

und hierdurch etwas Besonderes ist, ist den Schülerinnen<br />

durchaus bewusst. Diese Montage überschreitet Grenzen: Sie ist<br />

mit den Begriffen ‹Cross-Culture› und ‹Cross-Gender› zu charakterisieren.<br />

Es handelt sich um eine Identitätskonstruktion, wie sie<br />

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247<br />

denkbar<br />

zwar äusserlich so kontrastiv kaum möglich ist, aber innerlich lassen<br />

sich die «zwei Welten» als Patchwork-Identität (Nordafrika/<br />

Mitteleuropa und Mädchen/Junge) durchaus in den Jugendlichen<br />

finden. In Phasen des Umbruchs wie der Adoleszenz orientieren<br />

sich die Betroffenen einerseits zwar an Sicherheit versprechenden<br />

Leitbildern, andererseits bieten Experimente aber auch neue Optionen<br />

des Ausprobierens.<br />

Möglichkeitsräume<br />

Der Unterricht eröffnet auf diese Weise Möglichkeitsräume für<br />

das Spiel mit Identitäten, hin zu einer ‹freieren› Selbstdarstellung.<br />

Demgemäss beschreiben Zaneta und Mayowa auch die vermutete<br />

Intention der Lehrerin in ihren Worten:<br />

M. Ja, dass halt ...<br />

Z. Herauszufinden wer wir sind.<br />

M. Ja und ...<br />

Z. Oder und wie wir aussehen, wenn wir nicht so aussehen,<br />

wie wir jetzt aussehen.<br />

M. Normal aussehen.<br />

I. Aha.<br />

M. Also, dass sich jeder verändern kann, aber das immer noch ist. So halt.<br />

I. Hm. Und ist das bei euch passiert Habt ihr so das Gefühl gehabt<br />

Z. Ja, bei mir.<br />

M. Bei mir schon. (Z. 877–887)<br />

Konventionalität wird ein Stück weit aufgehoben («Normal aussehen»),<br />

ein spielerischer Umgang mit dem Selbst wird angeregt<br />

(«dass sich jeder verändern kann, aber das immer noch ist»). Verfremdende<br />

und auch teils absurde Darstellungsweisen werden nun<br />

als sinnvoll erfahren («Herauszufinden wer wir sind»). Hierdurch<br />

werden Situationen geschaffen, die «zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit<br />

kreativen Verhaltens» beitragen, denn ein Merkmal<br />

von Kreativität ist es, dem Unkonventionellen nachzuforschen.<br />

Experimentieren<br />

Das Gestalten und Lernen der Mädchen am Computer wird regelrecht<br />

von intrinsischer Motivation beflügelt. Dies bedeutet, dass<br />

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ihr Tun nicht durch externe Belohnungen motiviert ist, sondern<br />

kognitiv und affektiv z.B. durch Sinn, Freude, Interesse, Erfolg,<br />

Neugierde oder auch selbstbestimmte Arbeitsabläufe aufrechterhalten<br />

wird.<br />

M. @Wir waren die ganze Zeit am Computer.@<br />

I. Und das durftet ihr, war auch o.k. gewesen<br />

Z. Ja.<br />

M. Ja.<br />

Z. Ja, weil wir es so gut konnten.<br />

I. Ach so. Und woher konntet ihr das so gut<br />

M. Ich weiss nicht. Wir haben einfach einmal zugeguckt. Und dann<br />

haben wir es nachprobiert und dann ...<br />

Z. ... ging’s!<br />

M. @Dann ging’s halt.@ (Z. 272–281)<br />

Aufgrund dieser Interviewpassage lässt sich der Umgang mit der<br />

Bildbearbeitungssoftware als ‹Lernen durch Beobachten› («einfach<br />

einmal zugeguckt») und in einem zweiten Schritt als ‹Experimentieren›<br />

(«dann haben wir es nachprobiert») charakterisieren.<br />

Der schnelle Lernerfolg («und dann ... ging’s halt») scheint ihrem<br />

Vorgehen nicht nur recht zu geben, sondern diese Form der<br />

Kompetenzaneignung («weil wir es so gut konnten») wirkt auch<br />

motivierend. An anderer Stelle sagt Zaneta selbstbewusst: «Wir<br />

können’s ja!» (Z. 358) Beide Mädchen bekräftigen, dass sie in dieser<br />

Beziehung ohne Vorkenntnisse sind (Z. 285ff.). – Wie eingangs<br />

erwähnt, wurden die Schülerinnen von der Lehrerin bzw. von<br />

Mitschülern in das Programm zwar eingewiesen. Dies geschah allerdings<br />

lediglich auf der Basis der Betreuung der Station «digitale<br />

Bildbearbeitung» am Projekttag. Einen Lehrgang oder Ähnliches<br />

hatten die beiden nicht absolviert. Diese Instruktionen blenden sie<br />

im Interview zudem weitgehend aus, was darauf verweist, dass sie<br />

sich stark mit ihrem gestaltenden Tun identifizieren.<br />

Es kann festgehalten werden, dass die digitale Bildbearbeitung<br />

durch ihre Eigenschaft, jeden Schritt rückgängig machen zu können,<br />

die Bereitschaft zum Experimentieren erhöht. Dies wurde<br />

auch durch die Auswertung weiterer Interviews zur gleichen Unterrichtseinheit<br />

deutlich (Peez 20<strong>08</strong>).<br />

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249<br />

denkbar<br />

Kommunikation und Identifikation<br />

Intensive kommunikative Sachauseinandersetzung, die u.a. zum<br />

instrumentellen Umgang anregt, zeigt sich zum einen im Interview,<br />

in dem die beiden Mädchen häufig längere Dialoge untereinander<br />

führen, ohne Beteiligung des Interviewers. Zum anderen<br />

zeigt sich aber auch, dass sie Kommunikation über den Unterricht<br />

hinaus selbst initiieren.<br />

Z. Wir machen vielleicht eine Ausstellung.<br />

M. Ja und ich denk’ mal, danach dürfen wir das auch mit nach Hause<br />

nehmen, was wir gemacht haben, halt. Weil ich wollt, also, ich wollt’s<br />

auch gern mal @meinen Freunden zeigen@.<br />

I. Ja.<br />

Z. Ja, ich will auch meins im Zimmer aufhängen.» (Z. 422–427)<br />

Eine starke Identifikation mit den bildnerischen Produkten zeigt<br />

sich zudem in folgender Sequenz:<br />

Z. Das Beste hängt bei mir zu Hause.<br />

I. Ach so, das hast du schon mitgenommen<br />

Z. Ja, natürlich! (Z. 818–820)<br />

Kunstpädagogik findet in der Schule immer in Gruppen, Schulklassen<br />

oder Kursen statt. Didaktisch kann die Interaktion und<br />

Kommunikation entsprechend gefördert werden, etwa durch die<br />

Stationenarbeit, so dass sie von den Betroffenen als bereichernd<br />

erlebt wird und über den Unterricht hinaus fortgesetzt wird.<br />

Fach-Terminologie<br />

Lernerfahrungen lassen sich in Bezug auf die Anwendung von<br />

Fachbegriffen durch die Mädchen ermitteln. Sie können einige<br />

Funktionen des Programms benennen, u.a. das «Lasso»-Werkzeug.<br />

Interessant ist die Stelle des Eingangs-Zitats, an der Mayowa<br />

ihre Freundin Zaneta korrigiert. Zaneta spricht im Digitalen<br />

von «geklebt», wohingegen Mayowa mit «kopiert» berichtigt. An<br />

vielen anderen Stellen des Interviews werden Fachbegriffe benutzt:<br />

«Fotomontagen» (Z. 111); «Montage» (Z. 268); «Photoshop» (Z.<br />

<strong>12</strong>1); «gescannt» (u.a. Z. 558); «gespeichert» (u.a. Z. 353); «ab-<br />

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250<br />

gestürzt» (u.a. Z. 3<strong>12</strong>). Und es werden Werkzeuge beschrieben,<br />

z.B. «Ja, was verschieben, halt so’n Kreuz, da konnte man was<br />

mit verschieben» (Z. 377) oder «Farbtopf» (Z. 363). Zum Umgang<br />

mit dem Computer gehört eine gewisse Terminologie, diese<br />

eignen sich die Heranwachsenden mitgängig im Gestaltungsprozess<br />

an, auch durch Lernen voneinander.<br />

Geringe reflexive Verfügbarkeit des Lernerfolgs<br />

Es kann festgehalten werden, dass Mayowa und Zaneta die bildnerische<br />

Integration verschiedener Teilaspekte eines Porträts<br />

oder im übertragenen Sinne einer Persönlichkeit zu einem neuen<br />

‹Ganzen› leisteten – und dies mit grossem Engagement und<br />

hoher Motivation sowie eindrücklichen Erfolgserlebnissen. Aufgrund<br />

der Interpretation der Interviews fällt jedoch auf, dass diese<br />

Transformation von Einzelaspekten zu einem neuen ‹Ganzen›<br />

nicht verbal erfolgt. Die Mädchen formulieren beispielsweise keine<br />

integrierenden Titel für Ihre Arbeiten, sondern sie beschreiben<br />

und benennten ihre Bilder immer nur in additiver Form (z.B.<br />

«Evas Augen, Beates Mund und Janines Haare» Z. 657). Offenbar<br />

wurde im Unterricht selbst sowie in der Nachbesprechung<br />

hierauf wenig eingegangen. Dies deutet darauf hin, dass der weiter<br />

oben ermittelte Lernerfolgsanteil für die Mädchen selbst eventuell<br />

(noch) kaum verbal-diskursiv reflexiv verfügbar ist. Oder<br />

die neu gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse werden von<br />

den Jugendlichen vorzugsweise im Bildlich-Präsentativen artikuliert.<br />

Fazit<br />

Im Kunstunterricht steht die Auseinandersetzung mit bildnerischen<br />

– in neuerer Zeit auch digitalen – Medien im Mittelpunkt.<br />

Empirische Forschung innerhalb der Kunstpädagogik reflektiert<br />

diesen Einsatz, überprüft ihn auf seine Wirkungen und Potenziale<br />

für zukünftige kunstdidaktische Konzepte. Um Spekulationen<br />

hierüber zu vermeiden und um Projektionen in Bezug auf erhoffte<br />

Wirkungen zu reduzieren, sollte Kunstunterricht fallspezifisch<br />

evaluiert werden. Denn ästhetische Prozesse lassen sich nicht über<br />

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251<br />

denkbar<br />

Multiple-Choice-Fragebögen oder Statistiken ermitteln und näher<br />

untersuchen. Aus zunächst scheinbar banalen Äusserungen<br />

der Schülerinnen und Schüler können auf der Grundlage qualitativer<br />

Empirie aufschlussreiche Hinweise auf Lernen, ästhetische<br />

Erfahrungen und Bildungsprozesse erlangt werden. Lesen Kunstlehrende<br />

solche Forschungsergebnisse, so erkennen sie auch in<br />

ihrem eigenen Unterrichtsalltag die Bedeutungen hinter solchen<br />

unscheinbaren Äusserungen; so lautet zumindest eine Prämisse<br />

zur Vermittlung von Forschungsergebnissen.<br />

Der Einsatz digitaler Bildbearbeitungssoftware in einem offenen,<br />

werkstattorientierten Setting im Rahmen des Kunstunterrichts<br />

der untersuchten 6. Klasse erwies sich in mehrfacher<br />

Hinsicht als sinnvoll. Die ausgelöste intrinsische Motivation zum<br />

Experiment auf der Grundlage eines zuvor erfolgten Beobachtungslernens<br />

sowie die spielerische Freiheit und die Kooperation<br />

der beiden Mädchen im Gestaltungsprozess führten zu oben<br />

dargelegtem Kompetenzzuwachs im Umgang mit Bildbearbeitung<br />

und dem Computer allgemein. Der digitale Gestaltungsvorgang<br />

wird u.a. deshalb als ästhetisch lustvoll erfahren, weil ein experimentelles<br />

Probehandeln vollzogen werden kann, stärker als in der<br />

analogen Gestaltung.<br />

Durch den zeitlichen Freiraum eines Projekttages war es den<br />

Schülerinnen möglich, sich länger mit den relevanten Gestaltungsvorgängen<br />

(und den auftretenden Problemen) zu befassen.<br />

Sie konnten ihren Arbeits- und Zeit-Rhythmus stärker selbst bestimmen.<br />

Ferner gab die Arbeit an Stationen den Mädchen Halt<br />

und Unterstützung sowie die Möglichkeit der Konzentration auf<br />

von ihnen gewählte Gestaltungsverfahren.<br />

Gefördert wird die Ent-Kontextualisierung und De-Konstruktion<br />

von Wirklichkeitselementen. Im untersuchten Fall werden<br />

Persönlichkeitsmerkmale flexibel gemacht und neu kombiniert.<br />

Die Schülerinnen verstehen den hintergründigen Sinn durchaus<br />

(s. Titel dieses Aufsatzes). Die Umbruchphase der Adoleszenz ist<br />

hierfür ein empfänglicher Lebensabschnitt. Forschungsergebnisse<br />

aus der Medienpädagogik stützen diese Erkenntnis (Niesyto/Marotzki<br />

2006; Brüggen/Hartung 2007).<br />

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252<br />

Arbeitsblatt mit Frageimpulsen<br />

Die Methode der Verbalisierung sollte aber nicht nur den beiden<br />

Schülerinnen Zaneta und Mayowa zugute kommen. Die Idee, Interviews<br />

zu führen, wurde von der Lehrerin aufgegriffen. Sie selber<br />

konnte freilich nicht alle Schülerinnen und Schüler in dieser<br />

Weise befragen, doch fand sie einen Weg, dass alle Schülerinnen<br />

und Schüler nochmals innehielten, bevor die nächste bildnerische<br />

Aufgabe gestellt wurde (Werner 2004, S. 49). Sie entwickelte ein<br />

Arbeitsblatt mit Frageimpulsen:<br />

Interview zum Kunstprojekt: «Wer bin ich»<br />

Suche dir bitte einen oder zwei Interviewpartner. Befrage sie<br />

zu ihren/seinen Bildern und Ergebnissen. Im unteren Schaubild<br />

kannst du erkennen, auf welche Fragen es ankommt. Halte dein<br />

Gespräch entweder schriftlich fest oder nimm es auf Tonband auf.<br />

Bildergebnisse<br />

Entstehung Technik Herstellung Idee<br />

Thema<br />

Persönliche Erfahrung; persönliche Bewertung; Wie geht es<br />

weiter<br />

Gerade auch in diesen gegenseitigen Kurz-Befragungen zeigten<br />

die Schülerinnen und Schüler besonderes Engagement. Sie hatten<br />

die Chance, sich eigener Einsichten bewusster zu werden und diese<br />

untereinander zu kommunizieren.<br />

Prof. Dr. Georg Peez (www.georgpeez.de) , Professur für Kunstpädagogik / Didaktik der Kunst an der<br />

Universität Duisburg-Essen, Fachbereich 4, Kunst und Design; Studiengangsprecher für die Lehramtstudiengänge<br />

Kunst<br />

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253<br />

denkbar<br />

Literatur<br />

Brüggen, Niels/Hartung, Anja (2007). ‹Kontextuelles Verstehen der Medienaneignung› als Methodenansatz.<br />

In: Georg Peez (Hg.). Handbuch Fallforschung in der Ästhetischen Bildung / Kunstpädagogik.<br />

Baltmannsweiler: Schneider Verlag. S. 79-89<br />

Marotzki, Winfried/Niesyto, Horst (Hg.) (2006). Bildinterpretation und Bildverstehen. Methodische Ansätze<br />

aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive.<br />

Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften<br />

Peez, Georg (2005). Evaluation ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse. München: kopaed<br />

Peez, Georg (20<strong>08</strong>). «Weil vorher hat man das nie so gesehen.» Janine, 6. Klasse. Empirische Unterrichtsforschung<br />

und Rekonstruktion ästhetischer Erfahrungsprozesse. In: Klaus-Peter Busse (Hg.).<br />

(Un)Vorhersehbares lernen: Kunst – Kultur – Bild. Dortmund: Dortmunder Schriften zur Kunst<br />

Seel, Martin (2007). Die Macht des Erscheinens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp<br />

Werner, Judith (2004). «Wer bin ich» – Selbstporträt und Porträtdarstellung in einer integrativen 6. Klasse.<br />

In: Johannes Kirschenmann/Georg Peez (Hg.). Computer im Kunstunterricht. Donauwörth: Auer. S. 45-49<br />

Kirschenmann, Johannes/ Peez, Georg (Hg.): Computer im Kunstunterricht. Werkzeuge und Medien. Donauwörth<br />

(Auer Verlag) 2004<br />

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254<br />

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255<br />

denkbar<br />

4<br />

Susanne Sauter<br />

Über das künstlerische<br />

Schaffen sprechen<br />

Was bedeutet es zu sprechen, Formulierungen zu finden, sich zu<br />

artikulieren Die Bedingungen und Konsequenzen des (eigenen)<br />

Sprechens zu kennen und seine Vorstellungen darstellen zu können,<br />

sind die Voraussetzungen, um überhaupt ein ‹sprechendes<br />

Subjekt› zu werden, um eine sprechende und damit handelnde<br />

Position einzunehmen und als ‹Citoyen› eine gesellschaftliche<br />

Verantwortung zu übernehmen.<br />

In diesem Text versuche ich, auf das Potential hinzuweisen, welches<br />

durch eine gezielte Kombination von künstlerischen Schaffensprozessen<br />

und der sprachlichen Auseinandersetzung mit Vorstellungen<br />

und Wahrnehmungen aktiviert wird. In diesem kurzen Text kann<br />

der komplexen Thematik der Zusammenhänge von Sprache und<br />

Kunst als spezifische Form der Kommunikation nicht ausreichend<br />

auf den Grund gegangen werden. Ich versuche massgebende Gedanken<br />

zusammenzufassen, die auch im Unterricht von gestalterischen<br />

Fächern auf allen Stufen interessant sein dürften. Im Folgenden<br />

wird von Kunst die Rede sein. Die relevanten Aussagen<br />

dazu können jedoch für alle Bereiche der Gestaltung geltend gemacht<br />

werden. Der Fokus weist auf den verbalen Umgang mit den<br />

Zeichen, die durch die Schaffensprozesse generiert werden.<br />

Wird die Kunst als komplexes System von Kommunikation betrachtet,<br />

kann konstatiert werden: Ein Kunstwerk erhält seinen<br />

Sinn als Kunstwerk, wenn es wahrgenommen wird und bei den<br />

betrachtenden Personen etwas auslöst. Dieser Aussage folgend ist<br />

das Kommunizieren eine zentrale Aufgabe des Kunstwerks.<br />

Die Frage wie durch oder mit Kunst kommuniziert wird, führt<br />

zur Betrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den<br />

Absichten und Methoden der künstlerischen und der sprachlichen<br />

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256<br />

Kommunikation. Stellvertretend für die buchfüllenden Ausführungen,<br />

die an dieser Stelle folgen müssten, zitiere ich diese bezeichnende<br />

Stelle des Systemtheoretikers Niklas Luhmann aus<br />

seinem Buch «Die Kunst der Gesellschaft»:<br />

«Für die Kommunikation von Kunst kommt hinzu, dass sie<br />

gar nicht auf die Automatik des Verstehens abzielt, sondern<br />

inhärent vieldeutig angelegt ist, und dies unabhängig davon, ob<br />

die Divergenz der Betrachtungsmöglichkeiten eingeplant war<br />

im Sinne eines «offenen Kunstwerks» oder nicht. Es mag dann<br />

geradezu das Interesse eines Kunstwerks verstärken, dass die<br />

Betrachter sich nicht auf eine einhellige Interpretation verständigen<br />

können.» 1<br />

Diese hier genannte Vieldeutigkeit fasziniert den Betrachter und<br />

lässt ihn immer wieder hinschauen. Die Wahrnehmung ist bei jeder<br />

Betrachtung neu. Die Wahrnehmung von Kunst bringt eine<br />

Verzögerung und eine Reflexivierung mit sich, die sich vehement<br />

von der Wahrnehmung von Sprache unterscheidet, welche in der<br />

Regel möglichst schnell und präzise erfolgt. Die Vielfalt von Deutungen<br />

und Bedeutungen, welche die Betrachterin, der Betrachter<br />

erkennen kann, bieten Anlass, um sich auszutauschen. Die gemeinsame<br />

Besprechung von Kunstwerken erweist sich im Sinne<br />

der vielen möglichen Betrachtungsweisen, respektive der vielen<br />

Einschlüsse, welche in einem Kunstwerk zeitgleich wahrgenommen<br />

werden können, als enorme Bereicherung.<br />

Im Sprechen und auch in der künstlerischen Artikulation wird<br />

nach allgemein verständlichen Zeichen gesucht, welche der/dem<br />

anderen die eigene Welt erschließen und näher bringen. Dies bedingt,<br />

dass die RezipientInnen die Zeichen verstehen können.<br />

Eine Artikulation glückt also nur im Umfeld einer Gemeinschaft,<br />

welche über ein gemeinsames Vokabular verfügt und/oder einen<br />

selben oder überschneidenden sozialen, politischen und kulturellen<br />

Kontext kennt. Eine Aussage allein genügt also nicht, sie<br />

funktioniert nur in einem gemeinsam bekannten Kontext. Umgekehrt<br />

kann eine Aussage nur aus einem Kontext heraus entstehen.<br />

Das sprechende Subjekt braucht ein Umfeld, eine Erfahrung und<br />

ein Wissen, aus dem heraus es seinen Text generiert. Aus diesem<br />

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257<br />

denkbar<br />

Sachverhalt 2 erweist sich die Notwendigkeit der Diskussion über<br />

eine Materie, hier das künstlerische Schaffen, das eigene, aber<br />

auch die Diskussion über relevante Werke. Wenn Ideen reichhaltig<br />

ausformuliert werden, anderen zugänglich gemacht werden können,<br />

dann erweitert sich dieser gemeinsame Kontext. Je genauer<br />

alle Mitglieder einer Gruppe Ihre Gedanken über Ihre eigenen<br />

Projekte, aber auch ihr Gedanken zu Objekten, die betrachtet werden,<br />

verbalisieren können, umso grösser wird der oben genannte<br />

gemeinsame Kontext, der Raum, in dem Verstehen entwickelt werden<br />

kann. In der Gruppe werden das Vokabular und das Wissen<br />

gemeinsam angereichert. Das Wissen um die Überlegungen und<br />

über das Vokabular des anderen erweitert folglich auch die Ressourcen,<br />

aus denen heraus eigenen Vorstellungen generiert werden.<br />

Es festigt und bereichert die Möglichkeiten und die Finessen des<br />

eigenen Schaffens. Aus diesem Grund erachte ich regelmässige Diskussionen<br />

über künstlerische Schaffensprozesse und über Kunstwerke,<br />

die von gemeinsamem Interesse sein können, als absolut<br />

wichtig. Sie bereichern das Volumen des Kontexts, aus dem heraus<br />

wir uns verbal und künstlerisch artikulieren, beachtlich.<br />

Gespräche über die eigenen Arbeitsprozesse können in jedem<br />

Alter durchgeführt werden. Mit Kindergärtner kann es genau so<br />

faszinierend sein wie mit professionellen Kunstschaffenden. Die<br />

Diskussion über Kunst gehört nicht nur in den Bereich der Sprache<br />

oder der Theorie, sie gehört in den Arbeitsprozess und in die<br />

Kunstbetrachtung.<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Luhmann Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main, 1997. S. 72<br />

2<br />

Siehe zu dieser Thematik: Peter Weibel (Hg.): Kontext Kunst. Köln, 1994.S. 9–<strong>14</strong>.<br />

Peter Weibel verweist in seinem Text:» Kontext Kunst: Zur sozialen Konstruktion von Kunst» auf<br />

den russischen Literaturtheoretiker und Semiologen Michail Michajlovic Bachtin (1895-1973).<br />

Dieser bestimmt Sprache als dialogische Handlung, er unterstreicht das soziale Ereignis der<br />

sprachlichen Interaktion, welches durch Äußerung und Gegenäußerung realisiert wird. Bachtin<br />

relativiert die Autonomie des Sprechens, er setzt nicht auf einen subjektiven, sondern auf einen<br />

objektiven Ursprung des sozialen Verhaltens. Bachtin betont die «dialektische Natur der sozialen<br />

Situation, die durch die Interaktion der Sprecherin/des Sprechers und der komplexen Menge der<br />

sozialen Umstände entsteht, in der die Äußerung stattfindet. Auch Jacques Lacan kommt in seiner<br />

Sprechakttheorie auf ähnliche Feststellungen. Siehe: Widmer Peter: Subversion des Begehrens.<br />

Jaques Lacan oder die zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt a. M., 1990.<br />

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259<br />

denkbar<br />

5<br />

Thomas Sieber<br />

Im Netz der visuellen<br />

Kultur<br />

Schnittstellen und Differenzen in Medien,<br />

Design und Kunst<br />

1. Medienkunst – Grenzlinien und Annäherungen 1<br />

Das künstlerische Feld, das gemeinhin als Medienkunst bezeichnet<br />

wird, existiert seit rund 30 Jahren. Am Anfang der Medienkunst<br />

stehen das Video der 1960er und 1970er und die Videoskulptur der<br />

1980er Jahre. 2 Diese künstlerischen Ausdrucksformen haben sich<br />

vor dem Hintergrund einer von Marshall McLuhan und anderen<br />

Protagonisten seit den 1960er Jahren propagierten telematischen<br />

Technokultur im Zeichen grenzenloser Kommunikation und Partizipation<br />

entwickelt. 3 Nicht nur in der Auseinandersetzung mit<br />

den bereits etablierten Gattungen, Ästhetiken und Praktiken der<br />

bildenden Kunst, sondern auch in der Auseinandersetzung mit<br />

den visuellen Massenmedien Film und Television gewinnt das Video<br />

als künstlerisches Medium Profil. 4 Dieser Profilierungs- und<br />

Etablierungsprozess ist zunächst vom Kunstsystem, insbesondere<br />

aber von der akademischen Kunstgeschichte vernachlässigt<br />

worden. Erst im vergangenen Jahrzehnt, erst als die Videokunst<br />

gleichsam Geschichte geworden ist, hat die Kunstgeschichte die<br />

Kunst im Medium Video entdeckt und diese in den Fachdiskurs<br />

integriert. 5 In dieser zögerlichen und noch keineswegs abgeschlossenen<br />

Integration widerspiegelt sich die Tradition der Disziplin<br />

Kunstgeschichte, die dem als Bild verstandenen Kunstgeschehen<br />

einen Rahmen gegeben hat.<br />

Mit Hans Belting kann man «heute von einer Aus-Rahmung<br />

sprechen, die zur Folge hat, dass das Bild sich auflöst, weil es<br />

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nicht mehr von seinem Rahmen eingeschlossen wird». 6 Nur wenn<br />

sich die Kunstgeschichte zur Kunstwissenschaft entwickelt und<br />

sich von dem in der Moderne etablierten Ideal einer gültigen Erzählung<br />

von Sinn und Ablauf einer allgemeinen Geschichte der<br />

Kunst verabschiedet, kann sie zu einer Wissenschaft der Bilder<br />

werden, die der Kunst und der visuellen Kultur der Gegenwart<br />

gerecht wird.<br />

Wenn man vor diesem Hintergrund die mittlerweile als Sammelbegriff<br />

etablierte Bezeichnung Medienkunst analysiert, so beruht<br />

diese letztlich auf einer Verschiebung der Aussagetypologie<br />

hin zu einem Material, einem Stoff oder eben einem Medium.<br />

Wenden wir diese Verschiebung beispielsweise auf jene Bilder an,<br />

die in der Regel den Hauptteil der in Ausstellungen von Museen<br />

und Kunsthallen gezeigten Kunstwerke ausmachen, so müssten<br />

wir von Öl- oder Acrylkunst sprechen. Der Begriff Medienkunst<br />

macht aber viel mehr: Er behauptet, Avantgarde zu sein, indem<br />

er eine Kunst verspricht, die sich neuester Technologien bedient.<br />

Der Begriff ist deshalb so kraftvoll, weil er viel integriert: progressiv<br />

und ernsthaft, experimentell und unverzichtbar, mutig<br />

und verpflichtend, kurz: Medienkunst verspricht das Neue und ist<br />

eingebunden in das Bekannte. Diese diskursive Aufladung wird<br />

begleitet von der Tendenz, «die Einheit der Bilder in die Pole der<br />

Medien und der Kunst» zu spalten. 7 Während die Medienwissenschaft<br />

in der Regel die alten Medien als «Kunst» behandelt wissen<br />

will und sich auf die neuen, technischen Medien wie Foto, Film,<br />

Video und Computer konzentriert, beschäftigt sich die Kunstwissenschaft<br />

vornehmlich mit der «nichtmedialen» Kunst, die nicht<br />

im Verdacht steht, den Kunstcharakter der Werke zu verraten.<br />

Diese historisch gewachsene Grenzlinie ist nicht nur deshalb problematisch,<br />

weil damit die Medialität von Kunst und die Kunstfähigkeit<br />

von Medien gleichermassen verfehlt werden. Vollends<br />

unproduktiv wird diese angesichts der jüngeren Entwicklungen<br />

im Bereich der zeitgenössischen Kunst im Zeichen von Hybridisierung,<br />

Media-Mix und Crossover (Abb.1).<br />

Diese summarischen Ausführungen zu den mit der Medienkunst<br />

verbundenen Diskursen können und wollen die Frage «Was<br />

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denkbar<br />

ist Medienkunst» nicht beantworten. Gesucht werden müssen<br />

Antworten, aber jenseits der Gebietsansprüche und Abgrenzungsrituale<br />

der akademischen Wissenschaften. Gleichzeitig gilt es, die<br />

Integrations- und Vereinnahmungsgesten jenes postmodernen<br />

Diskurses kritisch zu befragen, der die Differenzen zwischen Ökonomie<br />

und Kultur, Design und Kunst und der Figur des Ingenieurs<br />

und der Figur der Künstlerin bis zur Unkenntlichkeit nivelliert.<br />

In dieser Redeweise werden Unterschiede nämlich zu antiquierten<br />

Merkmalen einer Kunst, die sich auf kunstimmanente Positionen<br />

zurückziehe und sich so der Einsicht verschliesse, dass «die Kunst<br />

von morgen von den Engineers of Experience in ihren Werkstätten<br />

der Welterfindung und Welterschaffung (gemacht wird)». 8 In<br />

diesem Diskurs, der die Kunst «zwischen Las Vegas und Tate Modern,<br />

zwischen IT-Algorithmen und Proteinsequenzen» inszeniert<br />

und von Personen getragen sieht, «die ihre Identität zwischen<br />

Künstler, Ingenieur, Sozialarbeiter und Experience-Designer ansiedeln»,<br />

wird letztlich nicht mehr zwischen angewandten Künsten,<br />

Gestaltung oder Design auf der einen und Kunst auf der anderen<br />

Seite unterschieden. 9<br />

Abb. 1:<br />

Michel Jaffrennou,<br />

Ceci est une image, 20<strong>02</strong>, mixmedia,<br />

in: Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.),<br />

Iconoclash: beyond the image wars<br />

in science, religion and art, Karlsruhe<br />

20<strong>02</strong>, S. 479.<br />

Inzwischen gehört es zum Common Sense, die Differenzierung<br />

zwischen «freien» und «angewandten Künsten» für überholt, ja<br />

geradezu rückständig zu halten. In der Tat ist diese Unterscheidung<br />

zwischen «Kunst» und «Design» – verstanden als «Kunst,<br />

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die sich nützlich macht» – von der Idee der Autonomie und der<br />

Aura der Kunst wie auch von der kunsthandwerklichen Reformbewegung<br />

am Ende des 19. Jahrhunderts geprägt und nicht erst<br />

im Zeitalter der sogenannten neuen Medien überholt. 10 Von grosser<br />

Aktualität ist jedoch die Frage, wie sich Differenzen und Interferenzen<br />

zwischen Kunst und Design in einer visuellen Kultur im<br />

Zeichen von Hybridisierung, Mediatisierung, Ästhetisierung, Demokratisierung<br />

und Globalisierung – um nur einige Phänomene<br />

zu erwähnen – fassen lassen. Auf dieser Unterscheidung hat Uta<br />

Brandes im Kontext der Neubestimmung von Aufgaben und Perspektiven<br />

von Design bereits mit dem Titel ihres 1998 erschienenen<br />

Buches insistiert: «Design ist keine Kunst». 11 Wenn es im Design<br />

aber nicht mehr bloss um die Gestaltung einzelner Produkte bzw.<br />

Produktgruppen geht, sondern um die Strukturierung von Information,<br />

Kommunikation und ihren Schnittstellen – wenn Design<br />

folglich eher Konzept und Prozess als Objekt ist und «Ökonomie<br />

und Ökologie, Technik, Medien und Dienstleitungen, Kultur und<br />

Sozialität (vermittelt und vernetzt)» –, dann muss die Frage nach<br />

den Grenzen dieser die disziplinären Schranken überschreitenden<br />

Praxis und Reflexion von Gestaltung gestellt werden. <strong>12</strong><br />

Mit Blick auf die neue Medienkunst sind hier keine eindeutigen,<br />

aus der Tradition der Moderne stammenden Antworten zu erwarten.<br />

Festzuhalten ist jedoch, dass die von der Kunst und ihren<br />

Akteurlnnen bis in die Gegenwart verteidigte Grenzlinie zwischen<br />

den «freien» und den «angewandten Künsten» längst «von hybriden<br />

Brüdern und Schwestern perforiert» worden ist. 13 Zurückzuweisen<br />

ist in diesem Kontext dann allerdings die apodiktisch<br />

anmutende Behauptung, die Kunst habe im Kontext der nachindustriellen<br />

Gesellschaft ihre Leitfunktion schon lange verloren:<br />

«Kunst ist heute zur weitgehend postmodernen, genauer gesagt<br />

beliebigen Unterhaltungskategorie verkommen: «An ihren gesellschaftlichen<br />

Auftrag glaubt sie selbst schon lange nicht mehr.» <strong>14</strong><br />

Nicht erst die Diskursplattformen und Ausstellungen im Rahmen<br />

der Documenta 11 haben gezeigt, dass Kunst nicht nur an ihrem<br />

gesellschaftlichen Anspruch festhält, sondern diesen auch mit relevanten<br />

Positionen, pointierten Kommentaren und spielerischen<br />

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263<br />

denkbar<br />

Irritationen einlösen kann. 15 Obwohl das der Kommunikation<br />

verpflichtete Design im Kontext der durch Mediatisierung und<br />

Digitalisierung geförderten gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozesse<br />

eine bedeutendere Rolle in der kulturellen Sinn- und Bedeutungsproduktion<br />

übernommen hat, sollte man voreilige und<br />

absolute Wertungen vermeiden. Wenn aus dieser Entwicklung<br />

nämlich die Schlussfolgerung gezogen wird, «dass die Rolle der<br />

kulturellen Avantgarde vom Design übernommen wurde», dann<br />

endet diese Interpretation in jenen Aporien der Moderne, die sie<br />

zu überwinden hätte. 16 Unbestritten ist, dass die Fragen nach der<br />

Rolle von Kunst und Design, nach dem Stellenwert der von ihnen<br />

geschaffenen Objekte und nach den Formen, Bedingungen und<br />

Effekten der von ihnen produzierten Bedeutungen im Kontext der<br />

in der Medienkunst besonders sichtbar werdenden Annäherung<br />

ästhetischer Codes und Logiken der Produktion, Präsentation<br />

und Distribution neue Dringlichkeit erhalten haben. 17<br />

2. Netzkunst und Netz-Werke<br />

Die im Jahre 2000 erschienene Neuauflage des Buches mit dem<br />

ambitionierten Titel «Was ist Kunst» verzeichnet <strong>14</strong>60 Antworten<br />

auf eine Frage, die in dieser allgemeinen Form nicht zu beantworten<br />

ist. 18 Erfolgversprechender erscheint es, die Frage bescheidener<br />

und präziser zugleich zu formulieren und danach zu fragen, was<br />

Kunst im Allgemeinen und Netzkunst im Speziellen leisten bzw. zu<br />

leisten haben. In den vergangenen Jahren hat die Netzkunst oder<br />

«net.art» als neueste Form der Medienkunst nicht nur im Cyberspace<br />

des World Wide Web (WWW), sondern auch im Diskurs<br />

von Wissenschaft und Feuilleton an Raum gewonnen. 19 Wenn unter<br />

dem Begriff Netzkunst nur jene künstlerischen Projekte subsumiert<br />

werden, die für das WWW entworfen werden, von dessen<br />

spezifischen Charakteristika ausgehen und nur bzw. hauptsächlich<br />

auf dem Netz existieren, dann reduziert sich die Quantität der auf<br />

dem Netz präsenten «Netz-Werke» beträchtlich. 20<br />

Vor dem Hintergrund der charakteristischen Merkmale des Internets<br />

– Konnektivität, Globalität, Multimedialität, Immaterialität,<br />

Interaktivität und Egalität – lassen sich vier für die Netzkunst<br />

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264<br />

konstitutive Merkmale identifizieren. Diese ist erstens genuin<br />

ortlos, nirgends und überall, jederzeit verfügbar und unverfügbar<br />

zugleich; zweitens ist sie prinzipiell unabgeschlossen und veränderbar;<br />

drittens zeichnet sie sich durch die Möglichkeit aus, sich<br />

von einem Text oder Bild per Hyperlink in einen ganz anderen<br />

Bereich zu «linken» und von dort wieder und wieder weiterzukommen;<br />

und viertens bietet das Netz neue Möglichkeiten, das<br />

Dreieck «Künstlerln – Kunstwerk – BetrachterIn» zu durchbrechen.<br />

Auf dieser Grundlage lassen sich die im Netz existierenden<br />

künstlerischen Projekte mit einem dem Potenzial des Mediums<br />

angemessenen rezeptionsorientierten Ansatz kategorisieren. 21 Aus<br />

der Perspektive des Users, der Userin und ihrer Interaktionsmöglichkeiten<br />

lassen sich die Netz-Kunstwerke in Anlehnung an Hans<br />

Dieter Huber und Giaco Schiesser in vier Kategorien unterteilen. 22<br />

Bei «reaktiven Werken» können Userlnnen sich durch Scrollen und<br />

Klicken durch das Projekt bewegen; bei «interaktiven Werken»<br />

können Userlnnen durch Eingabeflächen oder Scripts den Server<br />

zu einer momentanen Veränderung des jeweiligen Webprojektes<br />

veranlassen, das beim Verlassen der Site wieder in den Ausgangszustand<br />

zurückgeht; bei «partizipativen Werken» hingegen können<br />

Userlnnen durch verschiedene Handlungen – u.a. durch das<br />

Downloaden, Bearbeiten, Rücksenden von Text-, Bild-, Tonfiles<br />

und/oder das Onlinesteuern von Programmen bzw. Robotern – zu<br />

einer dauerhaften Veränderung des jeweiligen Projektes beitragen,<br />

und schliesslich können Userlnnen bei «kollaborativen Werken»<br />

eine von KünstlerInnen gestaltete Plattform für ihre eigenen Zwecke<br />

nutzen, so dass die Veränderungen einzig von den Entscheidungen<br />

der interagierenden Benutzerinnen bestimmt werden. Diese<br />

vorläufige Topographie der Netzkunst macht zweierlei deutlich.<br />

Einerseits zwingt uns die Netzkunst wie keine andere Kunstform<br />

zur permanenten Reflexion der Frage, was wir als Kunst anerkennen<br />

wollen und welche Gründe wir für diese Kunstfähigkeit<br />

anführen können. Andererseits wird vollends deutlich, dass die<br />

massgeblich auf Marcel Duchamps Ready-mades zurückgehende<br />

«kontextuelle Definition von Kunst» keine Antworten mehr auf<br />

die Frage verspricht, was Kunst leistet und leisten soll 23 (Abb. 2).<br />

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265<br />

denkbar<br />

Abb. 2:<br />

Rafael Koch und Raphael Muntwyler,<br />

How to Build a Network. [plug.in]<br />

zu Gast bei «Schweizer Kunst», in:<br />

Schweizer Kunst Nr. 1/20<strong>02</strong>, hg.<br />

v. Visarte. Berufsverband visuelle<br />

Kunst Schweiz, Zürich 20<strong>02</strong>, S. 6f.<br />

Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, nach den Kontexten der<br />

Produktion und Distribution von Netzkunst zu fragen, um die<br />

Leistungen dieser sich weitgehend jenseits der traditionellen, institutionalisierten<br />

Plattformen des Systems Kunst entwickelnden<br />

Medienkunst besser zu verstehen. «Neue Medien bilden neue<br />

Netzwerke» – mit diesem programmatischen Satz eröffnet die<br />

dem Forum für neue Medien [plug.in] gewidmete Nummer der<br />

Zeitschrift «Schweizer Kunst». 24<br />

Der einleitende Beitrag «How to Build a Network» unterstreicht<br />

einmal mehr, dass Netzkunst ohne Netzwerke der Produktion,<br />

Distribution und Reflexion nicht zu denken ist. Zwischen<br />

2000 und 20<strong>02</strong> haben sechs Netzwerkerlnnen mit dem [plug.in]<br />

als multimedialer und -funktionaler Plattform ein wachsendes<br />

Network aufgebaut (vgl. Abb. 2), das aus Personen wie Künstlerinnen,<br />

Kuratoren und Wissenschaftlerlnnen, aus Institutionen<br />

wie Museen, Hochschulen und Kulturförderern, aus Projekten<br />

wie Ausstellungen, Kongressen und Festivals sowie aus WWW-<br />

Plattformen besteht. 25 Mit Blick auf die populäre, euphorische<br />

und zuweilen naive Rede über die digitale Revolution und ihre<br />

kreativen, partizipativen und sozialen Potenziale ist diese Verortung<br />

der Netzkunst in sozialen und materiellen Praktiken ein<br />

wichtiges Korrektiv. Das Versprechen der Ortslosigkeit, der Verfügbarkeit,<br />

der Unabgeschlossenheit, der Egalität, insbesondere<br />

aber die suggestive Rede von der Auflösung des Autors und der<br />

Überwindung des Dreiecks «Künstlerln – Werk – BetrachterIn»<br />

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266<br />

müssen mit Blick auf die im Feld der Netzkunst existierenden<br />

kulturellen Praktiken relativiert werden. Diese Sicht entspricht<br />

dem oben skizzierten Verständnis von Kunst als einem Ensemble<br />

von Methoden und einem Set von Praktiken und löst sich von der<br />

Vorstellung, Kunst als einen Gegenstandsbereich oder ein gesellschaftliches<br />

Teilsystem zu begreifen. Auch die ausschliesslich für<br />

den virtuellen Raum des WWW konzipierten künstlerischen Arbeiten,<br />

die von jedem an ein Netz angeschlossenen Rechner über<br />

einen Browser betrachtet und bearbeitet werden können, kommen<br />

nicht ohne soziale und kulturelle Netze aus. Kunst im Allgemeinen<br />

und Netzkunst im Besonderen entsteht in realen und/oder<br />

virtuellen, in individuellen und/oder kollektiven Räumen, immer<br />

aber in Netzen kreativer, diskursiver und sozialer, kurz kultureller<br />

Praktiken.<br />

3. «Kunst», «Netz» und visuelle Kultur<br />

Die intermediale Präsenz des Computers, die Dominanz des Visuellen<br />

hat den tendenziellen Bedeutungsverlust der Kunst insofern<br />

beschleunigt, als diese ihre lange Zeit unbestrittene Stellung in<br />

der Lenkung der visuellen Kultur verloren hat. Es ist jedoch gerade<br />

dieser marginalisiertere Status, welcher die Kunst vom Zwang<br />

der Darstellung und des Darstellens entlastet. In diesem Kontext<br />

kann sich eine selbstbewusste Kunst bzw. Medienkunst als Ort<br />

der Störung in einer nach einheitlichen Vorgaben synchronisierten,<br />

massenmedial inszenierten und hierarchisch strukturierten<br />

Kommunikations-, Wissens- und Informationsgesellschaft positionieren.<br />

Wie keine andere künstlerische Ausdrucksform zeigt<br />

die Netzkunst in aller Deutlichkeit, dass «keine Oberfläche mehr<br />

zu tragen oder gar auszudrücken vermag, was Kunst zu leisten<br />

hat, die sich den wirklichen Problemen – der Erkenntnis, des Handelns,<br />

des Bezugs zur Gesellschaft und der sie prägenden Medien<br />

– widmet». 26 Wenn wir Kunst als ein Dispositiv jenseits des<br />

Kunstbetriebs, als ein Ensemble von Methoden verstehen, die sich<br />

nicht mehr in der Erzeugung von Bildern materialisieren müssen,<br />

dann ist Kunst in den Worten Hans Ulrich Recks «eher ein Synonym<br />

für das nicht vollkommen Verständliche als ein Darstel-<br />

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267<br />

denkbar<br />

lungskörper für das durch sie sichtbar Gemachte. Sichtbarmachen<br />

ist ein Syndrom vehementer Gewalttätigkeit. Und mithin auch ein<br />

Triumph der Wahrnehmung gegen die Vorstellung, eine Zurücksetzung,<br />

Entmächtigung und Beleidigung der Imagination.» 27<br />

Gerade wenn man der keineswegs nur von Hans Ulrich Reck<br />

vertretenen These zustimmt, die Kunst habe «keine Prägkraft<br />

mehr für die ganze Kultur oder die Kultur als ganzer», muss<br />

man sich der Frage stellen, wie «Kultur» – und zumal «die ganze<br />

Kultur» – überhaupt konzipiert werden können. 28 Dies ist umso<br />

dringlicher, als der Kulturbegriff in den vergangenen 30 Jahren<br />

eine eigentliche diskursive Explosion erlebt hat und man heute angesichts<br />

der geradezu inflationären und mithin enervierenden Präsenz<br />

von «Kultur» in medialen, wissenschaftlichen, politischen<br />

und wirtschaftlichen Diskursfeldern an dessen Erkenntniskraft<br />

zu zweifeln beginnt. Deshalb sollen an dieser Stelle die in den<br />

Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 1960er Jahren eingetretenen<br />

Verschiebungen in der Konzeption von Kultur, die damit<br />

verbundene Erweiterung von Methoden und Fragestellungen und<br />

die Etablierung der Kulturwissenschaften wenigstens summarisch<br />

beleuchtet werden. 29<br />

Dabei gehe ich von drei grossen «Turns» aus, welche die jüngere<br />

Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften geprägt<br />

haben: der Linguistic Turn, der Cultural Turn und der Pictorial<br />

Turn. Im Folgenden sollen drei mit diesen Verschiebungen zusammenhängende<br />

Aspekte thematisiert werden, die für die Wahrnehmung<br />

und die Bedeutung von Kunst und der von ihr generierten<br />

Bilder, aber auch für die Konzeptionalisierung von Bildlichkeit<br />

und Medialität bedeutsam erscheinen.<br />

Die mit dem Begriff Linguistic Turn bezeichneten wissenschaftlichen<br />

Ansätze sind alle von einer grundsätzlichen Skepsis<br />

gegenüber der Vorstellung von Sprache als transparentem Medium<br />

zur Repräsentation von Wirklichkeit geprägt. Von Interesse<br />

sind hier insbesondere die in Anschluss an Michail Bachtin untersuchte<br />

Polyphonie und Dialogizität literarischer Texte und die<br />

im Anschluss an Michel Foucault analysierten Diskurse als die<br />

an Institutionen gebundenen Redeweisen, die gesellschaftliche<br />

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268<br />

Wissensbereiche repräsentieren und durch charakteristische Bedingungen,<br />

Regeln und Praktiken strukturiert werden. 30 Für die<br />

Bedeutung von Kunst, die Beschreibung ihrer Verfahren und die<br />

Diskussion ihrer Leistungen sind insbesondere die Konzepte der<br />

Intertextualität bzw. Intermedialität und das von Jürgen Link<br />

vorgeschlagene Konzept des Interdiskurses von Bedeutung. 31<br />

Der Fokus auf die manifesten, insbesondere aber auf die latenten<br />

Bezüge und Referenzen zwischen Texten bzw. Medien und die<br />

Bedeutung von Metaphern und Symbolen als «interdiskursive<br />

Sprachspiele» ist für das Verständnis der kreativen und diskursiven<br />

Praxis von Kunst und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ausgesprochen<br />

produktiv. 32 Am Beispiel von Sprachbildern wie dem<br />

Ballon hat Jürgen Link Literatur als Interdiskurs interpretiert, mit<br />

dem die zunehmende Diskursspezialisierung mindestens teilweise<br />

überwunden und die gesellschaftlich notwendige Reintegration<br />

von Fachdiskursen gefördert wird. In dieser Perspektive liesse sich<br />

Kunst als interdiskursive bzw. intermediale Praxis verstehen, die<br />

im Bereich der visuellen Kultur eine substanzielle Kommunikations-<br />

und Integrationsleistung erbringt (Abb. 3).<br />

Der sogenannte Pictorial Turn dürfte in den vergangenen Jahren<br />

die für die Produktion, Distribution und Interpretation von Bildern<br />

folgenreichste Wende gewesen sein. Die von der Entwicklung<br />

der Computertechnologie begünstigte «Rückkehr des Bildes in die<br />

Naturwissenschaften» hat tiefgreifende Folgen für die Bereiche<br />

Wissenserwerb, Wissensspeicherung, Wissensverteilung und Wissensvermittlung,<br />

insbesondere aber für den Status von Kunst in<br />

einer von den Bildern der Informationsmedien geprägten visuellen<br />

Kultur. 33<br />

An dieser Stelle interessiert nicht der Blick auf die kulturellen<br />

Konzepte, die bei den auf der Basis digitaler Daten operierenden<br />

Verfahren der Bildkonstruktion in den Technik- und Naturwissenschaften<br />

wirksam werden, sondern die Folgen dieser «Piktorialisierung».<br />

34 Diese für die visuelle Kultur prägende Zäsur hat die<br />

aus den Naturwissenschaften kommende Medienwissenschaft-<br />

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269<br />

denkbar<br />

Abb. 3:<br />

Eric J. Heller,<br />

Transport II, 2000,<br />

LightJet Digital Imager,<br />

in: Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.),<br />

Iconoclash: beyond the image wars in<br />

science, religion and art,<br />

Karlsruhe 20<strong>02</strong>, S. 310.<br />

lerin Lydia Andrea Hartel folgendermassen bewertet: «Wirklich<br />

revolutionär sind in den letzten Jahren vielleicht weniger die Bilder<br />

der Kunst, sondern die Bilder der Naturwissenschaften<br />

und die Präsenz dynamischer Bildcollagen in den<br />

Massen- und Informationsmedien.» 35 Man mag Vorbehalte gegen<br />

diese etwas apodiktisch anmutende Wertung haben, doch unstrittig<br />

ist, dass mit der massenhaften Verbreitung und Rezeption der<br />

Produkte dieser Piktorialisierung die Fragen nach dem Bildstatus,<br />

nach dem Gegenstandsbereich der Kunstwissenschaft und nach<br />

der Leistungsfähigkeit der Kunst neue Aktualität erhalten haben.<br />

Der Pictorial Turn zwingt uns, die gesellschaftliche Relevanz<br />

künstlerischer Bilder und die Frage nach dem Status von Kunst im<br />

Allgemeinen und Medienkunst im Besonderen neu und im Wortsinn<br />

radikaler zu denken. Wenn die Beschäftigung mit den Oberflächen<br />

der Bilder – unabhängig von deren Produktions-, Distributions-<br />

und Präsentationskontexten – keine Antworten mehr auf<br />

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270<br />

diese Fragen verspricht, müssen wir diese in den kreativen und<br />

diskursiven Praktiken von Kunst als Ort der Konstruktion von<br />

Bedeutung in der Differenz suchen.<br />

Bereits bevor der Pictorial Turn die Entwicklung der Kunstwissenschaft<br />

in Richtung der Bildwissenschaften gefördert hat,<br />

war es der sogenannte Cultural Turn, der die Geistes- und Sozialwissenschaften<br />

mit den Theoremen, Konzepten und Methoden<br />

der anglo-amerikanischen Cultural Studies erweitert und<br />

erneuert hat. 36 Am Schnittpunkt von Moderne und sogenannter<br />

Postmoderne ist die für die deutsche Wissenschaftsgeschichte so<br />

prägende Opposition gegen Geld, Technik und Medien brüchig<br />

geworden. Erst die Einsicht in die immer schon sprach- bzw. medienvermittelten<br />

Formen des Wahrnehmens, Denkens und Empfindens<br />

sowie in die experimentelle Offenheit symbolischer Formen,<br />

epistemologischer Erkenntnisstile und Deutungsmuster haben zu<br />

einer mittlerweile unhintergehbaren Pluralisierung und Kulturalisierung<br />

wissenschaftlicher Erkenntnis geführt. In diesem Kontext<br />

hat die Metapher vom Netz grosse Bedeutung. Diese geht auf den<br />

amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz zurück, der<br />

in den 1980er Jahren zum Vorreiter eines semiotischen Kulturbegriffs<br />

wurde. In seinem Standardwerk «Dichte Beschreibung»<br />

hat er den Kulturbegriff in Anschluss an Max Weber wie folgt<br />

konzipiert: «[...] der Mensch (ist) ein Wesen, das in selbstgesponnene<br />

Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses<br />

Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle<br />

Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende,<br />

die nach Bedeutungen sucht.» 37<br />

Das in diesem Standardwerk skizzierte Konzept von Kultur ist<br />

in der Folge als «das Netz von Bedeutungen, in das die Menschen<br />

eingesponnen sind», und als «Ensemble von Texten» rezipiert worden.<br />

38 An diesem semiotischen, oder präziser, an diesem hermeneutischen<br />

Kulturbegriff ist zu Recht kritisiert worden, dass dieser<br />

eine holistische und hegemonisierende Tendenz habe, kulturelle<br />

Praxis ausschliesslich über die Lektüre von Symbolen verstehen<br />

wolle und Kultur letztlich «auf Produkte, vollzogene Handlungen<br />

und realisierte Artefakte» reduziert werde. 39 Zudem ist darauf hin-<br />

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271<br />

denkbar<br />

gewiesen geworden, dass man überall Netze, aber keine Spinnen<br />

sehe: «Wer jedoch spinnt die Gewebe kultureller Bedeutungen<br />

Wer sind die Akteure Oder herrscht nur die andauernde Übersetzung<br />

von Handlungen in Zeichen, in Repräsentationen, Bilder<br />

und Geschichten, die sich verbreiten und vervielfältigen [...], ohne<br />

konkrete Handlungsträger» 40 Das im Anschluss an Geertz entwickelte<br />

Kulturkonzept ist in den vergangenen Jahren in Empirie<br />

und Theorie erprobt und erweitert worden. Zum einen sind die<br />

Akteurlnnen als handelnde, mitspinnende Subjekte einbezogen<br />

worden, zum anderen ist unter dem Einfluss der Foucault›schen<br />

Diskursanalyse die Dominanz hermeneutischer Verfahren hinterfragt<br />

und schliesslich ist dieses Konzept durch den stärkeren Einbezug<br />

nichttextueller Praktiken und konfliktueller Handlungen<br />

verfeinert und erweitert worden. 41 In dieser Form bietet der in der<br />

Metapher «Kultur als Netz» verdichtete Kulturbegriff eine produktive<br />

Grundlage für die Beschreibung und Interpretation der<br />

uns umgebenden, von uns mitgestalteten visuellen Kultur. Gerade<br />

mit Blick auf das hier interessierende Feld der Kunst besteht<br />

eine wichtige Qualität dieser Perspektive darin, das diese keine<br />

Grenzen zwischen Darstellungsweisen und Inhalten zieht und alle<br />

gesellschaftlichen Bereiche und sozialen Gruppen als kulturrelevante<br />

Faktoren einbezogen werden können.<br />

4. Kultur, Kunst und Differenz<br />

Auf dieser Grundlage möchte ich mich noch einmal der Leitfrage<br />

meiner Erkundungen zuwenden: Was leisten Kunst im Allgemeinen<br />

und Medienkunst im Speziellen Diese Frage soll abschliessend<br />

am Beispiel der im Jahre 20<strong>02</strong> am Zentrum für Kunst und<br />

Medientechnologie Karlsruhe gezeigten Ausstellung «Iconoclash.<br />

Jenseits der Bilderkriege in Wissenschaft und Kunst» diskutiert<br />

werden. 42 Diese Präsentation lässt sich als visuelles Archiv für<br />

die dynamischen Bedeutungsnetze der visuellen Kultur lesen. Die<br />

dort versammelten Zeichen und Bilder vom Mittelalter bis in die<br />

Gegenwart zeigten die an der Bilderproduktion beteiligten Akteurinnen<br />

und ihre Schöpfungsleistungen. Die Bedeutungen dieser<br />

Werke wurden in diesem Rahmen im Kontext von religiös, po-<br />

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272<br />

litisch, wissenschaftlich oder künstlerisch motivierten Praktiken<br />

und Diskursen, insbesondere aber im Akt der Bilderzerstörung<br />

beleuchtet. In dieser Perspektive nähern sich Zerstörungs- und<br />

Schöpfungsgesten in einer auf den ersten Blick irritierenden Weise<br />

an. Für den Bereich der zeitgenössischen Kunst kommt Bruno Latour<br />

denn auch zu folgendem Fazit: «Je mehr die Kunst zu einem<br />

Synonym für die Zerstörung von Kunst geworden ist, desto mehr<br />

Kunst wurde produziert, bewertet, besprochen, gekauft und verkauft<br />

und, ja auch, verehrt. Es wurden neue Bilder produziert,<br />

so mächtig, dass es unmöglich ist, sie zu kaufen, zu berühren, zu<br />

verbrennen, zu reparieren, ja zu transportieren. Und so sind noch<br />

mehr Iconoclashs erzeugt worden ... Eine Art » 43 (Abb. 4 und Farbtafel 11).<br />

Der Blick auf die zeitgenössische künstlerische Produktion an<br />

den Schnittstellen von Kunst, Design, Wissenschaft und Wirtschaft<br />

bestätigt die paradoxe Beobachtung von der schöpferischen<br />

Zerstörung oder zerstörerischen Schöpfung von Kunst. Nicht nur<br />

die religiös, ökonomisch, politisch oder kulturell motivierten Akte<br />

materieller Zerstörung, sondern auch der Transfer künstlerischer<br />

Ausdrucksformen in andere gesellschaftliche Wert- und ökonomische<br />

Verwertungszusammenhänge lässt sich als verlustreicher<br />

und zugleich produktiver Prozess verstehen. Wenn wir kulturelle<br />

bzw. künstlerische Ausdrucksformen als Bedeutungsnetze verstehen,<br />

innerhalb deren sich Kommunikation und soziales Handeln<br />

vollziehen, sollten wir nicht nur die Kontextabhängigkeit von<br />

Ausdrucksformen und Symbolen postulieren. Auch die Eingebundenheit<br />

der materiellen Artefakte in pragmatische Zusammenhänge<br />

und Handlungsverläufe, seien diese nun sakral-künstlerischer,<br />

politisch-repräsentativer, funktional-ökonomischer Herkunft oder<br />

alltäglich-weltlicher Art, gilt es verstärkt zu beachten. In diesem<br />

offenen und dynamischen Verständnis von Kunst und Kultur hat<br />

es weder Platz für die kulturpessimistische Klage vom Verlust der<br />

Bilder und vom Zwang zur Sichtbarkeit noch für die naive Euphorie<br />

von der Visibilität und der grenzenlosen Partizipation an der<br />

Produktion und Distribution von Bildern.<br />

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273<br />

denkbar<br />

Abb. 4:<br />

Michel Jaffrennou (mit<br />

A. Gräper), This is not a<br />

picture, 20<strong>02</strong>, mixmedia,<br />

in: Latour, Bruno/Weibel,<br />

Peter (Hg.), Iconoclash:<br />

beyond the image wars in<br />

science, religion and art,<br />

Karlsruhe 20<strong>02</strong>, S. 480f.<br />

Kunst als ein Dispositiv jenseits des Kunstbetriebes, als ein Ensemble<br />

von Methoden, Praktiken und Prozessen kann nicht mehr<br />

prägende Zentralkraft des Visuellen sein. Kunst im Allgemeinen<br />

und die hybride Netzkunst im Besonderen lassen sich in dieser<br />

Perspektive nicht mehr konsistent definieren. Vielmehr gilt es,<br />

Kunst und Netzkunst als künstlerische Praktiken zu verstehen,<br />

die in einer visualisierten, massenmedial inszenierten und normativ<br />

strukturierten Gesellschaft Differenz wagen. 44 In diesem<br />

«Triumph der eigenen Marginalität» kann sich Kunst dann mit<br />

verschiedenen Künsten, Stilen, Lebensformen und mit Alltag verbinden.<br />

45 Ihre Leistung in diesen Verbindungen besteht in Kommentar,<br />

Störung und Zuspitzung, in Unbestimmtheit, Irritation<br />

und Konflikt. Diese Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft<br />

hat Hans Ulrich Reck pointiert charakterisiert: «Kunst<br />

wird künftig etwas sein [...], das mit den Formationskräften der<br />

Gesellschaft, aber auch den Energieschüben von Wissenschaft<br />

und Technologie nicht mehr kooperativ, sondern allenfalls in Gestalt<br />

von Konflikten verbunden ist.» 46 Recks Aufsatz ist jedoch –<br />

nicht nur an dieser Stelle – von holistischen, dichotomischen und<br />

zentristischen Konzepten wie «die ganze Kultur», «Oben versus<br />

Unten» oder «Zentrum versus Peripherie» geprägt, die in einem<br />

eigentlichen Spannungsverhältnis zu seinem Plädoyer für eine<br />

prozessorientierte, offene Kunst der Differenzen und der Differenzierungen<br />

stehen. 47 Gerade weil man dieser vom Denken der<br />

Moderne imprägnierten Diagnose und Prognose nicht vorbehalt-<br />

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274<br />

los zustimmen kann, sollte sich jede deskriptive und interpretative<br />

Annäherung an die zeitgenössische Medien- und Netzkunst der<br />

mühsamen Aufgabe einer dichten Beschreibung stellen, die ohne<br />

fertige Konzepte und Begriffe letztlich immer nur vorläufige Deutungen<br />

anbieten kann.<br />

Am Ende dieser Erkundungen im Netz der visuellen Kultur soll<br />

deshalb der Kulturphilosoph Georg Simmel zu Wort kommen, der<br />

sich bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert scharfsinnig und<br />

eklektizistisch zugleich mit Fragen der Ästhetik, der Produktion,<br />

Distribution und Rezeption von Kunst, Gestaltung und Kultur beschäftigt<br />

hat. 48 In seinem «Kulturmodell» wird Kultur bzw. Kunst<br />

als produktiver und zugleich verlustreicher Prozess verstanden, in<br />

dem Kultur ihre Objekte unablässig neu erschaffen muss, nur um<br />

diese sogleich wieder an andere Verwertungszusammenhänge zu<br />

verlieren: «Damit aber erscheint Kultur eingebunden in die stetige<br />

Notwendigkeit, über sich selbst nachzudenken, indem sie aus<br />

der Fremdverwertung ihrer selbst Anstösse für die Konstruktion<br />

neuer Objekte gewinnt.» 49 In dieser produktiven, verlustreichen,<br />

reflexiven und radikalen Arbeit am Erhalt von Widerständigkeit<br />

und Konflikthaftigkeit könnte in letzter Konsequenz die fundamentale<br />

gesellschaftliche Leistung von Kunst als Ort von Differenzierung,<br />

Differenz und Unbestimmtheit bestehen. Diesem Profil<br />

der Kunst nach ihrer «Aus-Rahmung» (Hans Belting) sollte<br />

auch das Reden und Schreiben über Kunst gerecht werden. Das<br />

Reflektieren über Kunst im Medium der Sprache sollte deshalb<br />

nicht nur disziplinäre Grenzen überwinden und eine angemessene<br />

Begrifflichkeit entwickeln. Dieser Diskurs muss insbesondere eine<br />

sorgfältige und selbst-bewusste Bewegung der Annäherung an einen<br />

Gegenstand vollziehen, der nicht in eindeutige Rahmen passt:<br />

Kunst.<br />

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275<br />

denkbar<br />

Thomas Sieber, Kulturwissenschaftler und Kulturvermittler, ist Dozent und Mitglied des Leitungsteams<br />

des Master-Studiengangs Art Education am Departement Kulturanalysen und -Vermittlung der Zürcher<br />

Hochschule der Künste ZHdK. Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik an den Universitäten<br />

Hamburg und Basel (lic. phil. I) und an der Pädagogischen Hochschule Basel (DHL) arbeitete er als Leiter<br />

Bildung & Vermittlung am Historischen Museum Basel und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität<br />

Basel (1998–2001), als Leiter Weiterbildung und Entwicklung an der Hochschule für Gestaltung<br />

und Kunst HGK Basel (2001-2003), als Kurator und Mitglied der Projektleitung Neues Landesmuseum<br />

am Schweizerischen Landesmuseum Zürich (2003–2005) und als Leiter des Departements Lehrberufe für<br />

Gestaltung und Kunst der HGK Zürich (2005–2007).<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Für die präzise Lektüre des Manuskripts und wertvolle Anmerkungen danke ich Mirjam<br />

Beerli und Ursula Sinnreich.<br />

2<br />

Für einen Überblick über die Anfänge der Videokunst in Deutschland vgl. Herzogenrath,<br />

Wulf (Hg.), Videokunst in Deutschland 1963-1982. Videobänder, Installationen, Objekte,<br />

Performances, Dokumentation zur Ausstellung im Kölnischen Kunstverein u.a., Stuttgart<br />

1982.<br />

3<br />

Zum Medienbegriff McLuhans siehe McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle. «Understanding<br />

Media», Düsseldorf/Wien 1968. Einen guten Überblick über Theoreme und Begriffe<br />

bieten Baltes, Martin u.a. (Hg.), Medien verstehen. Der McLuhan-Reader, Mannheim 1997.<br />

4<br />

Vgl. dazu und zum Folgenden a. die Beiträge von René Pulfer und Alexandra Stäheli sowie<br />

von Irene Schubiger in SchnittStellen. Basler Beiträge zur Medienwissenschaft, Schade Sigrid,<br />

Sieber Thomas, Tholen Georg Christoph (Hg.), 2005, Basel.<br />

5<br />

Vgl. dazu Belting, Hans, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren,<br />

München 1995,v.a. S. 87-103 u. S. 164-171.<br />

6<br />

Belting, a.a.O. [Anm. 5], S. 8.<br />

7<br />

Belting, a.a.O. [Anm. 5], S. 166.<br />

8<br />

Stocker, Gerfried, «Takeover. About the thing formerly known as art», in: ders./ Schöpf,<br />

Christine (Hg.), Takeover. Who›s doing the art of tomorrow. Ars Electronica 2001, Wien/<br />

New York 2001, S. 17-20, hier S. 19.<br />

9<br />

Stocker, a.a.O. [Anm. 8], S. 19f.<br />

10<br />

Brandes, Uta, Design ist keine Kunst. Kulturelle und technologische Implikationen der<br />

Formgebung, Regensburg 1998, S. 8-11, hier S. 9.<br />

11<br />

Vgl. dazu Brandes, a.a.O. [Anm. 10], v.a. S. 46-73.<br />

<strong>12</strong><br />

Brandes, a.a.O. [Anm. 10], S. 9.<br />

13<br />

Brandes, a.a.O. [Anm. 10], S. 72.<br />

<strong>14</strong><br />

Bürdek, Berhand E., «Design. Von der Formgebung zur Sinngebung», in: Zurstiege, Guido/<br />

Schmidt, Siegfried J. (Hg.), Werbung, Mode und Design, Wiesbaden 2001, S. 183-196, hier<br />

S. 189.<br />

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276<br />

15<br />

Vgl. dazu insbesondere die Essays von Okwiu Enwezor und Ute Meta Bauer im Katalog zur<br />

Documenta 11: Documenta 11 Plattform 5: Ausstellung. Katalog, Ostfildern-Ruit 20<strong>02</strong>, S.<br />

42-55 u. S. 103-106.<br />

16<br />

Bürdek, a.a.O. [Anm. <strong>14</strong>], S. 189.<br />

17<br />

Dieser Aufgabe stellt sich auch der an der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGK)<br />

Basel angebotene interdisziplinäre Nachdiplom-Studiengang «Executive Master in Design |<br />

Art + Innovation», in dessen Zentrum die Erscheinungsformen, Bedingungen, Dynamiken und<br />

Strategien des Neuen an den Schnittstellen von Design und Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft<br />

und Gesellschaft stehen.<br />

18<br />

Mäckler, Andreas (Hg.), <strong>14</strong>60 Antworten auf die Frage: was ist Kunst, Köln 2000.<br />

19<br />

Für einen Überblick zum weiten Feld von Netzkunst und Netzkultur vgl. Rötzer, Florian,<br />

Digitale Weltentwürfe. Streifzüge durch die Netzkultur, München 1998; Baumgärtel, Tilmann,<br />

[net.art]. Materialien zur Netzkunst, Nürnberg 1999; Schade, Sigrid / Tholen, Georg<br />

Christoph (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999; Hemken,<br />

Kai-Uwe (Hg.), Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik, Köln 2000; Storz, Reinhard/Herzog,<br />

Samuel, Und ständig die Frage: Ist es denn Kunst Netzkunst - Versuch einer<br />

Positionsbestimmung im Ortlosen, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 131, 9./10.Juni 2001, S. 85.<br />

20<br />

Baumgärtel unterscheidet zwischen «Netz-Werken» als Bezeichnung für Kunstwerke, die<br />

für das und im WWW realisiert werden, und «Netzwerken» als Bezeichnung für Projekte<br />

zur Förderung des Informationsaustausches und der Kollaboration mit Hilfe des Internets;<br />

vgl. Baumgärtel, a.a.O. [Anm. 19], S. 15f. Für Beispiele künstlerischer Netzprojekte und die<br />

entsprechenden Internetadressen siehe Baumgärtel, a.a.O. [Anm. 19], S. 166ff., u. Schiesser,<br />

Giaco, «Kategorisierung von Netzkunst - exemplarische Beispiele», unter: www.xcult.ch/<br />

texte/schiesser/netzkunst.html.<br />

21<br />

vgl. dazu Huber, Hans Dieter, «Digging the Net. Materialien zu einer Geschichte der Kunst<br />

im Netz», in: Hemken, Kai-Uwe (Hg.), Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik,<br />

Köln 2000, 5. 158-174. Die von Huber ebenfalls diskutierten «produktionsorientierter<br />

Ansatz» und «werkorientierte Ansätze» sind stärker in der Tradition der Kunstgeschichte und<br />

ihren Methoden verankert und werden den charakteristischen Merkmalen des WWW und der<br />

«net.art» nicht gerecht.<br />

22<br />

Zu den Kategorien und für Beispiele von Projekten siehe Huber, a.a.O. [Anm. 21], S.<br />

166-170; Schiesser, a.a.O. [Anm. 20]. Siehe dazu auch den Beitrag in Schnittstellen vom ClimaxTeam<br />

(Margarete Jahrmann, Max Moswitzer und F. E. Rakuschan), dessen Netzkunst-<br />

Projekt «nybble-engine-toolZ» an der Ars Electronica 2003 in der Kategorie «Interactive Art»<br />

ausgezeichnet worden ist.<br />

23<br />

Blais, Joline/Ippoliti, Jon, «Wie man Kunst immer am falschen Ort sucht», in: Stocker,<br />

Gerfried/Schopf, Christine (Hg.), Takeover. Who›s doing the art of tomorrow. Ars Electronica<br />

2001, Wien/New York 2001, S. 34-39, hier S. 34.<br />

24<br />

Schweizer Kunst Nr. 1/20<strong>02</strong>, hg. v. Visarte. Berufsverband visuelle Kunst Schweiz, Zürich<br />

20<strong>02</strong>, S.2.<br />

25<br />

Vgl. Koch, Rafael/Muntwyler, Raphael, How to Build a Network, in: Schweizer Kunst,<br />

a.a.O. [Anm. 24], S. 3-8. Siehe dazu a. Abb. 2.<br />

Die von der HGK Basel konzipierte Sektion «Medien - Kunst - Performanz» im Rahmen<br />

des Kongresses «SchnittStellen. 1. Basler Kongress für Medienwissenschaft» hat denn auch<br />

Gastrecht in den Räumen des [plug.in] bekommen. Diese Sektion versammelte die im Band<br />

SchnittStellen als Aufsätze publizierten Beiträge von Verena Formanek, vom Climax-Team<br />

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277<br />

denkbar<br />

(Margarete Jahrmann, Max Moswitzer und F. E. Rakuschan), von Sibylle Omlin und Thomas<br />

Sieber, von René Pulfer und Alexandra Stäheli, von Irene Schubiger sowie die im Medium der<br />

Schrift leider nicht repräsentierbare Performance «Medium - Body - Art» von Muda Mathis,<br />

Andrea Saemann und Sus Zwick. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle nochmals herzlich für<br />

die gute Zusammenarbeit im Zeichen gelebter Netzwerke gedankt.<br />

26<br />

Reck, Hans Ulrich, «Zwischen Bild und Medium. Zur Ausbildung der Künstler in der Epoche<br />

der Techno-Ästhetik», in: Weibel, Peter (Hg.), Vom Tafelbild zum globalen Datenraum.<br />

Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren, Ostfildern-Ruit 2001,<br />

S. 17-50, hier S. 40.<br />

27<br />

Reck, a.a.O. [Anm. 26], S. 48.<br />

28<br />

Reck, a.a.O. [Anm. 26], S. 46.<br />

29<br />

Für einen Überblick zu Geschichte und Fragestellungen der Kulturwissenschaften vgl.<br />

Bachmann-Medick, Doris (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der<br />

Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1998; Lutter, Christina/ Reisenleitner, Markus,<br />

Cultural Studies. Eine Einführung, Wien 1998; Hall, Stuart, Cultural studies: ein politisches<br />

Theorieprojekt, Hamburg 2000.<br />

30<br />

Vgl. dazu Bachtin, Michail, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt am Main 1979; Foucault,<br />

Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am<br />

Main 1974, v.a. S. 413-462.<br />

31<br />

Vgl. dazu Link, Jürgen, «Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des<br />

Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik», in: Fohrmann, Jürgen/Müller,<br />

Harro (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1988, S.<br />

284-307; Lachmann, Renate, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen<br />

Moderne, Frankfurt am Main 1990; Helbig, Jörg (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis<br />

eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998; Tholen, Georg Christoph, Die Zäsur<br />

der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main 20<strong>02</strong>, v.a. S. 43-60 u. S.<br />

197-203.<br />

32<br />

Link, a.a.O. [Anm. 31], S. 288; vgl. dazu auch den Beitrag von Sibylle Omlin im Band<br />

SchnittStellen.<br />

33<br />

Weibel, Peter, «Neue Berufsfelder der Bildproduktion. Wissensmanagement vom künstlerischen<br />

Tafelbild zu den bildgebenden Verfahren der Wissenschaft», in: ders. (Hg.), Vom<br />

Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender<br />

Verfahren, Ostfildern-Ruit 2001, S. 8-10, hier S. 9.<br />

34<br />

Für einen Überblick über die interdisziplinäre Diskussion dieser Fragen siehe Heintz, Bettina/Huber,<br />

Jörg (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen<br />

und virtuellen Welten, Zürich 2001. Zu den Differenzen und Interferenzen zwischen<br />

Wissenschaft und Kunst vgl. a. Kemp, Martin, Bildwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher<br />

Phänomene, Köln 2003. Siehe dazu a. Abb. 3, die ein Bild des Physikers und<br />

Künstlers Eric J. Heller zeigt, das Bewegungen von Elektronen repräsentiert und dem Bereich<br />

«Art of Physics - Physics of Art» zugeordnet werden kann.<br />

35<br />

Hartel, Lydia Andrea, «Die Verkörperung des Unsichtbaren. Vom Analphabetismus beim<br />

Bilderlesen», in: Weibel, Peter (Hg.), Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten<br />

der Bildproduktion und bildgebender Verfahren, Ostfildern-Ruit 2001, S. 51-75, hier<br />

S.71.<br />

36<br />

Siehe dazu die in Anmerkung 29 genannte Literatur.<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>


278<br />

37 Geertz, Clifford, «Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur«, in: ders., Dichte<br />

Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, S. 7-43,<br />

hier S. 9.<br />

38<br />

Bachmann-Medick, Doris, «Kulturen: ein Sprengstoff für die Kulturwissenschaften in Ann Arbor, Michigan (USA)», in: Historische Anthropologie. Kultur,<br />

Gesellschaft, Alltag, 9/1 (2001), S. 158-164, hier S. 162; Algazi, Gadi, «Kulturkult und die<br />

Rekonstruktion von Handlungsrepertoires», in: L›Homme. Zeitschrift für Feministische<br />

Geschichtswissenschaft, 11/1 (2000), S. 105-119, hier S. 107.<br />

39<br />

Algazi, a.a.O. [Anm. 38], S. 111.<br />

40<br />

Bachmann-Medick, a.a.O. [Anm. 38], S. 162.<br />

41<br />

Vgl. dazu insbesondere die Überlegungen bei Algazi, a.a.O. [Anm. 38], v.a. S. 111-419.<br />

42<br />

Vgl. dazu den Ausstellungskatalog von Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.), Iconoclash:<br />

beyond the image wars in science, religion and art, Karlsruhe 20<strong>02</strong>. Vgl. dazu a. Abb. 1<br />

und Abb. 4, die Werke von Michel Jaffrennou zeigen und in dieser Publikation kommentiert<br />

werden: Jaffrennou, Michel, «Ceci n›est plus une image!», in: LatourlWeibel, a.a.O. [Anm.<br />

42], S.479-482.<br />

43<br />

Latour, Bruno, Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkriegs, Berlin 20<strong>02</strong>, S. 28f.<br />

44<br />

Vgl. dazu a. die zur Ars Electronica 2003 erschienene Publikation mit zahlreichen Beiträgen<br />

zu den charakteristischen Merkmalen einer digitalen Medienkunst und ihren Schnittstellen<br />

mit den Bereichen Technologie und Gesellschaft, v.a. Stocker, Gerfried, Code. The Language<br />

of Our Time, in: ders. /Schöpf, Christine (Hg.), Ars Electronica 2003. Code: The Language of<br />

Our Time, Ostfildern-Ruit 2003, S. 10-13.<br />

45<br />

Reck, a.a.O. [Anm. 26], S. 49.<br />

46<br />

Reck, a.a.O. [Anm. 26], S. 46.<br />

47<br />

Anzumerken - und eingehender zu thematisieren - bliebe, dass sich diese Konzepte an der<br />

Textoberfläche auch in einer von Kampfmetaphern durchzogenen Sprache manifestieren.<br />

48<br />

Zu Simmels «Kulturbegriff « siehe v.a. Simmel, Georg, «Der Begriff und die Tragödie der<br />

modernen Kultur» u. «Der Konflikt in der modernen Kultur», beide in: ders., Das individuelle<br />

Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. u. eingeleitet von Michael Landmann, Neuauflage mit<br />

einem Nachwort v. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1987, S. 116-<strong>14</strong>7 u. S. <strong>14</strong>8-<br />

173.<br />

49<br />

Müller, Achatz von, «Nur Krieg und Care-Pakete - das kann doch nicht alles sein», in:<br />

Basler Zeitung Nr. 263, 10./1l. November 2001, S. 41f.<br />

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279<br />

denkbar<br />

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281<br />

denkbar<br />

6<br />

Eva Sturm<br />

Kapitel aus dem Buch «Im Engpass der Worte»<br />

Die Artikulation der Werke<br />

AM ANFANG WAR DAS WORT AM.<br />

(Timm Ulrichs) 1<br />

UNORT SPRACHE<br />

Das zweifache Tableau<br />

Die Beispiele, welche Michel Foucault (1971) in seiner «Ordnung<br />

der Dinge» gibt, um zu demonstrieren, wie sich im sprachlichen<br />

Raum, Teile von Welt in absurden Ordnungen wiederfinden können,<br />

hören sich an wie die Register wunderlicher Museumssammlungen.<br />

Borges zum Beispiel, fand in einer chinesischen Enzyklopädie<br />

2 eine Ordnung der Tiere wie folgt: «a) Tiere, die dem Kaiser<br />

gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine,<br />

e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde» (Foucault 1971,<br />

17). Wo, fragt Foucault, könnten sich diese Tiere treffen, wenn<br />

nicht in der Sprache, auf einer Buchseite oder im Mund eines Sprechers.<br />

Sprache ist in diesem Sinn nichts anderes als eine Unterlage,<br />

so Foucault, welche «dem Denken gestattet, eine Ordnungsarbeit<br />

... vorzunehmen, eine Aufteilung in Klassen, eine namentliche<br />

Gruppierung, durch die ihre Ähnlichkeiten und ihre Unterschiede<br />

bezeichnet werden» (Foucault 1971, 19). Die chinesische Enzyklopädie<br />

macht deutlich, wie instabil die Verhältnisse zwischen<br />

den Dingen und ihren Bedeutungen sind. «Nichts ist tastender,<br />

nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung<br />

einer Ordnung unter den Dingen. ... Die Ordnung ist zugleich<br />

das, was sich in den Dingen als ihr innerstes Gesetz, als ihr<br />

geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle<br />

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betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer<br />

Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert.» (Foucault 1971, 22) 3<br />

Ob sich die Tiere aus der chinesischen Enzyklopädie tatsächlich<br />

auch an einem realen Ort wie dem Museum hätten treffen<br />

können, ist nicht auszuschließen. Ihre Aufzählung könnte auch<br />

umgekehrt das Inventar einer Wunderkammer, einer wunderlichen<br />

Naturschau oder eines der «Künstlermuseen» des 20. Jahrhunderts<br />

sein 4 . Man könnte sogar annehmen, daß sich zwar nicht<br />

diese, aber durchaus ähnlich strukturierte Sammlungen mit vertrauteren<br />

Dingen auch in Museen der Neuzeit und der Moderne<br />

finden lassen. Dann gäbe es nicht nur, wie in Borges’ Entdeckung,<br />

die Worte, sondern zu diesen auch Dinge einer realen Sammlung.<br />

Angenommen, die wunderliche Tiersammlung würde tatsächlich<br />

nicht nur in der Sprache und in der Imagination existieren,<br />

sondern irgendwo an einem wirklichen Ort, dann würde sie zumindest<br />

auf doppelte Weise, als zwei faches Da-Sein, existieren.<br />

Jedes ihrer Teile wäre gleichzeitig ein reales und ein sprachliches<br />

Objekt: Ding / Tier und Name.<br />

Abb. 3:<br />

Tier und Wort- der Traum von der<br />

Deckungsgleichheit<br />

«Der Kuckuck (Cuculus canorus) das<br />

einzige Lebewesen, das ausschließlich<br />

den eigenen Namen besingt Timm<br />

Ulrichs, 1968<br />

Ein Kunst-/ Museum ist demnach so etwas wie der Seziertisch,<br />

auf dem die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm<br />

stattfinden kann 5 . Würde auch diese Szene, wie die Tier-<br />

Sammlung, nicht nur in der Literatur, sondern real existieren,<br />

so wäre der Seziertisch gleichzeitig ein architektonisches Gestell<br />

und ein Wort 6 . Er stünde mit seinen Beinen in der Wirklichkeit,<br />

wäre die materielle, tragende, waagrechte Unterlage für zwei<br />

andere Objekte und das diskursive Plateau für die Begegnung<br />

zweier Worte: Die Begriffe Nähmaschine und Regenschirm tre-<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 282<br />

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283<br />

denkbar<br />

ten mit dem Begriff Seziertisch in eine sprachlich-literarische<br />

Beziehung.<br />

Das Nebeneinander der Welt in dieser Weise ist jedoch zu normal,<br />

um bewußt zu werden. Man tritt den Dingen und Teilen körperlich<br />

gegenüber und ist gleichzeitig immer schon unterwegs zu<br />

Worten, um sie zu benennen. Der Übergang vom Ding zum Wort<br />

ist dabei wie ein Sprung von einer Ebene auf eine andere, von<br />

einem realen Raum in einen anderen, sprachlichen Raum, welcher<br />

selbstredend weit über das Kunst-/ Museum hinausgeht. Der<br />

sprachliche Raum, ist – so gesehen – eigentlich ein Unort, denn<br />

Sprache ist immer so etwas wie ortlos, d.h. Raum und Zeit überschreitend,<br />

«dort, wo seit fernsten Zeiten die Sprache sich mit dem<br />

Raum kreuzt» (Foucault 1971, 19).<br />

Jacques Lacan nennt diesen Un-Ort, der Sprache ist, das große<br />

Andere oder «das Symbolische». In der Tradition von Saussure<br />

und Freud 7 denkend, deutet er Sprache als alles durchdringende<br />

Struktur. Kultur, d.h. auch Institutionen wie das Kunst-/ Museum<br />

und natürlich das ganze künstlerische Feld, gibt es nur, weil es<br />

Sprache gibt. Die Ordnung auf dem zweifachen Tableau ist eine<br />

sprachliche und das Tableau basiert auf einer bzw. existiert erst<br />

aufgrund seiner sprachlichen Struktur. Dies meint nicht, außer<br />

Sprache würde es nichts geben. Regenschirm und Nähmaschine<br />

als real existierende Gegenstände liefern den Beweis dafür. Es besagt<br />

allerdings – und dies ist nicht unerheblich –, daß es die beiden<br />

eigentlich erst gibt, wenn sie benannt sind, d.h. wenn sie in die<br />

Ordnung der Sprache aufgenommen wurden. «Es ist vielmehr die<br />

Welt der Worte, die die Welt der Dinge schafft – die zuerst im hic<br />

et nunc eines werdenden Ganzen ununterscheidbar sind – indem<br />

sie ihrem Wesen konkretes Sein verleiht und ihrem Immerseienden<br />

überall seinen Platz zuweist.» (Lacan 1953, 117)<br />

In diesem Sinn sind alle unsere Beziehungen zur Wirklichkeit<br />

symbolisch und das heißt sprachlich strukturiert. «Die Macht<br />

die Objekte zu benennen, strukturiert die Wahrnehmung selbst.»<br />

(Lacan 1954-1955, 217) Der Satz des Künstlers Lawrence Weiner:<br />

«Ohne Sprache könnten sie meinen Bart nicht einmal sehen.»<br />

(Weiner zit.nach Ruhs 1994, 33), läßt sich eins zu eins auf den Se-<br />

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284<br />

ziertisch und alle im Kunst-/Museum befindlichen Objekte übertragen:<br />

Ohne Sprache könnten sie die Begegnung von Nähmaschine<br />

und Regenschirm auf dem Seziertisch nicht einmal sehen.<br />

Die Worte machen die Szene erst als solche sichtbar. 8 Wer einen<br />

Schnurrbart, einen Regenschirm und eine Nähmaschine nicht<br />

sagen kann, erkennt sie nicht als solche. 9 Was dennoch wahrgenommen<br />

wird, kann man nicht sagen. Und sagt man es doch, so<br />

ist es wieder aus Sprache gebaut. 10 In diesem Sinn formt und differenziert<br />

erst das Wort die Welt. Es macht sichtbar, indem es<br />

ununterbrochen benennend ordnet. Und es macht unsichtbar, weil<br />

es ordnend verdeckt, was es benennt.<br />

Versuchte Vereinnahmung<br />

Die Künstlerin Andrea Fraser hatte sich als institutionalisierte<br />

Sprecherin Jane selbst zum «Ort der Sprache» (Fraser 1994) –<br />

mit Foucault hätte sie sagen müssen, zum «Urort der Sprache»<br />

– gemacht. Sie agierte in dieser Weise selbst wie eine Bühne, wie<br />

ein Tableau, auf dem sich die verschiedensten, teilweise ganz unvereinbaren<br />

Diskursfragmente in einer neuen Ordnung kreuzten.<br />

Indem sie zum Beispiel die realen Teile eines Kunstmuseums, wie<br />

seine Objekte, seine Toiletten, seine Aussicht etc. besprach oder<br />

neben ihnen herredete, 11 unterlegte sie diese und den Rahmen Museum<br />

mit einem Text, gab den Teilen von Welt auf dem Tableau<br />

einen (ihren) diskursiven Abdruck, rückte sie in verschiedenste<br />

Ordnungen ein, und produzierte dadurch Sichtbarkeiten.<br />

Was aber im zweifachen Tableau Kunst-/ Museum – zumindest<br />

seinen Versprechungen gemäß – gewöhnlich zusammengeredet<br />

wird und daher als zusammengehörig wahrgenommen werden<br />

soll, was normalerweise zur unzertrennlichen Einheit erklärt<br />

und im Wort zur Deckung gebracht werden will, was permanent<br />

aneinander bewiesen und als logisch, ästhetisch, historisch<br />

oder sonstwie zusammenhängend einsichtig gemacht wird, riß<br />

sie sprechend auseinander, ließ es nebeneinandertreten. Durch<br />

das Aufsagen von Texten, die im herkömmlichen Sinn nicht zu<br />

den Sichtbarkeiten passten und gewöhnlich an anderen Orten zu<br />

Ohr gebracht werden, isolierte sie die Teile voneinander, machte<br />

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285<br />

denkbar<br />

die beiden Ebenen des Tableaus als unabhängige, aber untrennbar<br />

miteinander verquickte Schauplätze sichtbar. Sie redete den<br />

Ort Kunst-/ Museum zu einer befremdlichen chinesischen Enzyklopädie,<br />

zu einer absurden und machtvollen Zone der Ordnung<br />

von Welt durch den Diskurs. Sie zeigte das Kunst-/ Museum als<br />

Raum, der durch die Konstruktion verschiedenster Ordnungssysteme<br />

ununterbrochen bedeuten und vorzeigen will, «Wie zu sehen<br />

ist» (Fliedl 1995). Machtvolles Arrangement.<br />

Abb 4, Abb 5:<br />

Die Institution durchkreuzt real und diskursiv die Körper der Subjekte ebenso wie<br />

deren Träume und Phantasien. Wer vereinnahmt hier wen «Ort loan from the museum<br />

in us.» («Leihgaben aus dem Museum in uns»). Hubbard & Blrchler, Installation im<br />

Offenen Kulturhaus, Linz, 1993 2 Glasvitrinen, je 230 x 185 x 160 cm. Gips, Papiermaché,<br />

Pigment, Glasaugen, Haar ausgestopfte Tiere diverse Insektensammlungen,<br />

künstliche Pflanzen, Glas, Holz Eisen. Der Kommentar der beiden Künstler zu ihrer Arbeit:<br />

«Authenticity Is not about factuallty or reallty lt is about authorlty. Objects have<br />

no authorlty, people do» In den Vitrinen befinden sich Doubles des Künstlerpaares,<br />

umgeben von Tieren aus dem O.Ö,Landesmuseum<br />

Frasers künstlerische Strategie ist eine von vielen möglichen Antworten<br />

auf den Ort Kunst-/ Museum als Zone, in der die realen<br />

Dinge, Teile, Spuren, Reste, Objekte, die künstlerischen Äußerungen<br />

permanent mit Diskursen unterlegt und von diesen durchkreuzt<br />

werden. Dieses Unterlegen und Durchkreuzen stellt sich<br />

in jedem Fall – und dies ist die vielbeklagte Ambivalenz an der<br />

Sache – als gewaltsame Maßnahme dar. Die Ordnung der Dinge /<br />

der Diskurse macht sichtbar, was er benennend zeigt und unsichtbar,<br />

was er verschweigend verdeckt oder ausschließt. «Was Sie hier<br />

sehen, ist Kunst.», sagt zum Beispiel das Kunst-/ Museum – als<br />

reales und architektonisches Zeichen-Arrangement und als Text.<br />

Und man wird es früher oder später, vielleicht skeptisch, aber den-<br />

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noch mit einem Rest an Respekt, als (gute oder schlechte) Kunst<br />

hinnehmen. Der diskursive Akt formt sich unmittelbar zum Wahrnehmungs-<br />

<strong>12</strong> und zum Verhaltensprogramm, wird zum Gesetz. 13<br />

Marcel Duchamp – ein anderer Stratege auf dem Feld der Spieler/innen<br />

gegen die versuchte Vereinnahmung der Kunst durch das<br />

Kunst-/ Museum – drehte den Spieß um und sagte (selbst) mit<br />

der Stimme der Institution (im Rücken), zum Beispiel über jenen<br />

vielzitierten Flaschentrockner: «Was sie hier sehen, ist Kunst.»<br />

– und es ward Kunst. <strong>14</strong> Als er dann später durch Original-Verdoppelungen<br />

zu verstehen gab, es sei vielleicht doch nur ein ganz<br />

gewöhnlicher Flaschentrockner gewesen, beliebig reproduzierbar<br />

und keineswegs «Kunst», war es zu spät. 15 Die symbolische Macht<br />

des Kunst-/ Museums, der sich Duchamp bedient und dieser in<br />

ihrer Funktionsweise aufgedeckt hatte, ereignet sich im Wort,<br />

macht dieses zur Handlung. Sie schreibt sich in die Dinge ein,<br />

wenn möglich unauslöschlich. Diese Einschreibungen nicht zu<br />

lesen bzw. nicht lesen zu können, ist ein symbolischer und ein<br />

sozialer Skandal, ein Verstoß gegen das Gesetz. «Wenn sich in<br />

unserer Kultur jemand so verhält, als sei ein Flaschentrockner ein<br />

Flaschentrockner und ein Pissoir ein Pissoir, so kann es ihm passieren,<br />

daß er aus dem Museum fliegt.» (Pazzini 1986, <strong>12</strong>)<br />

Abb. 6:<br />

«Bezahlte Anzeige» In einer Kunstzeitschrift<br />

Ceci n est pas une readymade.<br />

Duchamp und Magritte fusioniert. Die<br />

Werbenden wissen, daß ihre Leser/innen im<br />

Kunst-Diskurs versiert sind.<br />

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287<br />

denkbar<br />

Der Diskurs muß aufrecht erhalten, tradiert werden, damit die<br />

Dinge nicht verwechselt und vergessen werden. Und vor allem:<br />

Das Tableau darf nicht auseinanderfallen.<br />

Widerständiges Material<br />

Die genannten Künstler/innen stehen beispielhaft für jene Tradition<br />

in der Moderne, welche von Anfang an gegen die reale und<br />

diskursive Fassung Kunstmuseum, diese für sie und ihre Produkte<br />

geschaffene Bühne revoltierte. Die wütenden Rufe der Künstler/innen<br />

16 sind mittlerweile ebenso unverzichtbarer Teil der Geschichte<br />

der Kunst geworden wie ihre Gesten, das Kunst-/Museum zu<br />

imitieren, zu ironisieren, zu prozessualisieren, zu hintergehen, zu<br />

befragen, seinen Rahmen zu sprengen, mit ihm als Tableau, als<br />

Weltenproduktionsstätte, als Text zu spielen, seine Diskurse zu<br />

subvertieren. 17 Cézannes Formulierung des Konflikts scheint bis<br />

heute einen Nagel auf den Kopf zu treffen: Pissaro habe gemeint,<br />

erzählt dieser, man solle den Louvre verbrennen. «Er hatte recht,<br />

sagte Cézanne darauf ... aber man soll es nicht tun» (Tavel 1988,<br />

27). Das Avantgarde-Museum ist «entstanden ... gegen den Louvre,<br />

gegen die Herrschaft der alten Kunst. Die Avantgarde-Bewegung<br />

hat nicht das Alte restlos abgeschafft, sondern ... Modelle<br />

des Alten benutzt, um neue Positionen zu finden.» (Gohr 1991,<br />

232). Etwas widerständiger und provokanter formuliert Schmidt-<br />

Wulffen (1989, 42): «Die kritischen, avantgardistischen Strategien<br />

müssen zwangsläufig guerillaartig sein, müssen parasitär auf<br />

den zu kritisierenden Strukturen aufsitzen.» 18 So galt eigentlich<br />

von Anfang an, was Harald Szeemann (1981, 23) in den siebziger<br />

Jahren explizit als künstlerisches Programm definierte: «Der<br />

Rahmen wird zum Teil der Aussage». 19 Die Antworten auf den<br />

Rahmen formierten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts schubweise<br />

und immer wieder neu. Jede Generation suchte die Fehler der<br />

Vorgänger zu vermeiden, jedes Jahrzehnt brachte neue Antworten<br />

und Fragen aufs Tapet bzw. aufs Tableau. In den neunziger Jahren<br />

erleben sie wiedereinmal Konjunktur. Andrea Fraser ist nur eine<br />

von vielen «institutionskritischen» Künstler/inne/n, die energisch<br />

danach fragen, wie Kunst zur Kunst werden kann und welche<br />

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288<br />

Rolle Rahmen, Gesellschaft und sie selbst als sprechendes Subjekt<br />

dabei spielen. Solche Befragungen sind mit Sicherheit Möglichkeiten,<br />

um mit dem Dilemma umzugehen, welchem Künstler/innen<br />

stets ausgesetzt sind. Mitunter aber gehen die künstlerischen<br />

Antworten bis an die Grenze der totalen Selbst-Reflexion und<br />

Selbst-Referenzialitat, münden in einen Diskurs, der sich nur<br />

mehr im Kreis dreht und dadurch vollkommen elitär wird.» 20<br />

Abb. 7<br />

Wenn Kunst die Brisanz verliert, weil sie<br />

nur mehr sich selbst thematisiert.<br />

Kunst ist jetzt nur für Künstler aufregend.<br />

Ernst Caramelle, 1976.<br />

Aus dem Buch , «Blättern» <strong>12</strong>7 Zeichnungen<br />

Frankfurter Kunstverein 1981<br />

SPRACHEN MIT BEGRENZTEM NUTZEN<br />

Zerfall und Wiederkehr der Pfeife<br />

Wie der Flaschentrockner, so taucht auch die Magrittesche Pfeife<br />

(nicht nur) im Kunst-Diskurs immer wieder auf. Sie soll auch<br />

an dieser Stelle als DenkModell dienen, um das in der Aktion<br />

von Andrea Fraser angekündigte drohende Auseinanderfallen des<br />

zweifachen Tableaus ein Stück historisch zurück und strukturell<br />

weiter zu verfolgen. Die Geschichte – sie soll noch einmal mit<br />

Foucault gelesen werden – zeigt, daß die Art der Ordnung von<br />

Welt durch Sprache, wie sie auf dem zweifachen Tableau präsentiert<br />

wurde, nicht immer gleich, und nicht immer wie dargestellt,<br />

funktionierte. Im Gegenteil, wurde das Zeitalter der Moderne 21<br />

mit einem epistemologischen 22 Bruch eingeleitet, der im 19. Jahrhundert<br />

begonnen hatte. 23 Das duale System der Theorie der<br />

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289<br />

denkbar<br />

Repräsentation, welches die Epistem des Klassischen Zeitalters<br />

(vom 17. bis zum 19. Jahrhundert) gewesen war, fiel auseinander<br />

und verschwand. 24 An ihre Stelle trat etwas, das Foucault Mensch<br />

nennt. Mit der strukturalen Sprachwissenschaft könnte man es<br />

probeweise auch mit dem Begriff Artikulation 25 belegen.<br />

Statt der Gleichsetzung und Entsprechung von Ding und Zeichen,<br />

statt der Gültigkeit von Sprache als spontanem Bild und<br />

ursprünglichem «Raster der Dinge, als … Relais zwischen der<br />

Repräsentation und den Wesen» (Foucault 1971, 26), bildete sich<br />

ein Raum, «der geprägt ist von Organisationen, das heißt von inneren<br />

Beziehungen zwischen den Elementen, deren Gesamtheit<br />

eine Funktion sichert» (Foucault 1971, 270). Das Denken reproduziert<br />

nicht mehr eine vorgegebene, «natürliche» Ordnung der<br />

Dinge, sondern erkennt die Dinge erst dadurch, daß es sie (selbst)<br />

in Ordnungen bringt. «Eine tiefe Historizität dringt in das Herz<br />

der Dinge, isoliert sie und definiert sie in ihrer eigenen Kohärenz,<br />

erlegt ihnen Ordnungsformen auf, die durch die Kontinuität der<br />

Zeit impliziert sind. … Sprache … wird ihrerseits eine Gestalt der<br />

Geschichte.» (Foucault 1971, 26). Mensch und Geschichtlichkeit<br />

werden als Denkformen möglich, Kategorien, die für die Entstehung,<br />

die Existenz der Kunst-/Museen fundamental sind, aber als<br />

Ausformungen zu einer modernen Subjektphilosophie auch fatale<br />

Auswirkungen hatten und haben. 26 «In einer Art unendlicher Cogito<br />

versucht das Cogito sich seines Ungedachten zu versichern»<br />

(Fink-Eitel 1989, 44) und übersieht dabei, daß es, wie Foucault<br />

in seiner Analyse von Diego de Velasquez’ Bild «Las Meninas»<br />

exemplifiziert, alles repräsentieren kann, nur nicht sich selbst.<br />

Deshalb heißt nach Foucault die Episteme der Moderne Mensch,<br />

welcher «wahrscheinlich nichts anderes als ein bestimmter Riß in<br />

der Ordnung der Dinge ..., eine einfache Falte in unserem Wissen»<br />

(Foucault 1971, 26f) ist. Das Zeitalter der Moderne ist das Zeitalter<br />

selbstbezüglicher und transzendentaler Subjektivität. Und weil<br />

Sprache nicht mehr als verläßliche Verbindung zur Welt diente,<br />

weil sie in ihrer strukturierenden Weise entdeckt worden war,<br />

trat die Welt der Dinge und der Namen unmerklich auseinander.<br />

Das zweifache Tableau zeigte seine rißhafte Struktur. Indem sich<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 289<br />

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290<br />

die Dinge aber nicht mehr mit ihren Namen deckten, verloren sie<br />

auch ihren klaren Sinn, ihre Bedeutung, die vordem als ein ihnen<br />

innewohnender Bestandteil angenommen worden war.<br />

Der Begriff Artikulation 27 – nach dem Verständnis der strukturalen<br />

Linguistik und strukturalen Psychoanalyse – bedeutet genau<br />

in diesem Sinn nicht nur das Auseinandertreten von Zeichen und<br />

Repräsentiertem, sondern auch den Verlust der Einheit zwischen<br />

Signifikant und Signifikat. Die Bedeutung ist nicht mehr einfach<br />

da, existent und muß lediglich freigelegt werden, sie entsteht immer<br />

erst aus den Beziehungen der Elemente innerhalb des Feldes<br />

zueinander. Gertrude Steins Satz «Eine Rose ist eine Rose ist eine<br />

Rose ist eine Rose...» ist kein repräsentatives System, sondern eine<br />

Artikulation. Als solche ist sie eine endlose Kette der Selbstverweisungen.<br />

Die Rosen bleiben Sprache, aber sie produzieren in<br />

ihren Zwischenräumen etwas Neues.<br />

«Ceci n’est pas une pipe», schrieb Rene Magritte 1926 unter<br />

die Zeichnung einer Pfeife auf ein Bild. Die Pfeife (und auch die<br />

Rose) ist längst zur Ikone der Moderne avanciert, denn was sie<br />

vorbildhaft zeigt, ist genau dieses Auseinanderfallen des zweifachen<br />

Tableaus. Wort und Bild sind nicht imstande, sich gegenseitig<br />

zu repräsentieren, weil sie sich auf unterschiedlichen Schauplätzen<br />

befinden, von denen jeder seinen eigenen Gesetzen gehorcht. «Das<br />

Bild und der Text fallen je auf ihre Seite, gemäß der ihnen eigenen<br />

Schwerkraft. Sie haben keinen gemeinsamen Raum mehr, wo sie<br />

sich überlagern könnten, wo die Wörter ihre Gestalt annehmen<br />

und die Bilder in den Wortschatz eingehen könnten», schreibt<br />

Foucault (1983a, 20) in seiner Analyse des Magritte-Bildes. Auch<br />

die Gleichsetzung des Wortes oder des Bildes mit jenem Ding,<br />

das sie bedeuten wollen, funktioniert nicht (mehr). Was in jedem<br />

Fall verfehlt wird, ist die Pfeife, der Gegenstand, welcher da bezeichnet<br />

werden soll. «Die berühmte Pfeife ... man hat sie mir<br />

zur Genüge vorgehalten! Und trotzdem ... können Sie sie stopfen,<br />

meine Pfeife Nein, nicht wahr, sie ist nur eine Darstellung. Hätte<br />

ich also unter mein Bild Das ist eine Pfeife geschrieben, hätte<br />

ich gelogen!» (Magritte 1966, 536) Jede der «drei Pfeifen», die<br />

hier im Spiel sind, existiert unabhängig als Dimension und doch<br />

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denkbar<br />

sind alle drei untrennbar miteinander verbunden. Tritt die Pfeife<br />

in einer der drei Dimensionen auf, sind die anderen beiden jeweils<br />

garantiert schon mit ausgelöst, aber eben jeweils anders, nicht deckungsgleich.<br />

Abb 8<br />

Dies ist keine Pfeife<br />

Rene Magritte, «La Trahision des<br />

Images Version» von 1928, 62x81cm<br />

Hier ein Schema der dreifachen Existenz der Pfeife:<br />

> Das Wort Pfeife läßt das Bild (Pfeife) auftauchen und verfehlt<br />

etwas [Pfeife].<br />

> Das Bild (Pfeife) wird erst durch das Wort Pfeife wahrnehmbar<br />

und verfehlt etwas [Pfeife].<br />

> Das Etwas-Verfehlen [Pfeife] löst das Wort Pfeife aus und<br />

produziert das Bild (Pfeife).<br />

> Das Etwas-Verfehlen [Pfeife] löst das Bild (Pfeife) aus und<br />

setzt das Wort Pfeife in Gang.<br />

> Dem Bild (Pfeife) fehlt etwas [Pfeife], welches das Wort Pfeife<br />

auslöst.<br />

> Dem Wort Pfeife fehlt etwas [Pfeife], welches das Bild (Pfeife)<br />

auftauchen läßt.<br />

In jedem Fall vorgeordnet und vorordnend ist die Sprache: Pfeife.<br />

Was nicht in ihr aufgeht, diese Kategorie des Verfehlens von Etwas<br />

[] und das Bild () selbst, gehört nicht zur Lacanschen Dimension<br />

des eingangs charakterisierten «Symbolischen». Diesem entgegen<br />

liegen zwei weitere Dimensionen, die aber mit ihm untrennbar<br />

verknüpft sind: das «Imaginäre» und das «Reale». Die beiden<br />

letzten Dimensionen wurden in der Metapher vom zweifachen Ta-<br />

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bleau bislang dem Unort Sprache einfach entgegengesetzt. Es wird<br />

sich zeigen, daß es nötig ist, das was in Sprache nicht aufgeht,<br />

nocheinmal zu differenzieren. Hier die drei Dimensionen:<br />

Das Lacansche «Imaginäre» ist zunächst einmal alles, was dem<br />

visuellen Bereich zugeordnet werden kann, dem Bereich der Bilder,<br />

Vorstellungen, Phantasien und Darstellungen. Im vorliegenden Fall<br />

wäre es das Bild der (Pfeife) bzw. das Bild das im Kopf auftaucht,<br />

wenn das Wort Pfeife zur Sprache kommt. Wobei, sobald man das<br />

Bild als (Pfeife) identifiziert, d.h. differenziert, diese schon wieder<br />

symbolisch ist. Das Imaginäre wird also erst sichtbar, wenn es von<br />

Sprache durchkreuzt wird, sonst ist es unsichtbar.<br />

Das Lacansche «Reale» ist alles das, was sich weder sagen<br />

läßt, noch Bilder hat. Es ist das, was im Wort und im Bild immer<br />

schon verfehlt ist, ein unbenennbarer Rest []. 28 Es ist «ein nichtsymbolisierbarer<br />

Kern, der plötzlich inmitten der symbolischen<br />

Ordnung auftaucht» (Zizek 1992, 62). Lacan gibt dem Realen<br />

verschiedene, auch in sich widersprüchliche Umschreibungen. Er<br />

nennt es zum Beispiel das «Unmögliche» oder den «Ort des Abwesenden».<br />

Das Reale schlechthin ist der Tod, er ist absolut und<br />

unbeschreiblich. Auch die Körperlichkeit gehört in jenes Feld des<br />

Nicht-Sagbaren. Wiederholt nennt Lacan das Reale «das, was immer<br />

am selben Platz sei – das kann etwas Körperliches sein, aber<br />

auch etwas Unfaßbares – schließlich das Widerständige, wogegen<br />

man mit dem Kopf anrenne» (Widmer 1990, 57). 29 Vor allem<br />

aber legt Lacan Wert darauf, das Reale als etwas zu verdeutlichen,<br />

das aus der Logik vollkommen ausgeschlossen ist und dafür verwendet<br />

er den Begriff Ek-sistenz, welcher wieder auf den Körper<br />

verweist. Die Wunde, ob sie sich schließt oder nicht, die Sexualität,<br />

die immer rätselhaft und immer auch unmöglich bleiben<br />

wird, auch der Wahnsinn – alles was Foucault zum Anderen der<br />

Vernunft 30 zählt und was doch immer wieder sprachlich (logisch)<br />

erklärt, gefaßt werden will, verweist auf das Ek-sistieren. Daß gerade<br />

die Unmöglichkeit, dieses zu sagen, immer wieder zu Symbolisierungen<br />

veranlaßt, beweist die ganze Geschichte der Kunst. 31<br />

Im vorliegenden Beispiel – auch diese Analogie ist gewagt, weil<br />

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denkbar<br />

so sehr bildhaft und sprachlich – könnte man in die Dimension<br />

des Realen jenes Etwas zählen, das es da gibt, das da ist 32 , auf<br />

welches da verwiesen und das gleichzeitig immer auch verfehlt<br />

ist. Die Pfeife als das nie zu erreichende, immer zurückweichende<br />

Kantsche Ding an sich.<br />

«Eine Pfeife ist eine Pfeife ist eine Pfeife ist eine Pfeife ...» bliebe<br />

also, wie die Rose, auf der Ebene der Sprache, gibt aber eine Ahnung<br />

davon, daß da noch etwas ek-sistiert, das sich aber nicht oder<br />

immer nur mangelhaft symbolisieren läßt. Und was sich symbolisieren<br />

läßt, ist übersetzt in etwas (sprachlich) Anderes. Wir kommen<br />

der Sache also immer gleichzeitig näher und ferner. Der Preis<br />

der Moderne ist genau diese Verfehlung und Selbst-Verfehlung,<br />

durchaus aber im Glauben der Ankunft und der Selbst-Findung. 33<br />

Das SelbstVerfehlen wird in der Moderne zum Programm. Es ist<br />

dialektisch: vergeblich und produktiv. 34<br />

Magrittes Satz ist mittlerweile fast siebzig Jahre alt. Er hat<br />

nicht an Aktualität verloren – im Gegenteil. Auch Frasers Aktion<br />

wäre gegenwärtig genauso aktuell wie vor zehn Jahren. Das legt<br />

den Verdacht nahe, daß sich im Kunst-/ Museum gewisse epistemologische<br />

Reste aus vormodernen Zeiten erhalten haben und<br />

immer wieder wiederholt werden (wollen). Denn immer noch behauptet<br />

das Kunst-/ Museum hartnäckig – im Sinne des Zeitalters<br />

der Repräsentation –: Dies ist eine Pfeife. Oder: dies ist ein Werk<br />

von Rene Magritte. Punkt. 35<br />

Sprechende Qualitäten<br />

Von Magritte und den übrigen bisher angeführten künstlerischen<br />

Beispielen ausgehend, läßt sich an dieser Stelle eine Differenz<br />

definieren, die künstlerische Arbeiten von nicht-künstlerischen<br />

Arbeiten unterscheidbar macht. Man könnte, anders formuliert,<br />

eine Art «Qualitätenliste» 36 erstellen, welche zusammenfassend<br />

verdeutlicht, womit man es zu tun hat, wenn man künstlerischen<br />

Artikulationen 37 als geformten Symbolisierungen nicht nur im<br />

Kunst-/ Museum entgegentritt. Der Effekt einer solchen Qualitätenliste<br />

könnte aber unter anderem sein, Tableaus, auf denen<br />

moderne und zeitgenössische Kunst aufgetischt wird, von anderen<br />

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Museumstypen strukturell unterscheidbar zu machen bzw. umgekehrt,<br />

mögliche Übergänge zwischen Kunstmuseen und anderen<br />

Museen aufzudecken. Ich liste in der Folge jene Qualitäten,<br />

welche moderner und zeitgenössischer Kunst zugerechnet werden<br />

könnten auf und stelle jeweils im Anschluß daran eine knappe<br />

Verbindung zu Materialisationen in Museen her, die von ihren<br />

Inhalten nicht behaupten, daß es sich dabei um Kunst handle.<br />

> > Erste Qualität: Offenheit und Objektstatus 38 als Aussagequalität<br />

Mit Umberto Eco (1982, 404f) 39 kann man künstlerische Artikulationen<br />

als «ästhetische Botschaften» bezeichnen, denn sie<br />

sind immer autoreflexiv und mehrdeutig strukturiert. Die Autoreflexivität<br />

bezieht sich jeweils auf die eigene formale, materielle,<br />

prozessuale etc. Beschaffenheit, auf die Form, das Material,<br />

das Ritual als Aussage. In ihrer Ambiguität antworten sie immer<br />

auf einen herrschenden Code, d.h. ein existierendes ästhetisches<br />

Gesetz. Dieses wird überschritten, verletzt und schließlich umgestaltet.<br />

In dieser Konfrontation produzieren die künstlerischen<br />

Artikulationen einen neuen, eigenen Code, der so etwas wie ihren<br />

Idiolekt bildet und ihr eigenes, ihnen inneliegendes Gesetz ist, ein<br />

strukturales Schema, das in allen Teilen herrscht. Idiolekte erzeugen<br />

wiederum Nachahmer, Manier, stilistische Gewohnheiten<br />

und münden schlußendlich in neuen Normen, welche – wie die<br />

Kunstgeschichte lehrt – wieder durchbrochen werden. 1964 hatte<br />

Eco die Seite der Ambiguität der ästhetischen Botschaft mit dem<br />

Namen «Offenheit», deren Grenze das «weiße Rauschen» 40 ist,<br />

versehen. «Eine völlig zweideutige Botschaft erscheint als äußerst<br />

informativ, weil sie mich auf zahlreiche interpretative Wahlen einstellt,<br />

aber sie kann an das Geräusch angrenzen, d.h. sie kann sich<br />

auf bloßes Geräusch reduzieren. Eine produktive Ambiguität ist<br />

die, welche meine Aufmerksamkeit erregt und mich zu einer Interpretationsanstrengung<br />

anspornt, mich aber dann Decodierungserleichterungen<br />

finden läßt.» (Eco 1982, 405) Auf der anderen<br />

Seite der Offenheit steht die Autoreflexivität, die Form, in welcher<br />

sich der Code eines Werkes materialisiert, realisiert. In der Dialektik<br />

zwischen Offenheit und Form, zwischen «der Stimulierung<br />

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denkbar<br />

von Interpretationen und der Kontrolle 41 des Freiheitsraumes der<br />

Interpretationen» (Eco 1982, 421) entwickeln sich die künstlerischen<br />

Artikulationen. «Die Theorie», schreibt der Theoretiker<br />

Brüderlin (1993, 43), «beneidet die Kunst um die Möglichkeit,<br />

sich auch auf der real-materiell-sinnlichen Ebene auszudrücken.»<br />

Bisweilen überschreiten aber ohnehin auch Theoretiker/innen<br />

das herkömmliche ritualisierte Ausdrucks-Formenrepertoir, um<br />

den eigenen Text/Diskurs sinnlich-materiell zu erweitern oder zu<br />

kommentieren, machen eine Geste, arbeiten mit Dingen bzw. verstehen<br />

sich explizit selbst als Künstler/innen. 42 – Sie gehen, kurz<br />

gesagt, ästhetisch vor, indem sie herkömmliche Codes durchbrechen<br />

und die Form selbst explizit zur mehrdeutigen Aussage machen.<br />

Form wird – wie in künstlerischen Arbeiten – zu einem Weg<br />

des Sagens und Zeigens.<br />

– Zum Vergleich: Objektstatus als Aussagequalität haben nicht<br />

nur Materialisationen in modernen Kunstmuseen. Auch an anderen<br />

Orten kann man Dinge finden, die mehrdeutig und autoreflexiv<br />

gestaltet sind.<br />

> > Zweite Qualität: Selbstreferentialität<br />

Die Ecosche Analyse der ästhetischen Botschaft läßt sich um jene<br />

bereits zitierte Komponente erweitern, welche von Anfang an ein<br />

entscheidendes Merkmal der Episteme der Moderne war. Kunst<br />

ist nicht nur ambivalent, offen und autoreflexiv, sie ist – wie sich<br />

zeigte – zumindest potentiell auch «selbstreferentiell». Die Selbstreferentialität<br />

bezieht sich nicht nur auf das künstlerische Feld und<br />

den jeweiligen Rahmen der Kunst, sie bezieht sich auch auf die<br />

diskursive Ebene, auf die Frage der Repräsentation 43 und Artikulation,<br />

auf Wahrnehmungs- und Rezeptionsbedingungen u.a.m.<br />

Das klassische Beispiel für Selbstreferentialität aus der Geschichte<br />

der Kunst, ist der immer wieder zitierte Flaschentrockner, wurde<br />

doch mit diesem «die Selbstreferenz als operationale Strategie in<br />

die Kunst eingeführt» (Wulffen 1994, 53f).» Selbstreferentialität<br />

taucht zwar historisch auch in vormoderner Zeit schon auf, aber<br />

nur marginal und wenn, dann in verdeckter Form, als schwer zu<br />

entziffernder Subtext. 45<br />

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– Zum Vergleich: In Materialisationen, welche nicht zur modernen<br />

oder zeitgenössischen Kunst gezählt werden, liegt Selbstreferentialität<br />

kaum bis nicht vor. Sie wird allerdings manchmal durch das<br />

Tableau produziert. Wenn sich der Rahmen selbst in Frage stellt,<br />

überträgt sich diese Haltung unter Umständen auf das, was er birgt.<br />

> > Dritte Qualität: Betrachterfiktion<br />

Künstlerische Artikulationen sind Aussagen und richten sich<br />

immer imaginär an jemanden. Man kann dieses Aussagen als<br />

den Diskurs der Kunst selbst bezeichnen. Die Betrachterfiktion<br />

ist unmittelbar mit den ersten beiden Qualitäten verbunden. Im<br />

Ecoschen Zitat zur «Offenheit» tauchte sie bereits als Einladung<br />

künstlerischer Artikulationen, interpretiert zu werden, auf. «Das<br />

Kunstwerk ist als intentionales Gebilde für Betrachter konzipiert,<br />

das gilt für alle Werke, auch für diejenigen, die Außenbezüge<br />

scheinbar demonstrativ verneinen. … sprechen wir mit Michael<br />

Fried von der Betrachterfiktion einer Kunst, die ein Nichtvorhandensein<br />

des Betrachters vorgibt, realiter aber nur eine besondere<br />

und bei genauerem Hinsehen vielfältig angelegte Beziehung zu<br />

ihm unterhält.» (Kemp 1992, 20)<br />

– Zum Vergleich: Betrachterfiktion liegt bei jenen Materialisationen<br />

vor, die auch ästhetische Botschaften sein wollen.<br />

> > Vierte Qualität: Kommunikationsanfänge<br />

Mit der vierten Qualität, welche an die dritte anschließt, ist man<br />

endgültig in den Bereich der Rezeption eingetreten. Die herkömmliche<br />

Form, auf künstlerische Arbeiten zu reagieren, ist sie zu betrachten,<br />

über sie zu reden, zu schreiben, sie also auf eine diskursive<br />

Ebene zu übersetzen. Das wäre dann der Diskurs über Kunst.<br />

Man kann es aber auch mit Picasso halten, welcher sagte: Die einzige<br />

Form, ein Bild zu verstehen, ist ein neues zu malen. Niklas<br />

Luhmanns Diktum, daß etwas überhaupt erst ein Kunstwerk sei,<br />

wenn nachher darüber kommuniziert werde, ist als Fortsetzung<br />

und Radikalisierung der Ecoschen Thesen mittlerweile zum Gemeinplatz<br />

geworden – ganz im Sinne von Duchamps Verschiebung<br />

des Kunst-Begriffs: «Und das bringt mich dazu zu sagen, daß ein<br />

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denkbar<br />

Werk vollständig von denjenigen gemacht wird, die es betrachten,<br />

es lesen und die es durch ihren Beifall oder ihre Verwerfung<br />

überdauern lassen.» (Duchamp zit. nach Daniels 1992, Hervorh.<br />

E.S.) Der Gemeinplatz wird aber unterschätzt, denn nimmt man<br />

ihn wörtlich, so besagt er, daß alle vorherigen Qualitäten sich erst<br />

in der bzw. durch die letzte/n realisieren. Offenheit und Objektstatus<br />

als Aussagequalität, Selbstreferentialität und Betrachterfiktion<br />

bleiben irrelevant und bedeutungslos, wenn nicht jemand da<br />

ist, der/die imstande ist, die künstlerischen Arbeiten zu befragen,<br />

d.h. sie zu deuten, bedeutend zu machen. Wenn Michael Lingner<br />

(1994) konstatiert, Kunst hätte keinen Ort mehr, so meint auch<br />

er eigentlich damit, der tatsächliche und einzige Ort der Kunst sei<br />

der Diskurs. 46 So betrachtet, findet also der in Verbindung mit der<br />

dritten Qualität genannte Diskurs der Kunst nur als Diskurs über<br />

Kunst statt – in der Übersetzung. Womit sich auch die Frage nicht<br />

mehr stellt, was Kunst sei, sondern wann sie werde. 47<br />

– Zum Vergleich: Kommunikationsanfänge können natürlich<br />

alle Objekte in jedem Museum sein. Dennoch liegt ein Unterschied<br />

vor, zwischen solchen, die auch die anderen drei Qualitäten aufweisen<br />

und solchen, die weder ästhetische Objekte, noch selbstreferentiell,<br />

noch publikumsfiktional sind. Natürlich aber kann<br />

jedes Objekt zur ästhetischen Botschaft erklärt werden, dadurch<br />

publikumsfiktional werden und unter Umständen auch selbstreferentielle<br />

Qualitäten entwickeln. Duchamp tat mit seinem Flaschentrockner<br />

nichts anderes.<br />

Mehr-Sagen<br />

Die fünfte Qualität charakterisiert speziell Kunst bzw. ästhetische<br />

Botschaften. Sie hat mit Liebe zu tun, einem Bereich, in dem sich<br />

Psychoanalyse, Pädagogik / Vermittlung / Übersetzung und Kunst<br />

überschneiden. 48 Wie die ersten vier Qualitäten kann auch sie nur<br />

entstehen, wenn Rezipient/inn/en ek-sistieren.<br />

> > Fünfte Qualität: Mehr-Sagen<br />

Marc Le Bot (1988, 336f), welcher historisch und strukturell vorgeht,<br />

ortet eine Parallele zwischen der Sprache (der Liebe) und der<br />

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Kunst (als Sprache). Beide haben eine ungewöhnliche Beziehung<br />

zum Wirklichen. Le Bot unterscheidet prinzipiell zwei Formen,<br />

wie diese Beziehung, welche – wie auch er betont – immer sprachlich<br />

vermittelt ist, gerichtet sein kann:<br />

Die eine Form ist auf nutzenorientierte Zweckmäßigkeit gerichtet.<br />

Sie artikuliert sich in einer auf Finalität gerichteten Sprache.<br />

Ein Wirkliches soll durch ein Zeichensystem beherrscht werden,<br />

damit von ihm Gebrauch gemacht werden kann.<br />

Die andere Form nennt Le Bot eine leidenschaftliche Form<br />

der Wirklichkeitserfahrung. Die sich hier manifestierende Sprache<br />

ist nicht nutzenorientiert, sie ist nicht an der «Bezwingung»<br />

des Wirklichen interessiert, sondern daran, «mit dem Wirklichen<br />

eine ungewöhnliche Beziehung einzugehen.» (Le Bot 1988, 337)<br />

Kunst wie Liebe sind zwar gleichermaßen zielorientiert, auf Effekte<br />

ausgerichtet und mit Absichten verbunden, aber letztlich<br />

können keine Kriterien des Erfolges benannt werden. Diese müssen<br />

jedesmal situationsspezifisch definiert werden. 49 In beiden<br />

geht es letztlich um das Ziel, anerkannt zu werden und zumindest<br />

in der Kunst geht es selbstredend auch immer um die Frage<br />

des Geldes. 50 Was die zweite Artikulationsform aber tatsächlich<br />

von der ersten unterscheidet und sie so ungewöhnlich macht, ist,<br />

daß sie ihr Interesse vorrangig auf die «Beziehung» zum Wirklichen<br />

richtet, mit dem Effekt, ständig neue Artikulationsformen<br />

als Beziehungsformen zu produzieren. 51 Die Erfüllung, der Nutzen,<br />

wird unterwegs erreicht, d.h. im Prozeß der Artikulation, im<br />

Erfinden immer anderer symbolischer Formen, in diesem Sagen,<br />

das ein dauerndes Mehr-Sagen ist. Es ist dementsprechend notwendig,<br />

daß die Andersheit des anderen dabei – im Unterschied<br />

zur ersten Sprachform, welche diese durch Bezwingung negiert<br />

– auf keinen Fall aufgehoben wird, sondern als gegenwärtige hervorgerufen,<br />

provoziert wird, damit der Weg, die Beziehung nicht<br />

aufhöre. Deshalb ist kein Werk jemals einfach «Ausdruck eines<br />

Codes, es ist die Variation einer Kodifizierungsarbeit: Es ist nicht<br />

die Niederlegung eines Systems, sondern die Generierung von Systemen»<br />

(Barthes 1990, 158). Künstlerische Artikulation ist ein<br />

andauerndes Mehr-Sagen-Wollen.<br />

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denkbar<br />

Die beiden von Le Bot auseinander differenzierten Sprachformen<br />

gibt es nicht pur, sie existieren immer nur tendenziell und<br />

immer gleichzeitig. Sie widerstreiten in der Sprache und haben<br />

ihren Kampfplatz in der Kunst. Die Geschichte zeugt von diesem<br />

Widerstreit. Auch Le Bot ortet einen historischen Bruch. Allerdings<br />

diagnostiziert er ihn gegen Ende des Mittelalters, in dem<br />

erstmalig Kunst als Kunst und Liebe als Liebe (in der höfischen<br />

Liebe) begriffen wurde. Kunst und Liebe treten als Reinformen,<br />

d.h. in speziellen Sprachen auf den Schauplatz der Welt. Seit vierhundert<br />

Jahren, so Le Bot, nennt man die nicht nutzenorientierten<br />

Formen der Sprache «Kunst». Sie sind im Alltag ebenso präsent,<br />

wie in den Bereichen, die man explizit «Künste» nennt. «Die im<br />

eigentlichen Sinn Kunst genannte Kunst würde also den Ort der<br />

Sprache bilden, an dem sich in einer reinen Form die nutzlose Beziehung<br />

zum anderen inszenierte, die Liebe genannt wird.» (Le<br />

Bot 1988, 338) In der Moderne radikalisiert sich diese nichtnutzenorientierte,<br />

auf Mehr-Sagen und Vergegenwärtigung abzielende<br />

Sprache. Die Dinge gehen vollends auf «in der Beziehung<br />

leidenschaftlicher Begeisterung die die Kunst zum Sichtbaren»<br />

(Le Bot 1988, 343) unterhält. Die Folge ist: «Kunst nimmt dem<br />

Betrachter und dem Betrachteten, dem vorgeblichen Subjekt und<br />

dem vorgeblichen Objekt des Verlangens ihre Identität, die somit<br />

auch aufhören, Subjekt oder Objekt mit einer stabilen Identität<br />

zu sein.» (Le Bot 1988, 344, Hervorh. E.S.) 52<br />

Die Sprache der Kunst und die Sprache der Liebe vorexerzieren so<br />

das Ende stabiler Identitäten, das Ende der Repräsentation, und zwar<br />

auf beiden Seiten des Spiels: des Betrachters und des Betrachteten,<br />

des Liebenden und des Geliebten. Sie beweisen, daß die Beziehung<br />

zum Wirklichen durch keine Sprache und kein Denken beherrschbar<br />

ist und verweisen immer wieder auf die Position, welche der<br />

Mensch der Moderne als «Riß in der Ordnung der Dinge» (Foucault<br />

1971, 26) einnimmt. «Wenn das Wirkliche hier also außerhalb des<br />

Sinns existiert, entgeht es dem Denken der Beherrschung. Es wird<br />

als unbezwingbare Gegenwart gegeben.» (Le Bot 1988, 341)<br />

Über Kunst zu sprechen, bedeutet demnach in jedem Fall auf<br />

eine Sprache zu antworten, die nicht auf Finalität, sondern auf<br />

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300<br />

Evokation gerichtet ist; auf eine Sprache, die ihre eigenen Gesetze,<br />

ihre eigenen Codes, wahrnehmbar in sich tragend verwirklicht<br />

und selbst befragt; auf eine Sprache, die sich selbstreferentiell<br />

und autoreflexiv gebärdet; auf eine Sprache, die sich weder schematisieren,<br />

noch endgültig übersetzen, noch fassen läßt, sondern<br />

für die jedes an sie gerichtete Wort ein zusätzlicher Kommentar,<br />

etwas Neues, Anderes, immer auch Verfehlendes und Verfehltes<br />

ist. Dabei wird man zwangsläufig immer wieder an eine Grenze<br />

stoßen, an eine Grenze des Kommunizierbaren, eine Grenze der<br />

Sprache. «Ceci n›est pas une pipe.»<br />

LEKTÜRE ALS ARTIKULATION<br />

Der Leser<br />

Betrachtet man die künstlerischen Arbeiten – wie dies bisher geschah<br />

– als Artikulationen, so wird der Betrachtende zum Leser.<br />

Michel de Certeau 53 (1991, 295f) definiert den Ort des Lesers<br />

als einen «Nicht-Ort». Der Terminus erinnert keineswegs zufällig<br />

an Foucaults Beschreibung von Sprache als «Un-Ort». Der<br />

Leser, so Certeau, «hat keinen festen Boden unter den Füßen und<br />

schwankt zwischen dem, was er erfindet, und dem, was ihn verändert»<br />

(Certeau 1991, 297). Die Lektüre wird, so gesehen, zum<br />

Prozeß, in dem beide Seiten sich verändern. Der Leser ergeht sich<br />

im Werk seiner Aufmerksamkeit, ordnet es seinem Schritt, seinen<br />

Bewegungen und seiner Perspektive gemäß, stößt auf Widerstände,<br />

Hindernisse, muß Umwege nehmen, verirrt sich, kommt auf<br />

Holzwege, findet Wegweiser usw. Der Leser wird zum Wanderer.<br />

Er ordnet und wird geordnet, er prägt und wird geprägt – im<br />

Durchgang. «Der Leser / Betrachter wird ... aus der reservierten<br />

Distanz ... mitten ins Text-Bild hineingelockt.» (Weiss 1990, 66)<br />

Ähnlich formuliert auch Peter Bichsel 54 (1989, 29): «Lesen ist für<br />

mich ... Eintritt in eine Gegenwelt – ... Mich selbst oder meine<br />

Lage darin zu erkennen, das ist ... eine nachträgliche Sache. Im<br />

Augenblick des Lesens ist es immer das Andere, das mein Verhalten<br />

bestimmt. Ich verspüre beim intensiven Lesen ein leichtes<br />

Abheben vom Boden, das sich steigern kann bis zum Gefühl der<br />

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301<br />

denkbar<br />

Schwerelosigkeit; ich komme in einen Rauschzustand, den ich<br />

genieße.»<br />

Ganz in diesem Sinn, könnte man vermuten, ortet auch die<br />

Rezeptionsästhetik den Leser überhaupt und immer «im Bild»<br />

(Kemp 1992) 55 . Sie bezieht sich dabei auf die 19<strong>02</strong> von Alois Riegl<br />

formulierte Einsicht, daß «jedes Gemälde von Rang den Betrachter<br />

als potentiellen Vollender des Kunstwerks impliziert, ja ihn<br />

voraussetzt» (Brüderlin 1993, 40). Rezeptionsästhetik anerkennt<br />

den Prozeß der Betrachtung zunehmend als gleichwertigen Anteil<br />

der Bedeutungskonstitution von Kunst. Sie geht davon aus, daß<br />

erst die Lektüre es ist, die das Werk zur Sprache bringt, die ihm<br />

eine Stimme gibt und es wesentlich macht. Diese Sichtweise kann<br />

– gemäß der vierten Qualität – in ihrem Grundzug spätestens seit<br />

Umberto Ecos (1964) Postulat des «offenen Kunstwerkes» zum<br />

kollektiven Bewußtsein gezählt werden. «Die Decodierungserfahrung<br />

wird offen, prozeßartig, und unsere erste Reaktion besteht<br />

darin, daß wir glauben, daß alles, was wir in die Botschaft einfließen<br />

lassen, tatsächlich in ihr enthalten sei.» (Eco 1982, 413)<br />

Während Eco von «Offenheit» spricht, postuliert die Rezeptionsästhetik<br />

«Vollendung» in der/durch die Rezeption. Nach dem<br />

Certauschen Lektüre-Konzept wäre der Leser wohl eher auf der<br />

ersten Seite zu suchen. Die gegenseitige Prägung läuft auf kein stabiles<br />

Ende und gerade nicht auf Ganzheit hinaus, sondern immer<br />

nur auf einen vorübergehenden Abschluß. Sie ereignet sich in der<br />

Dialektik zwischen Ankunft und Aufbruch, zwischen Zu-Gabe<br />

und Aufbrauch.<br />

Die aktive Rolle des Leser-Betrachters bzw. des Diskurses überspitzte<br />

Bazon Brock vor einigen Jahren in einem seiner «Action<br />

teachings». Er ließ dem Publikum an der Kasse ÖS 30.– ausbezahlen,<br />

nicht nur um auf dessen fundamentale Rolle als Rezipient/Inn/<br />

en und auf den Rezeptionsprozeß als Arbeit zu verweisen, sondern<br />

auch um ein Plädoyer zu geben, «für den emanzipierten, aktiven<br />

Rezipienten, der zunehmend droht, durch die Banalität der Unterhaltungsindustrie<br />

zum Konsumidioten zu verkümmern» (Brüderlire<br />

1993, 45). Brock erklärt den Betrachter selbst zum Künstler.<br />

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3<strong>02</strong><br />

Abb 9<br />

Auch wenn der Rezeptionsvorgang<br />

umgekehrt – vom Text zum Bild verläuft<br />

– er ist in jedem Fall Schwerarbeit und<br />

Neuschopfung. «Der Übersetzer<br />

Sprecbarbeit<br />

Rezeption zur Kunst machen bzw. sie künstlerisch anlegen, wollten<br />

auch die französischen Poststrukturalisten 56 . Was sie als Antworten<br />

auf Kunst schufen, waren selbst wieder ästhetische Botschaften,<br />

Neuheiten mit parallelen Qualitäten zur Kunst. Die Lektüre wird<br />

zur Artikulation, zur Sprech- und Schreibbewegung. 57 Roland<br />

Barthes schreibt sich zum Beispiel an Cy Twombly (TW) heran<br />

und produziert dabei selbst wieder einen poetischen Text:<br />

«Was ist das Wesen einer Hose (falls sie eins hat) Sicher nicht<br />

jenes zurechtgemachte und glatte Objekt auf den Kleiderbügeln<br />

in den Kaufhäusern; eher schon als Stoffknäuel da, das<br />

achtlos aus der Hand eines Heranwachsenden, wenn er sich<br />

auszieht, auf den Boden gefallen ist – schlaff, träg, gleichgültig.<br />

Das Wesen eines Gegenstandes hat etwas mit seinem Abfall<br />

zu tun: nicht unbedingt mit dem, was überbleibt, nachdem<br />

man davon Gebrauch gemacht hat, sondern mit dem, was aus<br />

dem Gebrauch geschmissen worden ist. So die Schriftzüge von<br />

TW. Es sind die Brocken einer Trägheit – daher ihre extreme<br />

Eleganz. Als ob vom Schreiben, diesem starken erotischen Akt,<br />

die verliebte Müdigkeit bliebe, dieses in eine Ecke des Blattes<br />

hingeworfene Gewand.» (Barthes 1983, 9)<br />

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denkbar<br />

Das Bild, schreibt Barthes, existiert nur «in der Erzählung, die<br />

ich von ihm wiedergebe; oder: in der Summe und der Organisation<br />

der Lektüren, zu denen es mich veranlaßt: Ein Gemälde ist<br />

immer nur seine eigene vielfältige Beschreibung. Man sieht wie<br />

nahe und gleichzeitig fern dieses Abschreiben des Bildes durch<br />

den Text, durch den ich es konstituiere, von einer als Sprache<br />

angesehenen Malerei ist.» (Barthes 1990, 158) Statt eine Summe<br />

statistischer Erhebungen vorzunehmen, fordert Barthes den ständigen<br />

«Sprechakt». Zwar sind Schreiben und Sprechen nicht das<br />

gleiche. An dieser Stelle interessieren sie aber beide in erster Linie<br />

als Artikulationsformen.<br />

«Im Werk von TW herrscht der Duktus: nicht seine Regel,<br />

sondern seine Spiele, seine Grillen, seine Expeditionen, seine<br />

Trägheiten. Es ist insgesamt eine Schrift, von der nur das Schiefe,<br />

das Kursive bleibt; im antiken Schriftzug ist die Kursivschrift<br />

aus dem (ökonomischen) Bedürfnis entstanden, schnell zu<br />

schreiben: die Feder heben kostet viel. Hier ist es das Gegenteil:<br />

es fällt, es regnet fein, es neigt sich wie Gras, es streicht durch<br />

aus Untätigkeit, als ob es darum ginge, die Zeit sichtbar zu<br />

machen, das Beben der Zeit.» (Barthes 1983, 17)<br />

Abb. 10:<br />

Kunst fordert laut Roland Barthes (1983, 8) zu Sprecharbeit heraus.<br />

Cy Twombly Mars und der Künstler (Ausschnitt), 1975<br />

Collage ÖI, Kreide. Kohle und Buntstift auf Papier <strong>14</strong>2x<strong>12</strong>7.5cm<br />

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304<br />

Barthes (1990, 159) sieht sein Unternehmen als eine Art «Grammatographie<br />

... (welche, E.S.) die Schrift des Bildes schreibt». Der<br />

ständige Sprechakt und die Sprech- bzw. Schreibarbeit, die er in<br />

seiner Arbeit zu realisieren versucht, verhindern selbst jegliche<br />

Festlegung, jede Vereindeutigung der Bilder. Das immer wieder<br />

von vorne begonnene Sich-Heranschreiben, das Umkreisen mit<br />

Worten bleibt offen. Der Text wird – im Dienste des Werkes, aber<br />

auch im Dienste des Lesers – selbst zur nicht-nutzenorientierten,<br />

evozierenden Sprache, die ein Wirkliches – auf das es auch das<br />

Werk selbst abgesehen hat – gegenwärtig machen will. Gleichzeitig<br />

sind die Barthe’schen Texte in hohem Maße selbstreferentiell,<br />

denn sie befragen ständig das Funktionieren von Text, Bild, Sprache.<br />

Seine Errungenschaft, so Kaja Silverman ist gerade, «to have<br />

articulated an interpretative strategy which permits the realer (or<br />

viewer) to uncover the symbolic field inhabited by a given text,<br />

and to disclose the oppositions – sexual and other – which structure<br />

that field» (Silverman 1983, 237).<br />

«Man sagt: dieses Gemälde von TW ist dies oder das. Aber eher<br />

ist es etwas ganz anderes: ausgehend von diesem oder jenem;<br />

mit einem Wort: zwiespältig, weil buchstäblich und metaphorisch:<br />

es ist deplaziert.» (Barthes 1983, 7)<br />

Barthes’ Verhalten als Leser der Kunst ist die reale Umsetzung des<br />

Certeauschen Lesers. Lesen, schreibt dieser (1991, 295), heißt, «in<br />

einem vorgegebenen System herumzuwandern», wobei die genaue<br />

Trennung zwischen demjenigen der liest und dem lesbaren Text<br />

(Buch oder Bild) nicht aufrecht zu erhalten ist. Der Ort des Lesers<br />

«ist nicht hier oder dort, der eine oder der andere, sondern weder<br />

der eine noch der andere, gleichzeitig innen und außen; er verliert<br />

beide, indem er sie vermischt, indem er stillgelegte Texte miteinander<br />

in Verbindung bringt, deren Erwecker und Gastgeber er<br />

ist, die aber niemals zu seinem Eigentum werden» (Certeau 1991,<br />

297f). Lesen, so Certeau, ist im Sinne von Levi-Strauss (1989, 29f)<br />

«bricolage», Bastelei: Eine Produktion, die auf kein bestimmtes<br />

Vorhaben gerichtet ist.» Und wenn diese Formen der bricolage<br />

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denkbar<br />

auch noch – wie Barthes› ästhetische Artikulationen – selbstreferentiell<br />

sind, geraten sie tatsächlich in die Nähe von Kunst.<br />

Im Kunst-Diskurs der neunziger Jahre distanziert man sich von<br />

den Methoden der Poststrukturalisten 59 – allerdings nur teilweise,<br />

denn mitunter greift man doch auf sie zurück. Mein Verdacht<br />

ist, daß solche Rückgriffe, wenn sie Kommunikationseröffnungen<br />

im Barthes›schen Sinn sind – d.h. offen, ästhetisch, autoreflexiv,<br />

selbstreferentiell, ansteckend und mehr-sagend –, nach wie vor<br />

Sinn machen.<br />

Dr. Eva Sturm, geb. 1962, Kunst und Theorie der Kunstvermittlung, Hamburg, Studium von Kunsterziehung<br />

und Germanistik in Salzburg, Linz und Wien. Ausbildung zur Museumspädagogin: 1996<br />

Erziehungswissenschaftliche Dissertation an der Universität Hamburg bei Prof.Karl-Josef Pazzini.<br />

Co-leitung und Co-Kuratorin in verschiedenen Projekten im Kontext der Kunstvermittlung, Organisation<br />

von Tagungen, u.a. im März 2000 Co-Organisation der Tagung «Dürfen die das Kunst als sozialer Raum.<br />

Art / Education / Cultural Work / Communities» im O.K Centrum für Gegenwartskunst Linz.SoSe 2003<br />

Gastprofessorin am Institut für Kunst im Kontext / Universität der Künste BerlinWiSe 2003/2004 Vertretungsprofessorin<br />

am Kulturwissenschaftlichen Institut: Kunst – Textil- Medien an der Carl von Ossietzky<br />

Universität Oldenburg. Unregelmäßig eigene künstlerische Projekte.<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Timm Ulrichs, geb.1940 in Berlin, der sich selbst seit 1959 als «Totalkünstler» bezeichnet,<br />

ist in der Tradition des Dadaismus zu sehen. Sein berühmtestes Werk ist die Ausstellung seiner<br />

selbst als «erstes lebendes Kunstwerk» 1965, eines der frühen Beispiele für Concept Kunst.<br />

Den oben zitierten Ausspruch tat er im Jahr 1962 (Ulrichs 1975, 36).<br />

2<br />

Die Enzyklopädie hat ein für abendländisches Denken aberwitziges Ordnungsschema. «Dies<br />

ist die Perspektive des Buches: Verfremdung des Eigenen und Ver-Änderung des Gleichen<br />

durch seine Konfrontation mit dem Fremden, demgegenüber es ein Anderes und Fremdes ist.»<br />

(Fink-Eitel 1989, 50) Ähnlich verfährt auch Kunst.<br />

3<br />

Wie notwendig ein gemeinsamer Raum, ein Tableau für Ordnungssysteme ist, zeigt Foucault<br />

am Leiden der Aphasiker. Weil ihnen die Unterlage fehlt, auf der sich die Dinge treffen<br />

können, vermögen sie keine Ordnungen zu bilden. «Das Unbehagen, das uns lachen läßt, wenn<br />

wir Borges lesen, ist wahrscheinlich mit der tiefen Schwierigkeit derjenigen verwandt, deren<br />

Sprache zerstört ist.» (Foucault 1971, 21)<br />

4<br />

Harald Szeemann widmete einen Teil der Documenta V den sogenannten ,.Künstlermuseen».<br />

Zugrunde liegt diesen ein neues Museumsverständnis nach 1968, eine neue Definition<br />

des Ortes: «Das Museum ... (wird ein, E.S.) zentraler Ort, wo Fragiles ausgestellt und neue<br />

Zusammenhänge als Werk ausprobiert werden können.» (Szeemann 1981, 92) Klaus Hoffmann<br />

und Timm Ulrichs produzierten z.B. «das kleinste museum der welt – tabu format»;<br />

Herbert Distel errichtete ein «Schubladenmuseum»; Marcel Broodthaers untersuchte mit<br />

seinem Museum «Der Adler vom Oligozän bis heute» die Aura des Kunstwerks «als lebendig<br />

begrabene Illusion einer bürgerlichen Gesellschaft» (Grasskamp 1979, 72). Claes Oldenburg<br />

baute sein «Mouse Museum», eine fröhlichskurrile thematische Sammlung von Alltagsgegenständen<br />

u.a.m. Die Beispiele von Künstlermuseen setzten sich bis in die Gegenwart fort (vgl.<br />

Grasskamp 1979, 1989; Meinhardt 1993; Speicher 1993; Zeiller 1994).<br />

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306<br />

5<br />

Comte de Lautreamont (1847–1879) (bürgerl. Name: Isidore Ducasse), von dem dieser Satz<br />

stammt, betont die Schönheit dieser Szene. Lautreamont erfreute sich im Kreis der Surrealisten<br />

besonderer Verehrung. (vgl. Badura-Triska 1980, 59).<br />

6<br />

Auch das Beispiel von Lautreamont war zuerst Literatur, also nur im sprachlichen Raum<br />

(und als Vorstellung) existent. Es wurde aber später tatsächlich zum Objekt: Man Rav schuf<br />

1933 eine Hommage à l’ Lautreamont, in der sich tatsächlich ein Regenschirm und eine<br />

Nähmaschine begegnen (vgl. Badura-Triska 1980, 60). Im Kunstwerk fehlt der Seziertisch. Ein<br />

bewusster Verzicht auf eine Unterlage oder ein Verweis auf die Ortlosigkeit der Sprache,<br />

7<br />

«Es ist erstaunlich, welcher Grad von Verwandtschaft zwischen den Aussagen Freuds, der die<br />

Arbeiten seines Zeitgenossen de Saussure nicht gekannt hat, und dessen Konzeption besteht. Freud<br />

spricht von Sach- und Wortvorstellungen und selbst der Begriff des Zeichens ist im gleichen Sinne<br />

gebraucht wie bei Saussure. Freud hat sich damit strukturale Gesichtspunkte zu eigen gemacht. Dies<br />

hat Lacan ermöglicht, ihn in der Terminologie von de Saussure zu lesen.» (Widmer 1990, 39).<br />

8<br />

Die Reize, die z.B. das Auge von außen treffen und die die Physik im elektromagnetischen<br />

Wellenbereich von 400 bis 800 müM nachweisen, werden von uns nicht bloß verarbeitet,<br />

sondern vom Gehirn als Licht und Farbempfindungen gleichsam hervorgebracht. Diese Hervorbringung<br />

schließt sich ab in ihrer Verfügbarkeit mittels der Sprache. Sprache repräsentiert<br />

also nicht Wirklichkeit, sie artikuliert sie erst, mit Hilfe einer Differenz – Name und Begriff –<br />

die erst nachträglich Identitäten als ihre Effekte produziert.» (Meyer 1982, 60, Hervorh. E.S.)<br />

9<br />

An dieser Stelle wird der Unterschied des Lacanschen Wahrnehmungskonzeptes zu anderen<br />

EinSchätzungen des Verhältnisses von Wahrnehmen und Sprache deutlich. Bei Lacan wird<br />

nur durch Sprache, durch Benennung sichtbar, während vergleichsweise, zum Beispiel bei<br />

Rudolf Arnheim, Sprache eine nachgeordnete Funktion einnimmt: «Die Sprache ist kein<br />

Mittel, über die Sinne eine Verbindung zur Realität zu erlangen – sie dient nur dazu, das<br />

Gesehene, Gehörte oder Gedachte zu benennen.» (Arnheim 1965, XIV) Eine ähnlich gelagerte<br />

Einschätzung der Nachordnung von Sprache findet sich zum Beispiel auch im Konstruktivismus<br />

nach Bateson und Maturana, Valera (1987). «Wir leben ... in zwei Wirklichkeiten»,<br />

schreibt der Konstruktivist Gerhard Frank vom Institut für Wechselspiel und Didaktik, Wien,<br />

«in der Wirklichkeit der Ereignisse und Dinge, sowie in der Wirklichkeit der Wörter über<br />

die Ereignisse und Dinge (Postman 1988). ... in einer gewissen Hinsicht ähneln wir einem<br />

wundersamen Fahrzeug, das auf zwei Schienen läuft, die von diesem Fahrzeug während seiner<br />

Reise selbst erzeugt werden. Für jeden Schienenstrang steht dabei ein eigener Konstrukteur zur<br />

Verfügung.» (Frank 1994, 54) Mit Lacan könnte man entgegnen, der eine Schienenstrang (der<br />

Dinge) wird erst durch den anderen (der Sprache) sichtbar.<br />

10<br />

Demgemäß ist auch jede Äußerung über vorsymbolische Zustände, zum Beispiel über den<br />

Zustand von Babys vor dem Sprechen spekulativ.<br />

11<br />

Eine kurze Textpassage aus Janes Redefluß: «Jetzt allgemein: Wo die besten Geschmackseigenschaften<br />

bis spät ins Jahrhundert hinein bewahrt wurden ...». Sich auf den Hocker<br />

des Wärters in der Ecke beziehend: «Vorn Ausmaß und von der Komplexität her ... das<br />

ehrgeizigste Unternehmen ... der großen europäischen Tradition ... Fülle und Anmut ...<br />

unabhängig von Zeit und Wandel ...». Sich beziehend auf «Die vier Jahreszeiten. Der Herbst<br />

des Bacchus»: Ah, und das ist ... Amerikanerin, Mutter, drei Brüder deutlich subnormal, selbst<br />

geistig unterbemittelt, gewalttätig, undiszipliniert und bar jeder Befähigung zur Mutterschaft,<br />

unbeholfen, verantwortungslos ...» (Fraser 1990, <strong>12</strong>4) Die zugehörigen Fußnoten, sich auf die<br />

beiden Zitate im Zitat beziehend, lauten: «Die obenstehende Beschreibungen ... stammen in<br />

der Reihenfolge ihres Vorkommens aus der Introduction to tbe Philadelphia Museum of Art,<br />

Philadelphia: Philadelphia Museum of Art, 1985. Ich betrachte diese Beschreibungen nicht<br />

als Darstellungen von Gemälden, sondern als Repräsentationen des idealen Museumsbesuchers;<br />

Repräsentationen seiner Interessen, Repräsentationen seiner Vor- und Nachteile, seines<br />

Vergnügens und Mißvergnügens. Ich betrachte diese Repräsentationen als ein Begriffsfeld<br />

in einer Reihe von parallelen und gegensätzlichen Repräsentationen, Vorstellungspaaren.<br />

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307<br />

denkbar<br />

Diesen gegenübergestellt werden könnten beispielsweise die folgenden Beschreibungen aus<br />

einer Publikation des Gesundheits- und Wohlfahrtsamts von Philadelphia aus dem Jahr 1910<br />

... (Department of Public Health and Charities of Philadelphia, The Degenernte Children of<br />

Feeble-Minded Women, 1910.)» (Fraser 1990, 134).<br />

<strong>12</strong><br />

Die vielzitierte «Gebärde der Besichtigung» (Rumpf 1990) ist angesagt.<br />

13<br />

Zwar gibt sich das Museum immer den Anschein von Neutralität, doch in Wahrheit<br />

bestimmt es «durch seine Auswahlverfahren, was unter Kunst verstanden wird. Zum Beispiel<br />

Duchamps Readymades haben gezeigt, daß die Funktion des Museums darin besteht, von den<br />

in ihm wohnenden Objekten zu behaupten: Dies ist ein Kunstwerk ... Sein Rahmen verändert<br />

sehr wohl die Bedeutung der in ihm sich befindenden Objekte so wie auch seine Architektur<br />

und Präsentationsform Wahrnehmungsverhalten konditionieren.» (Graw 1991, 2<strong>14</strong>)<br />

<strong>14</strong><br />

Das erste Ready-made Duchamps: «Schon 1913 hatte ich die glückliche Idee, das Rad eines<br />

Fahrrades auf einem Küchenschemel zu montieren und es drehend zu beobachten.» (Duchamp<br />

zit. nach Richter 1964, 93) 19<strong>14</strong> erklärte er einen Flaschentrockner aus dem Kaufhaus zur<br />

Kunst und 1917 datierte er ein Urinoir zum Kunstwerk.<br />

15<br />

«Natürlich ist weder der Flaschentrockner noch das Urinoir Kunst. … Der Flaschentrockner sagt:<br />

Kunst ist Blech. Das Urinoir sagt: Kunst ist Schwindel» (Duchamp zit. nach Bürger 1974, 70f)<br />

16<br />

Schon vor den Futuristen positionierten sich die Künstler gegen das Museum. Manet soll gesagt<br />

haben: «Seid wie die Kinder, geht nicht ins Museum!» Lauter und aggressiver noch waren<br />

die Rufe der italienischen Futuristen. 1909 schrieb Marinetti: «Wir wollen die Museen, die Bibliotheken<br />

und die Akademien jeder Art zerstören ... Schon zu lange ist Italien ein Markt von<br />

Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe<br />

über und über bedecken. Museen: Friedhöfe! ... Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen man<br />

für immer neben verhassten oder unbekannten Wesen schläft! Museen: absurde Schlachthöfe<br />

der Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig mit Farben und Linien entlang der umkämpften<br />

Ausstellungswände abschlachren.» (Marinetti zit. nach Richter 1974, 65) Die Kritik bezog<br />

sich vor allem auf das Museum als bürgerliche Prestige- und Bildungsinstitution.<br />

17<br />

«Die Museen und die Musen - nur bedingt gehören sie zusammen. Sie findet in der Wahrnehmung<br />

statt, nicht an fixen Orten und in fixen Dingen. Die Kunst bewegt sich. Das Museum<br />

als Wächter der Werte und als Bastion fixiert: Ob «Schatzkammer» oder «Waffenkammer»,<br />

ob «Kunsthaus» oder «Zeughaus» - das Museum als konservierender, archivierender und<br />

ästhetisierender Ort und Hort betreibt eine Politik der Entschärfung der Dinge», schreibt zum<br />

Beispiel die Künstlerin Sylvia Breitwieser (1990, 47).<br />

18<br />

Das Zitat verweist auf die wiederkehrende Frage, von wo aus Strukturen besser zu bekämpfen<br />

seien: von innen oder von außen.<br />

19<br />

«Diese Aneignung des Rahmens als Teil der Aussage ist nicht neu, sie begann mit der<br />

Provokation Duchamps und endete vorläufig mit der subtilen musealen Weltsicht von Marcel<br />

Broodthaers.» (Szeemann 1981, 23).<br />

20<br />

Derzeit (Februar 1996) plant die O. Bundeskuratorin Stella Rollig eine Gruppenausstellung<br />

in Chicago, in der Künstler/innen ihren Status und ihre Situation als selbstreferentielle und<br />

institutionskritische Künstler/innen der neunziger Jahre reflektieren sollen.<br />

21<br />

Es gibt viele Theorien über den Beginn der Moderne. Ich orientiere mich an denen, die ihren<br />

Anfang im 19. Jahrhundert orten. Vorausgegangen war diesem die Herauslösung der Kunst<br />

aus sämtlichen profanen Zusammenhängen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Kunst war<br />

eine Welt an sich geworden, die eine Welt für sich schuf. Nicht nur Malraux sieht im Jahr 1947<br />

Manet als den Künstler, in dessen Werk sich der totale Bruch mit dem klassischen Zeitalter<br />

erstmals in Reinform manifestiert. (vgl. Malraux 1987)<br />

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3<strong>08</strong><br />

22<br />

Die «Episteme» einer Zeit ist «das dem alltäglichen Wissen, der Wissenschaft und der Philosophie<br />

einer Epoche zugrundeliegende, kognitive Ordnungsschema» (Fink-Eitel 1989, 38) Foucault<br />

diagnostiziert zwei große Diskontimitaten in der Episteme der abendländischen Kultur:<br />

1. Renaissance: Ähnlichkeit<br />

2. (ab ca. 1650) Klassisches Zeitalter: Repräsentation<br />

3. (ab ca. 1800) Moderne: Mensch<br />

Die epistemischen Entwicklungen laufen nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich und<br />

über harte Brüche.<br />

23<br />

vgl. Boehm 1995, 23f<br />

24<br />

«Auf der archäologischen Ebene sieht man, daß das System der Positivitäten sich an der<br />

Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert auf massive Weise gewandelt hat. Das<br />

heißt nicht, daß die Vernunft Fortschritte gemacht hat, sondern daß die Seinsweise der Dinge<br />

und der Ordnung grundlegend verändert worden ist, die die Dinge dem Wissen anbietet,<br />

indem sie sie aufteilt.» (Foucault 1971, 25)<br />

25<br />

Die Legitimität für diesen Gedanken-Sprung hole ich mir von Foucault selbst. Ich verlasse<br />

seinen Denk-Zusammenhang in der «Ordnung der Dinge» für einen Moment, überspringe<br />

seine kompliziert entwickelte Kritik an den Humanwissenschaften, an denen er eine zweifelhafte<br />

Rationalität und letztlich auch Unwissenschaftlichkeit diagnostiziert, und begebe mich<br />

zu Foucaults eigener Hoffnung, den von ihm vorgeschlagenen «Gegenwissenschaften». Zu<br />

diesen zählt er neben der Ethnologie (Levi-Strauss), vor allem die Psychoanalyse (Lacan) und<br />

die Linguistik (v.a.Saussure). Mit ihnen denkend, will Foucault die humanwissenschaftliche<br />

Subjektphilosophie, die eine Subjcktzentrierung ist, überwinden.<br />

26<br />

Foucaults Strategie ist, Gefahren durch Analysen aufzudecken, um sie zu bekämpfen.<br />

27<br />

Mit der Konzeption von Sprache als Artikulation ist ein Grundproblem abendländischen<br />

Denkens berührt. Hermann Lang unterscheidet grundsätzlich zwei Traditionen: Da ist einmal<br />

jene Tradition «von Platon über Hegel bis zu Husserl und der neopositivistischen Philosophie,<br />

die Sprache, das Wort, als etwas Konzipiertes, das zu einer bereits bestehenden Idee, Vorstellung<br />

Bedeutung hinzutritt und diesem Vorgegebenen Ausdruck gibt. Auch Freud reiht sich in<br />

diese Tradition» (Lang 1986, II). Ihr gegenüber steht eine andere Tradition, «die vom ersten<br />

Satz des Johannes-Evangeliums und der aristotelischen Bestimmung des Menschen als desjenigen<br />

Lebewesens, das Sprache hat, über die Sprachwissenschaft Wilhelm von Humboldts<br />

bis zur philosophischen Hermeneutik Heideggers und Gadamers sowie zur Linguistik eines<br />

Whorf reicht» (Lang 1986, 11I). In dieser Tradition drückt Sprache nicht etwas Vorgegebenes<br />

aus, «ist vielmehr Artikulation für dieses Vorgegebene selbst, konstitutiv für menschliches<br />

Dasein überhaupt» (Lang 1986, 111, Hervorh. E.S.). In diese Tradition schreiben sich auch<br />

Foucault und die französischen Strukturalisten ein.<br />

28<br />

Magritte war, wie Gottfried Boehrn (1995, 29) konstatiert, sicherlich nicht daran interessiert,<br />

«erkenntniskritische Probleme mit den Mitteln der Malerei zu illustrieren. ... Es ging<br />

ihm darum, in der sichtbar gewordenen Lücke, dort wo die Differenz zwischen ikonischen<br />

Zeichen und bezeichneter Sache aufklafft, die Erfahrung einer entgrenzten, schlechterdings<br />

vorsprachlichen Wirklichkeit zu stimulieren. ... Er nennt diesen anderen Zustand der Realität<br />

das Mysterium. Seiner logischen Struktur nach ist er kein irrationaler Ausbruch, sondern jenes<br />

Ganze, das sich dann zeigt, wenn wir über die Grenzen von Bild und Sprache, vom Künstler<br />

kundig gelenkt, einen kurzen Blick hinaus tun. Die Störung der Referenz, die bis zur Kluft<br />

vertiefte Distanz von Wort und Bild bedeutet für Magritte (und darin ist er ein typischer<br />

Moderner) eine Erkenntnischance, eine Erweiterung der bekannten Welt.»<br />

29<br />

«... für das Reale, in welche Unordnung man es auch immer bringt, befindet es sich immer<br />

und in jedem Fall an seinem Platz, es trägt ihn (den Ort, den Platz, E.S.) an seiner Sohle mit<br />

sich fort, ohne daß es etwas gibt, das es aus ihm verbannen könnte» (Lacan 1973, 24).<br />

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309<br />

denkbar<br />

30<br />

«Die Geschichte des Wahnsinns wäre die Geschichte des Anderen, dessen, das für eine Zivilisation<br />

gleichzeitig innerhalb und außerhalb steht, also auszuschließen ist (um die innere Gefahr zu bannen),<br />

aber indem man es einschließt (um seine Andersartigkeit zu reduzieren).» (Foucault 1971, 27).<br />

31<br />

Auch in der Theorie versucht man, sich an dieses Reale, dieses Ek-sistierende heranzuschreiben,<br />

einen Begriff, ein Bild davon zu geben, eine symbolisch-visionäre Ahnung zu artikulieren<br />

von dem, was es sein könnte. Der Lacanianer Slovoi Zizek zum Beispiel versucht das «Reale»<br />

anhand einer Szene aus einem Science-fiction-Roman zu charakterisieren: In The Unpleasant<br />

Profession of Jonathan Hoag von Robert Heinlein fahren die beiden Protagonisten in ihrem<br />

Auto mit dem Auftrag, auf keinen Fall das Fenster ihres Wagens zu öffnen. Auf ihrer Fahrt<br />

passieren sie einen Unfall, bei dem ein Kind von einem Auto überfahren wurde. Zunächst<br />

beherrschen sie sich und lassen das Fenster geschlossen. Als sie aber einen Streifenpolizisten<br />

sehen, beschließen sie, es doch zu öffnen, um Bericht zu erstatten. Doch in dem Moment, als<br />

die Protagonistin das Fenster öffnet, ist außerhalb des Wagens - nichts. Sie sehen nichts, «als<br />

einen grauen, gestaltlosen Nebel, der langsam pulsierte, wie erfüllt von primitivem Leben.<br />

Durch den Nebel hindurch konnten sie nichts von der Stadt sehen, nicht weil er zu dicht war,<br />

sondern weil er leer war. Kein Geräusch war aus ihm zu hören; keine Bewegung zeigte sich in<br />

ihm. Er verschmolz mit dem Fensterrahmen und begann hereinzuströmen. ... Dieser graue und<br />

gestaltlose Nebel ..., was ist er anderes als das Lacanscbe Reale, das Pulsieren der präsymbolischen<br />

Substanz in ihrer horriblen Vitalität» (Zizek 1992a, 25f).<br />

32<br />

vgl. Widmer 1990, <strong>14</strong>5<br />

33<br />

«In dem Augenblick, in dem man sich darüber klar geworden ist, daß alle menschliche<br />

Erkenntnis, alle menschliche Existenz, alles menschliche Leben und vielleicht das ganze biologische<br />

Erbe des Menschen in Strukturen eingebettet ist, d.h. in eine formale Gesamtheit von<br />

Elementen, die beschreibbaren Relationen unterworfen sind, hört der Mensch sozusagen auf,<br />

das Subjekt seiner selbst zu sein. Man entdeckt, daß das, was den Menschen möglich macht, ein<br />

Ensemble von Strukturen ist, die er zwar denken und beschreiben kann, deren Subjekt, deren<br />

souveränes Bewußtsein er jedoch nicht ist.» (Foucault zit. nach Altwegg, Schmidt 1987, 86)<br />

34<br />

«In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen<br />

denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist<br />

nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich<br />

ist, zu denken.» (Foucault 1971, 4<strong>12</strong>)<br />

35<br />

Eine differenzierte Lektüre von Kunst-/ Museen mit der Foucaultschen Archäologie wäre<br />

eine eigene Untersuchung wert.<br />

36<br />

Ausgangspunkt für die hier erstellte Liste ist die «Qualitätenliste» von Brüderlin (1993, 43).<br />

Sie wurde von mir überarbeitet und um zwei Qualitäten erweitert.<br />

37<br />

Hielte man sich genau an die Gesetze der Semiologie, so wäre der Begriff der Artikulation,<br />

auf die Werke selbst bezogen, nicht ganz korrekt. So antwortet etwa Roland Barthes (1990,<br />

157) auf die Frage, ob Malerei (und andere Werke der Kunst) eine eigene Sprache wäre(n):<br />

«Bisher blieb ... die Antwort (in der Semiologie, E.S.) aus. Man war nicht imstande, das allgemeine<br />

Vokabular und die allgemeine Grammatik der :Malerei zu erstellen, die Signifikanten<br />

und die Signifikate des Bildes auseinanderzudividieren und ihre Substitutions- und Kombinationsregeln<br />

zu systematisieren.» Die Bestrebungen der klassischen Semiotik liefen bis jetzt<br />

darauf hinaus, «angesichts der Vielgestaltigkeit der Werke (Gemälde, Mythen, Erzählungen)<br />

ein Modell zu erstellen oder zu postulieren, von dem aus sich jedes Produkt in Begriffen der<br />

Abweichung definieren ließe» (Barthes 1990, 158). Man müßte diese strengen Gesetze der<br />

Semiologie verlassen, fordert Barthes und tut es auch.<br />

38<br />

Schränkt man künstlerische Artikulationen auf «Objekte» ein, so setzt man sich speziell in<br />

den neunziger Jahren leicht dem Vorwurf aus, reaktionär zu denken. «Kunst ist für mich ein<br />

sich permanent verändernder Begriff - durch den schnellen Schlagabtausch der Beteiligten»,<br />

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310<br />

formuliert etwa Ute Meta Bauer (1994, 426f), eine andere Stimmführerin des gegenwärtigen<br />

KunstDiskurses. «Mich ärgert, wenn die Museen und Institutionen den Kunstbegriff nachwievor<br />

auf das Bild / die Installation limitieren. Das stimmt doch so nicht mehr. Das ist reaktionärer<br />

denn je.» Wenn also hier vom «Objektstatus» die Rede ist, so bedeutet dies nicht eine<br />

Einschränkung des Kunstverständnisses auf Objekte. Zu bedenken bleibt allerdings auf der<br />

anderen Seite, daß der materielle Überrest, die reale Spur, das Objekt nach wie vor Qualitäten<br />

aufweisen, auf die man nicht so schnell verzichten wollen / können wird. (vgl. Fliedl 1995a;<br />

Fliedl, Pazzini 1994; Schwärzler 1992; u.a.m) Dazu mehr in Kapitel 111.<br />

39<br />

Umberto Eco verfolgt mit seinem Sender-Empfänger-Modell ein anderes Komrnunikations-<br />

und Wahrnehmungskonzept als die strukturale Psychoanalyse. Ersterer führt auch die<br />

klassische Trennung zwischen Subjekt und Objekt fort. Im Unterschied dazu wird zweitere,<br />

sich als Theorie des Subjekts darstellend, diese Zweiteilung unterlaufen.<br />

40<br />

Das «weiße Rauschen hat keine Information mehr, es ist die «undifferenzierte Summe aller<br />

Frequenzen»(Eco 1964,172).<br />

41<br />

Eco bleibt bei seinem Konzept der «Kontrolle»: «Vor dreissig Jahren ging es mir, auch<br />

ausgehend von Luigi Pareysons Interpretationstheorie, darum, eine Art von Oszillation oder<br />

instabilem Gleichgewicht zwischen Initiative des Interpreten und Werktreue zu definieren. im<br />

Lauf dieser dreißig Jahre haben manche sich zu sehr auf die Seite der Initiative des Interpreten<br />

geschlagen. Es geht jetzt nicht darum, einen Pendelausschlag in die entgegengesetzte Richtung<br />

zu vollführen, sondern noch einmal die Unausweichllchkeit der Oszillation zu betonen.» (Eco<br />

1992, 22, Hervorh. E.S.)<br />

42<br />

1994 hielt zum Beispiel der Theoretiker Martin Zeiller einen Vortrag über Künstlermuseen.<br />

Bei jedem Zitat, das er vorlas, winkte er mit einem Stofftaschentuch in der rechten Hand, als<br />

wollte er etwas Unsichtbares wegfächeln, das durch die Lektüre der Zitate entstanden war.<br />

43<br />

«Kunst nun – ganz allgemein gesprochen mit Gültigkeitsanspruch von etwa 1900 an -, was<br />

im einzelnen, im Besonderen erst erwiesen werden kann, setzt sich mit dem Problem der Repräsentation<br />

selber auseinander. Nicht zuletzt daraus, entsteht der Streit und die Schwierigkeit<br />

zu sagen, was denn Kunst sei. Wir haben aber Kenntnis davon, dass es solches gibt. Und die<br />

Kunst und der Streit darum zeigen es uns.» (Pazzini 1990, 19)<br />

44<br />

«Die Readv-mades stehen ausserhalb des Systems und konstituieren gleichzeitig das System.<br />

Malewitschs Schwarzes Quadrat und Picassos Demoiselles d’Avignon bestimmten das Feld<br />

der Malerei neu ... . Die Fontäne (oder der Flaschentrockner, ES.) aber legte die Strukturen<br />

offen.» (Wulffen 1994, 55)<br />

45<br />

Ich denke zum Beispiel an das Gemälde «Las Meninas» von Diego Veläsquez, 1656, Madrid<br />

Museo des Prado. Michel Foucaults (1971, 31 f) Analyse des Werkes als eines, welches das<br />

Ende der Repräsentation ankündigt und in dieser Weise seibstreferentiell genannt werden kann,<br />

löste eine Flut theoretischer Schriften aus. (vgl. Asemissen 1981; Schmeiser 1990; u.a.m.)<br />

46<br />

«Kunst lebt heute nicht mehr in den Werken, sondern durch die Kommunikation über die<br />

Produktionen, die Werke genannt werden. Die künstlerische Qualität ist dann abhängig von<br />

der Qualität der Kommunikation. Verantwortlich sind gerade Sie!» (Lingner 1991)<br />

47<br />

Die Frage, so Johannes Meinhardt (1993, 161), ist nicht mehr Was ist die Kunst, sondern<br />

Wo ist die Kamst. «Zu versuchen, den Raum der Kunst (und nicht mehr ihr Wesen) zu<br />

definieren, den Ort unserer Kultur, wo die Figur der Kunst sich erhebt, könnte uns wohl<br />

helfen, das zu sehen, was sie konstituiert, uns so eine Frage wie Was ist die Kunst aufknoten»<br />

(l.ebensztejn zit. nach Meinhardt 1993, 161) «Diese Forschung wird heute schon in der vierten<br />

künstlerischen Generation betrieben: Sie begann um 1915 mit Marcel Duchamp, wurde in den<br />

späten 60er Jahren von Daniel Buren und Marccl Broodthaers weitergetrieben, in den frühen<br />

80er Jahren von Louise Lawler und Allan McCollum auf das gesellschaftliche Phänomen<br />

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311<br />

denkbar<br />

Kunst generell ausgeweitet, und wird in den 90er Jahren von einer neuen Generation junger<br />

Künstler eingesetzt.» (Meinhardt 1993, 161)<br />

48<br />

«Ich beschäftige mich ... mit zwei Disziplinen», so etwa Karl-Josef Pazzini (19926, 40) «der<br />

Psychoanalyse und der Kunst- (Pädagogik), die ein gemeinsames Merkmal hahen: ihre Zwecklosigkeit<br />

oder Ziellosigkeit oder einen nicht-nutzenorientieren Gebrauch der Sprache. Dieses<br />

Charakteristikum haben sie mit Kunst gemeinsam.»<br />

49<br />

In beiden geht es um das ohen genannte prozessuale Wo (ist Kunst / Liebe) und das Wann<br />

(ist Kunst / Liebe), und weniger um das definitorische Was ( ist Kunst / Liebe).<br />

50<br />

In diesem Sinne ist es nicht nur immer wieder notwendig zu betonen, dass Kunst zu machen,<br />

ein Beruf ist wie jeder andere auch, sondern auch auf die Instrumentalisierung dieser<br />

leidenschaftlichen Artikulationsform zu verweisen. «... es kann gar nicht um eine Ontologie<br />

des Künstlerischen gehen, sondern um eine Analyse von Kunst innerhalb der verschiedenen<br />

gesellschaftlichen Felder. ... Nicht Funktionslosigkeit ist das Kriterium zeitgenössischer Kunst,<br />

wie die Modernisten immer so euphorisch behaupten, sondern wie diese technologische Funktionslosigkeit<br />

sozial und politisch instrumentalisiert, motiviert und bedingt wird.» (Draxler<br />

1993) Es geht also gerade nicht darum, das künstlerische Schaffen zu mystifizieren, sondern<br />

zu yersachlichen, ohne aber dessen spezifische Qualitäten aus den Augen zu verlieren.<br />

51<br />

Das oben dargestellte Ecosche Modell vom permanenten Bruch mit herrschenden Codes in<br />

der Moderne erscheint hier aus einem anderen Licht.<br />

52<br />

Nocheinmal zeigt sich der Unterschied zwischen Marc Le Bot und Umberto Eco. Bei letzterem<br />

bleiben Subjekt und Objekt getrennte Entitäten.<br />

53<br />

Michel de Certeau (1925–1986), Historiker und Spezialist für Mystik. Mitglied der Ecole<br />

freudienne seit ihrer Gründung. Philosoph, Linguist, Ethnologe, Soziologe.<br />

54<br />

Peter Bichsel, geb. 1935 in Luzern, ist Schriftsteller.<br />

55<br />

Wolfgang Kemp (1992) will eine «Geschichte der Kunstbetrachtung» aus der «Geschichte<br />

der Institutionen» entwickeln. Die Rezeptionsästhetik arbeitet eng mit der Wahrnehmungspsychologie<br />

zusammen und entwickelt eine «Betrachterforschung°, welche Rückschlüsse auf<br />

das Rezeptionsverhalten ermöglichen soll.<br />

56<br />

Der Poststrukturalismus, der sich Ende der siebziger Jahre in Frankreich entwickelte, ist zunächst<br />

«Diskursanalyse und Diskurskritik; revolutionäre: Möglichkeiten sehen Poststrukturalisten vor<br />

allem in der Revolution des Diskurses, im subversiven Sprechen und Schreiben» (Schiwy 1985, 17).<br />

57<br />

Der Unterschied zwischen Sprechen und Schreiben wird an anderer Stelle noch genauer<br />

(Kapitel IV) erläutert.<br />

58<br />

«In seinem ursprünglichen Sinn lässt sich das Verbum bricoler auf Billard und Ballspiel, auf<br />

Jagd und Reiten anwenden, aber immer, um eine nicht vorgezeichnete Bewegung zu betonen:<br />

die des Balles, der zuspringt, des Hundes, der Umwege macht, des Pferdes, das von der geraden<br />

Bahn abweicht, um einem Hindernis aus dem Weg zu gehen.» (Levi-Strauss 1989, 29f)<br />

59<br />

«Postmoderne / Poststrukturalismus bestanden ja gegenüber einem hierarchischen Denken<br />

auf einem topologiscben (Lyotard) oder geographiscben (Foucault), z.B. darauf, dass die Wissenschaft<br />

keine ausgezeichnete Erkenntnisweise gegenüber Literatur sei. Feststellungen, hinter<br />

die ich keineswegs zurück will, dennoch hat dieses Denken zu immer mehr Offenheit, immer<br />

mehr eklektizistischer Beliebigkeit, immer mehr Nivellierung und Kriterienverlust geführt.»<br />

(Terkessidis 1992, 94) Die Gefahren, auf welche Terkessidis hier hinweist, sind nicht zu leugnen.<br />

Die Qualität des Diskurses von Roland Barthes ist hoch. Dennoch sollte das Kind nicht<br />

mit dem Bade ausgeschüttet werden, gerade nicht mit dem verdeckten oder offenen Argument<br />

der versuchten Rückgewinnung einer letztlich und einzig gültigen legitimen Sprache.<br />

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313<br />

denkbar<br />

7<br />

Mieke Bal<br />

Sagen, Zeigen, Prahlen 1<br />

Für »A« in liebendem Angedenken<br />

Umgebung als Bild, Natur als Zeichen<br />

New York City – in vieler Hinsicht das Herz und die Ikone der<br />

amerikanischen Kultur – gibt dem Flanierenden die Möglichkeit,<br />

die semiotische Aufladung der Umgebung auf sich einwirken zu<br />

lassen. Mit ihrer Zentralachse, die zentripetal auf ihr grünes Herz<br />

hinlenkt, das an die von ihr selbst verdrängte unentbehrliche<br />

Natur erinnert, mit ihren gewaltigen, den Park entlang verlaufenden<br />

Hauptstraßen artikuliert schon die Gestalt der City die<br />

Wichtigkeit eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Hintergrund<br />

und Figur, zwischen Gesamtplan und Einzelheiten sowie<br />

zwischen Organisation und Spontaneität.<br />

Dem Touristen, der von Downtown her nach Manhattan<br />

kommt, fällt es vielleicht nicht einmal auf, wie klar die Symmetrie<br />

in der Mitte der Stadt ist: Auf jeder Seite des Central Park, diesem<br />

Zeichen eines unentbehrlichen, domestizierten Reservats der<br />

Natur-in-der-Kultur, liegt eines der beiden Hauptmuseen – Reservate<br />

der Kultur und der Natur. Die Symmetrie gilt ebenso wie der<br />

sie tragende rationale Grund als selbstverständlich. Der Stadtplan<br />

selbst verweist auf Elemente des Lebens der Stadt.<br />

Zur Rechten, auf der eleganteren East Side, liegt das Metropolitan<br />

Museum of Art, auch MMA oder Met genannt: die Schatzkammer<br />

der Kultur. Die große Kunst der Welt wird hier gehortet<br />

und ausgestellt, und das mit einer quantitativen wie auch ausstellerischen<br />

Betonung der Kunst des europäischen Abendlands, als<br />

sollte damit eine ästhetische Basis für die in dieser Gesellschaft<br />

herrschenden sozialen Strukturen zur Geltung gebracht werden.<br />

Dadurch wirkt die den Park umgebende Welt nachgerade normal. 2<br />

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3<strong>14</strong><br />

Das Museum entspricht allen von seiner eigenen sozialen Umgebung<br />

gesetzten Prioritäten: Die westeuropäische Kunst dominiert,<br />

die amerikanische Kunst kommt an zweiter Stelle gut weg – ein<br />

weniger gewichtiger Verwandter, der heranwächst, indes Europa<br />

verfällt –, während die parallele Behandlung der buchstäblich im<br />

Dunkeln aufbewahrten »archaischen« und »fremden« Kunst von<br />

Mesopotamien bis Indien mit der Bedeutung kontrastiert, die man<br />

der »Antike«, den Griechen und Römern, als Vorläuferin zubilligt.<br />

Der Gesamteindruck ist einer der vollständigen Verfügung, des<br />

Besitzens und Hortens: Das Met hat die Kunst der Welt innerhalb<br />

seiner Mauern, und seine Besucher haben sie in der Tasche.<br />

Die West Side hat, heute zumindest, weniger »Klasse«. Auf der<br />

linken Seite des Parks steht das American Museum of Natural<br />

History (AMNH). Um zehn <strong>Uhr</strong> morgens ist Gelb die vorherrschende<br />

Farbe in der Umgebung. Zu dieser Zeit entlassen die zahllosen<br />

Schulbusse jene lärmenden Kindergruppen, die das Museum<br />

besuchen, um etwas über das Leben zu erfahren. Eine 1984 veröffentlichte<br />

und 1990 unter dem ein wenig bombastischen Titel<br />

Official Guide to the American Museum of Natural History wieder<br />

aufgelegte Broschüre liegt im Museum zum Verkauf aus und<br />

sorgt dafür, dass die Bedeutung, die dieser Institution auf dem<br />

Stadtplan zukommt, vom Publikum nicht unterschätzt wird. Der<br />

Anfang dieser Broschüre lautet: Das amerikanische Museum für<br />

Naturgeschichte, ein Komplex aus großen Granitgebäuden mit<br />

Türmen, die Aussicht auf die Westseite des Central Park gewähren,<br />

breitet seit über einem Jahrhundert seine Wunderdinge vor<br />

einem dankbaren Publikum aus. Die hier aufbewahrten Schätze<br />

bezaubern jedes Jahr Millionen von Besuchern und werden von<br />

hiesigen Wissenschaftlern wie von Gastforschern aus der ganzen<br />

Welt studiert. Mit diesem Museum wurde der Menschheit und<br />

der Natur ein Denkmal gesetzt. Es belehrt, gibt Anregungen und<br />

liefert eine solide Grundlage für das Verständnis unseres Planeten<br />

und seiner verschiedenen Bewohner. 3<br />

Der Guide hat gar keine Ähnlichkeit mit einem richtigen Führer. Die<br />

Broschüre enthält weder Raumverteilungspläne noch ein Verzeich-<br />

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315<br />

denkbar<br />

nis der Ausstellungsstücke; sie schlägt weder einen Weg durch die<br />

Räume vor, noch zeichnet sie sich durch einen Katalog aus. Der Akzent<br />

liegt auf einer Selbstpräsentation, die darstellt, in welche Richtung<br />

die Ambitionen dieser Einrichtung vor allem gehen. Nimmt<br />

man die Broschüre als Symptom des Selbstgefühls dieses Museums,<br />

frappiert insbesondere das insistierende Gebaren. 4 Dieses grandiose<br />

Bild des Museums wird offenbar nicht einfach vorausgesetzt. Die<br />

emphatische und wiederholte Darstellung der Ambitionen dieser<br />

Institution signalisiert ein gewisses Unbehagen hinsichtlich der eigenen<br />

Stellung, einen Mangel an Selbstverständlichkeit, dem ebenjene<br />

Konflikte innewohnen, aus denen sie hervorging und in deren<br />

Rahmen sie steht: Sie ist nicht fest angesiedelt.<br />

An diesem Unbehagen ist nichts Verwunderliches: In einer Zeit<br />

des Postkolonialismus werden wir hier mit einem Produkt des<br />

Kolonialismus konfrontiert. Die Vergangenheit kollidiert mit der<br />

Gegenwart, zu der sie ebenfalls gehört und aus der sie nicht herausoperiert<br />

werden kann, obwohl sie im Inneren der Gegenwart<br />

als Sonderling weiterbohrt. Auf dem Wege einer Erkundung der<br />

das Ausstellen betreffenden Fragen werden die Unruhe im Wesen<br />

dieses Monuments der ruhigen Besiedlung und die Verfahren der<br />

Auseinandersetzung damit im vorliegenden Kapitel thematisiert.<br />

Diese monumentale Institution beherbergt das »Andere« des<br />

Met in dreierlei Hinsichten, deren jede etwas Paradoxes hat.<br />

Erstens ist sie nicht der Kultur, sondern der Natur gewidmet.<br />

Dennoch wird die Natur mit dem fundamentalen, definierenden<br />

Merkmal der Kultur ausgestattet: mit Geschichte. Zweitens haben<br />

in diesem Museum die Tiere Vorrang und werden in ihrer »natürlichen«<br />

Umgebung vorgeführt, deren Darstellung mit grösstem<br />

künstlerischem Können gestaltet ist. Die natürliche Umgebung<br />

ist der Hintergrund des Tierreichs. Doch daneben gibt es einige<br />

Räume, die Völkern gewidmet sind, den Völkern Asiens, Afrikas,<br />

Ozeaniens und den Ureinwohnern Amerikas. Das sind genau die<br />

Völker, deren künstlerische Hervorbringungen im Met in abgelegenen<br />

und dunklen Sälen ausgestellt werden. Dabei handelt es<br />

sich um die »exotischen« Völker, von denen Werke produziert<br />

wurden, die wir nur zögernd, unseres Urteils ungewiss, als Kunst<br />

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316<br />

einstufen. Hier werden diese Werke als Artefakte ausgestellt und<br />

bleiben somit streng auf der anderen Seite des von Clifford dargelegten<br />

Kunst-Kultur-Systems. 5<br />

Das Nebeneinander der Kulturen dieser Völker und der Tiere<br />

ist konstitutiv für den Konflikt im Innersten dieses Museums und<br />

unterscheidet es von seinem unangezweifelt elitären Kollegen jenseits<br />

des Parks. Durch ebendiese Teilung des Stadtplans wird der<br />

allgemeine Begriff »Menschheit« mit spezifischem Sinn erfüllt.<br />

Die Aufteilung von »Kultur« und »Natur« auf das östliche bzw.<br />

westliche Manhattan degradiert die grosse Mehrheit der Weltbevölkerung<br />

in den Rang statischen Daseins und billigt ihr im Rahmen<br />

der Geschichte nur einen geringen Anteil am höheren Status<br />

der Kunstproduzenten zu. Während die in den Schaukästen ausgestellte<br />

»Natur« im Stillstand erstarrter Hintergrund ist, wird<br />

die »Kunst« im Met als unabänderliche Entwicklung präsentiert<br />

und mit Geschichte ausgestattet. Aber auch das AMNH führt<br />

eine Geschichte vor, nämlich die Geschichte der Fixierung, der<br />

Leugnung der Zeit. Seine eigene Geschichte. 6<br />

Doch im Rahmen der Darstellung dieser fremden Völker<br />

nimmt die Ausstellung der künstlerischen Produktion einen<br />

wichtigen Platz ein. Die Artefakte fungieren als Indizes der<br />

Kulturen, deren Strukturen und Lebensweisen vom früheren<br />

(hauptsächlich früheren) und gegenwärtigen Personal des Museums<br />

aufwendig gestaltet wurden. Ihre Kunstwerke jedoch<br />

verweisen nicht auf die Kunst jener Völker, sondern auf den<br />

Realismus ihrer Darstellung. Sie dienen einem »Effekt des Realen«,<br />

einem Effekt, bei dem die Bedeutung »realistisch« die<br />

Oberhand gewinnt über die spezifischen Bedeutungen. 7 Anstatt<br />

wie auf der Ostseite des Parks als zu ästhetischen Objekten verarbeitete<br />

Artefakte zu gelten, sind sie als Natur interpretierte<br />

Indizes. 8 Das AMNH beherbergt das Andere des Met auch in<br />

diesem dritten Sinn: Es stellt Kunst als Natur aus, denn wenn<br />

es sich erweist, dass die »Natur« schwer zu isolieren ist, kommt<br />

die »Kunst« zu Hilfe, allerdings als Dienerin der Natur. Während<br />

das Met Kunst um der Kunst willen als Höhepunkt der<br />

Errungenschaften des Menschen ausstellt, zeigt das AMNH<br />

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317<br />

denkbar<br />

Kunst als instrumentelles, kognitives Werkzeug: als anonym,<br />

notwendig, natürlich.<br />

Diese Exposition – im umfassenderen, allgemeinen Sinn von<br />

»einen Gedanken exponieren« wie auch im spezifischen Sinn von<br />

»ausstellen« – zeigt auf Objekte und macht im Vollzug dieser Gebärde<br />

eine Aussage. Der konstative Sprechakt übermittelt einen<br />

»Text«, der aus dem zusammengesetzten Satz »Diese Artefakte<br />

sind natürlich (im Gegensatz zu künstlerisch)« plus »Dies (diese<br />

Auffassung) ist real« besteht. Hoffentlich wird es mir gelingen,<br />

diesen Text weiter zu analysieren und in seine »Teilsätze«, wie ich<br />

sie 1991 bei meinem Besuch las, zu zerlegen.<br />

Wer spricht<br />

Ein erstes Element, das zutage gefördert werden muss, ist das unsichtbare<br />

»Ich«, das Subjekt des Texts, jenes schwer fassbare deiktische<br />

Element, das ausserhalb der diskursiven Situation selbst<br />

keine Bedeutung hat. Zunächst möchte ich mit Nachdruck auf<br />

die falsche Antwort hinweisen, die sich hier einschleichen könnte:<br />

Der expositorische Akteur ist nicht mit den Kuratoren und dem<br />

übrigen Museumspersonal identisch. Die Leute, die derzeit in Museen<br />

arbeiten, sind bloss ein winziges Bindeglied in einer langen<br />

Kette von Subjekten.<br />

Das amerikanische Museum für Naturgeschichte hat nicht<br />

nur in puncto Architektur und Gestaltung etwas Monumentales,<br />

sondern auch im Hinblick auf Grösse, Umfang und Inhalt. Diese<br />

Monumentalität verweist schon als solche auf die Hauptbedeutung<br />

des Museums, die es aus seiner Geschichte geerbt hat:<br />

umfassende Sammeltätigkeit im Rahmen des Kolonialismus. 9 In<br />

dieser Hinsicht gehören Museen einer von der Renaissance bis ins<br />

frühe zwanzigste Jahrhundert reichenden Zeit wissenschaftlicher<br />

und kolonialer Ambitionen an, die ihren Höhepunkt in der zweiten<br />

Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erlebte. Sie gehören zur<br />

selben Kategorie wie gleichzeitige Bemühungen auf Gebieten wie<br />

etwa experimentelle Medizin (Claude Bernard), Theorien der biologischen<br />

Evolution (Charles Darwin) und der naturalistische Roman<br />

(Emile Zola) und sind, ebenso wie diese, mit dem Anspruch<br />

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aufgetreten, eine umfassende Untersuchung des gesellschaftlichen<br />

Bereichs vorzulegen. Derartige Projekte sind durch die postromantische<br />

Kritik, den postkolonialen Protest und die postmoderne<br />

Desillusionierung endgültig kompromittiert worden. 10<br />

Doch diese beunruhigende Vorsilbe »post-« macht die Dinge<br />

nicht leichter. Jedes Museum dieser Grösse und mit derartigen<br />

Bestrebungen trägt heutzutage die Last eines doppelten Status.<br />

Unweigerlich ist es zugleich ein Museum des Museums, ein Reservat<br />

– allerdings nicht für gefährdete natürliche Arten, sondern<br />

für ein gefährdetes kulturelles Selbst –, ein Metamuseum. 11 Ein<br />

solches Museum regt nolens volens zu Reflexionen über seinen<br />

eigenen ideologischen Standort an, die auch ebendiesen Standort<br />

widerspiegeln. Es spricht seine eigene Mitschuld an Herrschaftspraktiken<br />

an, während es zugleich an einem Erziehungsprojekt<br />

weiterarbeitet, das, nachdem es aus jenen Praktiken hervorgegangen<br />

ist, neuen Auffassungen und pädagogischen Bedürfnissen angepasst<br />

worden ist. Ja, in den Selbstdarstellungen des Museums,<br />

zu denen auch der Guide gehört, wird sein Nutzen für Forschung<br />

und Bildung herausgestrichen. Somit beginnt das »Ich« auf sich<br />

selbst zu zeigen.<br />

Es kann leicht passieren, dass die Kritik am Sammelgedanken<br />

des neunzehnten Jahrhunderts ihren Zweck verfehlt, wenn es ihr<br />

misslingt, die weit zurückliegende Vergangenheit – die viktorianische<br />

Zeit als schlechtes Gewissen des ausgehenden zwanzigsten<br />

Jahrhunderts – mit der Gegenwart zu konfrontieren, deren Bindungen<br />

an das, was sie der Kritik unterzieht, ebenfalls einer Bewertung<br />

bedürfen. Das ist das Missliche an der Vorsilbe »post-«<br />

wie an den Fächern, denen es um eine Archäologie des Sinns geht.<br />

Einerseits suggeriert die Vorsilbe eine gewisse Ablösung, ein Durchschneiden<br />

der Nabelschnur, die unsere Zeit mit der Geschichte verbindet,<br />

andererseits erinnert sie uns an das, was sie hinter sich lässt,<br />

und pocht darauf, dass wir mit dem »post-« in uns selbst ins reine<br />

kommen. <strong>12</strong><br />

Hier werde ich also den metamusealen Status der Schaustücke<br />

im AMNH betrachten, wie ich sie dort vorfand, wo der Gestus<br />

des Ausstellens auf den Inhalt des Satzes stösst; wo das Museum<br />

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denkbar<br />

als expositorischer Akteur seine Karten aufdeckt, indem es das<br />

Andere zeigt. Die Analyse lässt sich auf den jetzigen Museumsdiskurs<br />

ein und sondiert, was er heute zu leisten vermag. Im Brennpunkt<br />

steht nicht das koloniale Projekt des neunzehnten Jahrhunderts,<br />

sondern das pädagogische Unterfangen des zwanzigsten.<br />

Und während Donna Haraway die Art und Weise beschrieben<br />

und kritisiert hat, in der die Sammlung früher zusammengestellt<br />

wurde, werde ich die Rhetorik betrachten, deren sich das Museum<br />

bedient, wenn es das Erbe jener einstigen Ambitionen rechtfertigt<br />

oder in verkleideter Form weitergibt, also seine Formen der<br />

Anrede in der Gegenwart: Dort, wo das »Ich« dem »Du« sagt,<br />

was es mit »ihnen« auf sich hat.<br />

Der Museumsraum setzt einen Spazierweg voraus, eine Reihenfolge,<br />

in der die Schaukästen, Exponate und Tafeln angeschaut<br />

und gelesen werden. Damit redet es einen impliziten Fokalisator<br />

an, dessen Weg die Geschichte des aufgenommenen und<br />

nach Hause mitgenommenen Wissens hervorbringt. Ich für mein<br />

Teil konzentriere mich auf die Ausstellung als in dem Bereich<br />

zwischen Visuellem und Verbalem sowie zwischen Information<br />

und Überredung fungierendes Zeichensystem, das dabei den lernenden<br />

Spaziergänger erzeugt. Meine Analyse beschränkt sich im<br />

wesentlichen auf einen kleinen Teil des zweiten Stockwerks.<br />

Das offensichtliche Problem des AMNH ist die in seinem expositorischen<br />

Diskurs vollzogene Zusammenstellung von Tieren und<br />

fremden Völkern als den beiden Anderen der vorherrschenden<br />

Kultur. Die visuellen Exponate sprechen den Besucher in einer<br />

Weise an, die über das bloss Infomierende hinausgeht, und auf<br />

diesen Überschussdiskurs möchte ich mich hier konzentrieren.<br />

Ebenso ist eine »Zusammenstellung« mehr als ein bloßes visuelles<br />

Nebeneinander. Indem die Schaustücke im gleichen Zusammenhang<br />

über Tiere und fremde Völker reden, übermitteln sie eine<br />

Unterscheidungsideologie, der diese Verschmelzung als Zeichensystem<br />

dient. 13 Nach meiner These verlangt die doppelte Funktion<br />

des Museums als Ausstellung seines eigenen Status und der<br />

eigenen Geschichte (Metafunktion) sowie als Ausstellung seiner<br />

bleibenden kognitiven, pädagogischen Berufung (Objektfunkti-<br />

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on), dass dieses kritische und historische Bewusstsein absorbiert<br />

wird und in die Ausstellung eindringt.<br />

Dieser doppelte Auftrag zieht einen besonderen Austausch<br />

zwischen verbalem und visuellem Diskurs nach sich. Man könnte<br />

folgendes erwarten: Während die visuellen Exponate – die Schaukästen,<br />

die den Grossteil der »Schätze« des Museums ausmachen<br />

– als Objekte der Metafunktion des Museums erhalten bleiben<br />

müssen, würden die leichter anpassbaren und offenbar tatsächlich<br />

angepassten Tafeln mit ihren verbalen Erklärungen und Informationen<br />

sowie der offizielle Museumsführer die ausgestellten<br />

Stücke kritisch vorstellen. Gerade im Zeichensystem der Texttafeln<br />

liegt das Glück des Museums: Es bietet genügend Spielraum<br />

für Veränderungen.<br />

Wenn man das »Ich« – den expositorischen Akteur, der diesen<br />

Text »spricht« – offenkundig macht, so bedeutet das, dass man<br />

die Wechselwirkung zwischen visueller und sprachlicher Darstellung<br />

so umgestaltet, dass man die eine mit einem Kommentar über<br />

die andere ausstattet. Durch eine solche Veränderung können die<br />

Ausstellungsstücke auf ihren eigenen Diskurs als etwas nicht Natürliches<br />

– als ein von einem Subjekt vorgeführtes Zeichensystem<br />

– verweisen. Und während die Texttafeln tatsächlich ein Bewusstsein<br />

von den brennenden Fragen der Gegenwartsgesellschaft erkennen<br />

lassen, möchte ich im Rahmen dieser Analyse nicht nur<br />

den Erfolg zur Kenntnis nehmen, sondern auch das Misslingen<br />

– das Fehlen der Einbeziehung einer schärferen und expliziteren<br />

Selbstkritik und das statt dessen gegebene Vorhandensein eines<br />

apologetischen Diskurses. Bei der Lektüre der Ausstellung werden<br />

so wichtige, aber aus semiotischer Perspektive Kontingente<br />

Aspekte wie personelle, materielle und finanzielle Zwänge, Forderungen<br />

der Aufsichtsgremien und der Sponsoren sowie der Zustand<br />

des Gebäudes vorsätzlich ausgeklammert. Die Frage »Wer<br />

spricht« wird nicht zu einem Namen, einem Sündenbock oder<br />

einem moralischen Urteil hinführen, sondern hoffentlich zur Einsicht<br />

in kulturelle Prozesse.<br />

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denkbar<br />

Asiatische Säugetiere. Die Politik des Übergangs<br />

Wendet sich die Besucherin auf der Central-Park-West-Seite in der<br />

Nähe des Roosevelt-Ehrenmals nach links, betritt sie den Saal der<br />

asiatischen Säugetiere (siehe Abbildung 1).<br />

Abbildung 1:<br />

Plan des zweiten Stocks, American<br />

Museum of Natural History, New York<br />

(Informationsbroschüre, hg. 1991).<br />

Hier ist sie umgeben von Vitrinen mit Tieren, deren Fremdheit<br />

schon längst von jenem noch »natürlicheren« Museum – dem<br />

Zoo – in den Schatten gestellt wurde. Dort stehen die Tiere vor<br />

einem gemalten Hintergrund, wie man ihn von Postkarten her<br />

und aus Geographiebüchern kennt. Der Realismus der Vitrinen ist<br />

beeindruckend. Unterstützt wird die realistische Rhetorik durch<br />

die relative Dunkelheit des Saals, die die Besucher füreinander<br />

unsichtbar macht, während die Schaukästen von innen beleuchtet<br />

sind. Offensichtlich ist die Dunkelheit aus konservatorischen<br />

Gründen notwendig. Zur gleichen Zeit trägt sie die Wirkung eines<br />

Berichts in der »dritten Person« und rückt das Objekt buchstäblich<br />

ins Licht, während das Subjekt in Dunkel gehüllt wird. Hier<br />

gibt es eine Spannung zwischen Normalität und Fremdheit, vielleicht<br />

eine Paradoxie, die dem Museum als Ganzem innewohnt.<br />

Die Ausstellung schwankt zwischen dem Versuch, die Realität<br />

vermittels einer Ästhetik des Realismus als natürlich hinzustellen,<br />

und dem Versuch, die Wunder der Natur vermittels einer Ästhetik<br />

des Exotischen vorzuführen. <strong>14</strong><br />

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Ebenso wie in den anderen Sälen spürt man auch hier ganz<br />

deutlich die Zweischneidigkeit im Expositionsdiskurs des<br />

AMNH: Die nach Vollendung strebende Nachahmung der Natur<br />

(»Sieh her! Genauso ist es!«) rückt sich durch ebendiese Zielsetzung<br />

(»Das zeige ich dir!«) in den Vordergrund. Andere und weniger<br />

auffällige Elemente, potentielle Sprechakte, stehen in einem<br />

Spannungsverhältnis zu dieser Hauptsache. Die geschickte, aber<br />

rigoros künstliche Malerei, das Schutzglas, die säuberliche Trennung<br />

der Arten und die im Vergleich mit den Tieren beschränkte<br />

Grösse der Umgebung machen einem ständig bewusst, dass es sich<br />

bei dieser »Natur« um eine Darstellung handelt.<br />

Aber der Effekt des Realen versöhnt die beiden Diskurse miteinander.<br />

Das ist eine Form der »Wahrheitsrede«, jenes Diskurses,<br />

der die Wahrheit, der sich der Betrachter unterwerfen soll, in Anspruch<br />

nimmt, indem er die bereitwillige Ausserkraftsetzung des<br />

Zweifels, welche die Macht der Fiktion regiert, gutheisst. Für den<br />

Besucher, der durch diesen Saal eintritt, legt der Diskurs des Realismus<br />

die Bedingungen fest, unter denen der Vertrag zwischen Betrachter<br />

oder Leser und Museum oder Geschichtenerzähler gilt.<br />

Am anderen Ende dieses Raums öffnet sich die Tür zum Saal<br />

der asiatischen Völker. Im Rahmen des im Saal der asiatischen<br />

Säugetiere erzielten mimetischen Erfolgs des Realismus wirkt der<br />

Übergang von dieser kulturell aufbereiteten »Natur« zur Kultur<br />

als Natur – von den Säugetieren zu den Völkern – natürlich zuinnerst<br />

problematisch. Das offenkundigste Problem ist das Nebeneinander<br />

von Tieren und fremden menschlichen Kulturen. Die<br />

Zugangstür zwischen den beiden Sälen ist als Schwelle semiotisch<br />

aufgeladen. An dieser Schwelle macht der Unterschied zwischen<br />

kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart verschiedene<br />

Sinnstiftungen möglich.<br />

Im Fall dieser beiden asiatischen Abteilungen gibt es ein Zeichen<br />

für ein Bewusstsein von der Notwendigkeit eines Übergangs.<br />

Die Ebene der Signale erreicht es aber nicht, sondern es bleibt auf<br />

der Ebene der Symptome. Registriert wird dieser Übergang von<br />

einem kleinen Schaustück, das sich im Saal der asiatischen Säugetiere<br />

am äussersten rechten Ende – zwischen dem indischen Rhi-<br />

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denkbar<br />

Abbildung 2:<br />

Königin Maya, Buddha aus ihrer Seite<br />

gebärend, nepalesische Bronze, 19.<br />

Jahrhundert, Saal der Asiatischen Säugetiere,<br />

American Museum of Natural<br />

History. Photo: Mieke Bal.<br />

nozeros auf der Linken und dem Wasserbüffel auf der Rechten –<br />

befindet. Im Gegensatz zu den grossen Schaukästen enthält diese<br />

kleine Vitrine nur ein einziges Stück. Schwarz vor orangefarbigem<br />

Hintergrund steht hier eine nepalesische Statue aus dem neunzehnten<br />

Jahrhundert. Sie trägt den Titel »Königin Maya gebärt<br />

den Buddha aus der Seite ihres Körpers« (Abbildung 2). Sie stellt<br />

eine elegant geformte, von schmückenden Ornamenten umgebene<br />

Frau dar. Irgendwie passt sie nicht zu den übrigen Ausstellungsstücken<br />

dieses Saals.<br />

Die Texttafel unter der Vitrine enthält Schlüsselbegriffe, die<br />

den Übergangsstatus der ausgestellten Statue weiter ausformulieren:<br />

Königin Maya gebärt den Buddha aus der Seite ihres Körpers,<br />

Bronzestatue aus Nepal, 19. Jahrhundert Nach volkstümlicher<br />

Überlieferung wurde Gautama, der historische Buddha, von der<br />

Königin Maya von Kapilavastu geboren, nachdem sie von einem<br />

weißen Elefanten besucht wurde, der dreimal um ihr Bett lief und<br />

dann zum Himmelsgebirge zurückkehrte. Der Buddhismus, eine der<br />

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324<br />

Hauptreligionen Asiens, kennt viele Geschichten über frühere Leben<br />

Buddhas als mitleidvoller Seele im Körper von Tieren. Infolgedessen<br />

sind die Angehörigen vieler buddhistischer Sekten Vegetarier.<br />

Die verbale Präsentation ist durchgängig anthropologisch. Der<br />

Zweck dieser Ausstellung bleibt klar unterschieden von den Darbietungen<br />

des auf der anderen Seite des Parks gelegenen Museums<br />

für hohe Kunst. Die Schauvitrine enthält ein Artefakt, das sich<br />

von einem »niedrigen« Zeitpunkt in der Geschichte der buddhistischen<br />

Kunst herschreibt. Niedrig ist er, weil sich die Zeit der<br />

Verfertigung mit der Zeit des Erwerbs deckt: Die Figur stammt<br />

aus dem neunzehnten Jahrhundert. Dieses zeitliche Zusammenfallen<br />

nimmt dem Artefakt jene historische Patina und Seltenheit, die<br />

Voraussetzungen sind für den Status der hohen Kunst. Typischerweise<br />

gibt es keinen Hinweis auf den Stil, wie er sich im Met fände.<br />

Ausserdem wird die Figur wohlüberlegt als ein in der »volkstümlichen<br />

Überlieferung« – dem namenlosen Anderen der elitären<br />

Individualkunst – verankerter Gegenstand präsentiert. Aus Kunst<br />

wird so ein anthropologisches Zeugnis einer zeitlosen Kultur. 15<br />

Der die Statue begleitende sprachliche Text rahmt sie gründlich<br />

in ihre spezifische Übergangsfunktion ein. Durch eine textnahe<br />

Lektüre wird das klar. Die Erwähnung des weissen Elefanten<br />

bringt das tierische Element ins Spiel und rechtfertigt so die absonderliche<br />

Zusammenstellung dieses Artefakts mit der »Natur«,<br />

mit den in ihre Umgebung eingefügten Tieren im Saal. Blickt der<br />

Besucher zurück, bemerkt er, dass der Statue gegenüber das Zentralstück<br />

des Saals steht: zwei lebensgrosse graue Elefanten mit<br />

weissen Stosszähnen. Die historische Information bezüglich der<br />

buddhistischen Mythologie betont den Unterschied gegenüber dem<br />

Christentum hinsichtlich der polytheistischen Tendenz (»viele Geschichten«)<br />

der Seelenwanderungslehre und dient der Erklärungsfunktion,<br />

die im Rahmen der wissenschaftlich-pädagogischen<br />

Berufung des Museums eine überaus wichtige Rolle spielt. Aus<br />

der Dichte der Sprache ergibt sich jedoch, dass hier mehr geboten<br />

wird als eine blosse Erklärung. Polytheismus ist im Abendland ein<br />

vielsagender Begriff. Der Buddhismus mag zwar »eine der Hauptreligionen<br />

Asiens« sein, aber das im folgenden Satz gebrauchte<br />

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325<br />

denkbar<br />

Wort »Sekten« gilt in einer Kultur, deren vorherrschende Ideologie<br />

monotheistisch geprägt ist, als pejorativ. Diese pejorative<br />

Konnotation wird durch den Plural des Worts akzentuiert. Das<br />

zu der kunterbunten Geschichte hinzukommende Wort »Sekten«<br />

entfremdet die buddhistische Kultur dem westlichen Betrachter<br />

noch mehr. Doch das offizielle Explanandum dieser Aussage ist<br />

der buddhistische Vegetarismus, und da mag man sich wirklich<br />

fragen, welche Relevanz dieses anthropologische Merkmal im Zusammenhang<br />

mit dem Saal der asiatischen Säugetiere hat.<br />

Wie sich herausstellt, ist dieses Merkmal höchst relevant – allerdings<br />

nicht im Hinblick auf die asiatischen Säugetiere, sondern<br />

im Hinblick auf die amerikanischen Pädagogen und die Funktion<br />

der Anthropologie. Anthropologie ist überall im AMNH als unbezweifelte<br />

Ergänzung der Biologie präsent. Der Saal der Völker<br />

des pazifischen Raums ist nach Margaret Mead benannt. Im Fach<br />

Anthropologie hat man viel über die Ursprünge und Bedeutungen<br />

von Nahrungstabus spekuliert (Douglas), und eine Erklärung, die<br />

weithin Anklang gefunden hat, hängt mit der Erziehung zusammen<br />

(Oosten und Moyer). Nahrungstabus dienen zusammen mit<br />

Sexualtabus dem Zweck, Unterscheidungen zu lehren. Durch das<br />

Verbot bestimmter Verbindungen oder Einverleibungen – und im<br />

Kontext dieser Analyse könnte man noch Zusammenstellungen<br />

und Metonymien hinzufügen – lernen die Menschen den Unterschied<br />

zwischen Selbst und Anderem zu respektieren. Die Tabuisierung<br />

des Kannibalismus z.B. lehrt die »Wilden«, wer sie sind:<br />

nicht Tiere, sondern Menschen. Dieser Lernvorgang ist für das<br />

Überleben der Art notwendig.<br />

Im Saal der asiatischen Säugetiere kann die Bezugnahme auf den<br />

Vegetarismus auf eine vorgängige Form von Wildheit hindeuten.<br />

Das Tabu hinsichtlich des Verzehrs von Fleisch bestätigt die Unterscheidung,<br />

die hier nicht zwischen Menschen und Tieren, sondern<br />

zwischen den Tieren einschliesslich der Menschen und den<br />

Pflanzen besteht. Mit anderen Worten, der Unterschied der Menschen<br />

ist diesen buddhistischen Sekten zufolge im Verhältnis zum<br />

Bereich der Pflanzen, die man essen darf, deutlicher gekennzeich-<br />

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net als im Verhältnis zum Bereich der Tiere, denen diese Leute<br />

zuviel Sympathie entgegenbringen, als dass sie ihren Gebrauch als<br />

Nahrung gestatten würden. Das soll die Geschichte vom Buddha,<br />

wie sie auf dieser Tafel erzählt wird, beweisen. Sein Vater war ein<br />

Elefant. Und plötzlich stehen die Elefanten hinten im Zentrum des<br />

Saals als Zeugen ihres mythologischen Bruders da.<br />

Die Zusammenstellung von menschlichem Artefakt und Tieren<br />

wird also von der Texttafel neben der gezeigten Statue nicht als<br />

etwas Überholtes in Zweifel gezogen und kritisiert, sondern sie<br />

wird, ganz im Gegenteil, davon gestützt. Selbstreflexion wird geschwächt<br />

und Naturalisierung begünstigt. Das »Ich« verschwindet<br />

hinter »ihnen«, die keine Widerworte geben können, obwohl »sie«<br />

als Kultur gesund und munter sind. Die Worte lesen sich als Erklärung<br />

der Relevanz menschlicher Präsenz im Tierreich, doch das<br />

geschieht, indem die betreffenden Menschen als solche eingestuft<br />

werden, die den Tieren nahestehen, näher als »wir«. Diese Präsenz<br />

des Menschlichen wird nur als Objekt der Darstellung betont. Das<br />

in den Vitrinen des Saals – besonders in der gemalten Szenerie – offenkundige<br />

menschliche Tun wird in den unauffälligen Bereich des<br />

Realismus verwiesen. Realismus ist die Wahrheitsrede, von der die<br />

Hand, die sie schrieb, ebenso getilgt wird wie die spezifisch westliche<br />

menschliche Sicht, die sie prägte. Die Statue hingegen repräsentiert<br />

die Menschheit, und dies sogar im Hinblick auf einen ihrer<br />

Wesenszüge, nämlich die Geburt, und zugleich ist sie ein Indikator<br />

des Menschen, wie er im nächsten Raum dargestellt wird: fremd,<br />

exotisch. Da stellt sich die Frage: Welches ist der spezifischere Sinn<br />

der visuellen Schaustellung, aufgrund dessen sie so nachdrücklich<br />

von Worten gestützt werden muss<br />

Die Statue stellt eine Frau dar – Frauen stehen den Tieren ja<br />

»von Natur aus« besonders nahe –, und sie zeigt die Frau in der<br />

»natürlichsten« aller Posen, nämlich beim Gebären. Dies ist allerdings<br />

keine gewöhnliche Geburt, deren Darstellung die Toleranz<br />

der pädagogischen Prüderie strapazieren würde, sondern eine<br />

mythische Geburt, die aus der Seite des weiblichen Körpers erfolgt.<br />

Damit ist kein Beispiel kultureller Verschiedenheit gegeben,<br />

sondern ein Beispiel kultureller Ähnlichkeit. Im Alten Testament<br />

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denkbar<br />

(Genesis, z) wird berichtet, wie die erste Frau aus der Seite des ersten,<br />

androgynen Geschöpfs zur Welt kam – eine Geburt, die das<br />

Ergebnis einer ebenso unorthodoxen Zeugung war. 16 Der Hinweis<br />

darauf wäre ein Akt der »Anthropologisierung« abendländischer<br />

Traditionen im Sinne einer leistungsfähigen Strategie, die zeigen<br />

könnte, wie problematisch die anthropologische Darstellung der<br />

anderen ist. Aber stattdessen wird die Sonderbarkeit dieser Natur-Frau<br />

herausgestrichen.<br />

Durch die Auswahl einer Darstellung des Weiblichen, welche<br />

die Naturnähe der Frau vermittels einer als fremdartig präsentierten,<br />

völlig unnatürlichen Fiktion bestätigt, hat das Subjekt des<br />

Mixed-Media-Subjekts der Ausstellung eine semiotische Leistung<br />

vollbracht: Dem expositorischen Akteur ist es gelungen, die ideologische<br />

Hauptseltsamkeit des Museums insgesamt an dieser<br />

lokalen Übergangsstelle abzumildern. Die in der von diesem Museum<br />

bezeugten – und dieses Museum umgebenden – Kultur ganz<br />

vertraute metaphorische Gleichsetzung von »Frau« und »Natur«<br />

vermittelt zwischen Säugetieren und fremden Völkern, indem sie<br />

jene Andersheit betont, welche die Relegation solcher Völker auf<br />

diese Seite des Central Park rechtfertigt.<br />

So wird die Gender-Politik in verwickelter Form mit ethnischer<br />

Stereotypisierung verflochten. Denn hinter diesem visuellen Ideologem<br />

steckt mehr, als auf den ersten Blick zu sehen ist: Der<br />

Buddha selbst wird trotz seiner Männlichkeit der Erzweiblichkeit<br />

des Gebärens an die Seite gestellt. Mit dieser doppelten Natürlichkeit<br />

gebärender Weiblichkeit und mythischer Ferne ist er als<br />

die angemessene Autorität ausgewiesen, die den Vegetarismus als<br />

Grundzug des Animalischen vorschreiben darf. Und es ist dieser<br />

Überschuss an ideologischer Information, zu dessen »Erklärung«<br />

die Tafel mit der sprachlichen Darstellung herangezogen wird.<br />

Jetzt ist der Besucher darauf vorbereitet, die ambivalente Schau<br />

im nächsten Saal – die Ausstellung von Völkern als Natur – zu<br />

akzeptieren. Was sich vor dem Lernenden ausbreitet, ist eine in<br />

sinniger Doppelstruktur erstarrte Kultur, die der Tafel am Eingang<br />

zufolge entweder als räumlich entfaltete oder als zeitlich entwickelte<br />

gelesen werden kann.<br />

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Abbildung 3:<br />

(Oben) Zugang zur Halle der asiatischen<br />

Völker, American Museum of Natural<br />

History.<br />

(Unten) Hundeopfer, Halle der asiatischen<br />

Völker, American Museum of<br />

Natural History. Photos: Mieke Bal.<br />

Der Wettstreit zwischen Zeit und Raum.<br />

Evolutionsgedanke und Taxonomie<br />

Der Saal der asiatischen Völker nimmt eine doppelte Darstellung<br />

vor und offeriert eine Auswahl zwischen zwei möglichen Rahmen:<br />

Man kann entweder durch die Zeit oder durch den Raum<br />

voranschreiten (siehe Abbildung 3 oben). Die räumliche Präsentation<br />

teilt Asien in Regionen ein und verläuft »von Japan ausgehend<br />

nach Westen bis hin zu den Gestaden des Mittelmeers«.<br />

Entscheidet man sich für die räumliche Route, so ergibt sich, dass<br />

man wahrscheinlich die in der Ecke versteckte zeitliche auslässt,<br />

während die Entscheidung für die zeitliche Alternative am Ende<br />

unweigerlich zur räumlichen Abteilung hinführt. Demnach liegt<br />

es eher auf der Hand, dass man sich nach links wendet.<br />

Hat man sich für diese Route durch die Zeit entschieden, findet<br />

sich die den Besuch leitende Fragestellung auf der Eingangstafel<br />

und dann noch einmal als Überschrift aller Abteilungen formuliert:<br />

»Der Aufstieg des Menschen zur Zivilisation.« Sowohl die<br />

Fragestellung als auch das Programm, das sich daraus ergibt, sind<br />

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denkbar<br />

klar artikuliert: Wie hat es der Mensch zur Zivilisation gebracht<br />

Wir kennen keine letztgültigen Antworten, wohl aber archäologische<br />

Spuren und anthropologische Parallelen, anhand deren<br />

mögliche Modelle geschaffen werden können. (Hervorhebungen<br />

hinzugefügt)<br />

Möglich wird die Verschmelzung von Zeit und Raum durch<br />

den unausgesprochenen Begriff des Primitiven, der den Ahnherren<br />

des Museums so sehr am Herzen lag. Die Zusammenstellung von<br />

Spur und Parallele ist das spekulative Werkzeug zur Beantwortung<br />

unbeantwortbarer Fragen, deren blosse Formulierung buchstäblich<br />

mehr beinhaltet, als Worte ausdrücken können. »Der<br />

Aufstieg des Menschen zur Zivilisation« – der universale Begriff<br />

»Mensch«, der Evolutionsgedanke im Begriff »Aufstieg« und der<br />

transhistorische, generische Gebrauch von »Zivilisation«. Dies<br />

sind die drei Voraussetzungen, von denen das Andere dieses Museums,<br />

das Met, geprägt ist. Das Met zeigt, wie Douglas Crimp<br />

im Hinblick auf Malraux› »Museum ohne Wände« geschrieben<br />

hat, »Kunst als Ontologie, [die] nicht von Männern und Frauen<br />

in ihrer historischen Abhängigkeit, sondern vom Menschen durch<br />

sein blosses Sein geschaffen wird«. 17 Jene drei Begriffe, die in diesem<br />

ganzen Saal als Kolumnentitel fungieren, geben dem Inhalt<br />

des Saals einen Rahmen und stellen ihn als »Nichtkunst« hin. Einer<br />

Untersuchung der kulturellen Verschiedenheit, wie man sie<br />

sich von diesem Saal erwarten könnte, würde durch jene Begriffe<br />

zum Bewußtsein gebracht werden, dass der doppelte Zugang zu<br />

diesem Saal auf einer unhaltbaren Unterscheidung beruht. »Zeit«<br />

entpuppt sich als Frage, und »Raum« wird zur metaphorischen<br />

Tarnung ihrer Unbeantwortbarkeit.<br />

In einer kreisförmig ausgebuchteten Ecke findet sich die Abteilung,<br />

die dem »Aufstieg des Menschen zur Zivilisation im Nahen<br />

Osten« gewidmet ist. Links vom Eingang sind die Griechen, die<br />

durch unmissverständlich ihr Lob singende Tafeln ausgezeichnet<br />

werden: Die Überschrift der Tafel 10 lautet »Troja und die<br />

abendländische Zivilisation«, während Tafel 11 den Titel »Die<br />

Errungenschaft der Ionier« trägt. Homer ist der Vertreter der<br />

archaischen Griechen, die ausgewählt wurden, um die Verbinhen<br />

l<br />

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dung zu »unserer eigenen« Kultur herzustellen. Diese Entscheidung<br />

kommt keineswegs überraschend und ist ihrerseits vielleicht<br />

zum Teil von der unwiderstehlichen Anziehungskraft ikonischen<br />

Denkens geprägt: Wir betrachten eine Kultur, in der Vortrefflichkeit<br />

ein ideologisches Kernstück ausmachte, und folglich wird<br />

die Vortrefflichkeit als ihr synekdochischer Repräsentant ausgewählt.<br />

Diese Griechen werden gepriesen, weil sie bei der Untersuchung<br />

»der Natur bis an die Grenzen des menschlichen Verstands«<br />

vorgestoßen sind, was auf das erfreuliche Ergebnis eines<br />

Entwicklungsprozesses hindeutet, der soeben vor unseren Augen<br />

nachgezeichnet wurde. Die Tafel zur ionischen Kultur bietet ein<br />

treffendes Beispiel für die Art und Weise, in der die Zeit in dieser<br />

Abteilung den Raum überholt:<br />

Asiatische Gedanken und Neuerungen wurden mit örtlichem<br />

Einfallsreichtum verbunden. Ein Jahrhundert zuvor hatten ionische<br />

Denker die Grundlage der philosophischen Theorien von<br />

Sokrates, Platon und Aristoteles geschaffen. Auf der Suche nach<br />

Lösungen zur Erkenntnis des Wesens der Welt hielten sich die lonier<br />

nicht an den Mythos, sondern an ihre eigene Erfahrung, um<br />

Grundprinzipien zu ermitteln.<br />

Plötzlich, da wir uns »unserer eigenen« – d. h. der europäischen<br />

– Kultur nähern, weicht die Anonymität grossen Namen, und das<br />

Kennzeichen der dargestellten, als repräsentativ ausgewählten<br />

Kultur entspricht genau der Definition jenes wissenschaftlichen<br />

Strebens, für die dieses Museum einsteht. Die Reise endet mit einer<br />

Verschmelzung der beiden zeitlichen Augenblicke, zwischen<br />

denen sich die Periode erstreckt, zu der der »Aufstieg zur Zivilisation«<br />

hingeführt hat.<br />

Die Griechen sind demnach keine Episode oder Raststelle auf<br />

der Reise durch die Zeit, sondern das Emblem der höchsten Ebene<br />

der Zivilisation. Dass die Griechen am Übergang zwischen den<br />

zeitlich eingegrenzten und den räumlich geordneten Stücken zur<br />

Veranschaulichung der asiatischen Völker dargestellt werden, ist<br />

eine Geste, die den Asienbegriff näher bestimmt und der Präsentation<br />

»von Japan ausgehend nach Westen bis hin zu den Gestaden<br />

des Mittelmeers« Sinn verleiht: vom völlig Fremden zum behag-<br />

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denkbar<br />

lich Vertrauten. Wichtiger ist jedoch, dass diese Platzierung den<br />

Begriff des Museums insgesamt näher bestimmt. Sie fungiert wieder<br />

als Übergang, diesmal allerdings nicht zwischen Tieren und<br />

fremden Völkern, sondern zwischen diesen und »uns«. Durch sie<br />

kommt das taxonomische Gerüst des »Wir« und »Sie« ins Spiel,<br />

indem die Griechen als Vermittler vorgeschlagen werden, genauso<br />

wie die von der buddhistischen Statue dargestellte Frau als<br />

Vermittlungsinstanz fungierte. Die Griechen, die der abendländischen<br />

Kultur näher kommen als die übrigen in diesem Museum<br />

vertretenen Völker, stehen für die höchste Form der Zivilisation<br />

und sind sowohl Ausgangspunkt »unserer« Kultur als auch Endpunkt<br />

der asiatischen Kulturen.<br />

Der von Anfang an vorgegebene Zeitrahmen ist also nicht der<br />

einer ungezwungenen Reise durch die Zeit. Durch Verwandlung<br />

des Zeittourismus in Wissensproduktion entspricht dieser Zeitrahmen<br />

dem Rahmen eines im Einverständnis mit der Taxonomie<br />

operierenden Evolutionsgedankens und teilt die menschlichen<br />

Kulturen in höhere und niedrigere ein, wobei die der »unseren«<br />

am nächsten stehenden als die höchsten gelten. Es wäre durchführbar,<br />

wenn auch nicht unkompliziert, rückwärts zu gehen und<br />

die Erzählung dieser eurozentrischen Geschichte zurückzunehmen,<br />

doch das Museum hat keine Tafeln bereitgestellt, die eine<br />

solche umgekehrte Geschichte lesbar machen. Tatsächlich wird<br />

der Übergang durch die zwischen der räumlich entfalteten Präsentation<br />

und diesem zeitlichen Höhepunkt angesiedelten besonders<br />

marginalen Stücke abgemildert: »Die Annäherung beginnt<br />

mit einem kurzen Überblick über Urkulturen, die in isolierten Gebieten<br />

existiert haben«, um dann ernstlich bei Japan anzusetzen.<br />

Nachdem man den Saal auf dem Weg über die Griechen betreten<br />

hat, können alle darin dargestellten Völker nur weniger entwickelt<br />

und fremder erscheinen.<br />

Semiotisch gesprochen fungiert dieser Übergang von der Zeit<br />

zum Raum als Umschaltinstanz. Hier werden die Gesamtimplikationen<br />

der von Benveniste getroffenen Unterscheidung zwischen<br />

der persönlichen Sprechsituation des Ich-du-Austauschs und<br />

der von »ihm«, »ihr« oder »ihnen« handelnden unpersönlichen<br />

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332<br />

Darstellung relevant. Die beiden Achsen sind nicht symmetrisch:<br />

Während die »Ich«-»du«-Positionen im normalen Gespräch umkehrbar<br />

sind, ist die »dritte Person« ohnmächtig, ausgeschlossen.<br />

Aber im Fall der Exposition kann das »Du« nicht die Stellung<br />

des »Ich« einnehmen. Während »Ich« und »Du« der »dritten Person«<br />

übergeordnet sind, vollzieht das »Ich« die Darstellung, die<br />

Geste des Zeigens, in Verbindung mit einem »Du«, das zwar real<br />

sein mag, aber ausserdem imaginär, vorweggenommen und zum<br />

Teil von dieser Konstruktion geformt ist. Die im AMNH repräsentierten<br />

Völker gehören, genauso wie die Tiere, unabänderlich<br />

zu »ihnen«: dem im Zuge der Darstellung von einem »Ich«, dem<br />

expositorischen Akteur, konstruierten Anderen. Das »Du«, dessen<br />

Interesse die Darstellung der »dritten Person« – hier der asiatischen<br />

Völker – dient, wird implizit im Sinne der Rolle geeigneter<br />

Leser dieser Vorführung konstruiert. Diese Konstruktion wird im<br />

Anfangskapitel über die Griechen in den Vordergrund gerückt:<br />

Durch Betonung des griechischen Einflusses auf die Kultur, in deren<br />

Rahmen das Museum seine Aufgabe erfüllt, wird der Adressat<br />

als jemand gekennzeichnet, der selbst der abendländischen Hegemonialkultur<br />

der Weissen angehört. Die Verschiedenheit des darund<br />

ausgestellten Anderen wird dadurch gesteigert: So wird diese<br />

Verschiedenheit absolut und unabänderlich.<br />

Das Ausmass, in dem das »Ich«, das Subjekt der Darstellung, in<br />

der Ausstellung selbst lesbar wird, eröffnet die Möglichkeit einer<br />

kritischen Dimension. Denn jede Selbstdarstellung des Subjekts<br />

impliziert eine Aussage über die Subjektivität der Darstellung als<br />

einer potentiell fiktionalen. Aber anstatt das »Ich« zu deklarieren<br />

und in den Vordergrund zu rücken, wird hier eine Identifikation<br />

mit den Griechen, einer anscheinend »dritten Person«, vorgeschlagen.<br />

Diese Privilegierung der Griechen appelliert an ideologische<br />

Gefolgschaft, ohne die Subjektivität des appellierenden Akteurs<br />

aufzudecken. Die Konstruktion einer solchen radikalen Trennung<br />

zwischen Selbst und Anderem trägt dazu bei, das Trennende der<br />

heutigen Gesellschaft, in der kulturelle Verschiedenheit durchaus<br />

präsent ist, zu bestreiten – und zwar in solchem Grade, dass<br />

die Konstruktion einer einheitlichen »Sie«-Kategorie nicht mehr<br />

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denkbar<br />

möglich ist.<br />

Daher rührt das Bedürfnis, die »Ich«-»du«-Achse durch die Metaphorisierung<br />

der Griechen als »unserer« Stellvertreter zu verbergen.<br />

Aber schön der Akt der Hervorhebung, der sich an der Geste<br />

des Verbergens dieser »Ich«-»du«-Interaktion ablesen lässt – mit<br />

anderen Worten: die Konstruktion der Subjektivität im Rahmen<br />

der Darstellung – bleibt unsichtbar. Er verbirgt sich in der mehrdeutigen<br />

Beschwörung des zwischen Asien und Europa – zwischen<br />

dem Archaischen und dem Neuzeitlichen, zwischen »ihnen« und<br />

»uns«-stehenden Volkes. Der Evolutionsgedanke dient dazu, die<br />

von der Taxonomie errichteten Grenzen verschwimmen zu lassen.<br />

Was hier für den Adressaten, der darauf besteht, »Widerworte<br />

zu geben«, wirklich ausgestellt ist, ist diese rhetorische Strategie,<br />

bei der Wörter benutzt werden, um Bildern Bedeutungen zu verleihen,<br />

die sie sonst nicht hätten. Anstelle der Tafeln, auf denen<br />

Worte der Ordnung der Dinge Sinn geben, könnten Spiegel mehr<br />

Wirkung erzielen. Strategisch angebrachte Spiegel könnten es nicht<br />

nur gestatten, dass das koloniale Museum zur gleichen Zeit gesehen<br />

wird wie seine postkoloniale Selbstkritik, sondern ausserdem<br />

könnten sie Selbstreflexion im doppelten Sinne des Wortes verkörpern.<br />

Sie könnten die umhergehende Person irreführen, sie verwirren<br />

und durcheinanderbringen, so dass sie den Weg durch die Evolution<br />

verliert und, während sie vielleicht ein wenig in Panik gerät,<br />

in lehrreicher Weise durch die Vielfalt spazieren würde. 18<br />

Zirkuläre Epistemologie<br />

Der derzeitige expositorische Akteur des Museums hat die Möglichkeiten<br />

visueller und verbaler Informationskanäle wirksam<br />

eingesetzt, um Mitteilungen über ganz andere Positionen zu machen<br />

und Spannungen abzubauen. Das, worauf es hier ankommt,<br />

ist die letztere Funktion: das Bemühen, Spannungen nicht zu verstärken,<br />

sondern dadurch auszusöhnen, dass verbales Licht auf<br />

visuelle Objekte geworfen wird sowie auf eine bestimmte, semiotisch<br />

aufgeladene Ordnung dessen, was besser Chaos bleiben<br />

sollte. In den Vordergrund gerückt wird diese Art des Gebrauchs<br />

des expositorischen Diskurses nicht nur in der doppelten Präsen-<br />

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tation des Saals der asiatischen Völker, der einmal – vermittels<br />

Geschichten erzählung und Geschichtsschreibung – durch die Zeit<br />

führt und ein andermal – vermittels Taxonomie und Geographie<br />

– durch den Raum. Im Rahmen jeder dieser Präsentationen wird<br />

auch über die spezifischen semiotischen Potentiale des jeweiligen<br />

Mediums reflektiert. In der durch die Zeit führenden Präsentation<br />

gibt es eine Tafel, die den rätselhaften und möglicherweise ironischen<br />

Titel »Prähistorisches Erzählen von Geschichten« trägt.<br />

Diese Tafel ist ein vollkommenes Beispiel für die Verschmelzung<br />

»archäologischer Spuren« und »anthropologischer Parallelen«,<br />

um »mögliche Modelle zu schaffen«, die den »Aufstieg des Menschen<br />

zur Zivilisation« veranschaulichen.<br />

Grammatisch gesprochen, wird mit der Formulierung des Titels<br />

auf narrative Selbstreflexion abgehoben. Der Ausdruck »prähistorisch«<br />

dient der näheren Bestimmung des Geschichtenerzählens,<br />

und daher können wir erwarten, dass es eine der Prähistorie<br />

vorbehaltene Theorie des Erzählens von Geschichten gibt. Die<br />

Erklärung macht deutlich, welche Art von epistemologischem Gebrauch<br />

durch visuelles Geschichtenerzählen zugelassen wird:<br />

Die hier gezeigten Tafeln wurden im neunzehnten Jahrhundert<br />

von Sibiriern angefertigt und erzählen Geschichten aus dem täglichen<br />

Leben. Während die meisten Geschichten über die Jagd auf<br />

im Meer und auf dem Land lebende Säugetiere berichten, gehören<br />

auch Szenen aus dem Bereich der Siedlungstätigkeit dazu. Diese<br />

zeigen, welche Behausungen, Schlitten und sonstigen Gegenstände<br />

üblicherweise von diesen Leuten benutzt wurden. Die Tafeln<br />

oben links und oben rechts geben sogar das Hundeopfer wieder,<br />

das auch rechts auf dem korjakischen Exponat zu sehen ist. Für<br />

den sibirischen Betrachter ist jede Tafel eine vollständige erläuternde<br />

Darstellung und spiegelt deutlich die wohlbekannten Erfordernisse<br />

des täglichen Lebens.<br />

Über Tausende von Jahren hinweg haben die Völker solche<br />

Geschichten in mündlicher wie in graphischer Form erzählt. Die<br />

Malerei an der Rückwand zeigt eine aus der Zeit um 6500 v. Chr.<br />

stammende Jagdszene aus dem türkischen Ort Catal Huyuk.<br />

Dieser Text ist ein gutes Beispiel für die in diesem Museum be-<br />

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denkbar<br />

triebene Art von Wissensproduktion und folglich auch für die dort<br />

geübte Art der epistemologischen Verführung. Zunächst einmal<br />

wird hier das Visuelle als massgebliche Form der Rezeption in den<br />

Vordergrund gerückt. Der ideale Betrachter wird als vorbildlicher<br />

Adressat gekennzeichnet. Aber gewiss gibt es so jemanden wie<br />

den sibirischen Betrachter dieser Tafeln gar nicht, jedenfalls nicht,<br />

wenn mit dieser Bezeichnung nicht der gelegentliche Besucher aus<br />

dem Osten Russlands gemeint ist, sondern der prähistorische Sibirier.<br />

Der sibirische Verfertiger dieser Bilder kann nicht gefragt<br />

werden. Er hatte auch keine direkte Beziehung zu den prähistorischen<br />

Menschen, die für diese Episode in der Geschichte des<br />

»Aufstiegs des Menschen zur Zivilisation« stehen. Die Tafeln, die<br />

dieser Besucher ohne weiteres verständlich finden soll, gehören<br />

unabänderlich einer anderen Zeit und einem anderen Ort an, und<br />

sie wenden sich – wie schon das Vorhandensein der hier gezeigten<br />

Texttafeln andeutet – an einen lesekundigen Betrachter, während<br />

die Prähistorie (fragwürdigerweise) durch Leseunkundigkeit definiert<br />

ist.<br />

Doch das ist vielleicht gerade der springende Punkt; der Text<br />

legt nahe, diese Information solle im Modus der prähistorischen<br />

Menschen – nämlich visuell – aufgenommen werden. Warum ist<br />

das so wichtig Das zweite auffällige Element der Tafel deutet auf<br />

eine Beantwortung dieser Frage hin. Dieser vorbildliche Adressat<br />

liest die Tafeln als etwas Vollständiges und als erläuternde Darstellungen.<br />

Die Verbindung dieser beiden Merkmale kennzeichnet<br />

die Ästhetik, um die es hier geht: Es geht um Realismus, um eine<br />

Beschreibung der Welt, die so lebensecht ist, dass Auslassungen<br />

unbemerkt bleiben, Lücken mitgetragen werden und unterdrücktes<br />

Material dem Bemerktwerden entgeht. Die von dieser verbalen<br />

Rhetorik gegebene Anweisung läuft darauf hinaus, dass<br />

die Tafeln im doppelten Sinn realistisch gelesen werden sollen:<br />

als erläuternde Darstellungen, die einem zeitgenössischen Angehörigen<br />

der dargestellten Kultur vollständig vorkommen. Weiter<br />

gestärkt wird diese Art des Lesens durch eine unglaubliche Dichte<br />

der metarepräsentationalen Zeichen, die allesamt symptomatisch<br />

sind für den Wunsch, die Darstellung möge sich mit ihrem Objekt<br />

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decken: »deutlich« lässt dem Zweifel keinen Raum; »spiegelt« ist<br />

geradezu eine Entlehnung aus der Terminologie des Realismus;<br />

»wohlbekannten« disqualifiziert den überraschten Betrachter, der<br />

zögert, den Zweifel bereitwillig ausser Kraft zu setzen, als Ignoranten;<br />

»täglichen« betont das Normale, Anonyme, das Gegenteil<br />

der individuellen Vortrefflichkeit oder der bemerkenswerten Ereignisse<br />

und hat ebenfalls den Effekt des Realen. Wer würde es,<br />

nachdem er dieser Pädagogik ausgesetzt wurde, wagen, die Wahrheit<br />

der Darstellung zu bezweifeln Das »Ich« hat die Unumkehrbarkeit<br />

der »Ich«-»du«-Achse narrensicher gemacht.<br />

Im Anschluss an diese Betonung des Realismus wird die Spur<br />

mit der Parallele verknüpft. Der zweite Absatz der Tafel stellt die<br />

Epistemologie heraus, um die es hier geht. Der Sibirier des neunzehnten<br />

Jahrhunderts wird mit Tausenden von Jahren seinesgleichen<br />

verschmolzen. Die betreffenden Völker haben ebenso wenig<br />

eine Geschichte wie die in den Schaukästen abgebildete »Natur«.<br />

Sie sind in diesem Sinne prähistorisch und erweisen sich dadurch<br />

als geeignet für dieses Museum der natürlichen Nichtgeschichte.<br />

Das gemalte Hintergrundbild ist, obwohl es in punkto Stil und<br />

Medium davon abweicht, so platziert, dass es einen sachgetreuvisuellen<br />

Hintergrund der modernen Tafeln bildet. (Abbildung 4)<br />

Sie stellen Jagdszenen dar und steuern das Idiom bei, im Sinne<br />

dessen die Tafeln im Vordergrund gelesen werden sollten.<br />

Die Frage wird zwar nicht ausdrücklich angesprochen, aber<br />

der angedeutete Konflikt ist innerhalb der Epistemologie, für die<br />

diese Tafeln eingesetzt werden, präsent. Im Rahmen dieser völlig<br />

realistischen Ausstellung sollen die Bilder symbolisch sein. Denn<br />

das Kennzeichen der Zivilisation ist der Gebrauch von Symbolen,<br />

wie es auf der benachbarten Tafel heisst, auf der das Vertrauen<br />

in archäologische Spuren und anthropologische Parallelen als<br />

episte mologisches Verfahren nahegelegt wurde. Da ist zu lesen:<br />

Der Ursprung des neuzeitlichen Menschen liegt vielleicht beinahe<br />

500000 Jahre zurück. Doch erst in den letzten 5ooo Jahren ist der<br />

Mensch zur Zivilisation gelangt, die ihrerseits durch die vorherrschende<br />

Rolle von Symbolen charakterisiert ist.<br />

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denkbar<br />

Abbildung 4:<br />

(Oben) Tafel mit Wandzeichnungen,<br />

Saal der asiatischen Völker, American<br />

Museum of Natural History<br />

(Courtesy American Museum of<br />

Natural History).<br />

(Unten) Detail aus Tafel mit Wandzeichnungen.<br />

Diese Berufung auf das Symbolische ist schon in Anbetracht des<br />

von der Eingangstafel in Anspruch genommenen kristallklaren<br />

Realismus ein Problem. Aber die zu dieser Konklusion führende<br />

Argumentation ist zirkulär und verdient eine eingehende Analyse.<br />

Die Erläuterungstafel ist nicht das einzige Mittel, das der Vorbereitung<br />

auf die Betrachtung der visuellen Objekte dient. Unmittelbar<br />

vor dieser Vitrine zur Veranschaulichung des prähistorischen<br />

Geschichtenerzählens findet sich ein Exponat, das ein<br />

Modell einer korjakischen Gruppe zeigt und zusätzlich zu den<br />

»wohlbekannten Erfordernissen des täglichen Lebens« eine rudimentäre<br />

Darstellung eines Hundeopfers repräsentiert. So scheint<br />

es jedenfalls, visuell betrachtet (siehe Abbildung 3 unten). Durch<br />

Imitation – eine realistische Darstellung – eines kleinen Ausschnitts<br />

aus einem der aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden<br />

Artefakte (Abbildung 4) repräsentiert dieses Schaustück<br />

ein »wirkliches« Hundeopfer und zeigt kleine Puppen, die einen<br />

mit Stricken gefesselten Hund aufspiessen. »Was tun sie mit dem<br />

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armen Hund« rief eines der vielen Kinder, die daran vorbeigingen.<br />

»Keine Ahnung«, erwiderte die Lehrerin wenig überzeugend.<br />

»Das ist gemein!« versetzte das Kind.<br />

Der epistemologische Zusammenhang zwischen diesem<br />

Schaustück und den sibirischen Tafeln beruht auf einer Verschmelzung<br />

von Spur und Parallele. Offensichtlich ist das Exponat<br />

eine Nachahmung des Artefakts, doch zunächst ist das<br />

Artefakt realistisch interpretiert worden. Das im Artefakt<br />

symbolisch dargestellte Hundeopfer wird als »Symbol« für das<br />

von ihm aufgezeigte »wirkliche Leben« verstanden. (Daher die<br />

Angemessenheit des kindlichen Ausrufs »Das ist gemein!«.) Im<br />

Rahmen der durch den Spazierweg gesteuerten narrativen Darstellung<br />

kommt das realistische Modell jedoch vor dem von ihm<br />

nachgeahmten historischen Objekt und steigert so den Glauben<br />

an die anthropologische Wahrheit des modernen Ausstellungsstücks<br />

wie des alten Bildes. Diese visuelle Argumentation lässt<br />

sich mit der Vorstellung vergleichen, jemand versuche eine anthropologische<br />

Darstellung der abendländischen Kultur, indem<br />

er auf die Kreuzigung von mit Dornenkronen geschmückten<br />

Menschen, auf von Pfeilen durchbohrte gefesselte Leiber oder<br />

sonstige Spielarten des Martyriums zurückgreift. Da würden<br />

Fremde ausrufen: »Das ist gemein!« Unsere Kinder tun das<br />

nicht. Sie sind zivilisiert und erkennen ein Symbol, sobald sie<br />

seiner ansichtig werden.<br />

Der Zusammenhang zwischen dem Artefakt aus dem neunzehnten<br />

Jahrhundert und dem Exponat des zwanzigsten Jahrhunderts<br />

beruht auf der eindringlichen rhetorischen Figur der Metonymie.<br />

Das spätere Schaustück kommt zuerst, die ältere sibirische<br />

Tafel folgt darauf. Diese Sequenz gestattet eine Umkehrung von<br />

»Modell« und »Kopie« – eine Umkehrung zweier verschiedener<br />

Ebenen (der Darstellung) des Wirklichen. Visuell betrachtet hat<br />

es den Anschein, als zeige das korjakische Exponat die Wahrheit<br />

der sibirischen Tafel. Der Verweis auf die Kopie einer »wirklich<br />

alten« Malerei – nämlich des türkischen Fundes aus der Zeit um<br />

6500 v. Chr. – liefert eine Echtheitserklärung und bestätigt so diese<br />

Verschmelzung des Zeitlichen ins Räumliche. Das Missliche<br />

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denkbar<br />

ist jedoch, dass diese Malerei Jagdszenen darstellt und keine Spur<br />

von einem Hundeopfer enthält.<br />

Die der Vermittlung dieser Epistemologie des Nebeneinanders<br />

dienende Texttafel macht den gleitenden Übergang, wie üblich, explizit.<br />

Es handelt sich um einen gleitenden Übergang vom Raum zur<br />

Zeit und von der Gegenwart zur Vergangenheit: Die Korjaken leben<br />

im nordöstlichen Sibirien, an einem Ort, wo äußerste Kälte herrscht.<br />

... Unsere Kenntnis der in der Eiszeit gebräuchlichen Schutzvorrichtungen<br />

und Kleidungsstücke ist zwar begrenzt, aber wir können sicher<br />

sein, dass sich der prähistorische Mensch dem Klima genauso<br />

angepasst hat wie die Korjaken. ... Wie links gezeigt wird, haben<br />

diese Menschen den Geistern der Jagd und ihrer Siedlung rituelle<br />

Hundeopfer dargebracht. (Hervorhebungen hinzugefügt)<br />

Die Verbindung zwischen gegenwärtigen, aber geographisch weit<br />

entfernten Kulturen und der prähistorischen Vergangenheit wird<br />

als sicherer Zusammenhang hingestellt, und das im Schaukasten<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts dargestellte Hundeopfer zeigt, wie<br />

die Menschen der Vergangenheit wirklich verfahren sind. Der<br />

Diskurs des Zeigens ist praktisch unwiderstehlich. Die realistische<br />

Darstellung eines fiktiven Überbleibsels einer längst vergangenen<br />

Kultur wird als Quelle eines älteren Artefakts aufgefasst, das jetzt<br />

vermittels dieser Rhetorik realistisch gelesen werden muss. Der –<br />

hier visuelle – Realismus ist eine der primären Formen der »Wahrheitsrede«,<br />

deren sich das Museum bedient.<br />

Dieses Schaustück ist, wie ich annehme, älter als das derzeitige<br />

Bewusstsein von den Problemen der Wissensproduktion, die<br />

sich aus solchen Darstellungen ergeben. Wie gelingt es dem Museumsdiskurs<br />

mit seinen Mixed-Media-Verfahren, dieser Rhetorik<br />

auch heute noch unter die Arme zu greifen Freilich, wenn es<br />

sich um eine sprachlich abgefasste historische Analyse handelte,<br />

würde diese zirkuläre Argumentation nicht so weithin unbemerkt<br />

durchgehen. Der Punkt, auf den ich hier hinaus will, ist folgender:<br />

Die visuellen Schautafeln bleiben unangefochten, weil die Reihenfolge,<br />

in der sie gezeigt werden, die Syntax konstituiert, die dem<br />

so gebildeten, wohlgeformten »Satz« diesen Sinn verleiht. Das<br />

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gelingt dem Verbund der Schaustücke aber nur deshalb, weil die<br />

verbale Ausrichtung, die rhetorische Fixierung der semiotischen<br />

Einstellung des Adressaten den Zirkel stützt. Dieses spezifische<br />

Zusammenwirken zwischen visuellen und verbalen Zeichensystemen<br />

zehrt von einer Epistemologie, die in unserer heutigen Kultur<br />

fest verankert ist. Der ganze Aufwand zur Artikulierung des<br />

Realismus dieser speziellen Abteilung wird deshalb getrieben, um<br />

so jene zirkuläre Epistemologie zu begründen und zu stützen. Der<br />

Ausdruck »prähistorisches Geschichtenerzählen« erhält somit eine<br />

unbeabsichtigte Nebenbedeutung: Dies ist eine vorwissenschaftliche,<br />

mythische Form des Erzählens der Geschichte von Kulturen,<br />

die wir gar nicht kennen können – eine in den 1990er Jahren praktizierte<br />

Form von prähistorischer Geschichtsschreibung.<br />

Im Anfang war das Wort<br />

Nach dem Saal der asiatischen Völker führt unsere Reise durch<br />

die Semiotik des Ausstellens auf dem Weg über die Abteilung »Vögel<br />

der Welt« hin zu einem rechts gelegenen Saal, dem Saal der<br />

afrikanischen Völker. Hier sind die Tafeln ein Beleg dafür, dass<br />

ein ernsthafter Versuch gemacht wurde, mit den Widersprüchen<br />

einer heutigen Gesellschaft, die sich der Rassenproblematik bewusst<br />

ist, zurechtzukommen. Diese Texttafeln stammen offenbar<br />

aus neuerer Zeit und könnten jene kritische Note beisteuern, die<br />

für ein Museum wie dieses unentbehrlich ist, um in den 1990ern<br />

etwas zu leisten. In beträchtlichem Masse gelingt das auch.<br />

Die Eingangstafel auf der linken Wand formuliert die aktuelle<br />

pädagogische Zielsetzung dieses Saals 19 : Mit dem raschen Übergang<br />

vom Stamm zum Nationalstaat ist ein großer Teil der Vergangenheit<br />

Afrikas im Verschwinden begriffen. Das Erbe bleibt<br />

jedoch. Es beeinflusst den Charakter der neuen Nationen und verhilft<br />

den Afro-Amerikanern in der Neuen Welt zu einer eigenen<br />

Individualität. In diesem Saal geht es zwar hauptsächlich um die<br />

Vergangenheit, aber vielleicht kann sie dennoch zu einem besseren<br />

Verständnis der Gegenwart beitragen.<br />

Diese den pädagogischen Zweck des Raums formulierende Tafel<br />

hängt an einer Wand ausserhalb des eigentlichen Saals, und diese<br />

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denkbar<br />

Position bezeichnet mit räumlichen Mitteln die Distanz, die die<br />

heutigen Kuratoren gegenüber dem vor etwa fünfzig Jahren entworfenen<br />

Saal wahren. Damit beginnt eine semantische Anreicherung<br />

des deiktischen, schwer zu greifenden »Ich« durch räumliche<br />

Entfernung. Durch Abstandnahme wird Differenz geschrieben. 20<br />

Der Sinn der Abstandnahme beruht allerdings auf der Syntax des<br />

Museums. Die Tafel als solche deutet auf ein kritisches Vorhaben<br />

hin: auf eine Erklärung der Probleme der vielrassigen Gesellschaft<br />

von heute durch Hinweis auf ihre Wurzeln im Kolonialismus. Diese<br />

Kritik könnte funktionieren, wenn sie im Gesamtbereich der<br />

Exponate durchgehalten würde. Wird diese Selbstkritik im inneren<br />

des Saals allerdings nicht fortgesetzt, bleibt sie ein Vorwort, dessen<br />

räumliche Position ausserhalb des Saals seine ideologische Position<br />

als Einrahmung des Geschehens im Saal mittels einer Entschuldigung<br />

widerspiegelt. Das Problem lässt sich mit dem des Zitats – des<br />

indirekten Diskurses innerhalb einer Erzählung – vergleichen. Der<br />

Erzähler, hier die gegenwärtige Inkarnation des expositorischen<br />

Akteurs, »zitiert« den deskriptiven Diskurs im Inneren des Saals:<br />

die Schaukästen. Zitate werden in narrativen Texten durch den<br />

sogenannten »zuschreibenden Diskurs« (Prince) eingeführt oder<br />

abgeschwächt. Der zuschreibende Diskurs erfüllt eine doppelte<br />

Funktion: Er schreibt das Zitat einem Sprecher zu und schränkt<br />

den Inhalt des Zitats ein. Wäre diese Tafel die einzige Einführung,<br />

würde sein Abstand im Verhältnis zum Saal dazu beitragen, diese<br />

Zuschreibung zu neutralisieren.<br />

Diese Tafel ist aber nur ein erster Schritt innerhalb einer verwickelten<br />

Gruppierung von Rahmen. Die Einrahmung ist hier so<br />

nachdrücklich und so vertrackt, dass das Dilemma des Subjekts<br />

durchscheint. Eingerahmt wird der Eingang darüber hinaus durch<br />

zwei helle Vitrinen, deren Rhetorik sich die zweite der vom Museum<br />

benutzten Formen der Wahrheitsrede – den wissenschaftlichen<br />

Diskurs – zu eigen macht. Weit hinten im dunklen Saal erblickt<br />

man schon eines der realistisch gestalteten Schaustücke, und<br />

der Gegensatz ist frappierend (als Beispiel siehe Abbildung 5). 21<br />

Die einführenden Exponate am Eingang – »Familie« rechts und<br />

»Gesellschaft« links – präsentieren dreidimensionale graphische<br />

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Abbildung 5:<br />

(Oben) Diorama, »Bauern aus dem<br />

Grasland« (Courtesy American Museum<br />

of Natural History).<br />

(Unten) Eingang des Saales der afrikanischen<br />

Völker, American Museum<br />

of Natural History. Aus der Halle der<br />

Vögel der Welt: Texttafel und zwei<br />

Schaukästen. Photos: Mieke Bal.<br />

Modelle jenes Wesens Afrikas, über das nur die wissenschaftliche<br />

Analyse Auskunft zu geben vermag. Die Konnotation dieser Modelle<br />

ist »Wissenschaftlichkeit« mit dem Hauptmerkmal Zuverlässigkeit,<br />

und so wird visuell geltend gemacht, dass das, was wir<br />

gleich sehen werden, die Wahrheit über Afrika ist, nicht jene im<br />

Laufe der Geschichte hervorgebrachte Mischung aus »Wissenschaft«<br />

und »Fiktion«, welche die Grundlage der heutigen Sicht<br />

ausmacht und deren kritische Analyse ich aufgrund der verbalen<br />

Einführungstafel erwartete. Damit wird das von der als äusserer<br />

Rahmen dienenden Tafel angekündigte kritische Projekt von dem<br />

wissenschaftlichen Projekt des Rahmens zweiter Stufe überschrieben<br />

(Abbildung 5 unten).<br />

Die ersten Ausstellungsstücke nach dieser doppelten, widersprüchlichen<br />

Einführung befinden sich zwar im Saal, aber noch<br />

nicht in dessen Hauptteil. Sie sind den »fremden Einflüssen« und<br />

«Afrika heute« gewidmet . 22 In Einklang mit der Einführungstafel<br />

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denkbar<br />

handeln beide eher von dem, was der Kolonialismus aus Afrika<br />

gemacht hat, als von seiner »Naturgeschichte«. Diese wird aber<br />

dennoch das Thema der folgenden Exponate sein. Infolgedessen<br />

fungieren diese beiden Ausstellungsteile als eine dritte – auf die<br />

kritische und die wissenschaftliche folgende – Ebene der einführenden<br />

Einrahmung und präsentieren jetzt die doppelte Stimme<br />

der heutigen, durch Afrika selbst vermittelten Afrika-Sicht des<br />

Museums.<br />

Die Abteilung »Fremde Einflüsse« ist in ökonomische, politische<br />

und religiöse Einflüsse gegliedert. Die politische Situation<br />

wird wie folgt dargestellt: Die aufgezwungene Fremdherrschaft<br />

schuf politische Gebilde, die sehr viel umfassender waren als die<br />

früher existierenden, und das hätte von Vorteil sein können, doch<br />

denselben Mächten, von denen diese Einheiten aufgebaut worden<br />

waren, misslang es im Regelfall, diese Einheiten zu konsolidieren.<br />

Großenteils existierten sie nur auf dem Papier. Das Gemeinschaftsgefühl,<br />

das jedem wahrhaft geeinten Staat zugrunde liegen<br />

muss, fehlte, und sobald die fremden Militärkräfte außer Landes<br />

waren, brach die aufgezwungene Einheit leicht zusammen. (Hervorhebung<br />

hinzugefügt).<br />

Diese Schilderung ist durchaus kritisch: Die Fremdherrschaft –<br />

der Kolonialismus – zwang eine Ordnung auf, deren Aufrechterhaltung<br />

misslang. Ja, der wiederholte Gebrauch des Begriffs<br />

»Zwang« ist ein Beleg für das kritische Projekt, und Wörter wie<br />

»misslang« gehen in die gleiche Richtung. Andererseits verhüllt<br />

die Kritik kaum neuerliche Bekräftigungen ebender Werte, die<br />

überhaupt erst die koloniale Situation hervorgebracht hatten.<br />

So bleibt die Vorstellung, umfassendere politische Einheiten<br />

wären besser als kleiner angelegte Organisationen, ebenso unbegründet<br />

wie die Legitimität irgendeiner Form von Zwang. Die<br />

Grundlage des wünschenswerten Grossstaats sei ein Gemeinschaftsgefühl,<br />

das die Afrikaner nicht aufzubieten vermochten.<br />

Die Unentbehrlichkeit dieses Gefühls wird durch verallgemeinernde<br />

Phrasen wie »jeder wahrhaft geeinte Staat« artikuliert.<br />

Zum Schluss belegen die misslichen Folgen des Abrückens der<br />

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344<br />

Militärkräfte folgende widersprüchliche Botschaft: einerseits Kritik<br />

durch das die Einheit einschränkende Wort »aufgezwungen«;<br />

andererseits jedoch Mangel an Kritik durch die Worte »brach<br />

leicht zusammen« zur Kennzeichnung der inneren Schwäche der<br />

Afrikaner, die ausserstande waren, sich die Vorteile zu erhalten.<br />

Daher bleibt Raum für die Meinung, der Kolonialismus sei deshalb<br />

für Afrika von Nachteil gewesen, weil er nicht entschieden<br />

und nachhaltig genug gewesen sei: Wenn es den ausländischen<br />

Herrschern nur gelungen wäre, ihr fremdes System dauerhafter<br />

aufzuzwingen, dann wäre heute alles in Ordnung. 23 Kein Wort<br />

über die sozialen Systeme, die durch die oktroyierten Grossstaaten<br />

verdrängt wurden.<br />

Die verbale Botschaft mit ihrem doppelten Blick auf das, was<br />

mit Afrika passierte, ist hier widersprüchlich. Die diesen doppelten<br />

Blick veranschaulichenden visuellen Exponate üben allesamt<br />

Kritik an den Ergebnissen der politischen Organisation<br />

Afrikas. Aber anstatt die Gewalt aufzuzeigen, die Afrika angetan<br />

wurde, sind die Exponate zumeist Karikaturen und werden als<br />

solche vorgeführt. Die visuellen Ausstellungsstücke illustrieren<br />

die verbal ausgedrückte Meinung. Die konstative Aussage wird<br />

hier von der »dritten Person« selbst getragen. Das Bild von Afrika<br />

ist durch das Bild seiner Proteste gegen Entfremdung verdrängt<br />

worden, doch diese Proteste richten sich nicht gegen die fremden<br />

Kolonisatoren, sondern werden in doppeldeutiger Form als Selbstkritik<br />

präsentiert. Infolgedessen dreht die Verbindung von Worten<br />

und Bildern den Spiess um und kehrt ihn gegen das kritische Vorhaben:<br />

Afrika ist lächerlich, und das sagt es selbst (siehe Abbildung<br />

6 oben). Die Beziehung zwischen den sprachlichen und den<br />

visuellen Botschaften wird in dem der Religion gewidmeten Teil<br />

dieser Ausstellungsabteilung zum eklatanten Widerspruch. Der<br />

sprachli che Text stellt fest, der Islam sei bei seinem Versuch, sich<br />

durchzusetzen, weit erfolgreicher gewesen als das Christentum,<br />

denn: Das Christentum ist sehr viel weniger geeint und steht viel<br />

stärker in Widerspruch zu den traditionellen afrikanischen Werten.<br />

Daher hat es in sozialer und politischer Hinsicht vor allem<br />

zersetzend gewirkt. lm Gegenzug hat der Afrikaner aus diesen<br />

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denkbar<br />

Abbildung 6:<br />

(Oben) Politische Karikaturen aus<br />

dem Schaukasten »Politische Einflüsse«,<br />

mittlerer Teil der »Ausländischen<br />

Einflüsse«.<br />

(Unten) »Religiöse Einflüsse«, rechter<br />

Teil der »Ausländischen Einflüsse«<br />

(Spiegelbild des Schaukastens).<br />

Beide im Eingangsbereich des<br />

Saales der afrikanischen Völker,<br />

American Museum of Natural History.<br />

Beide Photos: Courtesy American<br />

Museum of Natural History.<br />

neuen Religionen etwas Eigenes gemacht, und seine Begabung für<br />

selektive Anpassung lässt jetzt in Afrika charakteristische, neue<br />

und lebendige Glaubensformen entstehen.<br />

Auch dieser Text kritisiert den Kolonialismus, brandmarkt den<br />

destruktiven Einfluss des Christentums und projiziert ein positives<br />

Bild der Afrikaner (»Begabung«). In visueller Hinsicht jedoch<br />

werden diese Worte ausgeschaltet, da ein Rosenkranz als unerkennbares<br />

Zeichen für den Islam stehen soll, so dass der Gesamteindruck<br />

dieses Exponats, für mich jedenfalls, ein christlicher ist<br />

(siehe Abbildung 6 unten) . 24 Das einheitstiftende Moment dieses<br />

Exponats ist eine Figur der Jungfrau Maria im Mittelpunkt neben<br />

einem Weisen, der ein Ritualgefäss mit aufgesetztem afrikanischem<br />

Symbolvogel hält. Das erstere Element wird der westliche<br />

Besucher als christlich erkennen; das letztere ist afrikanisch, lässt<br />

sich aber leicht mit einem der drei Weisen aus der christlichen<br />

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Weihnachtsszene verwechseln. Da diese Figur ein wenig hinter der<br />

Jungfrau steht und so platziert ist, dass sie auf eine ergebene Opfergabe<br />

hindeutet, verweist die visuelle Syntax keineswegs auf die<br />

religiöse Begabung der Afrikaner.<br />

Das ist ein Effekt der visuellen Syntax. Die Botschaft dieser<br />

Verknüpfung bezieht sich eher auf die Unterwerfung unter das<br />

Christentum als auf die Begabung zur Anpassung. Die Madonna<br />

steht im Mittelpunkt, und das Ensemble ist das größte visuelle<br />

Element in dieser Vitrine. Außerdem ist es als einziges unmittelbar<br />

figurativ und folglich das einzige erkennbare visuelle Element,<br />

dessen unverkennbare Botschaft daher »Primat des Christentums«<br />

lautet. Das afrikanische Element wird zwar gezeigt, mit<br />

syntaktischen Mitteln aber unsichtbar gemacht.<br />

Bei der negativsten Lesart dieser Sequenz – die keineswegs die<br />

einzig mögliche darstellt – wird der Besucher auf Solidarität mit<br />

der moralischen Richtigkeit und Rechtschaffenheit eingestimmt,<br />

die in der einrahmenden Aussentafel zum Ausdruck gebracht werden,<br />

nur um dann in eine narzisstische Reflexion über das von<br />

»uns« gestaltete Afrika verstrickt zu werden, bei der es mehr um<br />

die westliche Expansion geht als um das, was durch sie geopfert<br />

wurde. Da es unterlassen wird, diese Spiegelung eindringlich zum<br />

Bewusstsein zu bringen – indem z. B. darauf verzichtet wird, Spiegel<br />

anzubringen, um den Betrachter visuell einzubeziehen und es<br />

»dir« damit zu ermöglichen, zeitweilig zum »Ich« zu werden –,<br />

könnte der Inhalt des konstativen Sprechakts dazu führen, dass<br />

die kritische Botschaft völlig negiert wird.<br />

Diese dreifache Einleitung rahmt den Hauptteil des Saals ein,<br />

in dem die verschiedenen Völker in der traditionellen Manier der<br />

frühen anthropologischen Forschung dargestellt werden. Die Verbindung<br />

der als realistische Details präsentierten echten Artefakte<br />

mit lebensgrossen Puppen, die in erstarrter Haltung Andersheit<br />

repräsentieren, gehört offenbar mit zu dem, was das Museum in<br />

seiner metamusealen Funktion bewahren muss. Hier fügen die<br />

Tafeln mit ihrem sachlichen Text keine andere Dimension hinzu,<br />

keine Kritik und kein Selbstbewusstsein. Die semiotische<br />

Einstellung des Besuchers bleibt daher in der Schwebe. Freilich,<br />

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denkbar<br />

das »Du« wird hier stärker als sonst wo nach kultureller und rassischer<br />

Zugehörigkeit differenziert. Durch den Anfang beruhigt<br />

und auf sich selbst konzentriert, ist der weisse Betrachter aus dem<br />

Westen darauf vorbereitet, staunend über die Andersheit visuelle<br />

und sprachliche Informationen in sich aufzunehmen. Was der<br />

Besucherin afrikanischer Herkunft widerfährt, weiss ich nicht;<br />

vermutlich wird der beruhigende Effekt der Einleitung auch sie<br />

nicht unberührt lassen. Dem Rahmen gelingt es nicht, den Besucher<br />

dieser oder jener Herkunft mit dem dauerhaften Spiegel<br />

auszustatten, den er braucht, um die afrikanischen Völker in ihrer<br />

geschichtlichen Situation zu sehen.<br />

Bisher habe ich mich bei der Erörterung des Übergangs an den<br />

ersten Weg gehalten, der zu dem besonders betont ausgestalteten<br />

Eingang hinführt. Die Wiedergabe des oben beschriebenen Effekts<br />

wird durch einen sei’s noch so oberflächlichen Blick auf<br />

den ande ren Zugang zu diesem Saal bestätigt. Während der eben<br />

beschriebene Eingang die Beziehung zwischen Darstellung der<br />

Vergangenheit und Verständnis der Gegenwart thematisierte, ist<br />

dieser fest auf eine Suche nach den Ursprüngen ausgerichtet.<br />

Von dieser Seite aus gesehen trägt der Saal die Überschrift »Der<br />

Mensch in Afrika« und proponiert damit einen Universalismus,<br />

der die Spezifizität der afrikanischen Völker, denen der Saal gewidmet<br />

ist, durchstreicht. Die Geschichte tritt in den Schatten der<br />

Vorgeschichte, der Archäologie der menschlichen Gesellschaft,<br />

deren primärer Index der Homo Africanus ist. Links ist eine Tafel<br />

mit der Überschrift »Frühzeitliche Menschen in Afrika«, und<br />

rechts findet sich ein Exponat mit dem Titel »Die Anfänge der<br />

Gesellschaft«.<br />

Links wird eine Aufnahme der vermutlich frühesten menschlichen<br />

Fussstapfen gezeigt, jener herausragenden Indizes der wirklichen<br />

Existenz und Anwesenheit des Menschen. Das Exponat auf<br />

der Rechten zeigt die frühesten ökonomischen Aktivitäten: Viehhaltung,<br />

Feldanbau, Jagen und Sammeln sowie Werkzeugherstellung.<br />

Dieser Eingang huldigt dem Kontinent als der Wiege der<br />

Menschheit, ja der Zivilisation. Doch während auf der anderen<br />

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Seite »unser« Einfluss auf »sie« die Informationen über Afrika<br />

einrahmt, wird der »Homo Africanus« hier zum »Menschen«<br />

überhaupt, der nicht im gleichen Masse wie die Griechen als Vorläufer<br />

dasteht. Daher ist er auch keine Herausforderung für die<br />

übliche Auffassung der Geschichte als einer mit Schrift, Staat und<br />

Militär verknüpften Entwicklung. Vielmehr verschwimmen die<br />

Konturen der historischen Stellung afrikanischer Gesellschaften<br />

gerade wegen ihres hohen Alters. Die Abteilung »Anfänge der<br />

Gesellschaft« spricht von einer allgemeinen Menschheit, deren<br />

primitives Stadium mit Afrika in Verbindung gebracht wird. Das<br />

wissenschaftliche Faktum der weit zurück reichenden Geschichte<br />

Afrikas trägt hier die Kennzeichnung eines Primitivismus, der<br />

ausserhalb der Geschichte steht und dessen erstarrte Bilder im<br />

Saalinneren gezeigt werden. 25<br />

Wieder ist der Rahmen raffinierter, als er bisher geschildert<br />

wurde. Nähert sich der Besucher dem Hauptteil des Saals aus<br />

dieser Richtung, betritt er durch eine enge Pforte das eigentliche<br />

«Afrika», wobei Äthiopien vor der geologisch orientierten Einteilung<br />

in »Landschaftsgebiete« – Flusstal, Savanne, Wüste, Wald –<br />

in Erscheinung tritt. Der Grund, weshalb Äthiopien diese Sonderstellung<br />

einnimmt, lässt sich an den Exponaten ablesen. Es könnte<br />

daran liegen, dass in Äthiopien die ältesten Zeichen menschlichen<br />

Lebens gefunden wurden. Aber es gibt, zumindest auf der Ebene<br />

der Konnotationen, noch einen weiteren Grund.<br />

Die ersten beiden Exponate sind dem »Christentum« zur Rechten<br />

und dem »Krieg« auf der Linken gewidmet. Die Ausstellung<br />

«Christentum» beginnt im vierten Jahrhundert v. Chr. sowie im<br />

dritten Jahrhundert n. Chr. mit der damals herrschenden salomonidischen<br />

Dynastie, die sich ihrerseits auf Salomon und Bathseba<br />

berief. Durch das Wort »Christentum« im Titel dieses Teils der<br />

Ausstellung wird die ganze Präsentation so ausgerichtet, dass wir<br />

das älteste Exponat als Vorgeschichte des späteren Christentums<br />

betrachten. 26 Die Vorstellung von einer jüdischen Kultur kommt<br />

gar nicht zum Vorschein; dennoch kann Salomon kaum als christliche<br />

Figur betrachtet werden. Die wichtigsten visuellen Exponate<br />

in dieser Vitrine sind eine auf Leinwand gemalte visuelle Schil-<br />

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denkbar<br />

derung der Geschichte von Salomon und Bathseba sowie eine<br />

schriftliche Darstellung mit einer Illustration.<br />

Dürfen wir einen Teil des nahegelegten Spaziergangs im Museum<br />

als Text auffassen, als narrativen Bericht mit einer Geschichte,<br />

die erzählt werden soll Die Konsequenz, die sich aus einer<br />

solchen Sicht ergibt, erscheint unausweichlich. Einerlei, welchen<br />

Eingang man wählt, der Saal der afrikanischen Völker kann dann<br />

nur durch das Christentum hindurch betreten werden. Darunter<br />

könnte man sich zwar eine relevante Form der Einführung in die<br />

afrikanische Geschichte vorstellen, aber es ist eben keine angemessene<br />

Einführung in »Afrika« als jener ethnographisch mit sich<br />

selbst identische, erstarrte Kontinent, als der es in diesem Saal<br />

hingestellt wird. Vielmehr fungieren die durchs Christentum hindurchführenden<br />

Eingänge als eine an den Betrachter gerichtete<br />

Anweisung, er solle sich einem Übergangsritus unterziehen: Durch<br />

eine Umkehrung der Prioritäten und eine Außerkraftsetzung der<br />

Logik (die widersprüchlichen Botschaften) wird der Besucher<br />

darauf vorbereitet, die afrikanischen Völker durch die Optik<br />

des abendländischen Christentums zu sehen. Die verschiedenen<br />

Exponate, von denen Afrika potentiell mit gebührender Vielfalt<br />

und innerer Verschiedenartigkeit vorgeführt wird, werden daher<br />

neutralisiert, indem der angepeilte Besucher von vornherein als<br />

Angehöriger der Kultur, die dieses Museum hervorgebracht hat,<br />

identifiziert wird.<br />

Für andere – insbesondere für den Besucher afrikanischer Abstammung<br />

– wirft der Eingang vermutlich ein Problem der Entfremdung<br />

auf. Mit christlicher Identität gewappnet oder belastet,<br />

steht der Besucher einem »Afrika« gegenüber, das bereits eine Fiktion<br />

ist: eine in bestimmter Weise fokalisierte Geschichte, bei der<br />

das Wissen durch Vorurteil ergänzt und die Fremdheit durch metaphorische<br />

Übersetzung neutralisiert wird – also eine bestimmte<br />

Sicht. Das Gesamtkonzept dieses Saals sowie der übrigen anthropologischen<br />

Säle lässt die Kulturen in einer auf dem Begriff des<br />

Typischen basierenden statischen Darstellung erstarren. Menschliche<br />

Körper werden als Muster ethnischer Einheit vorgeführt.<br />

Kulturen werden ausserhalb der Geschichte gezeigt.<br />

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Fazit<br />

Eine Möglichkeit, für visuelle Darbietungen narrative Unschuld<br />

in Anspruch zu nehmen, besteht darin, dass man die Fähigkeit<br />

des Bilds zum Erzählen von Geschichten bestreitet. Die Geschichte,<br />

die das Museum erzählen könnte und deren Erzählung seine<br />

derzeitige Funktion soviel überzeugender machen würde, ist die<br />

Geschichte der in diesem Museum – ja eigentlich in den meisten<br />

Museen dieser Art – geübten Darstellungspraxis: die Geschichte<br />

des sich verändernden, aber immer noch lebendigen Einverständnisses<br />

zwischen Privileg und Wissen, Besitz und Ausstellungskapazität,<br />

Stereotypisierung und Realismus, Zurschaustellung und<br />

Unterdrückung von Geschichte. Es gibt Hinweise darauf, dass<br />

der expositorische Akteur daran interessiert ist, dieses schwierige<br />

Projekt zu verfolgen.<br />

Nach wie vor gilt, dass eine Darstellung, bei der die afrikanischen<br />

Völker als etwas visuell Erfassbares gezeigt werden, diese<br />

Völker in einer Weise, die keineswegs radikal mit dem kolonialen<br />

Zwang der »fremden Einflüsse« bricht, aktiv ihrer Geschichte beraubt.<br />

Die Darstellung ausserhalb der Geschichte geht Hand in<br />

Hand mit der Darstellung des Typischen. Und beim Typischen<br />

bleibt ebenjene Individualität ausser Betracht, die dem Begriff der<br />

Hochkunst, der dem Met zugrunde liegt, als Basis dient. Dort sind<br />

den Artefakten ein Name und ein Zeitpunkt angeheftet, aber kein<br />

gesellschaftlicher Kontext. Hier dagegen erzählen die Exponate<br />

gerade beim Versuch, fremde Kulturen zu zeigen, eine Geschichte.<br />

Aber das ist weder die Geschichte der dargestellten Völker noch<br />

die Geschichte der Natur, sondern die Geschichte des Wissens,<br />

der Macht und der Kolonisierung, die Geschichte von Macht/<br />

Wissen. 27 Aber diese Geschichte legt ihre Karten nicht so offen<br />

auf den Tisch, wie sie es könnte; sie erzählt nicht »in der ersten<br />

Person«. Wenn dieser Akt des Geschichtenerzählens und dessen<br />

Subjekt nur stärker in den Vordergrund gerückt würden, wäre das<br />

Museum besser dafür gerüstet, auf die Erwartungen einer postmodernen<br />

Kritik zu antworten. Es liegt eine gewisse Ironie darin,<br />

dass Naturgeschichte Geschichte ausschliesst; und durch diese<br />

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denkbar<br />

Ausschliessung wird die Natur selbst ausgeschlossen.<br />

Diese Interpretation einiger Probleme des AMNH beweist die<br />

Spannung, die solchen Bildungseinrichtungen und, wenn man weiterdenkt,<br />

auch Einrichtungen der Ausstellung als eines Akts des<br />

konstativen Zeigens oder Exponierens innewohnt, selbst wenn das<br />

expositorische Handeln in der Hand besonders wohlmeinender<br />

und bewanderter Leute liegt. Ich für mein Teil habe Probleme in<br />

den Vordergrund gerückt und überlasse es den üblichen Einführungen<br />

von der Art des offiziellen Museumsführers, eine andere<br />

Anschauung zu vertreten, und zwar weniger weil es weder etwas<br />

gäbe, womit man zufrieden sein könnte, noch weil niemandem<br />

im besonderen Vorwürfe zu machen wären, sondern weil die Probleme<br />

offenbar sowohl unvermeidlich als auch gravierend sind.<br />

Die beiden Hauptformen der Wahrheitsrede – Realismus und<br />

wissenschaftlicher Diskurs – sind im Zusammenwirken mit der<br />

gelehrten Wahrheitsrede vom Typ des Quellenzitats, indes sie um<br />

die Eroberung der konstativen Autorität und der demonstrativen<br />

Überzeugungskraft konkurrieren, in jenen »Kapiteln« verkörpert,<br />

die von Schaustücken in natürlicher Umgebung und von artikulierten<br />

Systemen – Schaukästen und Diagrammen – gebildet<br />

werden. Jede dieser Formen beinhaltet eine andere Dynamik zwischen<br />

visuellen und verbalen Zeichen. Allein Anschein nach kontrastieren<br />

sie in punkto Verfahren, konvergieren aber im Hinblick<br />

auf die Resultate. Diese Konvergenz deutet darauf hin, dass der<br />

Realismus – bei dem sich das Wirken des Urhebers verbirgt und<br />

die das visuelle Bild prägenden Worte ihre Sprecher unsichtbar<br />

machen – im gleichen hohen Masse diskursiv ist wie die wissenschaftliche<br />

Akzentuierung der Diskursivität durch Diagramme,<br />

Zahlen und Erklärungen.<br />

Freilich, der expositorische Akteur hat sich offenbar sehr bemüht,<br />

seine alten Schätze mit kritischem Biss auszustatten. Bei<br />

den Anstrengungen, den Besucher auf ideologische Probleme hinzuweisen,<br />

werden drei verschiedene Haltungen eingenommen. Die<br />

erste besteht darin, dass man explizite und wiederholte Vergleiche<br />

zwischen den gezeigten Kulturen und der »abendländischen Kultur«<br />

anstellt. Das könnte dazu beitragen, einer übertriebenen «Al-<br />

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terisierung» 28 abzuhelfen, obwohl die Nichtbeteiligung »unserer«<br />

Kultur an der Ausstellung eine Absonderlichkeit bleibt, die den<br />

Effekt der Vergleiche zu neutralisieren droht.<br />

Eine weitere gut repräsentierte Strategie für kritische Einführungen<br />

ist die Betonung der Kontinuität von Traditionen. Die dritte<br />

Strategie ist die der expliziten Selbstreflexion. Nirgends sind<br />

die Tafeln und Exponate ironisch – d. h. ironisch im Hinblick auf<br />

das Museum und dessen eigene Herkunft. Ein raffinierter Einsatz<br />

von Spiegeln hätte, wie oben bereits angedeutet, dazu beitragen<br />

können, in dem Saal der asiatischen Völker zu einer Umkehrung<br />

der Gehrichtung zu ermutigen, und könnte den Betrachter in entscheidenden<br />

Augenblicken in die dargestellte fremde Welt einbeziehen.<br />

So würde die Andersheit mit der Einsicht vermischt, dass<br />

die Welt, die aus diesem kolonialen Bestreben hervorging, dieselbe<br />

ist wie die, an der jeder Besucher heute teilhat. Unverzichtbar ist<br />

meines Erachtens, dass in ausschlaggebenden Momenten – etwa<br />

am Eingang zum Saal der afrikanischen Völker – auch die koloniale<br />

Gewalt dargestellt wird. Aber visuelle und verbale Massnahmen<br />

zur Enttypisierung können dabei mitwirken, dass man von<br />

der holistischen Darstellung – von dem diesen Ausstellungssälen<br />

zugrunde liegenden synekdochischen Tropus – abkommt.<br />

Einigen Ausstellungsteilen gelingt es besser als den oben erörterten,<br />

einen anderen Zugang zum Metamuseum nahezulegen,<br />

nämlich einen Zugang, der die Vermittlung der Kenntnis des Objekts<br />

mit der Konstruktion dieses Objekts durch Subjekte vereinigt.<br />

Tatsächlich gibt es Exponate, bei denen die Texttafeln nicht<br />

den visuellen Schaustücken widersprechen. Es gibt Exponate, deren<br />

visuelle Überzeugungskraft so stark ist, dass keine Tafel ihrer<br />

Rhetorik etwas entgegensetzen kann. Ausserdem gibt es Exponate,<br />

wo die ausgestellten Stücke wirklich von dem durch die Begleittexte<br />

ins Spiel gebrachten kritischen Biss profitieren.<br />

Die in diesem gemischten Diskurs aus Bildern, Worten und<br />

räumlicher Verteilung enthaltenen Bruchstellen, die ich aufzuzeigen<br />

versucht habe, sind repräsentativ für ähnliche Bruchstellen<br />

innerhalb der sozialen Wirklichkeit von New York City, dem Zentrum<br />

einer Welt, der es schwerfällt, mit ihrem kolonialistischen<br />

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353<br />

denkbar<br />

Erbe zurechtzukommen. Und Ähnlichkeit ist eine prekäre Sache:<br />

Sie kann naturalisieren, was eigentlich als etwas historisch Spezifisches<br />

und daher als etwas Veränderliches herausgestellt werden<br />

sollte. Die in New York City wohnhaften Völker sind Angehörige<br />

einer Welt, der es nicht sonderlich leicht fällt, die Vorsilbe »post-«<br />

der Postkolonialität zu bejahen. So gesehen verweisen die Konflikte<br />

im Museum auf Probleme und Brüche in der Einheit eines<br />

Gesamtdiskurses der Herrschaft. Doch es gibt, wie ich ebenfalls<br />

nachzuweisen versucht habe, ein Vorherrschen eines bestimmten<br />

Elements, ein Konvergieren eines ohnehin schon sehr starken anziehenden<br />

Moments, nämlich der Tendenz, an die Wahrheit des<br />

durch Fiktion dargestellten Wissens zu glauben.<br />

Verschiedene Museen äussern unterschiedliche Fiktionen,<br />

doch die Gemeinsamkeit dieser Fiktionen besteht darin, dass sie<br />

weder die Karten auf den Tisch legen noch ihre eigene Stimme<br />

offenbaren, sondern ihre Objekte zeigen. Das »Zeigen« der Naturgeschichte<br />

bedient sich einer Überredungsrhetorik, die nachgerade<br />

unweigerlich von der Überlegenheit der angelsächsischen,<br />

weitgehend christlich geprägten Kultur überzeugt. Am Ende der<br />

evolutionären Leiter ist ein durchgängig sprechendes »Ich« selbst<br />

abwesend im Inhalt der Schaustellungen, abwesend in den »Zeigungen«,<br />

welche die Schaukästen des Museums sind. Das Zeigen<br />

wird, wenn es auf das Erzählen der eigenen Geschichte verzichtet,<br />

zur zur Schau stellenden Prahlerei.<br />

Mieke Bal: www.miekebal.org<br />

1977 promovierte sie in Französischer und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht.<br />

Von 1987 bis 1991 war Mieke Bal als Vergleichende Literatur-wissenschaftlerin und Direktorin des<br />

Graduiertenprogramms am Institut für Fremde Sprachen, Literaturen und Linguistik der Universität von<br />

Rochester (New York) tätig. Von 1991 bis 1996 arbeitete sie als dort Gastprofessorin für Visuelle und Kulturelle<br />

Studien, seit 1991 aber hauptsächlich als Professorin für Literaturtheorie an der Universität von<br />

Amsterdam. Ihre Studiengebiete umfassen Literaturtheorie, Semiotik, visuelle Künste, Cultural studies,<br />

postkolonialistische und feministische Theorie, Untersuchungen französischer Literatur und Kultur, des<br />

Alten Testaments, der gegenwärtigen Kultur sowie derjenigen des 17. Jahrhunderts. Bals Arbeiten sind<br />

unter anderem beeinflusst von Judith Butler, Julia Kristeva, Gayatri Chakravorty Spivak, Gilles Deleuze,<br />

Jacques Derrida und Homi Bhabha.<br />

Zwischen 2004 und 2005 hat Mieke Bal in Zusammenarbeit mit dem Künstler Shahram Entekhabi eine<br />

Serie von Videos zum Thema Migration produziert: Glub, Road Movie, Lost in Space, eye contact.<br />

2003 war Mieke Bal auch an der Produktion eines Films über arabische Migranten in Frankreich beteiligt.<br />

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354<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Michael Ann Holly danke ich für ihre überaus sachdienlichen Anmerkungen zu einer<br />

früheren Fassung dieses Kapitels. Hier dürfte auch der Ort sein, um die Widmung dieses Kapitels<br />

zu erklären. Als ich eine frühere Fassung dieses Texts zum erstenmal veröffentlichte, trug<br />

sie eine Widmung für Alexander Holly. Alexander hatte mir gesagt, ich solle ins American<br />

Museum of Natural History gehen, um mir den Wal anzuschauen, anstatt immer das Metropolitan<br />

Museum of Art zu besuchen. In kindlicher Weisheit redete er mir zu: Tiere zeigen<br />

sei eigentlich das gleiche wie Kunst zeigen. Ich blieb an der buddhistischen Statue hängen<br />

und habe es nicht geschafft, mir Alexanders Lieblingsstück anzuschauen. Alexander starb in<br />

derselben Woche, in der dieser Artikel erschien, und hat nie von der Überraschung erfahren,<br />

die ich ihm zugedacht hatte. Von ihm stammt die Anregung, die Zusammenhänge, die ich hier<br />

herzustellen versuche, zu sehen. Deshalb und weil er stets der vierzehnjährige Knabe bleiben<br />

wird, der er damals war, widme ich dieses Kapitel jetzt seinem Angedenken. Angesichts der<br />

weiter unten erwähnten Darstellung des Hundeopfers hätte er vielleicht ausgerufen: »Das ist<br />

gemein!« Außerdem hätte er - er war auf dem besten Wege dahin - einer der fähigsten Kritiker<br />

ebendieser Art von epistemologischen und pädagogischen Tricks werden können.<br />

2<br />

Siehe Jonathan Cullers Structuralist Poetics (1975). In diesem Buch wird die Naturalisierung<br />

in der Literatur aufschlussreich erörtert. Für ein ähnliches Phänomen - nämlich für rhetorische<br />

Mittel, mit deren Hilfe sich Beschreibungen so geben können, als gehörten sie »natürlich«<br />

in die in Wirklichkeit von ihnen unterbrochene Erzählung - benutzt Hamon den Ausdruck<br />

»Motivation«. Siehe Philippe Hamon, Introduction ä l›analyse du discours deseriptif. Wenn<br />

ich hier von »Naturalisierung« spreche, soll das die rhetorische Natur der Erfahrung der<br />

Stadtgestalt verdeutlichen.<br />

3<br />

Zappler, Official Guide (1990), S.3.<br />

4<br />

Der Ausdruck »Symptom« ist hier in seinem spezifischen, Peirceschen Sinn gemeint und bedeutet<br />

ein unabsichtlich geäußertes Zeichen. Ob der Ausdruck außerdem etwas Medizinisches<br />

oder Freudianisches konnotiert und so Krank heit oder Unbehagen bezeichnet, bleibe dem<br />

Leser überlassen. Siehe Sebeok, Signs (1994), S.24-28.<br />

5<br />

James Clifford präsentiert eine erhellende und geistreiche Fassung des von Frederic Jameson<br />

wiedergegebenen und von Greimas ersonnenen semiotischen Quadrats. Ebenso wie Jameson<br />

benutzt auch Clifford die semiotische Analyse, um die Strukturen der Ideologie zu kartographieren,<br />

nicht um - wie es bei Greimas geschähe - geltend zu machen, daß die Sinnstiftung in<br />

dieser Weise begrenzt sein müsse. Siehe James Clifford, The Predicament of Culture (1988),<br />

S. 224; A. J. Greimas und Francois Rastier, »The Interaction of Semiotic Constraints« (1968);<br />

Fredric Jameson, The Political Unconscious (1981).<br />

6<br />

Siehe Fabians klassische Kritik des ausweichenden Umgangs mit der Zeit in der Ethnographie:<br />

Johannes Fabian, Time and the Other (1983).<br />

7<br />

Der Ausdruck »Effekt des Realen« (effet de réel) wurde 1968 mit Erfolg von Roland Barthes<br />

eingeführt. Siehe Barthes, »L’effet de réel«. Dieser Terminus ist problematisch und zugleich<br />

attraktiv. Siehe meine Kritik in: On Story-Telling (1991), S. 109-<strong>14</strong>5. Kurz gesagt: Dieser Ausdruck<br />

bezieht sich auf literarische Phänomene, etwa auf Beschreibungen, deren Nebenbedeutung<br />

»Dies ist Realität« größere Wichtigkeit erlangt als die Hauptbedeutung dessen, was da im<br />

besonderen beschrieben wird.<br />

8<br />

Zur Unterscheidung zwischen Artefakt und ästhetischem Objekt siehe Roman Ingarden, Das<br />

literarische Kunstwerk. Diese Unterscheidung hat Wolfgang Iser im Rahmen seiner Darstellung<br />

der Rezeptionsästhetik (Der Akt des Lesens [1976]) wieder aufgegriffen. Die Begriffe<br />

Ikon, Index und Symbol werden hier im Sinne von Peirce verwendet. Ein kurzer Text, in dem<br />

alle wichtigen Termini enthalten sind, wurde von Robert E. Innis in: Semiotics (1984), S.1-z3,<br />

veröffentlicht. Zur Einführung siehe Umberto Eco und Thomas Sebeok (Hg.), The Sign of the<br />

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355<br />

denkbar<br />

Three (1983), und die Einleitung zu meinem Buch On Meaning Making (1994)<br />

9<br />

Den Zusammenhang zwischen Herrschaft (im Bereich der Feldforschung) und Sammeln (für<br />

das Museum) legt Donna Haraway in ihrem Buch Primate Vision (1989) dar. Zur Problematik<br />

des Sammelns siehe Susan Stewart, On Longing (1994); Phyllis Mauch Messenger, The<br />

Ethics of Collecting Cultural Property (1989); Michael Ames, Museums, the Public, and<br />

Anthropology (1986). Allgemeiner ist die Thematik des von John Elsner und Roger Cardinal<br />

herausgegebenen Sammelbands The Cultures of Collecting (1994)<br />

1o<br />

Zur Kritik der zuletzt genannten Art siehe Michael Fischer, »Ethnicity and the Postmodern<br />

Art of Memory« (1986).<br />

11<br />

Analysiert wird die metamuseale Funktion von Museen wie dem American Museum of<br />

Natural History in dem genannten Buch von Ames.<br />

<strong>12</strong><br />

Oder mit dem »Wilden in uns selbst«, dessen Existenz, wie ich in Kapitel 6 von Double Exposures<br />

(1996), S. 21 off., zeige, von Corbey vehement bestritten wird. Siehe zur hier auf dem<br />

Spiel stehenden Logik der »hinweisenden Selbst definition durch Negation« Hayden White,<br />

»The Forms of Wildness. Archeo logy of an Idea«, in: Tropics of Discourse (1978). Zur Kritik<br />

des (Neo-)Kolo nialismus innerhalb der Postkolonialität siehe Gayatri Chakravorty Spivak,<br />

Outside in the Teaching Machine (1993)<br />

13<br />

Von »Unterschieden« ist hier in der spezifischen Bedeutung des Wortes die Rede, die ihm<br />

von Pierre Bourdieu in seiner Studie Die feinen Unterschiede (1987) gegeben wird.<br />

<strong>14</strong><br />

In anderen Räumen des Museums kommt eine dritte Darstellungsstrategie zum Einsatz:<br />

die Ästhetik der Wissenschaftlichkeit durch Projektion ästhe tisch angenehmer und kognitiv<br />

überzeugender dreidimensionaler Diagramme. Diese Strategie kommt in den Tiersälen, die ich<br />

hier nicht analysiere, eindringlicher zum Zuge.<br />

15<br />

Zum semiotischen Status solcher Zeugnisse siehe Umberto Eco und Thomas Sebeok (Hg.),<br />

The Sign of the Three (1983). Zur »Stammeskunst« als kulturelles Zeugnis siehe Clifford,<br />

The Predicament of Culture (1988), S. 187-252. Mit Cliffords Deutung des Museums bin ich<br />

weitgehend einverstanden. Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, dass seine von Ames<br />

übernommene Unterscheidung zwischen »formalistischen« und » kontextualistischen« Protokollen<br />

die im Met bzw. im American Museum of Natural History eingesetzten semiotischen<br />

Strategien vollständig erklärt. »Ästhetik« ist ebenfalls ein Kontext, und darum ist das Etikett<br />

»Formalismus« notwendig zum Scheitern verurteilt. In beiden Fällen werden die Werke als<br />

Indizes verwendet, insbesondere als Synekdochen; doch das »Ganze«, für das sie als »Teil«<br />

stehen, ist jeweils ein anderes. Die Zeit ist der ausschlaggebende Faktor - der Grund, dessen<br />

Fehlen (in diesem Museum) oder dessen Vorhandensein (im Met) den Sinn des repräsentativen<br />

Objekts stiftet.<br />

16<br />

Siehe Oosten und Moyer, von denen Genesis 2 und 3 in diesem Sinne analy siert werden.<br />

Siehe ferner Bal, Lethal Love (1987), S. 1o4-130.<br />

17<br />

Crimp, Über die Ruinen des Museums (1996), S.76.<br />

18<br />

Diese Anmerkung sollte nicht im Sinne einer Befürwortung des pauschalen und unkritischen<br />

Gebrauchs von Spiegeln aufgefasst werden. In der neuen, 1994 eröffneten Ausstellung im<br />

National Museum of the American Indian ist am Ende des Rundgangs ein Spiegel aufgestellt.<br />

Dieser Spiegel steht in der Nähe des Ausgangs und zeigt den Besucher beim Hinausgehen, aber<br />

nichts von den ausgestellten Stücken. Infolgedessen steht die Wirkung im Gegensatz zu dem,<br />

was ich hier vorschlagen möchte. Sie isoliert die Besucher von den eben gesehenen Objekten<br />

der Ureinwohner, und sofern überhaupt ein Gefühl ausgelöst wird, dürfte es eher ein Gefühl<br />

der Erleichterung als eines der Solidarität oder der hybriden Identität sein. Siehe Hill und HilI,<br />

Creation’s Journey (1994) Im Gegensatz dazu vgl. Edwin Janssen, Narcissus (1994), sowie den<br />

Schluß von Bal, Double Exposures (1996).<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 355<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>08</strong> <strong>Uhr</strong>


356<br />

19<br />

Bei einem neuerlichen Besuch im Dezember 1994 stellte ich fest, dass diese spezielle Tafel<br />

wegen des Aufbaus einer Wechselausstellung («The First <strong>12</strong>5 Years«) abgehängt worden war.<br />

Ich weiß nicht, ob, wie und wo sie wieder auftauchen wird.<br />

20<br />

Liest man diese räumliche Abstandnahme als Schrift einer moralischen Distanzierung von<br />

einem zeitlich entfernten Standpunkt, wird sie zu einem Emblem von Derridas Theorie der<br />

différance. Siehe Die Schrift und die Differenz (1972).<br />

21<br />

Dabei handelt es sich nicht um den Schaukasten, den man als ersten erblickt - er handelt von<br />

Wüstenbewohnern -, sondern um einen vergleichbaren. Ein Photo des ersten stand nicht zur<br />

Verfügung.<br />

22<br />

Der Saal selbst liegt in einem dem Schutz der empfindlichen Schaukästen dienenden Dunkel.<br />

Der Eingang, der auf beiden Seiten die eben genannten Exponate enthält, ähnelt einem kurzen<br />

Korridor. »Afrika« trägt deutlich die Gestalt eines weiblichen Körpers.<br />

23<br />

Dieser Gedanke drängt sich noch schmerzlicher auf, sobald aufgrund der Ähnlichkeiten klar<br />

wird, dass dies genau die Art und Weise ist, in der es dem Staat, in dem dieses Museum steht,<br />

gelungen ist, seine bleibenden »Vorteile« in dem von ihm eroberten Raum zu belassen. Könnte<br />

es sein, dass diese mögliche Ähnlichkeit-im-Gegensatz das »Unbewusste« des expositorischen<br />

Akteurs angesprochen hat<br />

24<br />

Als Westeuropäerin mit (weit zurückliegender) katholischer Erziehung habe ich dieses<br />

Exponat vermutlich anders gelesen als jemand, der sich in der religiösen Kultur Afrikas<br />

auskennt. Das ist aber gerade der Witz: Das Museum beansprucht, »uns« über die »anderen«<br />

zu informieren; sein Hauptzweck ist ein epistemisch-pädagogischer.<br />

25<br />

Zum Primitivismus in der Literatur siehe Marianna Torgovnick, Gone Primitive (1990);<br />

zum Primitivismus in der Kunst siehe Susan Hiller (Hg.), The Myth of Primitivism (1991).<br />

26<br />

Die Konstruktion der Chronologie als ideologisches Werkzeug ist ein bekanntes Problem<br />

der Forschung. Ausführlich erörtere ich es in: Death and Dyssymmetry (1988). David Carrier<br />

(S.16 f.) erinnert an die Doppelstruktur der Chronologie in Gombrichs Art and Illusion<br />

(1966). Carrier unterscheidet zwischen Annalen (einem schlichten Verzeichnis der Ereignisse<br />

in der Reihenfolge ihres Vorkommens) und narrativem Bericht. Meines Erachtens ist Carriet<br />

naiv, wenn er annimmt, eine Liste wie Gombrichs Aufzählung - ägyptischer Vornaturalismus,<br />

griechischer Naturalismus, byzantinischer Antinaturalismus, Wiederbelebung des<br />

Naturalismus in der Renaissance, Entwicklung des Naturalismus und Ende des Naturalismus<br />

im neunzehnten Jahrhundert - sei ein »schlichtes Verzeichnis der Ereignisse« und nicht ein<br />

(fokalisierter) narrativer Bericht. Gombrichs Betonung des Naturalismus als Ordnungsprinzip<br />

der Kunstgeschichte ist ebenso von Vorurteilen geprägt wie die in diesem Museum waltende<br />

Akzentuierung des Christentums als »Anfang« im Saal der afrikanischen Völker. Ich kenne<br />

keine treffendere Kritik an Gombrichs Naturalismusbegriff als Brysons Buch Vision and<br />

Painting (1983).<br />

27<br />

Siehe Spivaks brillante Kritik der dogmatischen Philosophie in: »More an Power/Knowledge«,<br />

in: Outside in the Teaching Machine (1993), S.25-52. Dort geht die Autorin erneut auf<br />

den Foucaultschen Begriff »Macht/Wissen« ein.<br />

28<br />

[Siehe Anm. d. Hg. (Fußnote 28) auf S.250.1<br />

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357<br />

denkbar<br />

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359<br />

denkbar<br />

8<br />

Beate Florenz<br />

Potentiale und Grenzen<br />

verbaler Artikulationen in<br />

der Kunstvermittlung<br />

Zunächst<br />

Die Kunstvermittlung hat es mit diversen Artikulationsformen zu<br />

tun. 1 Da ist zunächst die künstlerische Arbeit, die sich als Artikulation<br />

beschreiben lässt: eine Sprachform, die nicht lediglich<br />

ausspricht, was bereits vorhanden war, sondern als künstlerische<br />

Artikulation ein eigenes Potential eröffnet. Sei es als eine spezifische<br />

Erkenntnisform, als Darstellung oder/und als Konstruktion<br />

von Welt.<br />

Der künstlerischen Arbeit, dem Werk, steht in der Kunstvermittlung<br />

die Artikulation derjenigen Personen gegenüber, die das<br />

Werk mit ihren Sinnen wahrnehmen. Also sowohl den KunstvermittlerInnen<br />

als auch den Ausstellungs- oder MuseumsbesucherInnen,<br />

seien es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. Der Artikulation<br />

dieser Wahrnehmenden 2 offenen Raum anzubieten, ist<br />

ein zentrales Anliegen der zeitgenössischen Kunstvermittlung.<br />

Ob und wie sich die Teilnehmenden – seien es Kinder, Jugendliche<br />

oder Erwachsene – artikulieren, definiert sich in jeder Vermittlungssituation<br />

neu. Von der intensiven Verweigerung über<br />

eine passive Rezeptionshaltung bis zur aktiven Auseinandersetzung<br />

mit Werk und Vermittlungssituation reicht ein breites Spektrum.<br />

Entsprechend vielfältig sind die Weisen der Artikulation,<br />

die sich in einer Vermittlungssituation zeigen.<br />

So kommt die verbale Sprache in der Vermittlungssituation<br />

ebenso zum Einsatz wie der Körper der Teilnehmenden, ihre Mimik<br />

und Gestik. Nicht nur die spontane Reaktion auf Werke,<br />

Ausstellung und Ort der Vermittlung artikuliert sich so auch über<br />

den Körper, auch eine länger anhaltende Auseinandersetzung<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 359<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:09 <strong>Uhr</strong>


360<br />

kann diese physischen Artikulationen einbeziehen. Vertraut sind<br />

solche Arbeitsweisen mit verschiedenen Artikulationsformen im<br />

Rahmen von Workshops. Sie schaffen einen eigenen Rahmen, ein<br />

Format der Vermittlung, das insbesondere die Selbsttätigkeit der<br />

Teilnehmenden akzentuiert und zu eigener Artikulation anregt.<br />

Die künstlerische Arbeit bildet hier den Anlass oder Ansatzpunkt<br />

für die eigene und zumeist auch materialisierte Artikulation. Sei<br />

es als plastische Form, Video, Zeichnung, Malerei, Fotografie<br />

(und selbstverständlich ist diese Reihe erweiterbar) oder auch als<br />

Text oder Aufführung.<br />

Anders als in einem solchen schon fast klassisch zu nennenden<br />

Workshop können Vermittlung und Werk in einem partizipatorischen<br />

Kunstprojekt eine symbiosehafte Beziehung eingehen.<br />

Was sich hier durch die Teilnehmenden artikuliert, bildet einen<br />

integralen Bestandteil solcher künstlerischer Arbeit. Wenn etwa<br />

die Künstlerin Almut Linde NichtkünstlerInnen als AkteurInnen<br />

in ihre Projekte involviert, öffnet sie den Werkprozess auf deren<br />

Artikulation hin: 2005 wurde Almut Linde eingeladen, in der<br />

Künstlerstätte des Schlosses Plüschow ein Kunstprojekt zu realisieren,<br />

das Personen des Dorfes Plüschow einbeziehen sollte.<br />

Linde schildert den Projektverlauf in einer Publikation 2006, aus<br />

der hier ein längeres Zitat folgt: «Ich entwickelte ein Projekt im<br />

Stall des Milchproduktionsbetriebes Plüschow. Die Agrargenossenschaft<br />

produziert dort mit einem Viertel der ehemaligen Belegschaft<br />

täglich 3000 Liter Kuhmilch und stellt einen wirtschaftlich<br />

autarken Betrieb dar. Die Milchkühe werden in diesem Stall geboren<br />

und verbringen ihr ganzes Leben dort.<br />

Die Aktion sah vor, den im Stall arbeitenden Personen die<br />

paradoxe Handlungsanweisung zu geben, ihre Lieblingskuh zu<br />

zeigen. Mir [Linde] schwebte der entfremdete Arbeiter in der entfremdeten<br />

Umgebung der Massentierhaltung vor, der unsicher auf<br />

irgendein Tier in der Ferne zeigt oder nicht weiss, was er tun soll.<br />

In der Realität gestaltet sich das Projekt jedoch anders als erwartet.<br />

Die Angestellten hatten eindeutige Lieblingskühe, und<br />

präsentierten sich selbstverständlich mit ihnen innerhalb des<br />

Pferches. Dazu erzählten sie von ihrer Arbeit. […] Die Fotos der<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 360<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:09 <strong>Uhr</strong>


361<br />

denkbar<br />

Mitarbeiter ergeben schliesslich ein differenziertes Portrait der<br />

Ambivalenzen von Massentierhaltung und der persönlichen Integrität<br />

der Personen, die dort arbeiten». 3<br />

Die dem Projekt zugrunde liegende Intention der Künstlerin<br />

wurde hier durch die Artikulationen der Teilnehmenden nicht<br />

unterlaufen, wie eine ergebnisorientierte Perspektive der künstlerischen<br />

Arbeit formulieren könnte. Vielmehr nutzt Linde die<br />

Artikulationen der Teilnehmenden in Wort und Präsentation (ihrer<br />

Lieblingskühe) zu einer Revision der eigenen Intention. Die<br />

Veränderung mittels der Artikulation der Teilnehmenden ist einer<br />

solchen partizipatorischen Arbeit integral. Auch wenn Linde<br />

den Modus der Artikulationen determiniert – so entstehen jeweils<br />

Fotografien, die die Angestellten mit ihrer Lieblingskuh im Stall<br />

zeigen -, was hier artikuliert wird, findet eine direkte Umsetzung<br />

in der künstlerischen Arbeit. 4<br />

Perspektive: Verbale Artikulationen<br />

Die diversen Artikulationsformen, mit denen es die Kunstvermittlung<br />

zu tun hat, lassen sich in der jeweiligen Situation kaum<br />

voneinander trennen. Neben der künstlerischen Arbeit rufen auch<br />

nonverbale Artikulationen der Teilnehmenden durchaus verbale<br />

hervor, verbale andererseits ebenso nonverbale. Materiale Artikulationen<br />

gliedern sich je nach Situation in dieses Vermittlungsgeflecht<br />

ein. Das zeigt schon ein Blick auf eine eher klassische<br />

Vermittlungssituation in einer Ausstellung: Zunächst einmal<br />

kommen die BesucherInnen in die Ausstellungsinstitution hinein,<br />

legen vielleicht ihre Mäntel ab, werden auf die Taschengrösse<br />

hin kontrolliert, sammeln sich als Gruppe für eine Vermittlungseinheit<br />

an einem bestimmten oder auch variablen Treffpunkt.<br />

Schon diese einfachsten vorbereitenden Aktionen rufen Reaktionen<br />

hervor, abwartende, neugierige oder auch abwehrende. Ein<br />

mehr oder weniger stark sozialisiertes Besucherverhalten wird<br />

eingenommen – eine durchaus nicht nur positive Bedingung für<br />

die Vermittlungssituation. Die Begrüssung der Gruppe agiert mit<br />

unterschiedlichen Ebenen der Artikulation: Die Körpersprache<br />

der Vermittelnden spielt eine ebensolche Rolle wie ihre verbale<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 361<br />

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362<br />

Kommunikation. Entsprechendes gilt für die Reaktionen der Teilnehmenden.<br />

Wie und welche Formen der Artikulation weiter genutzt werden,<br />

hängt von unterschiedlichsten Faktoren ab. Hierzu gehören<br />

auch die durch das System Kunst vorgegebenen Bedingungen<br />

wie die Institution und ihre Mechanismen, die Inszenierung der<br />

Werke, Ort und Räume, die Akzeptanz oder die Bekanntheit der<br />

künstlerischen Arbeiten. Ebenso relevant sind die Elemente, die<br />

jede(r) Teilnehmende in die Situation einbringt, seien es kulturelle,<br />

subjektive oder auch situative Verfasstheiten – ob ich müde,<br />

fit oder angespannt mit Kunstwerken umgehe, macht sich durchaus<br />

bemerkbar. Und selbstverständlich formuliert sich in einem<br />

workshop, einer Führung oder anderen Formaten der Kunstvermittlung<br />

auch immer eine soziale Situation, die zu berücksichtigen<br />

ist. Die Kunstvermittlung muss sich im Geflecht dieser Faktoren<br />

bewegen und damit reale und/oder mentale Räume schaffen, in<br />

denen eine Annäherung von Teilnehmenden und künstlerischer<br />

Arbeit möglich wird. 5<br />

Die verbale Sprache ist, wie angesprochen, durchaus nicht<br />

das einzige Instrument, das für eine solche Annäherung in der<br />

Kunstvermittlung genutzt wird. Sie nimmt jedoch, auch in der<br />

zeitgenössischen Kunstvermittlung, die vielfältige Formen der<br />

Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit künstlerischer<br />

Arbeit entwickelt hat, eine wichtige Position ein. Als einführendes<br />

Instrument, Dialog- , Reflektions- und Dokumentationstool<br />

(in Audio- oder Schriftform) kommt der verbalen Sprache eine<br />

enorme Relevanz zu. 6<br />

Verbale Sprache wird intensiv genutzt, um sich mit Kunst auseinanderzusetzen.<br />

Auch in der Kunstgeschichte. Wobei auch hier<br />

die verbale Sprache weit über ihre Funktion als ein systematisierendes<br />

Mittel hinausgeht. Besondere Bedeutung kommt der Sprache<br />

in der Arbeit des Kunsthistorikers Max Imdahl (1925–1988)<br />

zu. 7 In seinem Text «Autobiographie» pointiert Imdahl sein Arbeiten<br />

mit der verbalen Sprache: «Hat man überhaupt etwas wirklich<br />

gesehen, noch bevor man versucht hat, es – mühsam genug<br />

– sprachlich zu artikulieren, und bevor man sich dessen bewusst<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 362<br />

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363<br />

denkbar<br />

geworden ist, dass sprachliche Annäherungen die Anschauung<br />

zu intensivieren und sie gewiss auf die Ebene der Reflexion zu<br />

bringen, das Angeschaute selbst aber nicht zu ersetzen vermögen<br />

Wie gross ist also die Differenz, als wie gross ist sie mittels der<br />

interpretierenden Sprache – und nur mittels dieser – zu erweisen,<br />

um derart die Nichtsubstituierbarkeit einer Bildevidenz selbst zu<br />

beweisen» 8<br />

Sowohl in seinen Texten als auch in Vermittlungssituationen<br />

hat Imdahl diesen mühsamen Prozess, sich sprachlich zu artikulieren,<br />

um sich dem Werk anzunähern, immer wieder aufgenommen.<br />

Eindrücklich nachvollziehbar ist diese Arbeit an und mit der<br />

Sprache in einem zunächst 1974 erschienen Text zu Werken von<br />

Cézanne, Braque und Picasso. 9 Die Logik der Begriffssprache wird<br />

hier in eine ständige Bewegung überführt, deren Bezugspunkt die<br />

Anschauung der Werke ist. Artikulation wird so zu einem performativen<br />

Akt.<br />

Die Aufzeichnung der Seminare Imdahls im Bayerwerk Leverkusen<br />

– als Vermittlungssituation – verdeutlicht dieses Potential<br />

der verbalen Sprache im Prozess des Artikulierens.<br />

In der ersten Sitzung dieses Seminars vom 06.<strong>02</strong>.1979 ging es<br />

um Werke von Josef Albers, Max Bill und Pablo Picasso. Imdahl<br />

eröffnet die Seminarsitzung mit den folgenden Sätzen: «Ich darf<br />

mich Ihnen kurz vorstellen, mein Name ist Max Imdahl. Ich bin<br />

Professor für Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum,<br />

ich bedanke mich sehr für die Einladung, hier ein Experiment zu<br />

machen, denn es ist ein Experiment […] Zunächst, das Risiko liegt<br />

wirklich auf meiner Seite, denn ich möchte Ihnen keinen Vortrag<br />

halten, ich möchte mit Ihnen gerne vier oder fünf moderne Werke<br />

diskutieren, hin und her fragen, mit Ihrem gleichzeitigen Einverständnis,<br />

alles auf Band aufzunehmen, um zu sehen, wie unser<br />

Gespräch läuft.» 10<br />

Mit diesen Worten stellt Imdahl nicht nur einen Kontakt zu<br />

den Teilnehmenden her. Er benennt hier Determinanten der Vermittlungssituation:<br />

Werk, fachwissenschaftliche Autorität, Experiment<br />

und Risiko, Gespräch bzw. das Hin- und Her- Fragen der<br />

Beteiligten. Eben dieses Hin- und Her-Fragen gilt dem Prozess<br />

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364<br />

der Artikulation in der Vermittlungssituation. Gesprächspartner<br />

dieses Hin und Hers sind alle Beteiligten: Personen und Werke.<br />

Die Autorität des Wissens verschiebt sich in diesem Hin und Her:<br />

das Zusammenspiel von wiedererkennendem, sehendem und erkennenden<br />

Sehen formuliert sich als Prozess, der in dieser Vermittlungssituation<br />

mit Laien nicht in der Einzelbegegnung mit<br />

dem Werk, sondern als gemeinsames Gespräch durchlaufen wird.<br />

Schluss<br />

Es kann und sollte hier nicht darum gehen, die verbale Sprache<br />

als zentrale Artikulationsform für die Kunstvermittlung zu behaupten.<br />

Das wäre unangemessen und blind. Das Potential der<br />

verbalen Artikulation jedoch zu unterbieten, scheint ebenso unangemessen.<br />

Und in dieser Perspektive sollte der Blick auf die<br />

kunsthistorische Position Max Imdahls den Verhandlungsraum<br />

öffnen und nicht sein Arbeiten absolut setzen: Kunstvermittlung<br />

als Raum der Artikulation, prozessorientiert und ergebnisoffen.<br />

lic.phil. Beate Florenz<br />

Seit 2003 Leitung der Kunstvermittlung im Schaulager, Münchenstein/Basel. Studium der Kunstgeschichte,<br />

Pädagogik und Philosophie in Münster, Giessen, Bochum und Basel. Gastdozentin ILGK/<br />

FHNW, Basel. Arbeitsschwerpunkte: Stadt und Land in der künstlerischen Arbeit; Niederländische<br />

Landschaftsmalerei; Gegenwartskunst; Praxis und Forschungsfeld der Kunstvermittlung<br />

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365<br />

denkbar<br />

Fussnoten<br />

1<br />

Der Begriff «Artikulation» wird hier bedeutungsoffen verwendet. Eine disziplinär gebundene<br />

Verengung des Begriffes wird vermieden. Vielmehr fassen die vorliegenden Überlegungen<br />

«Artikulation» als ein basales Geschehen einer Situation auf, in der sich verschiedene Teilnehmende<br />

mit künstlerischen Arbeiten beschäftigen.<br />

2<br />

Statt «BetrachterIn» sage ich hier «Wahrnehmende», um nicht die Wahrnehmung der bildenden<br />

Kunst, insbesondere der zeitgenössischen, auf den optischen Sinn zu verkürzen.<br />

3<br />

Almut Linde, Der Künstler als Lehrer. Der Künstler initiiert Kunstprozesse mit Arbeitsgruppen<br />

aus seiner Erfahrung der künstlerischen Arbeit, in: Wo laufen S(s)ie denn hin! Neue<br />

Formen der Kunstvermittlung fördern, hrsg. von der Bundesakademie für kulturelle Bildung<br />

Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 2006, S 131-<strong>14</strong>0, ebd. S. 135.<br />

4<br />

Almut Linde, Dirty Minimal #34.1 — Lieblingsmilchproduktionseinheiten, Farbfotographien<br />

und Text, 8 Teile, jeweils <strong>12</strong>8 x 88 cm, 2005-20<strong>08</strong>, Milchproduktion APG, Plüschow<br />

(D); Abbildung siehe: http://www.almutlinde.com (eingesehen am 30.<strong>12</strong>.20<strong>08</strong>)<br />

5<br />

Zu «Annäherung» siehe auch: Das Palmenbuch, hrsg. von Christoph Eiböck, Heiderose<br />

Hildebrand und Eva Sturm, Zürich 2007 sowie: Max Imdahl, Autobiographie, S. 619, in:<br />

Max Imdahl. Reflexion, Theorie, Methode, Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. von Gottfried<br />

Boehm, Frankfurt am Main 1996<br />

6<br />

Zu Funktionen der verbalen Sprache in partizipatorischen Projekten siehe auch die Dokumentation<br />

des Projektes «KunstKur», hrsg. von der GfAH mbH, Dortmund (www.gfah.de)<br />

7<br />

Max Imdahl, dessen Ikonik das Erkenntnispotential von Kunst freilegt, wurde bisher in der<br />

Diskussion zur Kunstvermittlung nur wenig rezipiert, obwohl seine Arbeitsweise weitreichende<br />

Implikationen für die zeitgenössische Kunstvermittlung hat. Auch aus diesem Grund<br />

wird hier explizit auf Max Imdahl verwiesen.<br />

8<br />

Max Imdahl, Autobiographie, S. 619, in: Max Imdahl. Reflexion, Theorie, Methode, Gesammelte<br />

Schriften, Bd. 3, hrsg. von Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996<br />

9<br />

Max Imdahl, Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis von Bildautonomie und Gegenstandssehen<br />

(1974), wiederabgedruckt in: Max Imdahl. Reflexion, Theorie, Methode, Gesammelte<br />

Schriften, Bd. 3, hrsg. von Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996, S. 303 - 380<br />

10<br />

Arbeiter diskutieren moderne Kunst. Seminare im Bayerwerk Leverkusen, hrsg. Von Max<br />

Imdahl, Berlin 1982, S. 11; für die Gespräche im Bayerwerk siehe den gesamten Band<br />

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367<br />

Stand der Dinge<br />

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368<br />

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369<br />

Stand der Dinge<br />

1<br />

Mario Leimbacher, 29.<strong>12</strong>.20<strong>08</strong><br />

Notizen zu HSGYM<br />

Diese Vorbemerkungen sind ein persönlicher Rückblick auf die<br />

über zwei Jahre dauernden Gespräche, die zur Situationsanalyse<br />

und den Empfehlungen in unserem Fachbereich (BG-HSGYM)<br />

geführt haben. Sie geben nicht die Ansicht der Arbeitsgruppe<br />

wieder. Ich gehe üblicherweise mit sehr viel Optimismus (oder<br />

Naivität) an solche Arbeiten heran, dazu zähle ich die verschiedenen<br />

Kommissionsarbeiten an der eigenen Schule, die Verbandstätigkeiten<br />

und weitere schulpolitische Initiativen. Der Optimismus<br />

leidet selten an den Reibungsflächen, jedoch die Naivität und<br />

Euphorie, was vermutlich auch berechtigt ist. Als Initiative und<br />

Anstoss ist HSGYM wichtig und hat uns motiviert, am Thema zu<br />

bleiben und die Diskussion weiterzuführen. Ein Beispiel ist dieses<br />

<strong>Heft</strong>, das in ihren Händen liegt.<br />

Konsens und Kompromisse<br />

Das Austauschen des negativ gewerteten Begriffs «schwierig»<br />

mit dem positiv meinenden Begriff «herausfordernd» steht exemplarisch<br />

für ein zentrales Merkmal der HSGYM-Diskussion in<br />

unserem Fachbereich (0.1, vierter Satz). Das Ersetzen, Streichen<br />

oder Ergänzen einzelner Begriffe oder Aussagen und die damit<br />

verbundene Diskussion um Details und Formulierungen wurde zu<br />

einer wichtigen Tätigkeit unserer Gruppe. Wer aber um Formulierungen<br />

diskutiert, die nicht als einzelne Aussagen substantielle<br />

Konsequenzen bedeuten, dem verschwimmen irgendwann die<br />

Worte vor den Augen und man gerät in die Versuchung, die Sätze<br />

zu einem einzigen zusammenzustreichen. So wurden in einer Zwischenphase<br />

die Kernaussagen relativiert und abgeschwächt, dass<br />

es teils heftige Reaktionen aus dem Vernehmlassungskreis gab. In<br />

der zweiten Phase mussten einzelne zur Unkenntlichkeit gekürzte<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 369<br />

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370<br />

Aussagen im Text wieder integriert werden. In den aus meiner<br />

Sicht immer noch abgeschliffenen Sätzen und Texten der vorliegenden<br />

Variante verstecken sich die Kanten und Spitzen unter der<br />

Oberfläche und müssen herausgelesen, also wieder hervorgebrochen<br />

werden, was nun über weite Strecken der Leserin und dem<br />

Leser überlassen wird.<br />

Positionierung<br />

Ich bin mit drei Thesen in dieses Projekt gestiegen, von denen ich<br />

auch heute noch überzeugt bin, und ich bin davon ausgegangen,<br />

dass diese nicht nur für mich, sondern auch für die anderen Beteiligten<br />

Gültigkeit haben.<br />

>> Ich bin überzeugt von der zentralen Wichtigkeit unseres Faches<br />

als Teil der Allgemeinbildung von der Unterstufe bis zur Lehre<br />

und dem Studium. Diese Wichtigkeit sehe ich als vergleichbar<br />

und auf derselben Ebene mit der Bedeutung der Muttersprache<br />

als Kommunikations-, Forschungs- und Artikulationswerkzeug<br />

(Iconic Turn, siehe Literaturliste am Schluss).<br />

>> Ich meine, dass weder an den Unter-, Mittel- und Oberstufen<br />

noch an den Gymnasien und Hochschulen sowie von den<br />

schulpolitischen Institutionen diese Bedeutung im vollen Umfang<br />

erkannt wird, sondern mehrheitlich ein diffuses und antiquiertes<br />

Bild eines Faches herrscht, das ein wenig Ausgleich und Dekor<br />

in den trockenen und rationalen Alltag bringen soll. Selbst die<br />

ursprüngliche und einst begründete Rolle unseres Faches an den<br />

Gymnasien, nämlich den Mediziner zu befähigen, visuelle und<br />

räumliche Situationen über Wahrnehmungsschulung und Studien<br />

zu erfassen, hat sich verflüchtigt.<br />

>> Aus den ersten zwei Feststellungen kann die dritte nur folgern,<br />

dass sich unser Unterricht, soweit das in der jetzigen Form<br />

möglich ist, dieser Erkenntnis stellen und diese verbindlich in<br />

der Praxis vermitteln muss. Dies sind die kleinen Schritte. Im<br />

Grossen kommt aber die Gemeinschaft (Fachschaften, Verband,<br />

Gestalterhochschulen) nicht darum herum, gemeinsam ein neues<br />

Selbstverständnis zu erarbeiten, das der Wichtigkeit Rechnung<br />

trägt, und dieses radikal im gesellschaftlichen und politischen<br />

Kontext zu artikulieren und zu positionieren.<br />

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371<br />

Stand der Dinge<br />

HSGYM-BG<br />

Situationsanalyse und<br />

Empfehlungen<br />

1 Bildnerische Gestaltung<br />

Monika Bazzigher-Weder, Ursula Bosshard, Hans Diethelm,<br />

Annelies Diggelmann, Sibylle Hausammann, Mario Leimbacher,<br />

Roland Schaub, Ruedi Seiler, Verena Widmaier, Johanna Wirth<br />

Calvo, Ruedi Wyss<br />

1.1 Situationsanalyse Bildnerische Gestaltung<br />

Die Situation generell<br />

Die Schnittstelle zwischen Mittelschulen und Hochschulen ist geprägt<br />

von heterogenen Rahmenbedingungen. Die verschiedenen<br />

Abnehmer – UZH, ZHdK, ETHZ, PHZH – sprechen unterschiedliche<br />

Mittelschulprofile an, stellen andere Anforderungen,<br />

selektionieren unterschiedlich und bewegen sich aktuell in Reformprozessen.<br />

Entsprechend lassen sich die Anforderungen an<br />

das Fach Bildnerische Gestaltung schwer vereinheitlichen.<br />

Unser Auftrag, Handlungsbedarf festzustellen und Empfehlungen<br />

zu formulieren, erweist sich als herausfordernd, da z.B.<br />

offene Lehrpläne aus der einen Perspektive als Stärke und aus<br />

einer anderen als Schwäche betrachtet werden. Unterschiedliche<br />

Konventionen, Traditionen und Sprachen der Hochschulen, Fachhochschulen<br />

aber auch individuell geprägte Ansprüche an das<br />

Fach äussern sich in einem differierenden Vokabular und erfordern<br />

Grundsatzdiskussionen.<br />

Die Frage der Studiertauglichkeit im Spannungsfeld zwischen<br />

Fachlichkeit und Überfachlichkeit als Grundthema der HSGYM-<br />

Diskussion spielt im Fach Bildnerische Gestaltung eine grosse Rolle.<br />

Überfachliche Kompetenzen wie Eigeninitiative, Selbstständigkeit<br />

und prozess orientiertes Vorgehen haben im Verhältnis zu den<br />

fachspezifischen, den visuellen und ästhetischen Kompetenzen,<br />

deutlich an Gewicht gewonnen.<br />

Es ist zu begrüssen, dass die Inhalte und Vorgehensweisen im<br />

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372<br />

Fach Bildnerische Gestaltung im Hinblick auf die Studiertauglichkeit<br />

diskutiert werden, damit das Fach auch in Zukunft seinen<br />

spezifischen Auftrag im Kanon der gymnasialen Allgemeinbildung<br />

wahrnimmt und stärkt.<br />

Situation des Faches Bildnerische Gestaltung an den Gymnasien<br />

Die Lehrpläne in Bildnerischer Gestaltung an den Gymnasien<br />

sind offen und lassen eine unterschiedliche Unterrichtspraxis<br />

zu. Es gibt keinen differenziert formulierten Konsens bezüglich<br />

eines fachlichen oder überfachlichen Leistungsausweises für die<br />

Maturität. Die einzelnen Fachschaften und Schulen entwickeln<br />

möglicherweise hervorragenden Unterricht und formulieren differenzierte<br />

und stufenbezogene Standards (Schattenlehrpläne).<br />

Autonomie und individuell gesetzte Schwerpunkte, etwa bei der<br />

Maturität, erschweren jedoch eine Differenzierung, nicht nur zwischen<br />

den Schulen, sondern auch innerhalb der Fachschaften. Zudem<br />

arbeiten Fachlehrerinnen und Fachlehrer der Bildnerischen<br />

Gestaltung vielfach in Teilpensen, sind durch ihre eigene künstlerische<br />

Tätigkeit gefordert und zeigen oft wenig Interesse an<br />

schulpolitischem Engagement. Was sich für den übergeordneten<br />

Diskurs als Nachteil erweist, zeigt sich dafür im Unterricht als<br />

individuell vitales Interesse für die Sache.<br />

Je nach Gymnasialprofil und wegen der Wahlpflicht zwischen<br />

Musik und Bildnerischer Gestaltung im musischen Profil erlangen<br />

die Maturandinnen und Maturanden ein unterschiedliches Niveau;<br />

die Kompetenzen bei Studienbeginn sind daher heterogen.<br />

Diese Voraussetzungen erschweren den abnehmenden Institutionen<br />

das Erstellen eines allgemeingültigen Anforderungskatalogs.<br />

Aufnahmeverfahren und Selektion der verschiedenen Hochschulen<br />

richten sich nach den Kriterien ihrer Institution und nicht nach<br />

den Vorgaben der gymnasialen Lehrpläne.<br />

Die hauptsächlich auf einzelnen Lektionen basierenden Schulstrukturen<br />

der Gymnasien sind besonders für das Fach Bildnerische<br />

Gestaltung wenig geeignet und erschweren Reformen, die Projektunterricht<br />

und interdisziplinären Unterricht ermöglichen würden.<br />

Aus fachlicher Sicht bedeuten die strukturellen Rahmenbedingen<br />

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373<br />

Stand der Dinge<br />

für die Bildnerische Gestaltung eine Einschränkung, die auch ein<br />

qualitativ hochstehender Unterricht substanziell nur zu einem<br />

kleinen Teil auszugleichen vermag.<br />

Einzelne Hochschulen stellen denn auch ungenügendes fachliches<br />

wie überfachliches Können fest. Dies lässt sich zum Teil<br />

durch fehlende oder mangelhafte Vermittlung der fachlichen<br />

Grundlagen an der Primar- und Sekundarstufe erklären. Dies erschwert<br />

den Aufbau eines weiterführenden Unterrichts und unterstreicht<br />

die Notwendigkeit verbindlicher Zusammenarbeit mit<br />

den Ausbildungsinstitutionen für Lehrpersonen.<br />

Situation und Erwartungen der Hochschulen/Fachhochschulen:<br />

Abnehmer, welche auf künstlerische und gestalterische Voraussetzungen<br />

Bezug nehmen und erweiterte Grundlagen vermitteln.<br />

Situation und Erwartungen der ETH (Architektur):<br />

Die ETH (Architektur) stellt grosse Wissens- und Erfahrungsunterschiede<br />

bei den Studierenden fest. Da auch Maturandinnen und<br />

Maturanden mit Musikwahl, also fehlender Erfahrung in Bildnerischer<br />

Gestaltung zum Studium zugelassen sind, können keine<br />

spezifischen Anforderungen gestellt werden. Deshalb vertieft die<br />

Abteilung Architektur im Basisjahr selber die Grundlagen. Die Erfolgschancen<br />

für Studierende mit mangelnden gestalterischen Vorkenntnissen<br />

sind bei der starken Selektion im ersten Jahr geringer.<br />

>> Fertigkeiten für das Architekturstudium:<br />

··skizzieren, entwerfen und räumliches Zeichnen<br />

·· räumlich-konstruktives Vorstellungs- und Darstellungsvermögen<br />

·· geschulter Sinn für Farben und Materialien, konstruktive und<br />

funktionale Kenntnisse im Arbeiten mit verschiedenen Materialien<br />

··Raumerfahrung und Körpersinn, Raum als Medium<br />

··Interesse an Kunst, Design und Kultur<br />

Situation und Erwartungen der ZHdK: Gestalterisch/künstlerische<br />

Bereiche aus der Sicht des gestalterischen Propädeutikums:<br />

Die Bildnerische Gestaltung hat in der schulischen Allgemeinbildung<br />

einen marginalen Stellenwert und das fachliche Niveau ist<br />

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374<br />

im Hinblick auf eine gestalterisch/künstlerische Ausbildung meist<br />

ungenügend. Bereits der Vorkurs, der im Kanton Zürich von 1878<br />

bis zu seiner Abschaffung im Jahre 2005 bestand, war ein Angebot,<br />

das auf dieses Manko reagierte. Anwärter/innen für eine<br />

Ausbildung an einer Schule für Gestaltung absolvierten in der<br />

Regel dieses gestalterische Grundlagenjahr. Der Erfolg und das<br />

langjährige Bestehen des Vorkurses begünstigten ein in sich abgeschlossenes<br />

Profil, das kaum auf die Veränderungen im Bildungswesen<br />

zu reagieren vermochte. Das Nachfolgeangebot ‚«Propädeutikum»<br />

ist nun gezielt als Schnittstelle zwischen Gymnasien<br />

und Hochschulen der Gestaltung und Kunst konzipiert und hat<br />

das Profil eines ersten Studienjahrs. Auch Maturandinnen und<br />

Maturanden haben erfahrungsgemäss aus Gründen der fachlichen<br />

Prioritätensetzung der Gymnasien eine ungenügende Vorbildung<br />

im gestalterisch/künstlerischen Bereich. Das Propädeutikum<br />

ermöglicht den Anwärter/innen für ein Studium an einer<br />

HGK eine professionelle Grundausbildung und gibt ihnen die<br />

Möglichkeit, ihre Studienwünsche zu präzisieren und ihre persönliche<br />

Eignung zu überprüfen. Das erste Semester dient der breiten<br />

Grundlagenausbildung und der Orientierung, das zweite Semester<br />

der gezielten fachlichen Vertiefung hinsichtlich der angestrebten<br />

Studienrichtung. Diese Unterscheidung berücksichtigt das individuelle<br />

Niveau der Vorbildung, so dass Maturandinnen und Maturanden<br />

mit musischem Profil mit Schwerpunktfach BG die Möglichkeit<br />

haben, das einsemestrige Propädeutikum zu absolvieren.<br />

Die meisten Bachelor-Studiengänge setzen ein jähriges gestalterisches<br />

Praktikum voraus. Entsprechende Praktikumsplätze gibt<br />

es aber nur sehr wenige. Das Propädeutikum ist als Praktikum<br />

anerkannt und bildet mit seinem Profil zudem die geeignete<br />

Schnittstelle zwischen Gymnasium und Hochschule. Für die Studiengänge,<br />

die kein Praktikum voraussetzen, erhöht es die Chancen,<br />

die konkurrenzstarken Aufnahmeverfahren zu bestehen.<br />

Um das Propädeutikum ab 2005 überhaupt durchführen zu können,<br />

wurden vom Kanton Zürich starke finanzielle Auflagen<br />

gemacht, was gegenüber dem ehemaligen Vorkurs eine massive<br />

Erhöhung der Studiengebühren auf 5000.-/Semester zu Folge hat-<br />

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375<br />

Stand der Dinge<br />

te. Dadurch ist die Chancengleichheit für Maturandinnen und<br />

Maturanden aus dem Kanton Zürich gegenüber Anwärter/innen<br />

aus andern Kantonen mit eigenen Vorkursen nicht mehr gegeben.<br />

Die hohen Studiengebühren benachteiligen Anwärter/innen aus<br />

finanzschwachen Verhältnissen. Dies dürfte in einem Bildungssystem,<br />

das der Chancengleichheit verpflichtet sein sollte, nicht der<br />

Fall sein. Es ist daher unverständlich, dass aufgrund gesetzlicher<br />

und kantonaler Auflagen das Propädeutikumsjahr privat finanziert<br />

werden muss, um nachher im subventionierten Hochschulbereich<br />

weiterstudieren zu können.<br />

Erwartungen an den BG-Unterricht in den Gymnasien:<br />

>> Theoretische Fähigkeiten:<br />

··Die Schüler/innen kennen unterschiedliche visuelle Ausdrucksund<br />

Darstellungsmittel und können diese unterscheiden.<br />

·· Die Schüler/innen bekamen exemplarische Einblicke in Kunstund<br />

Designgeschichte. Dadurch kennen sie Kriterien, welche die<br />

künstlerisch-gestalterische Arbeit in den Kontext ihrer Zeit stellen.<br />

··Die Schüler/innen kennen formale und medienspezifische Qualitäten<br />

und Ausdrucksformen und können diese unterscheiden.<br />

··Die Schüler/innen kennen exemplarische Aspekte der gesellschaftlichen<br />

und kommunikativen Funktion von Kunst und<br />

Gestaltung und können sich mit entsprechenden Fragestellungen<br />

auseinanderzusetzen.<br />

··Die Schüler/innen sind in der Lage, sich mit ethischen Fragen<br />

im Zusammenhang mit bildlicher Darstellung und gestalterisch-künstlerischer<br />

Arbeit auseinanderzusetzen.<br />

>> Praktische Fähigkeiten:<br />

··Die Schüler/innen sind in der Lage, sich gestalterisch mit<br />

unterschiedlichsten Bildmedien und deren Möglichkeiten und<br />

Eigenschaften auseinanderzusetzen.<br />

·· Die Schüler/innen sind in der Lage, sich gestalterisch im räumlichen<br />

und plastisch-objekthaften Bereich und mit verschiedenen<br />

Materialien und deren Eigenschaften auseinanderzusetzen.<br />

··Die Schüler/innen haben eine Vorstellung, was es heisst,<br />

selbstständig gestalterische Entscheidungen zu treffen und eine<br />

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376<br />

gestalterische Arbeit zu entwickeln.<br />

··Die Schüler/innen sind in der Lage, Themen von eigenem<br />

Interesse zu bestimmen. Sie können gestalterische Ansätze von<br />

nicht gestalterischen unterscheiden und sind in der Lage, eine<br />

angemessene Medienwahl zu treffen.<br />

··Die Schüler/innen können ihr Vorgehen reflektieren und sich<br />

mündlich sowie schriftlich dazu äussern.<br />

>> Technische Fähigkeiten:<br />

··Die Schüler/innen kennen ein Spektrum unterschiedlicher Techniken<br />

der Bild- und Objektgestaltung und sind in der Lage,<br />

diese experimentierend und vertiefend auf ihre Möglichkeiten<br />

hin auszuloten.<br />

Situation und Erwartungen der Hochschulen/Fachhochschulen: Abnehmer,<br />

welche auf eine allgemeine Studiertauglichkeit Bezug nehmen<br />

Kompetenzbereiche:<br />

In der Bildnerischen Gestaltung erwerben sich die Schülerinnen<br />

und Schüler Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen. Bezüglich<br />

der Frage, welche Kompetenzen für das Studium an Hochschulen<br />

relevant sind, könnte man folgende Bereiche unterscheiden:<br />

>> Fachkompetenz (Learning in Arts): Fachkompetenzen der<br />

Bildnerischen Gestaltung wie die Produktion und Rezeption<br />

von künstlerisch-gestalterischen Werken sind nur für wenige<br />

Studienrichtungen von wesentlicher Bedeutung.<br />

>> Überfachliche Kompetenzen (Learning Through the Arts, Arts<br />

in Learning): Sind grundsätzlich für alle Studienrichtungen von<br />

Bedeutung, also auch für die nichtkünstlerischen.<br />

>> Zum einen bedeutet Arts in Learning, dass das Lernen in anderen<br />

Fächern durch künstlerische, ästhetische Arbeitsweisen unterstützt<br />

und verbessert werden kann (Es gibt Forschungsresultate, welche<br />

diese These unterstützen).<br />

>> Zum anderen bildet das Fach Bildnerische Gestaltung sogenannte<br />

Schlüsselkompetenzen aus, welche gemäss PISA Menschen<br />

helfen, die Anforderungen, die ihnen das Leben stellt, erfüllen zu<br />

können, also auch Anforderungen, welche ein Studium stellt (z.B.<br />

Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Personalkompetenz).<br />

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377<br />

Stand der Dinge<br />

>> Als eine Schlüsselkompetenz, welche in Bildnerischer Gestaltung<br />

in besonderem Mass ausgebildet wird, kann die visuelle Literalität<br />

(«visual literacy») bezeichnet werden, die Kompetenz, visuelle<br />

Erscheinungen unserer Umwelt lesen zu können und diese auch<br />

selbst zu erzeugen. Visuelle Literalität weist in der Art und der<br />

Bedeutung viele Parallelen zur sprachlichen Literalität auf und ist<br />

wie diese eine wichtige Kompetenz für alle Studien.<br />

Situation und Erwartungen der PHZH:<br />

Die PHZH stellt fest, dass die Maturandinnen und Maturanden<br />

sehr unterschiedliche Kompetenzen in Bildnerischer Gestaltung<br />

mitbringen. Dies stellt für die Ausbildungsgänge für Vorschul- und<br />

Primarschullehrperson ein grosses Problem dar, da die Studienzeit<br />

nicht ausreicht, um fehlende Fähigkeiten noch auszubilden.<br />

Für diese Generalist/innenausbildungen ist es fatal, dass die<br />

Studierenden entweder nur in Musik oder nur in Bildnerischer Gestaltung<br />

einen Abschluss auf Maturitätsniveau machen können, da<br />

an der PHZH häufig beide Fächer belegt werden (müssen). Um den<br />

Kompetenzstand der Studierenden einschätzen zu können, werden<br />

ab 2009 Assessments geplant. Hilfreich wäre es aus der Sicht<br />

der PHZH, wenn im Gymnasium übergreifend definiert werden<br />

könnte, welche Ausbildungsprofile mit welchen Basiskompetenzen<br />

in Bildnerischer Gestaltung abgeschlossen werden.<br />

>> Grundlagen für eine Lehrer/innenlaufbahn und die breite<br />

Allgemeinausbildung:<br />

··Materialkenntnisse, Artikulationsformen, Fertigkeiten und<br />

Kenntnisse verschiedener Techniken und Vorgehensweisen,<br />

Prozesserfahrungen<br />

··Interesse an Kunst, Design und Kultur<br />

>> Kunstwissenschaften:<br />

··Überblick über die Kunstgeschichte<br />

··Kenntnisse zentraler Epochen und Strömungen<br />

··Kenntnisse aktueller Tendenzen der zeitgenössischen Kunst<br />

Situation und Erwartungen der Universität/Kunstgeschichte: Anforderungen<br />

und überfachliche Kompetenzen für die Studienfächer der<br />

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378<br />

Bildwissenschaften: Kunstgeschichte<br />

>> Situation des Fachs Kunstgeschichte an den Gymnasien des<br />

Kantons Zürich: Kunstgeschichte ist kein obligatorisches<br />

Unterrichtsfach an den Gymnasien und wird nur noch an<br />

vereinzelten Schulen und meist nur als Freifach unterrichtet.<br />

Dennoch lassen sich Kernkompetenzen formulieren, welche als<br />

Anforderungen an Mittelschülerinnen und Mittelschüler für ein<br />

Studium der Kunstwissenschaft, der Filmwissenschaften und<br />

allgemein in den Bildwissenschaften gelten können.<br />

>> Kernkompetenzen an die zukünftigen Studierenden der<br />

Kunstwissenschaften: Grundsätzlich wird mit sprachlichen<br />

Mitteln über Kunst und ihre künstlerischen Ausdrucksformen<br />

nachgedacht. Somit ist in der Kunstgeschichte eine differenzierte<br />

sprachliche Ausdrucksfähigkeit gefordert.<br />

>> Zu den überfachlichen Kompetenzen gehören die<br />

Informationsbeschaffung, das Textverstehen und die Textanalyse<br />

sowie die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung und Haltung<br />

zu entwickeln und zu hinterfragen. Die Studierende der<br />

Kunstwissenschaft bringen eine grosse Sensibilität für visuelle<br />

Gestaltungsformen und ihre materielle Eigenheit mit. Die<br />

Studierenden kennen verschiedene Mittel und Techniken der<br />

Bildnerischen Gestaltung und können diese nachvollziehen.<br />

>> Sie bringen auch eine breite Kenntnis in den<br />

naturwissenschaftlichen Fächer wie Chemie, Biologie und<br />

Physik mit. Die technisch immer anspruchsvoller werdenden<br />

Untersuchungsmöglichkeiten von Kulturdenkmälern müssen<br />

von den Studierenden nachvollzogen werden können.<br />

Technische Neugierde und der Umgang mit den Techniken der<br />

Bildbearbeitung gehören ebenfalls zu den Voraussetzungen für ein<br />

Studium der Kunstwissenschaften.<br />

>> Zu den Kernkompetenzen gehören sowohl das eigenständige<br />

Erarbeiten eines Forschungsgegenstandes, als auch die Teamarbeit<br />

und die Fähigkeit, die eigenen Kompetenzen einzuschätzen. Sie<br />

sind für das weite Berufsfeld im Bereich der Bildwissenschaften<br />

zum Beispiel im Zusammenhang mit der Kunstinventarisierung<br />

Erhaltung, der Analyse der Restaurierung und dem Kunsthandel<br />

von grosser Bedeutung.<br />

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379<br />

Stand der Dinge<br />

1.2 Empfehlungen Bildnerische Gestaltung<br />

Allgemeine Empfehlungen<br />

1.2.1 Zusammenarbeit institutionalisieren<br />

Die Kontakte an den Schnittstellen, die durch das Projekt HS-<br />

GYM entstanden sind, werden von allen Beteiligten als positiv<br />

und fruchtbar erlebt. Sie bestätigen die Notwendigkeit eines kontinuierlichen<br />

Austauschs zwischen Vertreterinnen und Vertretern<br />

der Gymnasien und der Hochschulen.<br />

Umsetzung: Es sollen Strukturen, Anlässe und Projekte geschaffen<br />

werden, die die Zusammenarbeit sichern. Eine gemeinsam getragene<br />

Publikation informiert über den Stand der Zusammenarbeit.<br />

1.2.1 Gestalterische Bildung auf allen Stufen fordern<br />

Gestalterische Bildung soll als grundlegender Teil der Bildung<br />

verstanden und etabliert werden. Die Qualität des Gestaltungsunterrichts<br />

muss durch fachlich ausgewiesene Lehrkräfte auf der<br />

Primarstufe und den Sekundarstufen gewährleistet werden. Ob<br />

sich im Gymnasium die Wahlpflicht zwischen Musik und Bildnerischer<br />

Gestaltung aufrechterhalten lässt, ist im Zusammenhang<br />

mit der Klärung der Schnittstellen gründlich zu überdenken.<br />

Umsetzung: Initiativen und Aufklärungsarbeit, die diesen zentralen<br />

Forderungen dienen, werden von Gremien und Fachverbänden,<br />

Fachlehrpersonen in Volkschule sowie Mittel- und Hochschule<br />

unterstützt.<br />

Empfehlungen an die Mittelschulen<br />

1.2.3 Bildnerische Gestaltung im Fächerkanon der Gymnasien klären<br />

Im Hinblick auf eine im Wandel begriffene Bildungssituation diskutieren<br />

und formulieren Berufsverband und Fachschaften ihr<br />

Verständnis des Faches und eine verbindliche Positionierung der<br />

Bildnerischen Gestaltung im Fächerkanon.<br />

Umsetzung: Die zu vermittelnden fachlichen wie überfachlichen<br />

Kompetenzen werden für die unterschiedlichen Stufen und Schnittstellen<br />

formuliert und Kriterien immer wieder neu diskutiert.<br />

1.2.4 Bildnerische Gestaltung hinsichtlich gestalterisch-künstle-<br />

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380<br />

rischer Studiengänge positionieren<br />

Der Fachunterricht an den Gymnasien, insbesondere mit den<br />

musischen Profilen, schafft die fachlichen Voraussetzungen für<br />

Studiengänge im Bereich der Gestaltung, Kunst, Architektur und<br />

Lehrberufe.<br />

Es gehört zum Aufgabenbereich der Fachlehrpersonen, mit Unterstützung<br />

der entsprechenden Hochschulen, ihr Wissen über die<br />

Studienrichtungen und Berufsfelder laufend zu aktualisieren und<br />

den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln.<br />

1.2.5 Bildnerische Gestaltung hinsichtlich allgemeinbildender<br />

Aspekte positionieren<br />

Der Grundlagenunterricht in Bildnerischer Gestaltung an den<br />

Gymnasien schafft fachliche und überfachliche Voraussetzungen<br />

für gestalterische Praxis und für das Verständnis der visuellen<br />

Kultur. Er fördert die visuelle und ästhetische Kompetenz (Visual<br />

Literacy). Die Fachlehrpersonen entwickeln ihren Unterricht auf<br />

dieses Ziel hin.<br />

Empfehlungen an die Hochschulen<br />

1.2.6 Forschung initiieren<br />

Die Hochschulen initiieren und fördern Forschungsarbeiten und<br />

Projekte, welche die Relevanz der ästhetischen, gestalterischen und<br />

visuellen Bildung und deren Vermittlungsstrategien thematisieren.<br />

Erklärung: Die Klärung der Bedeutung von Wissenschaftlichkeit<br />

für das Berufsfeld ist dabei ein zentrales Anliegen. Explizit<br />

soll darauf hingewiesen werden, dass die Relevanz von anschaulichem<br />

Denken und gestalterischer Tätigkeit für alle Studiengänge<br />

untersucht wird.<br />

1.2.7 Kreislauf der Kompetenzvermittlung diskutieren<br />

Die Ausbildung der Lehrpersonen aller Stufen im gestalterischkünstlerischen<br />

Bereich wird verbindlich in die Schnittstellensdiskussion<br />

mit einbezogen. Die Ausbildungsinstitutionen kümmern<br />

sich darum, dass die fachlichen wie überfachlichen Ziele auf den<br />

jeweiligen Stufen wahrgenommen und umgesetzt werden.<br />

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381<br />

Stand der Dinge<br />

1.2.8 Zusammenarbeit mit fachfremden Disziplinen initiieren<br />

Im Bereich des Gestaltungsunterrichts sind Erkenntnisse auf den<br />

Gebieten der Entwicklungspsychologie, der Neurophysiologie<br />

und weiterer Disziplinen ausserordentlich wichtig und interessant.<br />

Neue Erkenntnisse sind in die Diskussion um Anforderungen, Unterrichtsformen,<br />

Interdisziplinarität, stufengerechtes Unterrichten,<br />

Kreativitätsforschung und Prozessgestaltung einzubringen<br />

und in der Anpassung unseres Curriculums von grossem Wert.<br />

Auch in dieser Hinsicht ist eine Zusammenarbeit von Fachlehrpersonen<br />

der Bildnerischen Gestaltung und den Hochschulen sehr<br />

erwünscht.<br />

Kerngruppe<br />

Mario Leimbacher (Leitung, Kantonsschule Enge, Kontakt: lem@ken.ch)<br />

Monika Bazzgher-Weder (Pädagogische Hochschule Zürich, PHZH)<br />

Ursula Bosshard (Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK)<br />

Hans Diethelm (Pädagogische Hochschule Zürich, PHZH)<br />

Annelies Diggelmann (KZOE)<br />

Roland Schaub (KSRy LBG)<br />

Ruedi Seiler (ETH Architektur)<br />

Sibylle Hausammann (Koordinationsschulung und Selbstregulationstraining, KSST)<br />

Verena Widmaier (Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK)<br />

Johanna Wirth Calvo (Universität Zürich Kunsthistorisches Institut, UKHIS)<br />

Ruedi Wyss (Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK)<br />

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383<br />

Stand der Dinge<br />

2<br />

Verena Widmaier<br />

Bildung für alle: Kultur<br />

von allen!<br />

Wie tragen die Ausbildungen der Kunst- und<br />

Kulturvermittlung dieser Forderung Rechnung<br />

Kultur und Bildung gehören zusammen wie die Vorder- und<br />

Rückseite einer Medaille. Welche Gegenwart und nahe Zukunft<br />

spiegeln sie uns<br />

Was tragen die Ausbildungen und im speziellen die Lehrerinnen<br />

und Lehrer für Bildnerisches Gestalten zu diesem Auftrag bei<br />

Zurzeit scheint alles möglich, denn was gegenwärtig in den<br />

Ausbildungen passiert, ist aus meiner jüngsten Erfahrung rein zufällig.<br />

Ob nun Personen mit unterschiedlichen Ordnungssystemen<br />

und Verständnissen einander in die Haare geraten und produktiv<br />

streiten, sinnvoll handeln oder auch nicht: Es spielt überhaupt keine<br />

Rolle. Das Schiff ist auf Sand gelaufen. Die Inhalte werden erst<br />

recht dort ignoriert, wo entschieden wird. Wie kann das nur gut<br />

kommen<br />

Aus diesem Grund führe ich heute Inhalte vor, nur Inhalte und<br />

nochmals Inhalte. Sie beschäftigen mich an den schulischen Institutionen<br />

seit 25 Jahren. Es geht in der Vermittlung der Künste um<br />

ein Gut, das existenziell, gegenwärtig und vielschichtig ist.<br />

Ich orte darin Verständnisse, die zu ganz unterschiedlichen<br />

Umsetzungen führen. Wie schon gesagt, alle Umsetzungen sind<br />

existenziell. Die verschiedenen Verständnisse, die ich in der Arbeit<br />

und in den Diskussionen wahrnehme, gebe ich in vier Kategorien<br />

wieder. Ich beschreibe, was ich beobachte, sage, was ich denke<br />

und frage.<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 383<br />

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384<br />

Erstens: Die gestalterische Tat schult das Wahrnehmen.<br />

Viele der Kolleginnen und Kollegen stehen ganz hinter diesem<br />

Gedanken, weil sie wissen, dass mit Gestalten und Wahrnehmen<br />

gleichzeitig das Bilden von Zellen und Nervenverbindungen im<br />

Hirn angeregt wird. Zum Beispiel baut ein Kind mit Klötzen einen<br />

Turm. Hält er, hält er nicht Die Funktion der Hände wird zum<br />

Instrument für Formung von Intelligenz. Ohne die Erfahrung des<br />

Materials, der physikalischen Kräfte, der Phänomene ginge gar<br />

nichts. Das ist Lernen pur. Daher fordern viele Kolleginnen und<br />

Kollegen den sinnlichen Zugang zu Phänomenen, das Arbeiten mit<br />

Materialien und Medien: Sie stellen das ästhetische Erlebnis ins<br />

Zentrum ihre Vermittlungsarbeit. In dieser Art der Vermittlung<br />

geht es um das Lernen durch Wahrnehmen und daher um das<br />

Schaffen von Situationen, die zur gestalterischen Tat auffordern.<br />

Zweitens: Alles ist Bild, Zeichen, Symbol, was hergestellt und entschlüsselt<br />

werden kann.<br />

Diese Kolleginnen und Kollegen sagen: Symbole, Zeichen und Bilder<br />

dienen der Artikulation und Verständigung. Diese sollen bildhaft<br />

hergestellt und anschaulich entschlüsselt werden können. Es<br />

geht um das Herstellen, Erkennen sowie Deuten von bildhaften<br />

Botschaften und Informationen. Dabei argumentieren Sie: «Es ist<br />

von zentraler Bedeutung, dass die Schülerinnen und Schüler an<br />

dieser Form der Kommunikation teilhaben, um zu verstehen, um<br />

selber zu verändern und um mitzuspielen.» Und sie begründen:<br />

«90% aller Botschaften erreichen uns nonverbal, das heisst über<br />

das Auge, also müssen wir die bildhaften Informationen herstellen<br />

und entschlüsseln lernen, um zu verstehen.»<br />

Dieses Wissen soll gebildet werden. Es wird aus der Anschauung<br />

und der Herstellung von Bildern und Objekten gewonnen.<br />

Wie entsteht ein Piktogramm Was ist ein Label, welche Botschaften<br />

transportieren die Werbungen Warum weisst du, dass<br />

der abgebildete Mann auf dem Fresko Petrus ist<br />

Die Lehrinhalte bauen auf Ikonographie und Ikonologie. Sie<br />

bauen auf Analysen der Darstellungsweisen und des Zugriffs auf<br />

Darstellbares. Es geht um den Bildaufbau und die inhaltliche Ab-<br />

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385<br />

Stand der Dinge<br />

sicht des Herstellers und wie wir dann das Produkt nutzen und<br />

geniessen.<br />

Durch das Herstellen eigener Bilder und Artefakte kann die<br />

«Verschlüsselung» von Gefühlen, Gedanken, Empfindungen zum<br />

Nachvollzug «des Nutzens» dieser Art, sich mitzuteilen und Mitteilungen<br />

dieser Art zu verstehen, anregen. Wenn es nicht um<br />

Kommunikation gehen würde, um was ginge es dann sonst<br />

Drittens: Die Kunst bildet.<br />

Wer diese Aussage ins Zentrum seines Vermittlungskonzeptes<br />

stellt, nimmt das künstlerische Arbeiten als Vorbild und Modell<br />

für die Produktionsweisen und Arbeitsabläufe und empfindet das<br />

als bildend. Die assoziative Art des Produzierens, das Spazieren<br />

durch unzusammenhängende Welten, die Form der Kommunikation<br />

und die Suche nach Ausdrucksmitteln und Formen stehen im<br />

Zentrum. Die Arbeit wird über die Phasen eines Prozesses erzeugt<br />

und das geht im Ablauf etwa so: Idee, Inhalt, Problem, Suche,<br />

Entwurf, Entscheidung, Medienwahl, Sinn, Suche, Änderung,<br />

Darstellung, gültige Form, Auflösung von Struktur und Form. Sie<br />

sagen: «Das an der Kunst orientierte Lehrprogramm ist geeignet<br />

zum Nachvollziehen der künstlerischen Arbeitsweisen und Strategien.<br />

Es bietet sich an zum Entwickeln des eigenen Ausdrucks.»<br />

Es geht um das Lernen eigener Ausdrucksmöglichkeiten und<br />

eigener Formen der Artikulation, gleichzeitig um das Festigen<br />

eines Freiheitsverständnisses und einer Kritikfähigkeit sowie um<br />

das Bilden eines Interesses an Kunst.<br />

Viertens: «Auf das kulturelle Verständnis kommt es an.»<br />

Das Bilden des kulturellen Verständnisses dient nicht nur der Sozialisation<br />

von Einzelnen in Gesellschaften, sondern verschafft<br />

ihnen auch Grundlagen zur kritischen Diskussion der Zusammenhänge<br />

in der Gesellschaft und ihrer Politik. Soziale Anliegen<br />

treten in den Vordergrund. Verantwortung und Wertschätzung<br />

gegenüber Dingen, anderen Menschen und sich selbst müssen gelernt<br />

werden. Es geht darum, ein kulturelles Verständnis zu bilden.<br />

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386<br />

Sie denken: Es geht um das Wissen, zum Beispiel, seit wann es<br />

das Bild gibt und welches seine Funktion ist. Sie untersuchen, was<br />

die verschiedenen Kulturtechniken wie Bauen, Formen, Gestalten,<br />

Malen, Zeichnen, Tanzen, Singen und Sprechen heute bedeuten.<br />

Sie wollen wissen, warum Werkzeuge und Instrumente auch<br />

heute nicht nur als Waffen gebraucht werden...<br />

Sie fragen: Was unterscheidet den Faustkeil vom Computer<br />

Was ist die Funktion von Kunst Welche alltäglichen Abläufe und<br />

Dinge können wir in einen kulturellen Kontext stellen Sie möchten<br />

weg vom egozentrischen Blick auf sich selbst und die Welt<br />

hin zu einem intersubjektiven Verständnis von Werten. Sie wollen<br />

Distanz schaffen, um die Dinge frisch bewerten zu können.<br />

Die Ausbildungen stecken in strukturellen Veränderungen.<br />

Sie sind trotzdem verpflichtet, darüber zu verhandeln oder wenigstens<br />

zu informieren, wie sie sich ihren Bildungsauftrag in den<br />

Schulen der Zukunft vorstellen, wohin sie steuern und wen sie<br />

wozu ausbilden.<br />

Wie können das die Ausbildungen zur Zeit erfüllen, wenn die<br />

Personen im Schiff einem Kapitän gehören, der von ihren Fähigkeiten<br />

keine Ahnung hat oder die Gefolgschaft eine Mannschaft<br />

ist, die sich selbst genügt. Sie scheinen zurzeit mit den Lehrprogrammen<br />

nicht über die Sachzwänge hinauszukommen. Daher<br />

braucht es einige kleine Schlepper, um das Schiff wieder auf Kurs<br />

zu bringen.<br />

Worum geht es Eben um nicht weniger als um «Bildung für<br />

alle», damit Kultur von allen gestaltet und als Lebensqualität erfasst<br />

wird. Es geht um die Kulturvermittlung.<br />

Besinnen wir uns auf die Inhalte:<br />

Welche Schwerpunkte werden in den Ausbildungen gesetzt und in<br />

den Schulen bevorzugt Wie kommen wir zusammen weiter<br />

Ich finde es wichtig, dass die vier Kategorien untersucht und<br />

umgesetzt werden. Bilden wir in Lehrprogrammen diesbezüglich<br />

Schwerpunkte Die Handlungsbefähigungen der Studierenden<br />

müssen in allen vier Kategorien unterstützt werden. Auch soll dis-<br />

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387<br />

Stand der Dinge<br />

kutiert werden, was das Wichtigste ist und in welche Reihenfolge<br />

wir die vier Kategorien setzen. Sollen wir zum Beispiel das Lernen<br />

mit der Schulung der Wahrnehmung zusammen entwickeln und<br />

an den Anfang aller Grundlagen stellen<br />

Wie weit können wir uns an der Diskussion um die kulturelle<br />

Bildung beteiligen Wer beteiligt sich<br />

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Notizen<br />

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391<br />

Notizen<br />

Rezensionen<br />

Frühes Schmieren und erste Kritzel –<br />

Anfänge der Kinderzeichnung<br />

Uschi Stritzker / Georg Peez /<br />

Constanze Kirchner<br />

Frühes Schmieren und erste Kritzel –<br />

Anfänge der Kinderzeichnung<br />

Norderstedt: Books on Demand Gmbh, 20<strong>08</strong><br />

183 Seiten. ISBN: 978-3-8334-0072-8<br />

Die vorliegende Publikation widmet<br />

sich einem in der Kinderzeichnungsforschung<br />

bislang wenig beachteten<br />

Thema: dem Schmieren<br />

und Salben. Damit öffnet sie den<br />

Blick auf jene, wie Hans-Günther<br />

Richter (2001) noch formulierte,<br />

vernachlässigte «Vorgeschichte<br />

des Zeichnens».<br />

Während ein auf Produkte ausgerichtetes<br />

Interesse sich schwer tut, in diesen polysensuellen Handlungen<br />

organisierte Formen zu sehen, zeigen Stritzker, Peez und<br />

Kirchner, wie über die konzise Arbeit mit visuellen Medien wesentliche<br />

Strukturen dieser Aktivitäten kenntlich werden. Die Dokumentation<br />

des Entstehungsprozesses lässt uns das bis anhin aus<br />

vorwiegend psychoanalytischer Sicht betrachtete «Schmieren» als<br />

selbstgesteuerte, sinnlich fundierte Art und Weise der Wirklichkeitsaneignung<br />

und Welterkenntnis verstehen.<br />

Anhand fotografischer Bildreihen zu den Schmieraktivitäten von<br />

Laura, Merle und Mila können wir die performative Dynamik<br />

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392<br />

körperbezogener Bewegungsabläufe nachvollziehen und Spuren<br />

in ihrem Auftauchen und Verschwinden wahrnehmen. Bereichert<br />

durch die Erfahrung teilnehmender Beobachtung beschreibt Georg<br />

Peez atmosphärisch dicht, was in den Momenten zwischen<br />

zwei Aufnahmen geschieht. Von Foto zu Foto belebt sich der Prozess<br />

neu und will vom Betrachter imaginiert werden.<br />

Anders als im Gegenüber dieser Fotoreihen, wo gerade die<br />

nicht abbildbaren Momente nach Versprachlichung drängen,<br />

verlangt die Transformation einer Videosequenz eine Form der<br />

Beschreibung, die jene im Medium gegebene Besonderheit – das<br />

Gleiten von einer Handlung zur nächsten – an den Lesenden vermittelt.<br />

Uschi Stritzker sucht darum nach einem innovativen methodischen<br />

Ansatz, uns vor Augen zu führen, wie wir in verstrichener<br />

Materie auch Zeit verstreichen sehen. Indem sie aus dem<br />

vorhandenen Videomaterial Abfolgen von stills extrahiert, macht<br />

sie Zustände sichtbar, die im performativen Fortgang leicht übersehen<br />

werden. Diese Einzelbilder, wiederum zu Reihen gefügt,<br />

lassen das singuläre Moment in einem grösseren Zusammenhang<br />

erscheinen: Die Ergebnisse ihrer Arbeit werden mit den Ergebnissen<br />

der fotografischen Erhebungen vergleichbar.<br />

In Anlehnung an Balint (1970), der die Manipulation mit Material<br />

als eine der wichtigsten Erfahrungen des Kleinkindes bezeichnet,<br />

gehen die AutorInnen von der Annahme aus, dass im Umgang mit<br />

dem Pastosen: mit Brei und Farbe, erste regelhafte Beziehungen<br />

zwischen visuell, haptisch oder auditiv wahrnehmbaren Eigenschaften<br />

entdeckt werden und die Erfahrung des Kindes in eine<br />

Wechselbeziehung zu seinem Wahrnehmungsvermögen tritt.<br />

Alle vier Fallstudien gehen der Frage nach, ob in sensomotorischer<br />

Exploration bereits eine Aufmerksamkeit für das als Spur<br />

Hervorgebrachte aufscheint. Wiewohl es sich um Beobachtungseinheiten<br />

von wenigen Minuten handelt, weisen sie eine Phasierung<br />

auf, die sich als Materialerkundung, Hervorbringen der<br />

Spur, Interessensverlust beschreiben lässt.<br />

Für die Initiationshandlung charakteristisch ist, wie das Kind,<br />

von der Kontaktaufnahme mit dem Stofflichen absorbiert, eine<br />

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393<br />

Notizen<br />

mehr oder weniger lange Linie zum Körper hin zieht und diese<br />

Bewegung eins ums andere Mal wiederholt. Das auch im spätern<br />

Kritzelgeschehen als vertical arc (Matthews 2003) beschriebene<br />

Moment transponiert sich ins Horizontale und wird zum Hin und<br />

Her. Von den AutorInnen als «Wischen» bezeichnet, verstärkt es<br />

die taktilen Reize. Ausgreifend und immer schneller werdend,<br />

intensivieren die Bewegungen das glitschige Gefühl: Motorische<br />

und sensuelle Erfahrung schaukeln sich gegenseitig hoch und erfassen<br />

nach und nach die ganze Handfläche. Ihrer Tendenz nach<br />

sind es Bewegungen, die vom Körper weg führen und das Material<br />

vertreiben – unbestreitbar scheint darin die bekannte Pendelbewegung<br />

der frühen Kinderzeichnung vorweggenommen.<br />

Pausen sind nicht minder bedeutend als die beobachtbare<br />

Handlung. Sie lassen vermuten, dass das Kind seine Tätigkeit im<br />

Geiste vorbeiziehen lässt und die Folgen seines Handelns an den<br />

Veränderungen des Materials zu erkennen vermag. Was liegt also<br />

näher als diese bis dahin skeptisch beurteilte Tätigkeit aufgrund<br />

der neu gewonnenen Erkenntnisse als frühe Form ästhetischen<br />

Verhaltens zu begreifen Denn in eben jenem Augenblick, wo der<br />

Schmierprozess um des Spurenmachens willen für das Kind interessant<br />

wird, Intention und formales Bewirkenwollen ins Spiel<br />

kommen, lässt er sich als Basis allen gestalterischen Handelns –<br />

des zeichnerischen, malerischen und plastischen – neu verstehen.<br />

Das Buch eignet sich ausgezeichnet als Lehrmittel. Nicht nur lassen<br />

sich Texte (Beschreibung/Interpretation) beispielgebend für<br />

die Vermittlung von Forschungspraxis nutzen – Eingangskapitel<br />

wie «Grundsätzliches zum Schmieren von Kindern» sind so anregend<br />

geschrieben, dass man sie Dozierenden und Studierenden<br />

gerne zur Lektüre empfiehlt.<br />

Ruth Kunz<br />

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394<br />

CULTURAL TURNS, Neuorientierungen in den<br />

Kulturwissenschaften<br />

Bachmann-Medick Doris (2007)<br />

CULTURAL TURNS. Neuorientierung in den<br />

Kulturwissenschaften<br />

2. Auflage, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek<br />

bei Hamburg<br />

Doris Bachmann-Medick stellt dar,<br />

wie sich die Kulturwissenschaften<br />

in «turns» oder «Richtungsänderungen»<br />

entwickeln. Sie zeigt auf<br />

wie, die Kulturwissenschaften<br />

zum Dialog anregen. Durch den<br />

Dialog können verschiedene Personengruppen<br />

quer zu den Disziplinen Forschungsansätze verfolgen<br />

und neue Erkenntnisse gewinnen.<br />

Die Autorin schafft einen verständlichen Überblick über die<br />

Diskussionen rund um die verschiedenen turns.<br />

>> interpretative turn: Er wird in der Ethnologie mit der Metapher<br />

«Kultur als Text» verwendet. Die Kategorie ‚Text‘ erfährt eine<br />

starke Ausweitung und interpretatorische Modelle geraten ins<br />

Zentrum der Diskussion.<br />

>> performative turn: Der (non)verbale Handlungsbereich wird ins<br />

Zentrum gerückt.<br />

>> reflexiv/literary turn: Es geraten kritisch wissenschaftliche<br />

Arbeiten in den Blick. Er entlarvt wirkungsbezogene Darstellungsund<br />

Erzählstrategien gerade auch in nichtfiktionalen Texten (Krise<br />

der Repräsentation).<br />

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395<br />

Notizen<br />

>> postcolonial turn: Er untersucht die komplexen Machtbeziehungen<br />

zwischen verschiedenen Kulturen im Gefolge des Kolonialismus.<br />

>> translational turn: Die Hauptanalysekategorie ‚Übersetzung‘<br />

erfährt eine interkulturelle und -disziplinäre Ausweitung.<br />

>> spatial turn: Er entfernt sich von der kulturwissenschaftlichen<br />

Privilegierung der Zeitkategorie und erklärt ‚Raum‘ zum<br />

epistemologischen Konzept.<br />

>> iconic turn: Er untersucht den Erkenntniswert von Bildern, was<br />

sich in der Forschungsöffnung von der ‚traditionellen‘ Ikonografie<br />

zur Medien- und Bildwissenschaft niederschlägt.<br />

Bachmann-Medick stellt diese sieben «turns» in ihren systematischen<br />

Fragestellungen, Erkenntnisumbrüchen sowie Wechselbeziehungen<br />

vor und zeigt Anwendungen in konkreten Forschungsfeldern.<br />

Das Buch liefert für den Fachbereich Bildnerische Gestaltung<br />

Grundlagen für Entscheidungen, die in der kulturellen Bildung<br />

immer wieder getroffen werden müssen. Es bietet eine interessante<br />

Orientierung für das Fachliche und Argumente für die gewählten<br />

Inhalte. Daher findet sich aus dem beschriebenen Theoriewandel<br />

durch «turns» ein indirekter Nutzen für die Ziele im Gestaltungsund<br />

Kunstunterricht.<br />

Verena Widmaier<br />

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396<br />

Vorschau auf <strong>Heft</strong> 03<br />

«Bildmerkmale»:<br />

Einladung zum gemeinsamen Fokus auf das Bild<br />

«Nicht eine Gesellschaft von Göttern, sondern eine von Spielern<br />

ist nämlich zu besprechen.»<br />

Vilém Flusser (siehe Literaturliste)<br />

1. Bildtheorien<br />

Wir laden alle Spieler* ein, ihren Weg zum und mit dem Bild zu<br />

protokollieren und von diesem Abenteuer zu berichten. Was bedeutet<br />

uns das Bild und welche Rolle übernimmt es in unserem<br />

Alltag und in unserer Arbeit Welches sind die Merkmale des<br />

Bildes Gibt es eine Systematik des Bildes, der Bilder Gibt es eine<br />

Bildgrammatik Die Erkenntnis, dass das Bild für uns alle an Gewicht<br />

gewinnt, ist ein Konsens, die weiteren Positionen sind nicht<br />

einheitlich. Empfehlenswert und wichtig zur Diskussion sind alle<br />

Beiträge. Die untenstehende Literaturliste gibt einen kleinen Einblick<br />

in die Diskussion seit etwas 1990.<br />

Wir stochern in einem unübersichtlichen, grossen Haufen<br />

Asche, einer alten Feuerstelle voller verkohlter Holz- und Kohlestücke<br />

und schauen, wo es noch glüht, woran sich wieder ein<br />

Feuer entfachen lässt. Vielleicht gelingt es neue Scheite in Brand<br />

zu setzen. Vielleicht erhaschen wir einen Blick aus der Höhle.<br />

Wir verbrennen uns die Hände an alten Theorien und Tabus,<br />

z.B., dass in unserem Fach – im Gegensatz zur untenstehenden<br />

*Unter Spieler verstehen wir alle Gestalterinnen und Gestalter, Theoretikerinnen und Theoretiker und<br />

alle, die sich intensiv mit den oben beschriebenen Fragen befassen.<br />

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397<br />

Notizen<br />

Literaturliste – kaum darüber gesprochen wird, was unsere<br />

Sache ist, nämlich das Bild und ob es Bildung im Bildnerischen<br />

überhaupt braucht, denn Bilder ansehen und Verstehen scheinen<br />

alle zu können.<br />

Wer will denn Maler werden Wo ist hier der Profit<br />

Wir laden einzelne der Fackelträgerinnen und -träger ein, mit<br />

ihrem Licht unsere dunklen Kammern zu erhellen, im Bewusstsein,<br />

dass tagsüber die Fackeln bedeutungslos werden.<br />

Wir betrachten die Diskussion rund um das Bild als ein Spiel,<br />

ein Tanz der Worte um den heissen Brei. Wer es zu ernst nimmt<br />

und das Ziel schon greifbar vor sich sieht, verbrennt sich die<br />

Zunge oder lässt den Pinsel ins Korn fallen. Wer Neugierig ist<br />

und Geduld hat, kann hin und wieder die Einfälle geniessen und<br />

die Weisheiten mit dem Löffel fressen…<br />

Wir laden sie ein, am Spiel um das Bild mit Bildern und Worten<br />

teilzunehmen. Eine Voraussetzung dazu ist die Einsicht, dass alles<br />

menschliche Sein Sprache ist, und damit in einem Fluss von Gesten,<br />

Bildern und Worten, also Artikulationen. Eine der Spielregel<br />

besteht darin, sich mit Zeichen und Worten dem Bild zu nähern.<br />

Ganz ungefährlich ist das Spiel nicht. Wer sich zu tief hineinwagt<br />

in die Bildtheorien, in die Sprach- und Verhaltensforschung,<br />

in die Neurologie, verliert gerne den Boden unter den Füssen.<br />

Auch Theorien haben ihre Grenzen. Das wird man sich auch bewusst,<br />

wenn man gestalterisch tätig ist, und man begibt sich in die<br />

Gefahr, von den Theorien wie von Albträumen überrannt zu werden.<br />

Ein Heilmittel vor den Albträumen ist, am Spiel und dessen<br />

Regeln mitzugestalten, also gemeinsam an den Bildmerkmalen<br />

und einer Bildgrammatik zu arbeiten.<br />

2. Vermittlung<br />

Wie erklären wir unseren Schülern das Bild<br />

Wer greift welche Theorien auf und wie werden sie in den Unterricht<br />

transferiert. Im Text von Verena Widmaier (Bildung für alle:<br />

Kultur von allen!, S. 383–387) werden 4 Hauptkategorien unseres<br />

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398<br />

Faches ausgebreitet. Wir laden Autorinnen und Autoren und im<br />

Speziellen die Hochschulen dazu ein, ihre Konzepte und Vermittlungsstrategien<br />

im Fokus auf das Bild auszubreiten.<br />

Empfehlenswerte Bücher zum Thema Bild,<br />

Sprache und Bildsprache<br />

Autorinnen und Autoren<br />

Marion G. Müller, Grundlagen der visuellen Kommunikation (UTB 2003):<br />

Theorieansätze und Analysemethoden, fundierte Untersuchungen in der Tradition der Medienkritik.<br />

Fernande Saint-Martin, Semiotics of Visual Language (Indiana University Press 1990):<br />

Wichtige Arbeit einer Autorin aus dem englischsprachigen Raum.<br />

W.J.T. Mitchell, Bildtheorie (Suhrkamp 20<strong>08</strong>):<br />

Grundlagetext zur Frage, was das Bild vom Satz unterscheidet.<br />

Gottfried Böhm, Wie Bilder Sinn erzeugen (Berlin University Press 2007):<br />

Grundlagetext zur Frage, was ein Bild ist (Die Macht des Zeigens).<br />

Karlheinz Lüdeking, Grenzen des Sichbaren (BildundText 2006):<br />

Über das Problem, auch beim Bild «zwischen den Zeilen lesen» zu können<br />

Klaus Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium (Herbert von Halem Verlag 2006):<br />

Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Fundierte Fragen und Gedanken zu den Möglichkeiten einer<br />

Bildwissenschaft und den nötigen Bedingungen und Konsequenzen.<br />

Beat Wyss, Die Welt als T-Shirt (DUMONT 1997):<br />

Zur Ästhetik und Geschichte der Medien<br />

Manfred Fassler, Bildlichkeit (UTB, Böhlau 20<strong>02</strong>):<br />

Navigation durch das Repertoire der Sichtbarkeit: Sammlung von Untersuchungen zum Thema Bild, Sprache,<br />

Kommunikation<br />

Bernd Roeck, Mörder, Maler und Mäzene (C.H. Beck 2006):<br />

Zur Abwechslung ein spannender Krimi über das bekannte Gemälde «Die Geisselung Christi» von P. della<br />

Francesca.<br />

Christian Doelker, Ein Bild ist mehr als ein Bild (Klett-Cotta 1999):<br />

Visuelle Kompetenz in der Multimedia-Gesellschaft, umfassend bebilderter und einfach zu lesender Text<br />

Richhard David Precht: Wer bin ich und wenn ja, wie viele (Goldmann 2007):<br />

Hier geht es nicht ums Bild, aber um die Grundlagen des Denkens, Verhaltens und Wahrnehmens, sehr gut<br />

lesbar und empfehlenswert auch für Gestalter.<br />

Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder (European Photography 1985):<br />

«Was um uns herum und in uns geschieht, ist fantastisch, und alle vorangegangenen Utopien, seien sie positiv<br />

oder negativ gewesen, verblassen angesichts dessen, was da emportaucht.»<br />

Herausgeber<br />

Johannes Kirschenmann, Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung (Kopäd, 2006):<br />

Umfassender Sammelband zu Fragen der Vermittlung mit vielen bekannten Autorinnen und Autoren.<br />

Gottfried Boehm, Was ist ein Bild (BildundText, 1994):<br />

Grundlegende Texte zum Thema Bild unterschiedlicher, teilweise bekannter Autoren wie Lacan, Gadamer,<br />

Imdahl u.a.).<br />

Gerhard Braun, Umwelt, Wahrnehmung, Bild, Kommunikation (Georg Ohlms Verlag 1989):<br />

Studien zur Semiotik, Kommunikation und Wahrnehmungsphänomenen.<br />

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399<br />

Notizen<br />

John Berger, Sehen (rororo, 1972/2005), Das Bild der Welt in der Bilderwelt:<br />

Sehr gut lesbarer kurzer Text zum Thema Bild und Bilderwelt, mit vielen Beispielen.<br />

Hans Belting, Der zweite Blick (Wilhelm Fink Verlag 1993), Bildgeschichte und Bildreflexion:<br />

Bildtheorie und Untersuchungen an Beispielen mit bekannten Autoren wie Mitchell, Kamper, Böhme, Reck,<br />

Baudrillard u.a.<br />

Klaus Sachs-Hombach, Bildgrammatik (Scripum 1999):<br />

Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen mit einer umfassenden Liste von Autorinnen<br />

und Autoren, Untersuchungen zur Bildsprache mit den Mitteln der Sprachanalyse.<br />

Klaus Sachs-Hombach, Bildwissenschaft (Suhrkamp Wissenschaft 1751, 2005):<br />

Es ist der Anspruch der interdisziplinären Bildwissenschaft, die verschiedenen Bildphänomene und die verschiedenen<br />

bildwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen, wie die Philosophie, die Kognitionswissenschaft, die<br />

Medienwissenschaft oder die Kunstwissenschaft, in systematischer und produktiver Weise zu verbinden, ohne<br />

deren Eigenständigkeit zu gefährden (Klappentext).<br />

Hans Belting, Bilderfragen (BildundText 2007), Die Bildwissenschaften im Aufbruch:<br />

Aktuelle Texte zum Thema Bildwissenschaft mit bekannten Autoren wie Mitchell, Wyss, Boehm, Greimer u.a.<br />

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400<br />

Hochschule der Künste Bern<br />

Haute école des arts de Berne<br />

Berner Fachhochschule<br />

Haute école spécialisée bernoise<br />

Maturaarbeitspreis 2010<br />

für Bildnerisches Gestalten<br />

Der Maturaarbeitspreis der Hochschule der<br />

Künste Bern zeichnet die drei besten<br />

gestalterisch-künstlerischen Maturaarbeiten<br />

der Schweiz im Fach BG aus<br />

Einreichefrist: 6.2.2010<br />

Weitere Informationen:<br />

www.hkb.bfh.ch<br />

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401<br />

Notizen<br />

Hochschule der Künste Bern, HKB, Katja Büchli<br />

Die Hochschule der Künste<br />

Bern dockt an:<br />

Maturaarbeitspreis für Bildnerisches<br />

Gestalten<br />

Mit dem erstmals ausgeschriebenen Maturaarbeitspreis für drei<br />

herausragende gestalterisch-künstlerische Arbeiten schafft die<br />

Hochschule der Künste in Bern eine attraktive Andockstelle für<br />

Maturandinnen und Maturanden mit vertieftem Interesse an Gestaltung<br />

und Kunst.<br />

Der Preis wurde für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten geschaffen,<br />

die sich in ihrer Maturaarbeit im Fach Bildnerisches Gestalten<br />

schwerpunktmässig mit der eigenen gestalterisch-künstlerischen<br />

Praxis auseinandergesetzt haben. Vor ihrem Entscheid für<br />

eine weiterführende Schule können die Schülerinnen und Schüler<br />

ihre Maturaarbeit einer weiteren Jury vorführen und dadurch erste<br />

persönliche Kontakte zur Hochschule der Künste knüpfen. Mit<br />

diesem schweizweiten Novum eröffnet sich für Abgängerinnen<br />

und Abgängern von Gymnasien ein ideales Trainingsfeld für die<br />

Vorbereitung auf das Aufnahmeverfahren an einer Hochschule.<br />

Auswahlverfahren<br />

Das Verfahren ist wie bei der Bewerbung auf einen Studienplatz<br />

an der HKB in zwei Stufen gegliedert: Die Bewerbungsdossiers<br />

zu den Maturaarbeiten – mit der schriftlichen Arbeit, einer bildlichen<br />

Dokumentation mit Kurzzusammenfassung und einer<br />

Empfehlung durch die betreuende Lehrperson – werden durch die<br />

Jury der HKB in Zusammenarbeit mit Lehrpersonen der Sek. II<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 401<br />

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4<strong>02</strong><br />

gesichtet. Nach einer Erstauswahl werden die besten Bewerberinnen<br />

und Bewerber eingeladen, ihre Arbeit persönlich vor der<br />

Jury zu präsentieren. Beurteilt werden die gestalterisch-künstlerische<br />

Qualität der Maturaarbeit, der konzeptuelle Ansatz und<br />

die Recherche, die Eigenständigkeit, die Qualität der Dokumentation<br />

sowie die Präsentation vor der Jury.<br />

Preise<br />

Alle eingeladenen Maturandinnen und Maturanden profitieren<br />

nebst dem Erstkontakt mit einer HKB-Jury und der Gelegenheit,<br />

Erfahrung in der Präsentation und Diskussion der eigenen gestalterisch-künstlerischen<br />

Arbeit zu sammeln auch von einem professionellen<br />

Feedback zur eigenen Arbeit, Dokumentation und Präsentation.<br />

Die drei Preisträgerinnen und Preisträger erhalten eine<br />

Urkunde und Boesner-Gutscheine für Künstlermaterialien im Wert<br />

von 500.–, 400.– oder 300.– Franken. Zudem werden die Preisträger<br />

als besondere Gäste der HKB exklusiv an einen HKB-internen<br />

Anlass in einem Studiengang ihrer Wahl (Vermittlung in Kunst<br />

und Design, Visuelle Kommunikation oder Kunst) eingeladen.<br />

Die Preisverleihung von 2009 findet anlässlich der Bachelor-<br />

Thesis-Vernissage des Studienganges Vermittlung in Kunst und<br />

Design am 17. Juni 2009 statt.<br />

Informationen<br />

Die erstmalige Verleihung des Preises 2009 wird ausschliesslich Maturaarbeiten<br />

aus dem Kanton Bern berücksichtigen, ab 2010 wird<br />

der Preis für alle schweizerischen Gymnasien geöffnet werden.<br />

Der Einsendeschluss für die Durchführung des Maturaarbeitspreises<br />

von 2010 ist am 6.2.2010. Eingereicht werden dürfen Arbeiten,<br />

die zu diesem Zeitpunkt nicht älter als <strong>12</strong> Monate sind.<br />

Die vollständigen Richtlinien und Formulare finden Sie auf der<br />

Webseite www.hkb.bfh.ch unter «Maturaarbeitspreis BG» in der<br />

rechten Spalte.<br />

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403<br />

Notizen<br />

Bilderserie mit Schneedachfotografien vom 11.<strong>12</strong>.<strong>08</strong> an der HKB, Fe11<br />

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an Katja Büchli (Assistenz Studiengang<br />

Vermittlung in Kunst und Design), katja.buechli@hkb.<br />

bfh.ch. Die HKB erhofft sich durch diesen Preis spannende Begegnungen<br />

und freut sich auf alle Andockerinnen und Andocker.<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:13 <strong>Uhr</strong>


404<br />

künstlerbedarf & rahmenatelier<br />

Kanzleistrasse 111 CH-8<strong>02</strong>8 Zürich<br />

Telefon 044 241 24 11<br />

Dienstag - Freitag <strong>08</strong>.30 - 19.30 / Samstag <strong>08</strong>.30 - 15.45<br />

info@kunstmalershop.ch<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 404<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:13 <strong>Uhr</strong>


405<br />

Notizen<br />

künstlerbedarf & rahmenatelier<br />

Kanzleistrasse 111 CH-8<strong>02</strong>8 Zürich<br />

Telefon 044 241 24 11<br />

Dienstag - Freitag <strong>08</strong>.30 - 19.30 / Samstag <strong>08</strong>.30 - 15.45<br />

info@rahmenatelier-kanzlei.ch<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 405<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


406<br />

in der Edition Moderne<br />

Eglistrasse 8 | 8004 Zürich | 044 491 96 82 | post@strapazin.ch<br />

mehr Comics auf<br />

www.editionmoderne.ch<br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 406<br />

<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


407<br />

Weitere Informationen zum «<strong>Heft</strong>»:<br />

www.meinheft.ch<br />

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4<strong>08</strong><br />

<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 4<strong>08</strong><br />

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409<br />

Notizen<br />

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410<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


411<br />

Notizen<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


4<strong>12</strong><br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


413<br />

Notizen<br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


4<strong>14</strong><br />

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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>


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Notizen<br />

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416<br />

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