Heft 02 Heft_02_2009.indb 1 16.2.2009 12:14:08 Uhr - qubus
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<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 1<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:<strong>08</strong> <strong>Uhr</strong>
2<br />
Impressum<br />
<strong>Heft</strong><br />
<strong>Heft</strong> <strong>02</strong>, Februar 2009 | www.meinheft.ch<br />
Publikation des Verbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer für Bildnerische Gestaltung LBG-EAV<br />
Redaktion: Mario Leimbacher, Verena Widmaier, Markus Kachel, Valeria Soriani<br />
Kontakt/Inserate: Mario Leimbacher, Bergstrasse 38, CH-8165 Schöfflisdorf | lem@ken.ch, www.bildschule.ch |<br />
Informationen für Inserenten: www.bildschule.ch/material.asp<br />
Gestaltung: www.hoppingmad.ch<br />
Verlag/Bestellungen: Verlag Pestalozzianum an der Pädagogischen Hochschule Zürich<br />
www.verlagpestalozzianum.ch | verlag@phzh.ch<br />
Druck: Feldner Druck AG, Feldmeilen | Auflage: 1000<br />
© alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren<br />
«Phantom»<br />
Thomas Ott, geboren 1966, lebt und arbeitet in Zürich als selbständiger Illustrator und Comiczeichner<br />
Im April 20<strong>08</strong> ist sein neues Buch «Die Nummer 73304-23-4153-6-96-8» bei Edition Moderne, Zürich, erschienen.<br />
«Phantom» ist sein Comic-Held aus der Tagblattzeit, für unser <strong>Heft</strong> auferstanden.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>
5<br />
<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />
Formen der Artikulation<br />
Impressum 2<br />
Verena Widmaier<br />
Einleitung 9<br />
Verena Widmaier<br />
Gesichtet 11<br />
Urs Widmer, Valentin Lustig<br />
«…Verlangen, zu sehen, ob da innen etwas Wunderbares sei…» 13<br />
Artikulation: vermittelt 17<br />
Mario Leimbacher<br />
Artikulation im Blick auf den Unterricht 19<br />
Dina Blattmann, KS Stadelhofen<br />
Das Fest 23<br />
Judith Bosshart , Kantonsschule Stadelhofen ZH<br />
Dialog Zürich 27<br />
Frei Andrea (KZU) / Gabriella Hunya (Liceo Artistico)<br />
Photoshop – surrealer Raum (Stuhlprojekt) 33<br />
Lüthi Denise , Kantonsschule Beromünster, Langzeitgymnasium<br />
Gestalterisches Tagebuch, Porträt 37<br />
Lüthi Denise, Kantonsschule Beromünster, Langzeitgymnasium<br />
Von der schematisierten Zeichensprache zu neuen Formulierungen 43<br />
Nicole Eisler und Samuel Schütz, KS Enge Zürich<br />
Filmset 49<br />
Hanna Schmid, Gymnasium Untertrass<br />
Umsetzung eines expressionistischen Gedichtes in ein Bild 59<br />
Monika Lürkens, Kantonsschule Stadelhofen ZH<br />
Poesie aus meiner Hand – Märchen im Alltag<br />
Bildergeschichte-Bildersequenz–Comics 67<br />
Brigitte Bovo und Annette Bürgi<br />
Vom Schuh zum Gestiefelten Kater 69<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 5<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>
6<br />
Regula Stücheli<br />
Masken: Gestalten und Spielen 81<br />
Katja Büchli<br />
Was bleibt Was bleibt. 91<br />
Flavia Keller<br />
Zwei zeichnerische Haltungen 105<br />
Béatrice Gysin<br />
Nonverbales Artikulieren von Wahrnehmungs-, Denk-, Empfindungs- und<br />
Erinnerungsvorgängen. 117<br />
Artikulation: sichtbar <strong>12</strong>7<br />
Joel Marti<br />
Mein Leben mit Graffiti <strong>12</strong>9<br />
anonym<br />
Graffiti 135<br />
Dario Lüdi<br />
Tags <strong>14</strong>1<br />
Edith Glaser<br />
«Die Aussicht, die man hat» 157<br />
Peter Geimer im Gespräch mit Hannes Rickli<br />
ÜBERSCHUSS 171<br />
Daniel Reichenbach<br />
Warum ich als europäischer Zeichner arabische Kalligrafie betreibe 189<br />
Samuel Schütz<br />
«9/11» in Mednipure, Indien 197<br />
Artikulation: denkbar 203<br />
Mario Leimbacher<br />
Fragestellungen zu Artikulation und Interpretation 205<br />
Leo Gehrig<br />
Was Zeichnungen auszudrücken vermögen, was Worte nicht können 211<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 6<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>
7<br />
<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />
Georg Peez<br />
«Dass sich jeder verändern kann, aber das immer noch ist.» 239<br />
Susanne Sauter<br />
Über das künstlerische Schaffen sprechen 255<br />
Thomas Sieber<br />
Im Netz der visuellen Kultur 259<br />
Eva Sturm<br />
Die Artikulation der Werke 281<br />
Mieke Bal<br />
Sagen, Zeigen, Prahlen 313<br />
Beate Florenz<br />
Potentiale und Grenzen verbaler Artikulationen in der Kunstvermittlung 359<br />
Stand der Dinge 367<br />
Mario Leimbacher, 29.<strong>12</strong>.20<strong>08</strong><br />
Notizen zu HSGYM 369<br />
HSGYM-BG Situationsanalyse und Empfehlungen 371<br />
Verena Widmaier<br />
Bildung für alle: Kultur von allen! 383<br />
Notizen 389<br />
Rezensionen 391<br />
Vorschau auf <strong>Heft</strong> 03 396<br />
Hochschule der Künste Bern, HKB, Katja Büchli<br />
Die Hochschule der Künste Bern dockt an 401<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 7<br />
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8<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 8<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:09 <strong>Uhr</strong>
9<br />
<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />
Verena Widmaier<br />
Einleitung<br />
Liebe Leserinnen und liebe Leser<br />
Das <strong>Heft</strong> <strong>02</strong> ist ganz den «Formen der Artikulation» gewidmet.<br />
Wir laden zu einem weit angelegten Spaziergang ein. Er führt den<br />
Grenzen von Anschauungen und Zugriffen auf Darstellbares entlang.<br />
Erst an den Grenzen wird klar, was sich alles herausbildet<br />
oder sich unterscheidet und wie sich verschiedenartige Denkweisen<br />
und Haltungen in Bildern, Gesten, Objekten, Aufführungen<br />
und Ausstellungen artikulieren. Für unseren Beruf ist es richtig und<br />
wichtig, den Blick auf die Formen der Artikulation zu richten.<br />
Warum Er gibt uns die Chance, die verschiedenen Anforderungen<br />
an die Übersetzung von Botschaften und Informationen zu<br />
studieren und die entsprechenden Bildungsinhalte für Kinder und<br />
Jugendliche sowie auch für uns selber unter einen Hut zu bringen.<br />
Wir brauchen uns nicht mehr «wortreich» vom Wissen über das<br />
Bild abzugrenzen, sondern können ganz einfach auf unser Wissen<br />
und Können vertrauen.<br />
Über «die Formen der Artikulation» können wir auf dem<br />
«Spaziergang» unser Wissen langsam mehren. Denn das Wissen<br />
über die Formen der Artikulation beinhaltet «alles andere» als<br />
nur das «Wort». Sie beinhalten die bildnerische und künstlerische<br />
Arbeit, das Darstellen aus dem bildnerischen Denken und aus der<br />
Vorstellung. Die Formen der Artikulation weisen ebenso auf das<br />
Präsentieren und das Anschauen der Formen und Farben hin und<br />
zeigen, wie wir all das aus dem Bildhaften deuten, erfassen und<br />
übersetzen können.<br />
Daraus ergibt sich ein Reichtum, welcher sich in Bewegungen,<br />
Klängen oder Bildern manifestiert: In der Form des «Tangos»<br />
finden wir zum Beispiel den Ausdruck für Liebe und Tod. Die<br />
Stimme und das Instrument erlauben es uns, im Chor zu singen<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 9<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
10<br />
oder im Orchester zu spielen und gemeinsam wunderbare Musik<br />
aufzuführen. Wir hören und empfinden: Die Form ist vielleicht ein<br />
«Andante» – und schon schreiten wir mit der Musik voran. Oder<br />
die Form ist ein «Rap» und schon hetzen wir durch die Gefühle<br />
der Menschen. Wir sehen und empfinden: Der Sternenhimmel<br />
oder eine Farbe faszinieren uns. Mit geeigneten Materialien, Mitteln<br />
und Medien transformieren wir unsere Vorstellungswelten<br />
in gegenwärtige Kultur. Die Formen der Artikulation bieten den<br />
Schlüssel zur Erfassung von Informationen und Befindlichkeiten.<br />
Die Beiträge im <strong>Heft</strong> <strong>02</strong> sind für den «Spaziergang» in die sichtund<br />
denkbaren Räume mit verschiedenen Schlüsseln ausgerüstet.<br />
Wir wünschen angenehme An- und Einsichten.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 10<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
11<br />
<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />
Verena Widmaier<br />
Gesichtet<br />
SF1, nach der Werbung und vor der Tagesschau, oder vor der<br />
Werbung und nach der Unterhaltungssendung, oder zwischen der<br />
Werbung und dem Spielfilm, sicher aber zwischen der Tagesschau<br />
und dem Film wirbeln längliche, rot glänzende und angeschnittene<br />
Blöcke durch die Luft. Sie formieren sich unter der Brücke oder<br />
im Nebel zu einem länglichen Turm. Das letzte Teilchen passt sich<br />
in die Spitze und vollendet die Form zu einer architektonischen<br />
Eins. Dazu plätschert ein Diitadü-diitadü-diitadü-blabladibiiii…<br />
und schon steht das Gebilde in zwölf Sekunden fest und wie ein<br />
Fremdkörper in der Idylle.<br />
Eine längere und leider vergebliche<br />
Suche auf der Seite des<br />
Schweizer Fernsehens www.sf.tv<br />
nach den «Pausenanimationen»<br />
bewegt mich, direkt nach diesen<br />
Zwischenfilmchen und ihrer<br />
Entstehungsgeschichte zu fragen.<br />
Prompt kommt die Antwort<br />
Idents (Berg)<br />
vom SF-Creative-Director zurück:<br />
«Herzlichen Dank für Ihre<br />
Anfrage, in der Sie Hintergrundinformationen zu unseren SF 1<br />
Idents wünschen. Gerne beantworte ich Ihnen diese Fragen, wäre<br />
aber sehr dankbar, wenn Sie diese etwas konkretisieren könnten.<br />
Für welche Publikation schreiben Sie» Auf meine ausführliche<br />
Antwort habe ich keine Reaktion mehr erhalten. Immerhin weiss<br />
ich jetzt, dass die Gebilde «Idents» 1 heissen und ich sie unter dem<br />
Link www.sf.tv/unternehmen (Klick>Download) als Filmchen<br />
finden kann.<br />
Ich beginne nun erst recht zu recherchieren. Kein Wunder,<br />
denn ich erinnere mich spontan an einen anderen Film, der mich<br />
nachhaltig beeindruckt hat.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong><br />
Screenshot aus «Dawn of the men» in Space Odyssey 2001 von Stanley Kubrick<br />
Nämlich an den Film «Space Odyssey 2001» von Stanley Kubrick:<br />
Da gibt es eine Filmsequenz mit einem ähnlichen Gebilde, welches<br />
eines Morgens wie eine «einzigartige Idee» vor der Höhle der Affen<br />
steht.<br />
Der «erwachende» Mensch wird angesichts der erschreckend<br />
neuen Dimension vor seiner Höhle einen unglaublichen Schritt<br />
Richtung Kultur tun. Er ahnt erst, was ihn alles erwartet und<br />
was er zu schaffen im Stande sein wird. Nun ist die Form des<br />
Gebildes tatsächlich beinahe gleich mit den Idents von SF 1. Das<br />
irritiert mich. Ich vergleiche die Filmstelle sofort. Wenn die Anspielung<br />
auf den Film von Kubrick stimmen würde, dann könnten<br />
die Idents in SF 1 die Frage auslösen: Welche Schritte Richtung<br />
Kultur stehen bevor Welche Menschen ahnen etwas, und wollen<br />
sie noch etwas anderes erschaffen<br />
Verena Widmaier, Dozentin Zürcher Hochschule der Künste, Didaktik/ Fachdidaktik im Bereich Kunst<br />
und Design.<br />
Fussnote<br />
1<br />
Station-Idents und Promo-Verpackung geben den Kanälen SF 1, SF zwei und SF info eine<br />
zielgruppenspezifische emotionale Identität. Signete, Soundgrafiken und Set-Design, Dramaturgie<br />
durch Regiearbeit und auch Mode & Styling geben den jeweiligen Sendungen ein<br />
unverwechselbares und attraktives Gesicht.<br />
SF-Clips zum Herunterladen «Station Idents» sind jene Trailer, die zur Erkennung eines<br />
Senders zwischen die Sendungen und die Werbeblöcke geschoben werden. Die neuen SF-Idents<br />
haben international renommierte Auszeichnungen der TV-Design- und Promotionsbranche<br />
gewonnen.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong><br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
13<br />
<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />
Urs Widmer, Valentin Lustig<br />
«…Verlangen, zu sehen, ob<br />
da innen etwas Wunderbares<br />
sei…»<br />
Valentin<br />
Du weißt, dass es einen Maler gegeben hat,<br />
der die Natur so verzaubernd genau zu malen<br />
wusste, dass die Betrachter seiner Bilder<br />
sich eine Traube von der Leinwand pflücken<br />
wollten und der wirkliche Hund den auf der<br />
Leinwand anknurrte. Dieser Maler, wisse!,<br />
begann zu glauben, sieh die Warnung seines<br />
Exempels!, er könne die bestehende<br />
Welt so lebendig genau ins Bild setzen,<br />
dass sie und ihr Abbild ununterscheidbar würden. Ja, er kam sehr<br />
weit damit, das ist wahr, er malte auf zuerst atelierbreiten, dann<br />
meilenlangen, endlich horizontfüllenden Leinwänden alles Wirkliche<br />
so rasend präzise, dass du tatsächlich – als sein Freund, sein<br />
Zeitgenosse, sein Opfer – dich vor der falschen Schlange in Acht<br />
nahmst, während die richtige dich zu Tode biss. Höre, warum<br />
der Plan dennoch nicht aufging. Nicht, weil die Erde zu groß war<br />
und die Leinwand zu klein, nein, dieses Problem hatte er gelöst (er<br />
verschuldete sich erheblich, weil auch damals die Leinwände teuer<br />
waren), und auch nicht, weil ein Einzelner (sogar wenn er sehr<br />
schnell malte) so viel Tatsächliches in tunlicher Zeit gar nicht bewältigen<br />
konnte. Nein, nein. Das klappte weit überzeugender, als<br />
es ein jeder erwarten durfte. Alles geriet dem Maler so vortrefflich,<br />
dass du deine Geliebte in die Arme schließen wolltest und<br />
die Lippen voller Ölfarbe hattest und dass du dann, von jähem<br />
Entsetzen erfüllt, Hals über Kopf flohst und dir den Schädel an<br />
der steinharten Leinwand einschlugst, die dir eine ins Offene führende<br />
Lücke im Zaun vorgegaukelt hatte. Nein, Freundin. Nein,<br />
mein Freund. Nein. Der Grund seines Fiaskos war ein anderer.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 13<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
<strong>14</strong><br />
Der Maler hatte nicht bedacht, dass die wirkliche Welt keinen<br />
Augenblick lang gleich blieb. Alles floss. Der Fluss sowieso, der<br />
Jangtse oder dann auch der Mississippi, keinen Pinselstrich lang<br />
glitzerte das gleiche Wasser. Das Blatt schaukelte zu Boden, der<br />
Vogel hob vom Ast ab, der Ast wippte nach oben. Die Wolke schob<br />
sich über das Blau von eben. Wenngleich kein Maler auf Erden<br />
je so schnell wie dieses Genie war, auch Rubens nicht und nicht<br />
Cranach, aus deren Ateliers bekanntlich die Venusse, Adame und<br />
Evas im Minutentakt hinausfegten, weil zweihundert oder auch<br />
tausend Lohnmaler gleichzeitig an ihnen arbeiteten: Wie sollte der<br />
Maler denn vorwärtsmalen und gleichzeitig das schon Gemalte<br />
dem neuen Wirklichen anpassen Er versuchte es, hetzte auf und<br />
ab und dahin und dorthin, die tropfenden Pinsel schwingend und<br />
dennoch immer zu spät, weil der eben gelandete Schmetterling,<br />
den er blitzschnell auf die Blüte tupfte, noch fixer als er war und,<br />
wenn er ihn just ins Bild gebannt hatte, bereits wieder auf der<br />
Blume daneben saß. Der Maler wurde darob wahnsinnig, der beste<br />
Maler, der je auf Erden gemalt hatte, und sein Beispiel bewog<br />
spätere Geister – nennen wir sie Picasso –, auf das Naturalistische<br />
ganz zu verzichten. Wir Heutigen haben sein grässliches Los<br />
längst aus unserm kollektiven Gedächtnis verdrängt. Niemand<br />
mehr weiß von ihm, stimmts oder hab ich Recht – Er lebte dann<br />
noch viele Jahre, von Sinnen, in einem Landhaus in den Hügeln<br />
von Siena oder möglicherweise Evora oder allenfalls Iräklion, und<br />
sah zum Horizont hin, von dem er vergessen hatte, ob er ihn einst<br />
gemalt hatte oder eher noch nicht.<br />
Lieber Urs, trotzdem kann ich nicht anders, ich bin halt ein Maler<br />
– io sono pittore –, all diesen Werbern und Computergrafikern<br />
zum Trotz, das ist doch keine Schande! Tizian ist einmal der Pinsel<br />
aus der Hand gefallen, und der große, mächtige Kaiser Carlo<br />
Quinto, der ihn gerade besuchte, bückte sich höchstpersönlich,<br />
hob den Pinsel vom staubigen Boden des Ateliers auf und händigte<br />
ihn dem Meister aus. Ich gebe zu, eine ziemlich alte, aber unvergessliche<br />
Sternstunde dieser Berufsgattung.<br />
Valentin<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>14</strong><br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
15<br />
<strong>Heft</strong> <strong>02</strong><br />
Rendezvous unter Kerzenlichtern, 75x95 cm, 2006<br />
Aus «Valentin Lustigs Pilgerreise» von Urs Widmer, 20<strong>08</strong>; Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde;<br />
Mit Briefen des Malers an den Verfasser; Mit der Erlaubnis der Autoren und des Diogenes Verlages<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 15<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 16<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
17<br />
Artikulation: vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 17<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
18<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 18<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:10 <strong>Uhr</strong>
19<br />
Vermittelt<br />
1<br />
Mario Leimbacher<br />
Artikulation im Blick auf<br />
den Unterricht<br />
Statt Erläuterungen zu den nun folgenden Unterrichtsbeispielen<br />
drucken wir einen Auszug aus dem Einladungstext ab, der an die<br />
Verbandsmitglieder geschickt und auf der Website www.bildschule.ch<br />
als Einladung publiziert wurde. Er schildert die Gründe und<br />
Motive der Anfrage. Die hier publizierten Arbeiten geben einen<br />
punktuellen Einblick in unseren Unterricht, sicher aber keinen repräsentativen.<br />
Was bedeutet Artikulation in unserem Fach<br />
Der Fokus «Artikulation» auf die gestalterische Arbeit bedeutet,<br />
dass das Kommunikative und Sprachliche in unserer Praxis<br />
ins Blickfeld gerückt wird. Visuelle und Bildnerische Gestaltung<br />
werden damit als ein existentieller und zentraler Bereich des<br />
Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhaltens in<br />
Gemeinschaft mit dem, was wir als konventionelles sprachliches<br />
Verhalten bezeichnen, betrachtet.<br />
Diese Fragestellung schärft generell den Blick auf die gestalterische<br />
und inhaltliche Ausdrucksmöglichkeit und umgeht eine<br />
rein rezeptive, wiedergebende oder auf das Technische und Formale<br />
beschränkte Darstellungsweise.<br />
Kategorien der Themen und Aufgabestellungen (Lehrplanarbeit)<br />
Neben einem Einblick in unsere Tätigkeit soll ein Ziel der Aufgabensammlung<br />
sein, Kategorien und Unterscheidungen in unseren Lehrplänen<br />
unter einem erweiterten Gesichtspunkt zu erfahren. Im Hinblick<br />
auf die Standarddiskussion und die Schnittstellendiskussion<br />
(HSGYM) wird dies als hilfreiche Grundlagenarbeit verstanden.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 19<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:11 <strong>Uhr</strong>
20<br />
Es ist auffallend, dass in unseren Lehrplänen mediale, handwerkliche<br />
und technische Begriffe im zeitlichen Raster im Vordergrund<br />
stehen. Es scheint also oft darum zu gehen, in einem<br />
bestimmten Semester Fertigkeiten, handwerkliche Grundlagen<br />
wie z.B. neue Medien zu thematisieren. Der Fokus auf den gestalterischen<br />
Unterricht als Artikulation und nonverbaler Ausdruck<br />
scheint schwerer differenzierbar und damit – aus unserer Sicht<br />
unberechtigterweise – untergeordnet.<br />
Aus diesen Gründen möchten wir eine Diskussion über die<br />
Entwicklung von Unterscheidungskategorien unter dem Gesichtspunkt<br />
der Artikulation versuchen.<br />
Assoziationen zur Fragestellung<br />
Das Augenfällige, das Non-Verbale<br />
Felsritzungen, Höhlenmalerei, bemalte Kiesel, das Vergangene,<br />
das sich dem Auge erschliesst. Durch die Spuren, die hinterlassen<br />
werden, zeigen sich Gesten und Handlungen. Spuren bleiben zurück<br />
und werden lesbar, als Verhaltens- und Handlungsspuren,<br />
als Zeichen, als Bilder.<br />
Anwesenheit, sichtbares Verhalten, Erscheinung, Handeln und<br />
Hervortreten im Raum, in der Umgebung, Verschwinden, erschliessen<br />
sich dem Auge.<br />
Der weitaus grösste Teil dessen, was sich als Artikulation dem<br />
Auge erschliesst – und das ist viel und wird immer mehr - besteht<br />
im Blick, im Schauen und Sehen, und wird damit bildhaft. Ein<br />
kleiner Teil wird verbal und ist damit übersetzbar in seine akustische<br />
oder typografische Form oder eine andere Sprache. Sprache<br />
spitzt sich zu im Verbalen, im Wort.<br />
Sprachlich ist aber Verhalten, Handeln, Kommunizieren schon<br />
weit vorher, darum wäre es seltsam, das «Augenfällige» als das<br />
«Non-Verbale» zu bezeichnen, das Ganze vom Detail, die Basis<br />
von der Spitze aus zu erklären. Auch das Verbale kann bildhaft,<br />
klanglich oder räumlich wirken. Vor, neben oder mit dem Verba-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 20<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:11 <strong>Uhr</strong>
21<br />
Vermittelt<br />
len ist das Bildhafte, das Räumliche, das Klangliche, das Haptische<br />
und viele weitere Formen des Ausdrucks und der Artikulation.<br />
Artikulationsformen, die sich dem Auge erschliessen, Bildhaftes<br />
Bildhaftes gibt es real, Malerei auf Leinwand, Gezeichnetes in den<br />
Sand, auf Felsen, Knochen oder Papier, Fotografie, Digitales auf<br />
dem Bildschirm. Bildhaftes gibt es aber auch als Gedankliches,<br />
Vorgestelltes, als Erlebtes, als Gelesenes und Gehörtes, Angedeutetes.<br />
Bildhaftes gibt es auch in der Unterscheidung von Wahrnehmungsformen<br />
selber, zwischen bildhaftem und suchendem oder<br />
tastendem Sehen zum Beispiel.<br />
Bildhafte Artikulationsformen bedeuten damit ein Feld mit<br />
vielen Nahtstellen, Übergängen und Schichten zu weiteren Artikulationsformen.<br />
Artikulationsformen in unserem Feld, dem Visuellen,<br />
meint das, worin sich der Mensch dem Auge erschliesst<br />
und wiederfindet, das Bildhafte<br />
Die Suche führt vom Auge, dessen Erfahrungen, Erinnerungen<br />
und Empfindungen weg und wieder zu ihm hin. Das Auge bleibt<br />
jedoch einziges Transportmittel, das Artikulierte wiederzufinden<br />
oder weiterzugeben. Darum geht es um das «Augenfällige», um<br />
Artikulationsformen, die vom Auge berichten, von dessen Erfahrungen<br />
und wieder für das Auge berichten.<br />
Das Sprachliche und Überfachliche<br />
Artikulation meint in jedem Fall, von etwas zu berichten, etwas<br />
Form und Zeichen werden lassen.<br />
Damit ist schon eine Verbindung gegeben zu den anderen Tätigkeiten,<br />
Disziplinen und Fächern. Überall wird bildhafte Wahrnehmung<br />
und bildhafter Ausdruck gebraucht. So wie (fast) jede<br />
Unterrichtsstunde eine Deutschstunde ist, ist jede Lektion eine<br />
Stunde der visuellen Wahrnehmung und der gestalterischen Artikulation.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 21<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:11 <strong>Uhr</strong>
22<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 22<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:11 <strong>Uhr</strong>
23<br />
Vermittelt<br />
2<br />
Dina Blattmann, KS Stadelhofen<br />
Das Fest<br />
Klasse 1fM / musisches Profil / Grundlagenfach<br />
Ziele<br />
Wahrnehmungsverarbeitung, Impression, Expression, Narration.<br />
Wiedergeben einer erlebten Stimmung, aus der Vorstellung Bilder<br />
finden, Verdichten einer Erinnerung, differenzierte Vorstellung<br />
aufbauen, Detailreichtum.<br />
Artikulation, Aufgabestellung<br />
Gestalten Sie eine Bildserie in 3 Bildern. Sie erzählen in diesen<br />
Bildern einen Moment eines Festes. Dieser Moment umfasst eine<br />
Zeitspanne von ca. 1 Minute. Vom ersten Bild zum zweiten und<br />
dritten ergibt sich ein chronologischer Ablauf. Dabei verändert<br />
sich jeweils nur wenig. Zeichnen Sie linear aus der Erinnerung.<br />
Zentral ist die Stimmung, die Emotionen, welche die Menschen<br />
ausstrahlen. Achten Sie auf Details wie Accessoires, Kleidung,<br />
Style, Mimik, Frisuren usw., aber auch die Szenerie und Umgebung.<br />
Sie können einzelne Bildelemente im nächsten Bild wiederholen<br />
und Überlagerungen erzeugen, so dass sich die Stimmung<br />
verdichtet. Die perspektivische Richtigkeit können sie zu Gunsten<br />
einer virtuosen Gestaltung vernachlässigen. Nehmen Sie Fotos<br />
und Illustrierte zur Hilfe. Sie können mit Durchpaus-Papier Wiederholungen<br />
erzeugen.<br />
Etappen / Arbeitsschritte<br />
>> Bestehende Bilder sammeln, aus der Erinnerung, aus Zeitschriften,<br />
eigene Fotos etc.<br />
>> Skizzen erstellen, Momentaufnahme erinnern<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:11 <strong>Uhr</strong>
24<br />
>><br />
>><br />
Karton A4 grundieren, übertragen der Skizzen<br />
Zeichnen auf Karton, dabei muss nicht in der schlussendlichen<br />
Reihenfolge der Bildserie gearbeitet werden<br />
Medien/Techniken<br />
Vervielfältigung, Wiederholung, Verdichtung, Bildabfolge. Narration,<br />
Bildkomposition.<br />
Material<br />
Format: 3 x A4; Material: Bleistift, Kugelschreiber, Fineliner , unfarbige<br />
Stifte; auf weiss grundiertem Karton.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 24<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:11 <strong>Uhr</strong>
25<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 25<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:13 <strong>Uhr</strong>
26<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 26<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:13 <strong>Uhr</strong>
27<br />
Vermittelt<br />
3<br />
Judith Bosshart , Kantonsschule Stadelhofen ZH<br />
Dialog Zürich<br />
3fM Kurzzeitgymnasium, 3. Klasse musisches Profil BG SP<br />
Ziele<br />
>> Wahrnehmunsverarbeitung, agieren und reagieren unter<br />
Berücksichtigung der jeweiligen Artikulation.<br />
>> Nonverbale, bildgestalterische Kommunikation.<br />
>> Entscheidungen treffen und gestalterische Absichten verfolgen.<br />
>> Persönliche Ausdrucksweise kennenlernen, sich positionieren im<br />
Vergleich mit der Ausdrucksweise der anderen.<br />
>> Eine nachvollziehbare, gesamthaft gut wirkende Kartenserie<br />
verlangt aber auch, sich auf eine gewisse Sprache zu einigen, so<br />
dass ein spannender, harmonischer oder bewusst konträr gesetzter<br />
Dialog entstehen kann.<br />
Artikulation<br />
Ausgangspunkt ist eine Postkarte von Zürich, welche zwischen<br />
zwei SchülerInnen wöchentlich ausgetauscht wird. Der Wandlungsprozess<br />
der Karte ist die Folge der nonverbalen Artikulation,<br />
also des bildgestalterischen Dialogs der beiden. Bei jedem Wechsel<br />
muss die Karte verändert dupliziert werden, sodass ein Unikat<br />
erhalten bleibt.<br />
Etappen / Arbeitsschritte<br />
Die Chronologie ist zwingend. Es verlangt eine genaue Betrachtung<br />
und Interpretation der Vorlage, auf die mit Flexibilität und<br />
Einfühlungsvermögen eingegangen werden muss. Das war je nach<br />
PartnerIn nicht immer einfach. Die Lust selbst, mit seiner eigenen<br />
Sprache, eine Kartenreihe zu entwickeln war manchmal gross.<br />
Spielregel war ja, dass die ganze Kartenserie gut ablesbare, nach-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 27<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:13 <strong>Uhr</strong>
28<br />
vollziehbare Arbeitsschritte vorwies, sodass das Ego nicht allzu<br />
sehr ausscheren durfte.<br />
Vorraussetzungen<br />
>> Es setzt Offenheit voraus, sich mit einem bekannten Gegenüber<br />
auf einen gestalterischen Dialog einzulassen.<br />
>> Es braucht Disziplin und Vertrauen, dass der Abtausch pünktlich<br />
erfolgen kann.<br />
>> Neugierde, Lust und Experimentierfreude sind natürlich auch sehr<br />
gefragt.<br />
Erfahrungen<br />
>> Wie schaue ich ein Bild an. Worauf lege ich den Fokus Spricht<br />
mich dieses Bild inhaltlich oder formal an, reizt mich die Farbe<br />
oder das Materielle darin<br />
>> Wie reagiere ich darauf. Mit Assoziation, Abstraktion, Wandlung,<br />
Betonung, neuen Inputs<br />
>> Welche gestalterischen Mittel benutze ich für meine Idee<br />
Medien/Techniken<br />
Die Materialien sind frei. Digitale und analoge Kopie- und Bildbearbeitunsmethoden<br />
sind möglich.<br />
Vorraussetzungen<br />
Für diese Arbeit sollten die bildgestalterischen Werkzeuge grundsätzlich<br />
bekannt sein. Herausforderung ist es, diese sinnvoll und<br />
mit einem persönlichen Anspruch einzusetzen.<br />
Aufgabestellung<br />
Tut Euch zu zweit zusammen, um einen bildgestalterischen Dialog<br />
und Schlagabtausch über «Zürich» abzuhalten.<br />
Input ist je eine Karte, die Zürich zeigt, sei es mit Blick auf<br />
die Stadt, ein Teilstück der Bahnhofstrasse, das Wahrzeichen von<br />
Zürich, ein Trendlokal, Kunst am Bau etc.<br />
Spätestens nächsten Mittwoch, 19. März, überreicht Ihr Euch<br />
gegenseitig die ausgewählte Karte. Nun müsst Ihr auf die Kar-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 28<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:13 <strong>Uhr</strong>
29<br />
Vermittelt<br />
te reagieren, indem Ihr die Karte bildgestalterisch verändert und<br />
abwandelt. Ihr könnt inhaltlich oder formal (assoziierend, ironisierend,<br />
abstrahierend, kontrastierend, beschönigend, zukunftsweisend....)<br />
auf die Vorlage reagieren. Der Wandlungsprozess<br />
wird nun stetig fortgesetzt, indem Ihr Euch jeweils auf die neueste<br />
Rückmeldung bezieht und diese Vorgabe bearbeitet. Jede Woche<br />
müsst Ihr Euch 1x austauschen, sodass jede Person mind. 10 x<br />
geantwortet hat.<br />
Material:<br />
Kopieren und Übermalen, digitale Bildbearbeitung, Collage, freie<br />
Wahl der Zeichen- und Malmittel und des Formates.<br />
Beurteilungskriterien:<br />
>> lustvolle, interessante und nachvollziehbare Bildreihe<br />
>> ernsthaftes, anregendes Agieren und Reagieren<br />
>> Bild- und Stilmittel sind sinnvoll und eigenständig eingesetzt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 29<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:13 <strong>Uhr</strong>
30<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 30<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
31<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 31<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
32<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 32<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
33<br />
Vermittelt<br />
4<br />
Frei Andrea (KZU) / Gabriella Hunya (Liceo Artistico)<br />
Photoshop – surrealer Raum<br />
(Stuhlprojekt)<br />
Aufgabestellung, Thema<br />
>> Komposition, Expression (persönlicher Ausdruck – ein für sie<br />
stimmungsvolles Zimmer…)<br />
>> Gestaltung eines surrealen Raumes – darin müssen die<br />
SchülerInnen selber sowie auch gewisse Dinge (Stühle, Tiere, frei<br />
wählbare Gegenstände) vorkommen.<br />
>> Vorlage: einfache lineare Raumzeichnung (Zentralperspektive)<br />
>> Diese Zeichnung wird farblich gestaltet (räumliche Wirkung) und<br />
mit div. Elementen (Stühle, eigene Person, Tiere…) bestückt und so<br />
zu einer surrealen Komposition ausgeformt.<br />
Etappen / Arbeitsschritte<br />
>> Parallelprojektion eines Stuhls zeichnen / Input zu Perspektive<br />
>> Input zu Surrealismus / Kulturgeschichte des Sitzens / Begriffe und<br />
Definitionen rund ums Thema Stuhl und Sitzen<br />
>> Input zu Photoshop (Arbeitsblätter)<br />
>> Arbeit mit Photoshop: Flächen mit Farbe füllen (Mischfarben,<br />
Verläufe…), Objekte freistellen und einfügen, Situation zu einem<br />
Ganzen komponieren<br />
Ziele<br />
>> Farbwahrnehmung<br />
>> Raumwahrnehmung, Massstäblichkeit (verschobene)<br />
>> Alltagsgegenstand «Stuhl» mit div. Teilaufgaben genau betrachten<br />
und umformen.<br />
>> Kompositorische Wahrnehmung, Atmosphäre schaffen.<br />
>> Technisch-handwerkliche Grundkenntnisse im Photoshop<br />
erwerben<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 33<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:15 <strong>Uhr</strong>
34<br />
>><br />
>><br />
Vertiefung in Bild – Raumkomposition<br />
Spielerischer und witziger Umgang mit Bildelementen –<br />
ungewöhnliche, surreale Szenen erzeugen.<br />
Medien/Material<br />
Photoshop, Digitalkamera, Internetrecherchen (eigene Gegenstände<br />
suchen), (Bei den vor- und nachfolgenden Arbeiten kamen<br />
weitere Techniken zum Zuge – siehe Beiblatt)<br />
Bewertungskriterien:<br />
>> Wurden die surrealistischen Elemente im Bild angewendet<br />
>> Technisch-handwerkliches Geschick<br />
>> Bildkomposition, Gesamteindruck<br />
Vorgängige Arbeiten<br />
>> Einführung: einen Stuhl von zu Hause aus der Erinnerung zeichnen<br />
>> Parallelprojektion eines Stuhls aus dem Brockenhaus (A3, A2)<br />
>> Begriffe zu «Stuhl» und «sitzen»<br />
>> Diavortrag zu verschiedenen Stühlen, Kulturgeschichte des Sitzens<br />
>> Bildbetrachtung zu gewählter Kunstpostkarte (mit Figur, sitzender<br />
Person), <strong>12</strong> Fragen<br />
Anschliessende Aufgabe, zusammen mit Werken<br />
>> Der Stuhl wird zerlegt, dekonstruiert und zu einem neuen<br />
skulpturalen Objekt zusammengefügt.<br />
>> Material und Werkzeug: diverses aus der Holzwerkstatt,<br />
Kleisterpapier, Acrylfarbe<br />
>> Exkursion ins Vitra Design Museum mit Führung (ganz am<br />
Schluss des Semesters)<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 34<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:15 <strong>Uhr</strong>
35<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 35<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:15 <strong>Uhr</strong>
36<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 36<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:16 <strong>Uhr</strong>
37<br />
Vermittelt<br />
5<br />
Lüthi Denise , Kantonsschule Beromünster, Langzeitgymnasium<br />
Gestalterisches Tagebuch,<br />
Porträt<br />
7 Schüler 3. Klasse, 15 Schüler 4. Klasse, Schwerpunktfach BG,<br />
Beteiligte Lehrpersonen: Sr. Beatrice Kohler und Denise Lüthi<br />
Ziele<br />
Individuelle Ausdrucksfähigkeit<br />
Artikulation<br />
Im Unterricht bleibt oft nur Zeit technische und formale Fertigkeiten<br />
zu üben, jedoch nicht einen eigenen Ausdruck zu entwickeln und zu<br />
festigen. Dazu gehört, dass die Schüler Eingeübtes nicht auf eine<br />
neue Situation adaptieren, in neuen Zusammenhängen anwenden,<br />
sondern wiederholen, kopieren. Die Risikobereitschaft, etwas Neues<br />
zu wagen und dabei auch zu scheitern, ist klein. Das gestalterische<br />
Tagebuch gibt den Rahmen, dies zu üben und zu entwickeln. Der<br />
BG-Unterricht am Gymnasium Beromünster baut auf einer Semesterstruktur<br />
auf. Jedes Semester wird von einem Begriff bestimmt,<br />
der als Dreh- und Angelpunkt fungiert und inhaltlich, gestalterisch,<br />
medial, handwerklich oder technisch sein kann (Aquarell, Film/<br />
Video, Comic, Naturstudium, Fotografie, Typografie, Illustration<br />
etc.). Der im Vordergrund stehende Arbeitsbereich des letzten halben<br />
Jahres im Schwerpunktfach 3. und 4. Klasse war das Porträt.<br />
Die Schüler, die das Schwerpunktfach besuchen, führen ein<br />
gestalterisches Tagebuch. Im gestalterischen Tagebuch beschäftigen<br />
sie sich weitgehend selbständig mit dem Unterrichtsthema.<br />
Sie erstellen wöchentlich in der Hausaufgabenzeit 1–3 Arbeiten.<br />
Die Schüler des Schwerpunktfachs 3. und 4. Klasse arbeiteten im<br />
Format 10x21 cm zum Thema Porträt.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 37<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:16 <strong>Uhr</strong>
38<br />
Den Schülern werden jeweils mündlich kurze Aufgaben gestellt.<br />
Die Aufgaben sind als Hilfestellungen, als Katalysator zu<br />
verstehen, keine Rezepturen. Jede Vorgabe zum Arbeitsverfahren<br />
und jeder Hinweis der Lehrperson lenken individuelle Gedanken,<br />
Assoziationen und Inspirationen. Wenn grundlegende Möglichkeiten<br />
der Gestaltung offen stehen sollen, darf die Aufgabenstellung<br />
nicht zu viele der weiteren Prozesse verhindern, sondern<br />
muss die Möglichkeit der Entscheidungen und des Ausdrucks öffnen.<br />
Deshalb legt das gestalterische Tagebuch Wert auf Aufgaben,<br />
die sich am Inhalt orientieren. Inhaltliche Gebiete werden zum<br />
Gliederungsprinzip gemacht, formale und technische Fertigkeiten<br />
sind untergeordnet, finden sich aber gleichwohl in den Aufgaben<br />
vertreten (am Anfang stärker als gegen Schluss).<br />
Die Schüler erproben sich darin, Beobachtungen und Vorstellungen<br />
in geeigneter Form umzusetzen. Das gestalterische Tagebuch<br />
bietet die Möglichkeit früher angeeignete technische und<br />
formale Fertigkeiten auf neue Inhalte zu übertragen. Dadurch<br />
dass sich die Aufgaben auf die Sache beziehen und nicht auf das<br />
Technische und Formale, entwickeln die Schüler eine individuelle<br />
Ausdrucksfähigkeit.<br />
Im Unterricht werden die entstandenen Arbeiten immer wieder<br />
ausgebreitet und diskutiert. Unterschiedliche Wahrnehmungsund<br />
Ausdrucksweisen werden sichtbar. Die Schüler reflektieren<br />
die eigenen und fremden gestalterischen Lösungen. Es geht um<br />
die Frage, ob etwas stimmt, ob es redundant ist oder zu simpel.<br />
Die Betrachtung der Resultate in der Gruppe führt dazu, Unterscheidungen<br />
zu machen zwischen Selbstgefälligem und Echtem.<br />
Die Schüler erfahren ihre Stärken und Grenzen und gewinnen<br />
Vertrauen in den eigenen bildnerischen Ausdruck. Das eigentliche<br />
Thema lautet also nicht: Gestalterisches Tagebuch oder Porträt,<br />
sondern vielmehr: Vertrauen können auf eigene, gute Lösungen.<br />
Vergleicht man die ersten und die letzten Arbeiten miteinander,<br />
ist eine starke Veränderung zu bemerken. Am Anfang wurde geübt<br />
das Gesicht/den Kopf zu erfassen. Mit der Verzerrung durch<br />
konvexe und konkave Gegenstände wie Büchse, Kaffeekrug, Löffel,<br />
Weihnachtskugel etc., dem Hinzuziehen eines Gegenstandes<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 38<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:16 <strong>Uhr</strong>
39<br />
Vermittelt<br />
in das Bild und dem Schneiden von Grimassen wurde die Darstellungsweise<br />
zunehmend mutiger, freier und mitunter expressiv in<br />
der Formulierung. Es entstanden keine sachlichen Naturstudien<br />
mehr. Die Schüler gewannen in ihren Arbeiten an Sicherheit im<br />
Ausdruck.<br />
Etappen / Arbeitsschritte<br />
Parallel wurden im Unterricht die Proportionen des Gesichtes/<br />
Kopfes studiert, das Erzeugen von Plastizität mittels Schraffur<br />
(Hell-Dunkel, Strichart, Strichstärke, Strichrichtung) wiederholt<br />
und ein Porträt in Acryl auf Leinwand erstellt (Ausgangspunkt<br />
war ein/e Künstler/in, der/die sich mit Porträts beschäftigte. Zur<br />
Auswahl standen z.B. Bruce Naumann, Alexej von Jawlensky, Giorgio<br />
de Chirico, Paula Modersohn-Becker). Aufgabenstellungen<br />
zum gestalterischen Tagebuch in ihrer zeitlichen Folge:<br />
1.<br />
2.<br />
3.<br />
4.<br />
5.<br />
6.<br />
7.<br />
8.<br />
9.<br />
Bilder aus Zeitschriften und Zeitungen sammeln.<br />
Proportionen erfassen: Gesicht in Frontalansicht aus der Bildersammlung<br />
wählen und abzeichnen oder eine Folie auf einen Spiegel<br />
legen und das eigene Gesicht in Frontalansicht auf die Folie zeichnen.<br />
Aus der Bildersammlung eine Fotografie suchen. Die Fotografie als<br />
Bleistiftzeichnung in Hell-Dunkel-Werte umsetzen.<br />
Gesicht in Dreiviertelansicht aus der Bildersammlung wählen. Mit<br />
einem schwarzen Filzstift Linien über das Gesicht zeichnen und so<br />
Vertiefungen und Wölbungen plastischer Formen verdeutlichen.<br />
Gesichtsabbildungen von gleicher Grösse in waagrechte Streifen (Haare,<br />
Augen, Nase etc.) schneiden. Streifen zu neuem Gesicht zusammenstellen.<br />
Das Gesicht soll in seinen Proportionen nicht verloren gehen.<br />
Umsetzung im Schwarz-Weiss-Kontrast: Anregung durch ein/e Künstler/in<br />
Selbstporträt und Verzerrung durch Büchse, Kaffeekrug, Löffel etc.<br />
Selbstporträt in Weihnachtskugel mit Gegenstand in der Hand, Gegenstand<br />
wichtiger als Person. Oder: Selbstporträt in Weihnachtskugel und<br />
Hintergrund einbeziehen, Hintergrund wichtiger als Person.<br />
Selbstporträt in Weihnachtskugel und Grimasse schneiden: a) Zeichnen<br />
aus der Beobachtung, b) Fotografieren, c) Umsetzen der Fotografie<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 39<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:16 <strong>Uhr</strong>
40<br />
Selbstporträt in Weihnachtskugel,<br />
Selbstporträt in Weihnachtskugel mit<br />
Gegenstand in der Hand, Selbstporträt in<br />
Weihnachtskugel und Grimasse schneiden.<br />
Bleistiftzeichnung, weisser Farbstift auf<br />
schwarzem Papier, Farbstiftzeichnung,<br />
Fotografie, Aquarell.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 40<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:17 <strong>Uhr</strong>
41<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 41<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:17 <strong>Uhr</strong>
42<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 42<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>
43<br />
Vermittelt<br />
6<br />
Lüthi Denise, Kantonsschule Beromünster, Langzeitgymnasium<br />
Von der schematisierten<br />
Zeichensprache zu neuen<br />
Formulierungen<br />
Linoldruck, Klasse 2A 22 Schüler, Klasse 2B 22 Schüler, Klasse 2C 23 Schüler, Grundlagenfach BG,<br />
Beteiligte Lehrpersonen: Sr. Beatrice Kohler und Denise Lüthi<br />
Ziele<br />
Der Beitrag will auf drei Punkte eingehen:<br />
1. Mediale, handwerkliche und technische Begriffe im Lehrplan bieten<br />
Gelegenheit für unterschiedliche inhaltliche Themen.<br />
2. Von der schematisierten Zeichensprache zu neuen Formulierungen.<br />
3. Die Möglichkeiten, die ein längeres Projekt (hier ein Semester) bietet.<br />
Artikulation<br />
1. Der Lehrplan Bildnerisches Gestalten der Kantonsschule Beromünster<br />
gibt im 2. Semester des 2. Schuljahres Untergymnasium den<br />
Linoldruck vor. Das technisch umrissene Thema, drei Parallelklassen<br />
und zwei Lehrpersonen bieten die Möglichkeit unterschiedlich<br />
vorzugehen und inhaltlich verschiedene Schwerpunkte zu setzen.<br />
Die Klasse 2C ist von Bildmaterial ausgegangen. In Zeitschriften<br />
und Zeitungen haben die Schüler Fotografien von Ski-, Snowboardfahrern,<br />
Eiskunstläufern etc. gesucht. Diese haben sie durchgepaust,<br />
räumlich richtig in den Blattraum eingefügt und mit einer<br />
entsprechenden Landschaft ergänzt.<br />
Die Klassen 2A und 2B sind von der eigenen Beobachtung ausgegangen.<br />
Von einem Hügel nahe der Kantonsschule Beromünster<br />
haben die Schüler die Silhouetten von Rigi, Pilatus, Titlis,<br />
Rothorn und von den Wäldern, Feldern und Häusern gezeichnet.<br />
Während die Klasse 2A einen Ausschnitt aus der gezeichneten<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 43<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>
44<br />
Landschaft nach eigenen Vorstellungen weiterentwickelte, machte<br />
sich die Klasse 2B in Partnerarbeit Gedanken über eine farbige<br />
Umsetzung der Landschaft.<br />
Weil sich die Schüler untereinander kennen und sich beim Hausaufgaben<br />
machen im BG-Zimmer treffen, erhalten sie Einblick in<br />
die jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen der einzelnen<br />
Klassen. Zu unserer Freude tauschten sie sich rege darüber aus.<br />
2. Kinder im Alter von <strong>14</strong> Jahren drücken sich oft noch mit einer<br />
vereinfachten Zeichensprache aus. Die Erfahrung, dass man sich<br />
mit Zeichen äussern kann, führte zu leeren Schemata, die aber<br />
allgemein verständlich sind. Unser Ziel war es, die Zeichensprache<br />
aus ihrer Schematisierung zu lösen. Die Beschränkung auf die<br />
Farben Schwarz und Weiss verhalf dazu. (Alle drei Klassen beschäftigten<br />
sich zuerst nur mit den Farben Schwarz und Weiss).<br />
Die Schüler suchten nach neuen Möglichkeiten zur Formulierung<br />
und gelangten zu eigenständigen Lösungen. Jede Druckgrafik ist<br />
Ausdruck derjenigen Person, die sie hergestellt hat. Die dazu benötigte<br />
Sprache der Ausdrucksmittel wurde laufend thematisiert:<br />
Linien zum Beschreiben von Formen, Strukturen zum Erstellen<br />
von Oberflächenbeschaffenheiten und Graustufen, Flächen, um<br />
das Bild zu ordnen.<br />
3. Das vertiefte Arbeiten über längere Zeit an einem Thema ermöglicht<br />
es, sich intensiv mit einem Inhalt zu befassen und den<br />
Gegenstand der Bearbeitung von verschiedenen Seiten her kennenzulernen.<br />
Durch Abwechslung in den angewandten Techniken<br />
(trotz Endprodukt Linoldruck), Abwechslung in den Tätigkeitsformen<br />
können verschiedene Kräfte und Temperamente der Schüler<br />
zum Zuge kommen.<br />
Arbeitsreihe über längere Zeit<br />
>> Landschaft beobachten und mit Bleistift linear zeichnen.<br />
>> Auf die Form von Landschaftselementen (Berge, Häuser, Bäume<br />
etc.) achten. Sie aus schwarzem Papier schneiden und auf weissem<br />
Grund gruppieren.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 44<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>
45<br />
Vermittelt<br />
>> Graustufen und Oberflächenbeschaffenheiten unterscheiden und<br />
mit schwarzen Filzstiften in grafische Zeichen ausdrücken .<br />
>> Eine Kopie einer Druckgrafik auf ein grosses Papier kleben. Nun<br />
das Bild mit schwarzen Filzstiften weiterzeichen und gemäss<br />
eigenen Ideen weitere Details hinzufügen.<br />
>> Für Figuren (Ski-, Snowboardfahrer, Eiskunstläufer etc.) eine<br />
passende Umgebung zeichnen und Räumlichkeit darstellen<br />
(Höhen-, Grössenunterschied, Überschneidung).<br />
>> Linol- und Holzschnitte von Künstlern anschauen und hinsichtlich<br />
der wesentlichen Ausdrucksmittel (Linie, Fläche, Struktur)<br />
besprechen.<br />
>> Fertigen von Entwürfen, bei denen mit einer gewissen<br />
Entschiedenheit ein Ausdrucksmittel, z.B. die Fläche, Vorrang hat.<br />
>> Um Material und Werkzeug kennen zu lernen, in ein kleines Stück<br />
Linoleum Linien, Flächen und Strukturen schneiden.<br />
>> Drucken der Linolplatte mit schwarzer Farbe auf weissem Grund<br />
und weisser Farbe auf schwarzem Grund, Wirkung überprüfen.<br />
>> Beim Drucken mit verschiedenen Papieren (Fliesspapier,<br />
Druckausschuss, Packpapier, Japanpapier) experimentieren.<br />
>> Landschaftsbilder aus der Kunstgeschichte zeitlich ordnen und<br />
beschreiben wie sich die Darstellung im Verlauf der Zeit verändert<br />
hat.<br />
>> Eine Folie oder ein transparentes Papier über ein Landschaftsbild<br />
(z.B. Caspar Wolf, Blick von der Kreuzegg über die<br />
Grimselpasshöhe (…), 1777/79) legen und passende Wörter an die<br />
Stelle schreiben, wo die Begriffe im Bild vorkommen. Es entsteht<br />
ein Wort-Bild.<br />
>> Landschaftsbilder aus der Kunstgeschichte betrachten und das<br />
Wetter, die Tages- oder Jahreszeit beschreiben.<br />
>> Eine schwarz-weisse Kopie eines Landschaftsbildes aus der<br />
Kunstgeschichte mit Farben bemalen. Dieses wird je nach<br />
Helligkeit und Farbwahl unterschiedlich wirken. Die farbige<br />
Reproduktion des Originals mit der eigenen Lösung vergleichen.<br />
Welche Farben wählte der Künstler Was drückt er mit der<br />
Farbwahl aus Wie wirken die Farben des eigenen Bildes<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 45<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>
46<br />
>> Eine selber erstellte lineare Landschaftszeichnung mit Farbstiften<br />
ausmalen und ein bestimmtes Wetter, eine bestimmte Tages- oder<br />
Jahreszeit ausdrücken.<br />
>> Ein Landschaftsbild (z.B. Cuno Amiet, Winterlandschaft, 1907)<br />
zu einer anderen Tageszeit oder im Frühling oder im Herbst<br />
vorstellen und malen.<br />
>> Ein Landschaftsbild in eine Collage umsetzen.<br />
>> Aus verschiedenen Farbpapieren zehn Farbtöne aussuchen, die zu<br />
einem bestimmten Wetter, einer bestimmten Tages- oder Jahreszeit<br />
passen.<br />
>> Experimentieren mit dem farbigen Überarbeiten von<br />
Druckgrafiken.<br />
>> Entwurf für einen mehrfarbigen Linolschnitt fertigen, indem man<br />
sich mit Farbstiften Klarheit über die Vorgehensweise schafft.<br />
>> Planen wie die Druckgrafiken der Klasse zu einer Ausstellung<br />
zusammengestellt werden können.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 46<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:18 <strong>Uhr</strong>
47<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 47<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:19 <strong>Uhr</strong>
48<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 48<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:19 <strong>Uhr</strong>
49<br />
Vermittelt<br />
7<br />
Nicole Eisler und Samuel Schütz, KS Enge Zürich<br />
Filmset<br />
Klasse N1c/W1f/W1e; HS 2007/<strong>08</strong><br />
Thema<br />
Modellieren eines erfundenen «Filmsets» (Landschaftsmodell)<br />
Artikulation/Ziele<br />
>> Erfindungsgabe der SchülerInnen sichtbar machen, sowohl textuell<br />
als auch real und räumlich umgesetzt.<br />
>> Modellieren einer fikitven Landschaft (ca. 20x20x10 cm ), die als<br />
«Anschauungsmodell» für Filmaufnahmen dienen könnte.<br />
>> Ausformulierung von Details (Autos, Bäume etc.), die für die<br />
Geschichte notwendig sind.<br />
>> Ca. 1 Seite erfundene Filmstory zum Set und anschliessendes<br />
Fotografieren des Sets mit Digitalkameras in einem abgedunkelten<br />
Raum (Lampen u.a. zum Beleuchten).<br />
Arbeitsschritte<br />
>> Ton -Modell entwerfen und detailliert, masstabgetreu ausführen.<br />
>> Text dazu erfinden; «crime-story, love-story» etc.<br />
>> Dramatisch, inszeniert fotografieren mit Kunstlicht.<br />
>> Text und Fotoausdrucke als «Beleg» für den Filmtake.<br />
Gestalterische-wahrnehmungsbezogene Erfahrungen (Erfahrungswissen)<br />
>> Räumliches Denken und Vorstellung; handwerklich/feinmotorisch.<br />
>> Imagination (Geschichte zum 3D-Set erfinden).<br />
>> Fotografische Dokumentation des Modells.<br />
>> Zusammenhang Text Bild – eine mehrschichtige Geschichte<br />
erfinden.<br />
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50<br />
Medien<br />
Ton, modellieren, schreiben, fotografieren.<br />
technische/mediale Vorraussetzungen<br />
Fotografisches Inszenieren: Beurteilen, wo die interessanten Ansichten<br />
und Details des Modells sind.<br />
Texte zu den Filmsets<br />
Unglück am Rheinwaldhorn von Chloé Berli<br />
Ich befinde mich im Moment über dem Gipfel des Rheinwaldhorns.<br />
Etwas Schreckliches hat sich in der letzen Stunde zugetragen.<br />
Ein Sportflugzeug, eine Cessna, stürzte mit voller Wucht auf<br />
eine Alp, die unterhalb des Berges liegt. Ein Unbekannter filmte<br />
mit seiner Natelkamera aus dem Fenster der gegenüberliegenden<br />
Bergbahn das schreckliche Geschehen.<br />
Ich sehe Bilder, welche meinen Puls auf Hochtouren bringen.<br />
Die Bahn fährt der Sonne entgegen, als plötzlich ein Schatten tief<br />
unten im Tal erscheint, der Schatten eines Flugzeugs. In einem<br />
rasanten Tempo fliegt es über die Bahn hinweg, es streift beinahe<br />
den Mast. Plötzlich bleibt es fast stehen, doch schon beschleunigt<br />
es und setzt zu einem Looping an, welcher mit einem senkrechten<br />
Sturz in die Tiefe endet. Einige Sekunden der Stille umhüllen die<br />
Berglandschaft, bis ein ohrenbetäubender Knall die Touristen aus<br />
ihrer Benommenheit reisst. Das Flugzeug knallt gegen die Felsen,<br />
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51<br />
Vermittelt<br />
wo es zersplittert, als bestünde es aus Glas. Das Sportflugzeug<br />
wurde von C.R.* geflogen. Leider verlor er bei diesem Unglück<br />
sein Leben. Der Pilot hinterlässt Frau und Kinder (*Name der Redaktion<br />
bekannt).<br />
Der Umweg zur Liebe von Chantel Furrer<br />
Anfang des 19. Jahrhunderts lebte die junge Frau Romina zusammen<br />
mit ihren Eltern in einem kleinen Dorf, das zwischen Bergen<br />
und Flüssen lag. Sie half ihrer Mutter oft zu Hause oder ging mit<br />
zum Markt, um ihr selber angepflanztes Gemüse zu verkaufen. Einen<br />
richtigen Beruf übte sie nicht aus, das störte sie aber überhaupt<br />
nicht.<br />
An einem sonnigen Tag am Markt fiel Romina plötzlich ein<br />
wunderschöner Bursche ins Auge. Durch sein freundliches Lächeln<br />
und seine stahlblauen Augen hatte er sofort ihr Herz Erobert.<br />
Romina hatte noch nie zuvor ein solches Gefühl im Bauch<br />
gehabt. Sie war total überwältigt. Doch als jemand anders vor ihrem<br />
Tisch stand, musste sie den Hübschen aus den Augen lassen,<br />
um ihre Ware weiter zu verkaufe.<br />
Ungefähr zwei Wochen später am Markt suchte Romina wieder<br />
nach diesem jungen Mann. Sie schaute nach links, nach rechts<br />
und als sie dann gerade aus blickte, fing ihr Herz sofort zu rasen<br />
an. Der Schönling starrte sie eine Weile an, bis er Romina<br />
ansprach: «Hallo, ich bin Manuel. Und wie ist Ihr Name, wenn<br />
ich Sie fragen darf» Voller Freude antwortete die hübsche Frau.<br />
Sie plauderten miteinander und verstanden sich von Anfang an<br />
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52<br />
prächtig. Fast den ganzen Tag verbrachten sie zusammen, bis es<br />
wieder Zeit wurde, nach Hause zu gehen.<br />
Von da an trafen sie sich an jedem Markttag, bis sie endlich ein<br />
Paar wurden und sich sogar noch öfters verabredeten. Jedoch war<br />
dies immer versteckt, denn ihre Eltern wussten noch nichts von<br />
dieser Beziehung. Romina hatte noch nie einen richtigen Freund<br />
gehabt und wusste also nicht, wie ihre Eltern reagieren würden.<br />
Die zwei Verliebten waren so glücklich miteinander. Ihr ganzes<br />
Leben wollten sie zusammen verbringen.<br />
Doch eines Tages musste Manuel ihr die schreckliche Nachricht<br />
mitteilen, dass seine Familie an das andere Ende der Brücke<br />
ziehen würde und er es nicht verhindern könne. Romina brach<br />
sofort in Tränen aus. Bedeutete das nun, sie könnten sich nicht<br />
mehr sehen und ihre Beziehung wäre vorbei Denn diese Brücke<br />
durfte man nur überqueren, wenn man einen hohen Betrag zahlte,<br />
der jedoch für normale Bauern unbezahlbar war.<br />
Einen anderen Weg gab es nicht, denn etwa 150 Meter unter<br />
der Brücke floss ein mächtiger Strom. Ausser man ging alles aussen<br />
herum, um die vielen Berge. Das war jedoch ein sehr weiter<br />
Weg und zu dieser Zeit gab es auch noch fast keine Transportmittel.<br />
Die arme Familie besass nicht einmal einen Esel.<br />
Wie man aber sicherlich weiss, tut man für die Liebe alles. Deshalb<br />
beschlossen Romina und Manuel zu heiraten und eine neue<br />
Familie zu gründen. Natürlich mussten sie zuerst ihre Eltern um<br />
Erlaubnis bitten. Da beide sehr aufrichtige und gescheite Menschen<br />
waren, wurde ihnen zugesagt und nun stand nichts mehr<br />
im Weg. Sie konnten glücklich den Rest ihres Lebens miteinander<br />
verbringen.<br />
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53<br />
Vermittelt<br />
Die Flucht von Fardin Javanmard<br />
Wir schreiben das Jahr 2523. Die Welt hat sich seit dem 21. Jahrhundert<br />
stark verändert. Die Welt liegt in Asche. Alles ist zerstört.<br />
Alles wurde zerstört. Nach dem Atomkrieg hat kaum jemand mehr<br />
Lust, Krieg zu führen, aber es wird trotzdem weitergekämpft,<br />
man hat keine andere Welt. Die neue dominante Spezies ist kein<br />
richtiges Lebewesen mehr. Es sind Maschinen, Roboter, die ursprünglich<br />
von Menschen gebaut wurden, um an ihrer Stelle in<br />
den Krieg zu gehen. Diese haben sich, als die künstliche Intelligenz<br />
erfunden wurde, gegen die Menschheit gestellt. Sie schossen sämtliche<br />
Atombomben auf die wichtigsten, grossen Städte der Welt;<br />
Washington DC, Los Angeles, New York, Paris, London, Tokio,<br />
Moskau, einfach alle. Das Pentagon ist ebenfalls vernichtet.<br />
3,5 Millionen Menschen starben dabei, weitere 500 Millionen<br />
starben später an radioaktiver Verseuchung. Die Menschen<br />
wurden alle gejagt. Keiner lebte mehr auf der Erde. Nur noch<br />
in Bunkern im Untergrund gibt es noch Leben. Man kann nicht<br />
flüchten, wohin denn auch, die Maschinen<br />
beherrschen ja schliesslich die ganze<br />
Welt. Schon lange denken die Menschen<br />
an eine Flucht ins Weltall. Überlebenschancen<br />
gibt es schon. Man hat ein Space<br />
Shuttle der ehemaligen persischen Weltraumfahrtbehörde<br />
FASA gefunden. Es ist<br />
ein Modell aus dem Jahr 2350, 10 Jahre<br />
vor der Revolution der Maschinen. Das<br />
Raumschiff ist zwar etwas alt, aber man<br />
kann es immer noch erneuern und aufpeppen.<br />
Genannt hat man das Raumschiff<br />
«Omid» (pers. «Hoffnung»). Es hat nur die Kapazität von<br />
50 Personen, 25 Männer und 25 Frauen. Es sind auserwählte<br />
Menschen, die geeignetsten. Mit einem modernen Hyperantrieb<br />
schafft das Raumschiff eine annähernde Lichtgeschwindigkeit. Es<br />
kann bis zu 295000 km/s fliegen. Das Ziel ist der Stern «Alpha<br />
Centauri». Dort gibt es einen Planeten mit intelligentem Leben.<br />
Wir, die Menschen, haben diesen Planeten und die Zivilisation<br />
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54<br />
dort im Jahr 2213 entdeckt. Damals besassen wir noch nicht die<br />
notwendige Technik dafür, es zu erreichen. Heute ist es endlich<br />
soweit. Sobald sie dort sind, werden sie Hilfe schicken. Bis die<br />
Hilfe da ist, dauert es etwa 20 Jahre, der Stern ist schliesslich 4,5<br />
Lichtjahre entfernt. Wir müssen noch etwa 20 Jahre durchhalten.<br />
Das Schiff «Omid» fliegt heute um 10:25 <strong>Uhr</strong> Ortszeit (MEZ)<br />
ab. Die Maschinen wissen nichts davon, aber egal was passiert,<br />
nachdem das Raumschiff gestartet ist, bleibt nichts anderes mehr<br />
übrig, als abzuwarten und auf Erfolg zu hoffen.<br />
Kratermonster von Muriel Hauser<br />
Man sagt, dass in dem grossen Krater ein riesiges Ungeheuer<br />
wohnt, doch gesehen hat es noch niemand.<br />
Von dem kleinen Dorf aus hört man es immer wieder brüllen.<br />
Doch die Einwohner des Dorfes hat es noch nie richtig gekümmert,<br />
was das Monster treibt. Doch<br />
in letzter Zeit wurde es immer unheimlicher.<br />
Immer wieder, wenn Leute ins Gelände<br />
spazieren gingen, kamen sie nicht<br />
mehr zurück. Es gab viele Vermisste und<br />
wenn man sie suchte, waren sie spurlos<br />
verschwunden.<br />
Das Dorf beschloss, gemeinsam zum<br />
grossen Krater zu gehen, denn wenn alle<br />
gemeinsam vorgehen, haben sie die besten<br />
Chancen.<br />
Und so kam es, dass sie eines frühen Morgens alle gemeinsam<br />
losgingen. Mit Fackeln in der Hand und warm eingepackt marschierten<br />
sie los. Sie gingen ganz leise und sprachen kein Wort, da<br />
sie dachten, das Ungeheuer würde sie so nicht bemerken.<br />
Als sie nun an die Kraterwand stiessen, die so steil und hoch<br />
war, überkam sie die Angst. Die einen rannten vor lauter Furcht<br />
zurück, doch einige Mutige rissen sich zusammen und begannen<br />
den Berg zu besteigen.<br />
Langsam ging die Sonne auf, doch die Hälfte der steinernen<br />
Wand hatten sie schon bestiegen. Nach zwei weiteren Stunden<br />
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55<br />
Vermittelt<br />
hörten sie plötzlich ein riesiges Gebrüll, das vom Innern des Kraters<br />
kam. Da, plötzlich kam am Rand des Kraters ein riesiger<br />
Kopf hervor. Er war hässlich und hatte rote Stacheln, die überall<br />
aus dem Kopf heraus ragten. Die Dorfbewohner nahmen ihren<br />
ganzen Mut zusammen, kamen aus ihrem Versteck hervor und<br />
schossen mit ihren Pfeilen auf den Kopf. Dieser verschwand wieder.<br />
Sie rannten nach oben an die Kante zum Abgrund und da<br />
sahen sie es: Das grosse Ungeheuer, das hilflos und ängstlich aussah.<br />
Und doch, die Leute waren sich sicher, dass es für all die<br />
Menschen, die vermisst wurden, verantwortlich ist. Also schossen<br />
sie mit ihren Pfeilen auf es und stachen mit den Schwertern<br />
gegen seinen Körper. Und da hörte man es: Der letzte klagende<br />
und schmerzvolle Schrei des Ungeheuers. Jetzt war es tot und alles<br />
war vorbei.<br />
Feindschaft von Michelle Liebhart<br />
Es war einmal ein kleines Dörfchen, umgeben von riesigen Bergen,<br />
die weit in die Höhe ragten. Doch eines Tages setzte überraschend<br />
eine starke Regenzeit ein. Es regnete so fest, dass richtige Wasserfälle<br />
von den Bergen flossen und ein Fluss entstand, der das Dorf<br />
in zwei Teile spaltete. Auf der einen Seite waren die Menschen<br />
stets glücklich, auf der anderen Seite sah man nie jemanden mit<br />
einem Lächeln auf dem Gesicht. So ging es weiter und die Feindschaft<br />
zwischen dem einst vereinten Dorf wurde immer grösser.<br />
Doch einige Jahre später liess das Schicksal eine noch stärkere Regenzeit<br />
aufkommen. Schlammlawinen und Überschwemmungen<br />
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56<br />
begannen, beide Teile des Dörfchens zu verwüsten. Erst jetzt, wo<br />
die Not gross war, merkten sie, dass sie nur gemeinsam stark waren<br />
und fähig, eine solche Katastrophe zu überwinden. Und wie<br />
die erste Regenzeit zu einer Teilung des Dörfchens geführt hat,<br />
führte diese es nun wieder zusammen.<br />
Wüstenstadt von Nico Bucklar<br />
Wind bläst durch die Gassen und um verfallene Häuserecken.<br />
Staub wirbelt wie ein Tornado durch die flimmernd heisse Luft<br />
und zerstört die Häuser mehr und mehr.<br />
Die Stadt ist total verlassen, eine Geisterstadt inmitten der Sahara.<br />
Doch dies war nicht immer so.<br />
Einst war an diesem Ort eine blühende Stadt gewesen, eine<br />
riesige Oase, Die Leute hatten Wasser, es ging ihnen gut und sie<br />
hatten ein relativ gutes Leben.<br />
Doch mit der Zeit trocknete die<br />
Oase langsam aber sicher aus. Als das<br />
Wasser definitiv zur Neige ging, entbrannte<br />
ein Streit, ja fast ein Krieg um<br />
das übrige Wasser zwischen den Bewohnern<br />
aus. Sie vertrieben sich und<br />
jagten sich gegenseitig davon, bis keine<br />
Menschenseele mehr übrig war, der<br />
letzte Tropfen Wasser verdunstete und<br />
die Natur eroberte den Ort Stück um<br />
Stück wieder zurück.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 56<br />
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57<br />
Vermittelt<br />
Das Traumpaar von Estelle Caveng<br />
Endlich ist es soweit: Der lang ersehnte Weihnachtsball steht vor<br />
der Tür. Schon ein ganzes Jahr freute ich, Karithlin, mich darauf.<br />
Mit meiner Freundin Marissa planten wir schon den ganzen<br />
Abend. Ryan und Seth sollten uns mit einer weissen Limousine<br />
abholen und direkt zum Ball fahren, ich und Seth würden den<br />
ganzen Abend zusammen tanzen und Marissa und Ryan auch. Sie<br />
würden sich in uns verlieben und um Mitternacht gäbe es dann<br />
den langersehnten Kuss…<br />
Doch da gab es ein Problem: Ryan und Seth waren die beliebtesten<br />
Jungs an unserer Schule, hatten beide eine superreiche,<br />
gutaussehende Freundin, also konnten wir sie eigentlich schon<br />
vergessen. Einen Tag vor dem Ball gingen wir in die Stadt, um ein<br />
Kleid zu kaufen. Also probierten wir alle Kleider, die uns gefielen,<br />
an. Zum Glück gab es zwei Dinge an uns, um die uns alle beneideten:<br />
Wir hatten eine Superfigur und unsere Bankkonten waren<br />
prall gefüllt. Wir kauften ein traumhaftes Kleid, fast zu schön,<br />
um wahr zu sein.<br />
Leider hatten wir nicht den Mut, Seth und Ryan zu fragen, ob<br />
sie mit uns zum Ball gingen, also entschlossen wir uns, ohne Partner<br />
zu hinzugehen. Alles war wie im Märchen… wunderschön.<br />
Wir passten mit unseren Kleidern genau hinein. Als ich mir gerade<br />
einen Drink an der Bar holen wollte, hörte ich eine Stimme hinter<br />
mir: «Wollen wir tanzen» Ich drehte mich um und sah Seth hinter<br />
mir stehen und lächeln…<br />
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58<br />
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59<br />
Vermittelt<br />
8<br />
Hanna Schmid, Gymnasium Untertrass<br />
Umsetzung eines<br />
expressionistischen<br />
Gedichtes in ein Bild<br />
Maturitätsprüfung Bildnerisches Gestalten<br />
In der Beilage zum Prüfungstext finden Sie drei expressionistische<br />
Gedichte (Sonette). Sie handeln vom Leben in der Großstadt beziehungsweise<br />
vom Arbeiten in der Fabrik.<br />
Der Mensch des Expressionismus empfindet diese Welt oftmals<br />
als chaotisch, als bedrohlich, der Natur entfremdet. Er erlebt in<br />
dieser Umgebung den Verfall von Individualität, Anonymität<br />
herrscht. Die Hektik und das Gedränge in der Stadt, die riesigen<br />
Maschinen in der Fabrik sind übermächtig.<br />
Die Überflutung mit Reizen spiegelt sich in den Gedichten wieder:<br />
flüchtig hingeworfene Eindrücke werden aneinander gereiht.<br />
Lesen Sie zuerst den ganzen Prüfungstext durch und wählen Sie<br />
dann das Gedicht, das Sie am meisten anspricht.<br />
1. Einstieg in den Text<br />
Lesen Sie Ihr Gedicht mehrmals aufmerksam durch. Machen Sie<br />
auf dem A-4 Blatt folgende Notizen:<br />
>> Welche Orte werden genannt<br />
>> Welche Dinge werden genannt<br />
>> Gibt es Geruchsassoziationen<br />
>> Werden Geräusche erwähnt<br />
>> Werden Farben erwähnt<br />
>> Gibt es andere Sinneseindrücke, die Ihnen auffallen<br />
>> Welche Stimmung(en) herrscht/herrschen vor<br />
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60<br />
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>><br />
Was zieht sich durch das ganze Gedicht Was hält es zusammen<br />
Weitere Auffälligkeiten<br />
Diese Notizen machen Sie in erster Linie für sich selber als Einstieg.<br />
Sie sollen lesbar sein und werden abgegeben. Sie geben somit<br />
dem Experten und mir Einsicht in Ihre Arbeitsweise. Es können<br />
auch Notizen in Form von kleinen Skizzen gemacht werden.<br />
>><br />
>><br />
Material:<br />
Schreibwerkzeug<br />
A-4 Blatt<br />
2. Umsetzung des Gedichtes in ein Bild<br />
Wie eingangs erwähnt, werden in diesen expressionistischen Gedichten<br />
Eindrücke aneinandergereiht. Auch Ihr Bild wird einerseits<br />
aus einzelnen Eindrücken bestehen. Es stehen Ihnen dazu<br />
neun Quadrate (10x10cm) zur Verfügung. So, wie das Gedicht<br />
aber auch ein Ganzes ist, sollen andrerseits Ihre neun Quadrate<br />
auch wieder ein Ganzes ergeben, eine Gesamtkomposition, das<br />
heisst, ein Quadrat von 30x30cm.<br />
Zum Vorgehen:<br />
Wie Sie vorgehen, ist Ihnen überlassen:<br />
>> Sie können die einzelnen Quadrate bearbeiten und dann eine<br />
Gesamtkomposition legen. So können Sie mit den Einzelteilen<br />
spielen, ausprobieren. Allenfalls nehmen Sie nachträglich noch<br />
Anpassungen vor.<br />
>> Sie können aber auch die Quadrate von Anfang an zusammenlegen<br />
und das Bild als Ganzes aufbauen.<br />
>> Es sind auch Mischformen denkbar.<br />
>><br />
>><br />
>><br />
Zur Technik:<br />
Folgendes Material steht zur Verfügung:<br />
9 Kartonquadrate 10x10cm<br />
Grundierungsfarbe<br />
Acrylfarben<br />
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Vermittelt<br />
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>><br />
>><br />
Zeitschriften zum Collagieren<br />
Leim und Leimpinsel<br />
Bleistifte<br />
Abgabe:<br />
Jedes einzelne Quadrat wird hinten lesbar mit Name und Vorname<br />
bezeichnet (nicht angeschrieben ist nicht bewertbar)<br />
Die Quadrate werden auf der Rückseite fortlaufend nummeriert<br />
von 1–9<br />
Die Schlusskomposition wird von mir zur Sicherheit fotografiert<br />
Alle Notiz-, Skizzen und Entwurfsblätter sollten, bezeichnet mit<br />
Ihrem Namen, ebenfalls abgegeben werden<br />
Bewertungskriterien:<br />
Erster Eindruck: Ist aus dem grossen Quadrat ersichtlich, welches<br />
der drei Gedichte bildnerisch umgesetzt wurde<br />
Komposition<br />
Farbigkeit<br />
Intensität der Auseinandersetzung<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 61<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:21 <strong>Uhr</strong>
62<br />
Georg Heym: Berlin Vlll<br />
Schornsteine stehn in grossem Zwischenraum<br />
Im Wintertag, und tragen seine Last,<br />
Des schwarzen Himmels dunkelnden Palast<br />
Wie goldne Stufe brennt sein niedrer Saum.<br />
Fern zwischen kahlen Bäumen, manchem Haus,<br />
Zäunen und Schuppen, wo die Weltstadt ebbt,<br />
Und auf vereisten Schienen mühsam schleppt<br />
Ein langer Güterzug sich schwer heraus.<br />
Ein Armenkirchhof ragt, schwarz, Stein an Stein,<br />
Die Toten schaun den roten Untergang<br />
Aus ihrem Loch. Er schmeckt wie starker Wein.<br />
Sie sitzen strickend an der Wand entlang,<br />
Mützen aus Russ dem nackten Schläfenbein,<br />
Zur Marseillaise, dem alten Sturmgesang.<br />
Quelle: http://deutsch.pi-noe.ac.at/literatur3/ex_stadt_vfg.htm<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 62<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:22 <strong>Uhr</strong>
63<br />
Vermittelt<br />
Paul Zech: Der Fräser<br />
Gebietend blecken weisse Hartstahl-Zähne<br />
aus dem Gewirr der Räder. Mühlen gehen profund,<br />
sie schütten auf den Ziegelgrund<br />
die Wolkenbrüche krauser Kupferspäne.<br />
Die Gletscherkühle riesenhafter Birnen<br />
beglänzt Fleischnackte, die von Öl umtropft<br />
die Kämme rühren; während automatenhaft gestopft<br />
die Scheren das Gestänge dünn zerzwirnen.<br />
Ein Fäusteballen hin und wieder und ein Fluch,<br />
Werkmeisterpfiffe, widerlicher Brandgeruch<br />
An Muskeln jäh empor geleckt: zu töten!<br />
Und es geschieht, dass sich die bärtigen Gesichter röten,<br />
das Augen wie geschliffene Gläser stehn<br />
und scharf, gespannt nach innen sehn.<br />
Quelle: 131 expressionistische Gedichte,<br />
Herausgegeben von Peter Rühmkorf, Wagenbach Berlin 1993<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 63<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:24 <strong>Uhr</strong>
64<br />
Paul Boldt: Auf der Terrasse des Café Josty<br />
Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll<br />
Vergletschert alle hallenden Lawinen<br />
Der Strassentakte: Trams auf Eisenschienen,<br />
Automobile und den Menschenmüll.<br />
Die Menschen rinnen über den Asphalt,<br />
Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.<br />
Stirne und Hände von Gedanken blink,<br />
schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.<br />
Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,<br />
Wo Fledermäuse, weiss, mit Flügeln schlagen<br />
Und lila Quallen legen – bunte Öle;<br />
Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen. –<br />
Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,<br />
Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.<br />
Quelle: http://hor.de/gedichte/paul_boldt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 64<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
65<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 65<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
66<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 66<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
67<br />
Vermittelt<br />
9<br />
Monika Lürkens, Kantonsschule Stadelhofen ZH<br />
Poesie aus meiner Hand<br />
– Märchen im Alltag<br />
Bildergeschichte-<br />
Bildersequenz–Comics<br />
Klasse 2afM, Bildnerisches Gestalten, Herbstsemester 20<strong>08</strong>/09<br />
Angaben zur Aufgabestellung<br />
Zeichnung – Illustration – Collage – Konturzeichnung – Tonwertzeichnung<br />
– Schwarz-Weiss-Bild – Mischtechnik – Malerisch –<br />
Zeichnerisch – Entwicklungsprozess – Bildüberarbeitungen<br />
In einem ersten Schritt machen Sie Skizzen und Zeichnungen von<br />
Ihren eigenen Händen, diese in verschiedenen Lagen, Positionen,<br />
Posen, Inszenierungen, wobei auch die unmittelbare Umgebung selektiv<br />
einbezogen wird. Als nächstes lassen Sie sich von bildlichen<br />
und inhaltlichen Assoziazionen leiten und machen weitere Skizzen,<br />
wobei Sie bereits mit verschiedenen Materialien zeichnen, malen,<br />
kleben, ... können. Dann erproben Sie verschiedene Bildausschnitte<br />
und die Veränderung der Bildaussagen mit Hilfe einer Bildmaske,<br />
mit der sich verschiedene Proportionen und Masse einstellen lassen.<br />
In einem dritten Schritt arbeiten Sie an der Stimmung des Bildes, die<br />
sich mit Farbgebung, hier vor allem aber auch mit den verwendeten<br />
Materialien und mit dem Einsatz von Hell und Dunkel als Tonwerte<br />
oder Schwarz und Weiss ändert. Von einem Bild werden so ca. 3<br />
Versionen erprobt, wobei Bildausschnitte und verschiedene Mischtechniken<br />
verwendet werden. Daraus wählen Sie ein Gestaltungskonzept<br />
aus und realisieren eine Bildsequenz von 2–3 Bildern.<br />
Bewertungskriterien:<br />
Idee/Inhalt, prozesshafte Bildarbeit, Gesamtwirkung Bildsequenz<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 67<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
68<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 68<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
69<br />
Vermittelt<br />
10<br />
Brigitte Bovo und Annette Bürgi<br />
Vom Schuh zum Gestiefelten<br />
Kater<br />
Beispiel einer Arbeitsreihe<br />
aus dem Atelier BiG<br />
Im Atelier BiG (siehe unten) arbeiten wir nach der Dreiheit wahrnehmen<br />
– vorstellen – umsetzen. In einer ersten Phase lassen wir<br />
über möglichst viele Sinne erleben: Wir schauen, hören, riechen,<br />
schmecken, tasten und handeln – je nach Aufgabenstellung. Das<br />
über unsere Sinne Wahrgenommene findet Ausdruck in ersten<br />
inneren Bildern, die sich mit unserem Vorwissen und unseren<br />
Erfahrungen verbinden. Diese Vorstellungen, die nun vielleicht<br />
verändert, variiert oder erweitert sind, werden in Form von Zeichnungen,<br />
Malereien und dreidimensionalen Arbeiten umgesetzt. In<br />
unseren Lektionen findet ein ständiger Wechsel statt zwischen<br />
Wahrnehmen, Vorstellen und Umsetzen. Bei dieser prozesshaften<br />
Arbeitsweise kommt das Kind zu neuen bildnerischen Erkenntnissen.<br />
Vom Schuh ...<br />
bg01: Nachdem die Schülerinnen und Schüler ihren eigenen<br />
Schuh als Schattenriss erkannt haben, wählen sie einen Schuh<br />
mit prägnanter Form aus und schneiden davon das Schattenbild.<br />
Die Form entpuppt sich als ziemlich schwierig, sodass sie sich mit<br />
immer neuen Wahrnehmungsübungen an die Form herantasten:<br />
Schuhform und Schattenriss miteinander vergleichen, Merkmale<br />
besprechen, ausmessen, Schuhform mittels Klebband ins Format<br />
einpassen und Horizontale und Vertikale bezeichnen.<br />
Sie zeichnen auch die Umrisslinien, wobei sie Negativformen<br />
und Richtungen beachten. Oder sie tasten sich zeichnend aus dem<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
70<br />
Fleck vom Rand her an die Form heran. In einem zweiten Schritt<br />
schneiden sie einen weiteren Schattenriss und vergleichen ihn mit<br />
dem früher entstandenen. Beim Besuch des Bally Schuhmuseums<br />
in Schönenwerd setzen wir uns mit dem sozial- und kulturgeschichtlichen<br />
Hintergrund des Fusswerkes von der Antike bis<br />
heute auseinander. In einer ersten Standortabklärung zeichnen die<br />
Kinder den eigenen Schuh aus der Erinnerung. Nachdem sie die<br />
verschiedenen Teile des Schuhs bezeichnet haben (Vorwissen abrufen),<br />
heften sie Zettel mit Fachbegriffen an die entsprechenden<br />
Stellen (Rahmen, Schaft, Kappe, Lasche oder Zunge, Zierlöcher<br />
usw.). Nun zeichnen sie ihren Schuh noch einmal (Standortabklärung<br />
2), diesmal aber seitenverkehrt im Profil.<br />
lbg<strong>02</strong>: Eine Menge Kunstpostkarten zum Thema liegen ungeordnet<br />
nebeneinander. Ohne Worte gruppieren sie die Kinder nach eigenen<br />
Kriterien (Foto, dreidimensional, sieht wie echt aus, usw.).<br />
Erst im Nachhinein wird über die Ordnungen gesprochen und<br />
notfalls verändert.<br />
lbg03 und lbg04: Jedes Kind stellt einen zweiten und dritten Schuh<br />
zum ersten hin, sodass sich eine spannende Situation ergibt. Was<br />
heisst aber: eine spannende Komposition mit drei Schuhen Wir<br />
diskutieren die Fragestellung und verändern die je eigene Komposition<br />
nach den Begriffen: viel-wenig, vorne-hinten, oben-unten,<br />
angeschnitten, überschnitten-verdeckt, paarweise beieinander, alles<br />
kreuz und quer. Nun vergrössern die Schülerinnen und Schüler<br />
ihr Format mit zusätzlichem Papier und zeichnen ihre Schuhe nach<br />
Anschauung.<br />
lbg05: Schnelle Zeichner erweitern ihr Format beliebig. Wir erzählen:<br />
«Verspätete Schüler sind ins Schulhaus gestürmt und<br />
haben ihre Schuhe in die Ecke geworfen. Nach dem Unterricht<br />
müssen die zusammenpassenden Schuhe zuerst gesucht werden.<br />
So ein Schuhsalat!» Zu den bereits gezeichneten Schuhen werden<br />
weitere gestellt und gezeichnet. Räumliche Angaben können individuell<br />
ergänzt werden. Die Schülerinnen und Schüler stellen ihre<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 70<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
71<br />
Vermittelt<br />
Schuhkomposition zur Türe, zum Stuhl, Kasten..., beobachten die<br />
Umgebung und ergänzen sie zeichnerisch, je nach Alter nach Anschauung<br />
oder aus der Vorstellung.<br />
lbg06: Als Zwischenarbeit beschäftigen sich die Kinder mit der<br />
Binnendifferenzierung ihres Schattenbildes. Aus verschiedenen<br />
Grau- und Brauntönen schneiden sie die Einzelteile des Schuhs<br />
und gestalten eine Collage.<br />
lbg07–lbg10: Die Schülerinnen und Schüler können wählen, ob<br />
sie einen Schuh nachbauen oder einen für einen bestimmten Menschentyp<br />
wie Ritter, Schlossfräulein, Clown, Bergsteiger usw. entwerfen<br />
wollen. Mit Papier, Scotch und Bostitch gehen sie an die<br />
Arbeit. In jedem Fall soll die Funktion des Schuhs sichtbar sein:<br />
Man kann ihn anziehen, er schützt den Fuss und man kann damit<br />
gehen. In der Auseinandersetzung mit dem Schuhmodell wird<br />
die Begrifflichkeit (Schaft, Kappe usw.) ganz selbstverständlich<br />
angewendet.<br />
... über die Katze ...<br />
bg11: Die Kinder tasten unter einem Tuch verschiedene Spieltiere<br />
und erraten anhand der typischen Kennzeichen, um welches Tier<br />
es sich handelt. Auch setzen sie aus Puzzleteilen die Positiv- und<br />
Negativform einer Katze zusammen.<br />
lbg<strong>12</strong> und lbg13: Das Schattenbild der Katze wird als Positiv- und<br />
Negativform aus dem Fleck erarbeitet, mal ganz klein, dann wieder<br />
in grossem Format.<br />
lbg<strong>14</strong>: Wie ein Bildhauer modellieren die Schülerinnen und Schüler<br />
aus dem Block heraus eine Katze nach Anschauung. Wir arrangieren<br />
weitere Übungen: Ein lineares Bild der Katze, das auf den<br />
Kopf gestellt ist, decken wir langsam auf, währenddem die Kinder<br />
gleichzeitig die Umrisslinien zeichnen. Gemeinsam schauen wir<br />
das Skelett an und überlegen uns, wie die Gelenke funktionieren.<br />
Wir wollen die Bewegungsabläufe verstehen. Daraufhin werden<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 71<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
72<br />
Gelenke, Schnurrhaare und Augen in die lineare Zeichnung eingefügt.<br />
lbg15–lbg22: Im Tierschutzheim haben wir die Möglichkeit, vor<br />
dem lebenden Tier zu zeichnen.<br />
... und die Landschaft ...<br />
lbg23–lbg25: Anhand von Kunstpostkarten zu Landschaft<br />
thematisieren wir Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Die Kinder<br />
erzählen sich gegenseitig einen imaginären Weg durch eine<br />
Kunstpostkarten-Landschaft und reissen anschliessend die verschiedenen<br />
Schichten in verschiedenen Grautönen. Diese Übung<br />
wiederholen sie mit farbigem Papier in der freien Natur entlang<br />
der Aare, bevor sie dieselbe Situation auch mit Farbe und Pinsel<br />
malerisch umsetzen.<br />
lbg26: Um die raumbildenden Mittel zu verstehen, ordnen die Kinder<br />
verschieden gross kopierte Motive wie Baum, Hund, Mensch<br />
und Zelt auf einem Blatt so zueinander, dass eine zusammenhängende<br />
Landschaft entsteht.<br />
... zum Gestiefelten Kater<br />
Unser Ziel ist es, den gestiefelten Kater aufrecht mit dem Säcklein<br />
über der Schulter durch die Felder und Wiesen zum Schloss wandernd<br />
zu malen.<br />
lbg27 und lbg28: Nachdem sich die Kinder mit dem Märchen<br />
vertraut gemacht haben, spielen sie die Szene: Sie schnüren ihre<br />
Säcklein an Stecken und machen sich auf den Weg zum Schloss.<br />
Dann skizzieren sie Säcklein und Stiefel nach Anschauung, bevor<br />
sie ans Zeichnen einer aufrechten Katze gehen. Dazu dürfen sie jederzeit<br />
Bildmaterial und die ausgestopfte Katze im Nebenzimmer<br />
anschauen gehen, gezeichnet wird aber nach ihren verinnerlichten<br />
Bildern.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
73<br />
Vermittelt<br />
lbg29 und lbg30: Während dem eigentlichen Malprozess setzen<br />
wir uns immer wieder mit konkreten Fragestellungen auseinander.<br />
Wie kann ich das Fell der Katze wiedergeben Wie kann<br />
ich zeigen, dass der Weg zum Schloss durch Wiesen und Hügel<br />
führt Dass es noch eine geraume Weile dauern wird, bis ich beim<br />
Schloss angelangt bin Wir streuen also immer wieder Wahrnehmungsübungen<br />
ein. So tasten die Kinder Fell und versuchen, mit<br />
verschiedenen Werkzeugen Fellstrukturen umzusetzen.<br />
lbg31–lbg33: Wir schauen anhand von Kunstpostkarten unterschiedliche<br />
malerische Lösungen von Blättern, Wiesen, Hügeln<br />
und Bergen an und fragen uns, woher das Licht kommt, welche<br />
Farbe der Schatten hat. Wir ermutigen die Schülerinnen und Schüler<br />
immer wieder, nach eigenen Lösungen zu suchen.<br />
Die dokumentierte Arbeitsreihe erstreckte sich über einen Zeitraum<br />
von 5 Monaten, in unserem Fall bedeutet das 15 Nachmittage<br />
zu 3 Lektionen.<br />
Das Atelier Bildnerisches Gestalten, kurz das Atelier BiG, ist ein<br />
Förderangebot des Departements Bildung, Kultur und Sport des<br />
Kantons Aargau, das im Rahmen der Begabungsförderung von<br />
der Sektion Unterricht realisiert und finanziert wird.<br />
Im Atelier BiG werden Kinder mit hoher Begabung, überdurchschnittlicher<br />
Kreativität und Bereitschaft zu besonderen<br />
Herausforderungen ergänzend zum Schulunterricht im räumlichvisuellen<br />
Bereich gefördert. Wahrnehmungsschärfung und gestalterische<br />
Eigentätigkeit stehen im Vordergrund. Es richtet sich an<br />
Schülerinnen und Schüler von der 3. Primarschulklasse bis zur 4.<br />
Oberstufe. Weitere Informationen sind auf www.ag.ch/bf/de/pub/<br />
regionale foerderangebote/atelier big.php zu finden.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 73<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:25 <strong>Uhr</strong>
74<br />
Vom Schuh… lbg01<br />
lbg<strong>02</strong><br />
lbg03 bis lbg05<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 74<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:26 <strong>Uhr</strong>
75<br />
Vermittelt<br />
lbg06<br />
lbg07 bis lbg10<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 75<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:27 <strong>Uhr</strong>
76<br />
… über die Katze… lbg11<br />
lbg<strong>12</strong> bis 13<br />
lbg<strong>14</strong><br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 76<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:27 <strong>Uhr</strong>
77<br />
Vermittelt<br />
lbg15 bis lbg22<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 77<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:28 <strong>Uhr</strong>
78<br />
…und die Landschaft… lbg23 bis lbg26<br />
… zum Gestiefelten Kater… lbg27 bis lbg28<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 78<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:29 <strong>Uhr</strong>
79<br />
Vermittelt<br />
lbg29 bis lbg30<br />
lbg31 bis lbg33<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 79<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>
80<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 80<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>
81<br />
Vermittelt<br />
11<br />
Regula Stücheli<br />
Masken: Gestalten und<br />
Spielen<br />
Die Maske als Instrument zur Artikulation des Ich<br />
Allgemein bezeichnet der Begriff «Artikulation» die Ausdrucksformen<br />
des Menschen. Der «Maskenkurs: Gestalten und Spielen»<br />
1 ist ein Beispiel kunstpädagogischer Praxis ausserhalb der<br />
obligatorischen Schulzeit. Den Kindern wurden Materialien und<br />
Methoden zur Verfügung gestellt, um sich als Individuum in der<br />
Gruppe ausdrücken zu können.<br />
Der interdisziplinäre Kurs organisiert vom Schul- und Sportdepartement<br />
der Stadt Zürich fand im April 20<strong>08</strong> an 5 Tagen,<br />
während 6 Stunden mit Pausen und einem Picknick über Mittag<br />
statt. 13 Schülerinnen und Schüler, ab dem dritten bis zum siebten<br />
Schuljahr, haben daran teilgenommen. Von der Idee bis zum<br />
Gebrauch haben die Kinder ihr Maskenobjekt selber gestaltet, wo<br />
nötig mit meiner Hilfe.<br />
Bezug nehmend auf das Thema «Artikulationsformen» lässt sich<br />
folgende These formulieren: Das Kind gestaltet seine Maske und<br />
produziert damit eine neue Identität. Das «Ich» artikuliert sich anhand<br />
eines Maskenobjektes, wie ein Instrument das gespielt werden<br />
kann. Dieser Prozess hat im «Maskenkurs: Gestalten und spielen»<br />
stattgefunden und wird im Folgenden genauer beschrieben.<br />
Einführung und Entwurf<br />
Bevor die Kinder ihre Idee für die Maske entwickelten, führte<br />
ich sie in das kulturgeschichtliche Thema ein. Am ersten Kurstag<br />
betrachteten wir Bildmaterial aus Büchern, z.B. die Masken der<br />
Inuit. Ich erzählte den Kindern von den Ritualen der Inuit, so dass<br />
sie die Bedeutung der Masken und die Rolle der Schamanen im<br />
Überlebenskampf der Naturvölker erahnen konnten. Beispiel: Ein<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 81<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>
82<br />
Schamane der Inuit trägt in einem Ritual die Maske «Negafok»<br />
und kann so angeblich «den Geist der kalten Zeit» besänftigen. 2<br />
Als Überleitung zum Bemalen des eigenen Gesichtes betrachteten<br />
wir verschiedene Figuren der Peking Oper. Wohl, weil sich die<br />
meisten Kinder zu Beginn der Woche nicht kannten, wollten sie<br />
ihre Gesichter nicht anmalen. Am zweiten Kurstag besuchten wir<br />
das Rietbergmuseum. Dort zeichneten die Kinder Abbilder der No-<br />
Masken und afrikanische Masken – mit Bleistift auf Papier. Nach<br />
der theoretischen Einführung zum Thema Masken kam die Entwurfsphase:<br />
Am dritten Kurstag stellte ich den Kindern die Frage<br />
nach dem Gedankenbild, dem Noema ihrer Maske, und forderte<br />
sie auf, den Satz «Ich wollte ich wär…» weiterzudenken. Nachdem<br />
sie ihre Ideen im <strong>Heft</strong> 3 skizzenhaft entwickelt und festgehalten haben,<br />
wussten die meisten wie ihre Maske aussehen sollte.<br />
Produktion und Maskenspiel<br />
Die Kinder modellierten das Tonmodell ihrer Maske. Über den<br />
geformten Ton legten sie nachher eine dünne Plastikfolie, worauf<br />
sie schichtweise Papierfetzen mit Fischkleister aufeinander<br />
klebten. 4 Nachher folgte das Abnehmen der Pappmaché-Schicht<br />
vom Tonmodell. Diesen Schritt erlebten wir «wie eine Geburt» 5 :<br />
Das Hervorbringen einer selbst kreierten Identität. Von diesem<br />
Moment an, können die Kinder ihr Gesicht hinter der Maske verstecken,<br />
sich in ein anderes Wesen verwandeln. Ihr Gedankenbild<br />
wird zum realen, begreifbaren Objekt. Die Rohlarve musste nur<br />
noch bemalt und mit Haaren aus Fell, Wolle, Schnur und Perlen,<br />
Augen etc. ausstaffiert und geschmückt werden.<br />
Die dritte Phase des Prozesses war dem Maskenspiel gewidmet.<br />
Die Kinder wurden aufgefordert, ihre Masken zum Klingen, Sprechen,<br />
Kämpfen, Singen, Spielen und Tanzen zu bringen. Die Masken<br />
stellten Clowns, Hexen, Waldgeister und abstrakte Gesichter<br />
dar. Durch die Bewegung und die Artikulation der Stimme, durch<br />
Musik und Tanz wurden sie zu lebenden Maskengestalten. Die<br />
performativen Ausdrucksformen führten den Gestaltungsprozess<br />
der eigenen Maske über den handwerklichen Entstehungsprozess<br />
des Maskenobjektes hinaus.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 82<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>
83<br />
Vermittelt<br />
Das Objekt zur Artikulation des Individuums, hier die Individualität<br />
der Kinder, ist die Maske. Ähnlich dem Instrument eines<br />
Musikers, der seine individuelle Empfindung durch die Interpretation<br />
des Musikstückes zum Ausdruck bringt, flossen die Empfindungen<br />
der Kinder in das Maskenspiel ein: Wie sie sich fühlen,<br />
was sie aufzeigen möchten, wie sie sein möchten. Z.B. Drei<br />
Freundinnen wollen als solche wahrgenommen werden, weshalb<br />
sie Masken gestalten, die ähnlich aussehen. (Mehr dazu im Abschnitt<br />
«Performance»).<br />
Im gemeinsamen Spiel steigerte die Maske die Wahrnehmung und<br />
Ausdrucksfähigkeit der Kinder. Durch das Verstecken der persönlichen<br />
Identität hinter der Maske, dem gestalteten Anderen,<br />
und im Zusammenspiel mit anderen Maskenwesen verschwanden<br />
Hemmungen und idealerweise auch Verhaltensmuster. Die Kinder<br />
wurden ermutigt, etwas Neues auszuprobieren. Sie konnten<br />
sich selbst neu oder anders erleben, eine neue Identität produzieren.<br />
Dieses Erlebnis teilten sie mit den Zuschauern, ihren Eltern,<br />
Freunden und Geschwistern.<br />
Tanz und Musik<br />
Um der Bewegung und dem Tanzen den Aspekt einer natürlichen<br />
Selbstverständlichkeit zu geben, ermutigte ich die Kinder in Arbeitspausen,<br />
bereits während des handwerklichen Entstehungsprozesses<br />
der Maske, ihre Körper von den Rhythmen einer afrikanischen<br />
Musik-CD in Schwingung bringen zu lassen. Ich forderte<br />
sie zum Tanz auf. Die einen sahen das als lustige Auflockerung;<br />
andere, vor allem Knaben, wehrten sich dagegen. Sie wollten nicht<br />
mittanzen. Wer seine Widerstände überwinden wollte, den lehrte<br />
ich einfache Bewegungsabläufe. In der Improvisation entwickelten<br />
wir ein kleines Tänzchen, das wir dann am Anfang der Aufführung<br />
am Freitag Nachmittag dem Publikum vorführten und dem<br />
wir den Namen «Sonnentanz» gaben.<br />
Die zwei Knaben und ein Mädchen, die nicht tanzten, stellten<br />
sich als Musiker zur Verfügung. Mit Pinsel- und anderen Stielen<br />
trommelten sie auf umgestülpte Plastikbecken und Eierkartons.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 83<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>
84<br />
Performance<br />
Wir probten am letzten Kurstag, kurz vor der Aufführung. Wo<br />
nötig spielte ich die Regisseurin, gab kurze Feedbacks; laut reden<br />
kann für Kinder ganz schön schwierig sein!<br />
Die Aufführung fand am Freitag Nachmittag, draussen auf<br />
dem Pausenplatz statt. Das eingeladene Publikum ist zahlreich<br />
erschienen. Plötzlich ging die Türe des Schulhauses auf. Laut ertönte<br />
die Trommelmusik. Die Maskengestalten kamen eine nach<br />
der anderen und stellten sich zwischen den Trommlern vor dem<br />
Publikum in eine Reihe. Der «Sonnentanz» begann. Je zwei bis<br />
drei Minuten dauerten jeweils die von den Kindern gespielten<br />
Stücke. Den Text für das Zusammenspiel verschiedener Figuren<br />
im Maskenspiel haben sie selber erfunden.<br />
Zuerst kam die «Politikerklinik», in der «Micheline Calmy-Rey<br />
den armen Herr Blocher schön auf das Glatteis führt» 6 . Die Erzählerin<br />
hat den Maskengestalten ihre Rolle gegeben, durch die<br />
Nennung der Namen von bekannten Politikerpersönlichkeiten.<br />
Micheline Calmy-Rey musste plötzlich gebären. Herr Blocher hatte<br />
neben einem Hautausschlag und den zuckenden Bewegungen<br />
auch noch das Bein gebrochen und auch Herr Leuenberger und<br />
Herr Mörgeli spazierten mit zuckenden Bewegungen umher. Es<br />
bestand keine Ähnlichkeit zu den realen Personen. Z.B. wurde<br />
Herr Mörgeli von einer Clownmaske und Herr Leuenberger von<br />
einem Waldgeist gespielt. Die Schauspielerinnen trugen Masken,<br />
die durch ihre frischen Farben eher an die Fasnacht erinnerten<br />
als an den Bundesrat. Dennoch machte wahrscheinlich gerade die<br />
absurde Vermischung zweier Realitätsebenen den Reiz der Sache<br />
aus. Witzig und pointiert erzählte eine Schauspielerin den erfundenen<br />
Text. Die anderen spielten ihre Rolle mit übertriebenen Bewegungen.<br />
Das Publikum lachte.<br />
Das zweite Stück wurde von drei Mädchen gespielt. Sie haben sich<br />
gemeinsam für den Maskenkurs angemeldet und sind befreundet.<br />
Wie bereits erwähnt, haben alle drei ähnliche Masken gestaltet;<br />
einen an traditionelle Appenzeller Fasnachtsmasken erinnernden<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 84<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:30 <strong>Uhr</strong>
85<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 85<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:31 <strong>Uhr</strong>
86<br />
Maskentyp. Sie spielten, teils mit Arabertüchern umhüllt, eine<br />
freundschaftliche Begegnung dreier Figuren, die nach der richtigen<br />
Bezeichnung für ein kleines Ding suchen. Am Anfang reden zwei<br />
der Figuren auf dem Boden sitzend in Kauderwelsch miteinander<br />
und wetteifern später im Stehen mit rhythmischen Wortfolgen:<br />
«mischermän, zischermän, pischermän... zi-zi-zischermän mi-mimischermän...»<br />
Bis die dritte Figur dazustösst und das gesuchte<br />
Etwas, eine kleine Dose mit der Aufschrift «Fisherman» aus dem<br />
Hosensack hervorholt. Ein Aha-Erlebnis folgt und die Schauspielerinnen<br />
sprechen im Chor das gesuchte Wort laut aus.<br />
Das dritte und letzte Stück wurde von zwei Mädchen aufgeführt,<br />
die sich kurz vor der Aufführung spontan zusammengefunden<br />
haben. Mit unterschiedlichen, aber auffallend schönen Masken,<br />
spielten sie eine Begegnung von zwei Figuren. Beide Mädchen waren<br />
in schwarz gekleidet 7 . Zuerst gingen sie von beiden Seiten des<br />
Bühnenraumes her kommend aufeinander zu und trafen sich in<br />
der Mitte, wo sie sich begrüssten. Die eine Figur zeigte der anderen<br />
ihre schöne Kette, worauf diese meinte, so eine hätte sie<br />
auch gerne. Nach dieser Bemerkung verabschiedeten sie sich und<br />
gingen auseinander. Kurz darauf kam die Besitzerin der Kette triumphierend<br />
dahergehüpft. Sie sang: «E-i-n-e s-c-h-ö-n-e K-e-t-t-e,<br />
la la la…» ihren Schatz mit den Händen in die Höhe haltend. Die<br />
Freude war von kurzer Dauer, denn unbemerkt näherte sich die<br />
andere Figur und nahm ihr die Kette aus den Händen. Worauf<br />
diese jammerte und weinte. Bald darauf kam die Diebin wieder<br />
zurück und gab ihr, sich entschuldigend, die Kette zurück.<br />
Das Publikum applaudierte. Die Performance war am Ende<br />
und somit auch der intensiv erlebte 8 Ferienkurs. Ich habe die mit<br />
den Kindern gemeinsam verbrachte Zeit sehr genossen. Ihre sprudelnde<br />
Kreativität hat Form angenommen. Stolz durften alle zum<br />
Schluss ihre Maske nach Hause tragen.<br />
Schluss<br />
Wenn ich heute, mit grösserer Distanz, die Videodokumentation<br />
der Aufführung ansehe, fällt mir auf, wie die Masken nicht<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 86<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:31 <strong>Uhr</strong>
87<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 87<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:32 <strong>Uhr</strong>
88<br />
im Hinblick auf einen bestimmten Text, eine Figur oder Szene,<br />
gestaltet worden sind. Dies im Unterschied zu den meisten Maskenbräuchen,<br />
wie die Fasnacht. Und im Unterschied zum Theater,<br />
wo die Bedeutung der Figuren, Masken oder Rollen meistens im<br />
Voraus festgelegt wird. Mit ihrer Phantasie haben die Kinder eine<br />
Maske und später eine Figur geschaffen. Von einer bildhaften Idee<br />
ausgehend haben sie ihre Maske gestaltet. Meiner Meinung nach<br />
hat dieses Vorgehen, zuerst die Maske und dann den Text für das<br />
Zusammenspiel, eine künstlerische Qualität ermöglicht: Die Maskengestalten<br />
waren phantasievoll, kindlich kreativ. Und die Kinder<br />
wirkten während dem Maskenspiel auffallend unbefangen.<br />
Wahrscheinlich, weil sie die Stücke zur Hauptsache in Eigenregie<br />
erfunden und entwickelt haben. Die Atmosphäre während der<br />
Performance war lustvoll und wirkte authentisch.<br />
Das Vorgehen «Masken gestalten und spielen» ermöglichte den<br />
Kindern fürs Maskenspiel eine Figur oder Identität zu schaffen,<br />
die nicht mit dem Noema der Maske identisch war. Am besten ist<br />
dieser Aspekt beim Stück «Politikerklinik» nachvollziehbar. Auf<br />
der visuellen Ebene waren weder die Schauspielerinnen noch die<br />
Bundesrätin und Bundesräte erkennbar. Die Freundinnen wurden<br />
zu fast identischen Figuren usw. Die Maske ermöglichte den Kindern,<br />
in die Rolle von jemand anderem zu schlüpfen. Aus dieser<br />
Freiheit heraus, wurden die drei unterschiedlich prägnanten<br />
Stücke geschaffen.<br />
Der beschriebene Gestaltungs- und Darstellungsprozess bestätigt<br />
somit die These:<br />
Das Kind gestaltet seine Maske und produziert eine neue Identität.<br />
Die Maske ist ein Objekt, wie ein Instrument, das gespielt<br />
werden kann: Das «Ich» artikuliert sich anhand eines Maskenobjektes<br />
und kann sich vorübergehend neu definieren.<br />
Biografie: Regula Stücheli, (geb. 1963), Kunstpädagogin/Künstlerin an Schulen und freischaffend<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 88<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:32 <strong>Uhr</strong>
89<br />
Vermittelt<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Titel der Kursausschreibung<br />
2<br />
«Eskimomasken aus Alaska», S. 182f, Edition Amez, Saint-Vit (France), 1993<br />
3<br />
Die Skizzenhefte wurden von den Kindern am Anfang des Kurses selber hergestellt.<br />
4<br />
Dieses vereinfachte skulpturale Vorgehen, ohne Negativform, ist für Maskenarbeiten mit<br />
Kindern empfehlenswert.<br />
5<br />
Diese Aussage der Kursleiterin wurde von mehreren Kursteilnehmern spontan aufgegriffen<br />
und wiederholt angewendet.<br />
6<br />
Aussage der Erzählerin am Schluss des Stückes<br />
7<br />
Die Kostüme haben die Kinder am letzten Kurstag von zu Hause mitgenommen.<br />
8<br />
Die Feedbacks der Eltern und Kinder waren positiv bis begeistert.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 89<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:32 <strong>Uhr</strong>
90<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 90<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:32 <strong>Uhr</strong>
91<br />
Vermittelt<br />
<strong>12</strong><br />
Katja Büchli<br />
Was bleibt Was bleibt.<br />
Forschende Diplomarbeit zu Erinnerungen an<br />
ästhetische Erfahrungen.<br />
Fragestellung<br />
Was bleibt, wenn der Unterricht zu Ende ist, die Schülerinnen und<br />
Schüler sich wieder im Meer der vielen gymnasialen Fächer bewegen,<br />
wenn neue Eindrücke, neues Wissen, der Alltag – essen,<br />
schlafen, laufen, schauen, sprechen, trinken, kochen, lieben – die<br />
gemachten ästhetischen Erfahrungen überlagern<br />
Die Vorüberlegungen zu einer Unterrichtseinheit sind oftmals<br />
sehr reichhaltig und komplex und die Lernziele hoch gesteckt. In<br />
meiner Diplomarbeit an der pädagogischen Hochschule in Bern<br />
am Institut Sek II interessierte mich: Was wirkt nach Welche Bilder,<br />
Erinnerungen, Assoziationen sind auch noch Wochen später<br />
bei den Schülerinnen und Schülern präsent Was ist mit den gemachten<br />
ästhetischen Erfahrungen passiert Finden sie Einzug in<br />
den Alltag, in das gestalterische Tun der Jugendlichen und vielleicht<br />
sogar in andere Fächer<br />
Ausgangspunkt: Doppellektion zum Thema Farbherstellung<br />
Als Untersuchungsgegenstand diente eine Doppellektion mit 20<br />
Schülerinnen und Schüler einer Quarta am Gymnasium Hofwil<br />
in Münchenbuchsee. Das grosse Themenfeld der Farbherstellung<br />
und Farbverarbeitung wurde in einer Laborsituation angegangen.<br />
Im Zentrum stand das eigene Erforschen, Entdecken und Erfahren<br />
der Schülerinnen und Schüler.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 91<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:32 <strong>Uhr</strong>
92<br />
Die räumliche Ausgangsituation gestaltete sich wie folgt: In der<br />
Mitte des Schulzimmers lag unter einem Tuch versteckt ein Farbkreis<br />
aus Pflanzen, Blumen, Gemüse, Früchten und anorganischen<br />
Materialien. Vier Labortische mit Mörsern, Palettenmessern,<br />
Glasplatten, Herdplatten mit Pfannen, Pinseln, verschiedenen<br />
Bindemitteln, Sieben, Hämmern, Gläsern und Löffeln standen<br />
zur Verfügung.<br />
Als Einstieg sollten die Schülerinnen und Schüler versuchen,<br />
aus einem mit gelben Flechten überwachsenem Stück Holz mit<br />
Hilfe von Mörser, Hammer und Wasser die Farbe Gelb auf Papier<br />
zu bringen. Nach dem Erfahrungsaustausch im Plenum folgte ein<br />
kurzer Vortrag zum Gebrauch von Erdfarben in den Höhlenmalereien<br />
bis hin zu den Arbeiten der Gegenwartskünstlerin Elisabeth<br />
Arpagaus. Ebenso wurde die Herstellung und der Gebrauch der<br />
Farbe Blau in den vergangenen Jahrhunderten in Bild und Text<br />
erläutert. Durch Vorzeigen erhielten die Schülerinnen und Schüler<br />
nach dem Theorieteil das nötige praktische Grundwissen zur Herstellung<br />
von Eitempera sowie zum Anmischen von Pigmenten mit<br />
Acryl, Kleister und Öl. In vier Teams erarbeiteten sich die Schülerinnen<br />
und Schüler anschliessend selbständig und eigenverantwortlich<br />
die Möglichkeiten der Farbherstellung, in dem ihnen zugeteilten<br />
Farbspektrum des Farbkreises (Bilder 1 und 2). In einem<br />
Laborprotokoll sowie auf Papier- und Stoffstreifen wurden die<br />
Experimente festgehalten und am Schluss der Klasse präsentiert.<br />
Forschungsanlage<br />
Die Doppellektion ist durch den Umstand, dass sie zugleich eine<br />
Prüfungslektion war, von zwei Personen sehr gut fotografisch<br />
dokumentiert worden. Sechs Wochen nach der Lektion wurden<br />
zusätzlich vier Interviews durchgeführt. Zwei dieser Interviews<br />
wurden vor der verbalen Befragung mit einer gestalterischkünstlerischen<br />
Aufgabe ergänzt. Eine Schülerin und ein Schüler<br />
durften vor den Interviews mit einer Auswahl der in der Lektion<br />
verwendeten Materialien fünf Minuten weiterarbeiten. Diese<br />
gestalterisch-künstlerischen «Interviews» waren ein Versuch, das<br />
Hervorholen der Erinnerungen an die Lektion zu verstärken und<br />
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93<br />
Vermittelt<br />
den praktisch gemachten Erfahrungen mit einer adäquaten Interviewform<br />
zu begegnen.<br />
Alle vier Interviews waren von der Frage geleitet, woran sich<br />
die Schülerinnen und Schüler erinnern, wenn sie an die Doppellektion<br />
zurückdenken. Nach der Transkription ab Video und dem<br />
Vergleich der Interviews wurde die Forschungsfrage in acht Teilgebieten<br />
weiterverfolgt. Neben dem «Was» wurde auch das «Wie»<br />
des Sprechens und Handelns miteinbezogen und die Recherche zu<br />
den acht Gebieten in den Interviews wie auch im Bildarchiv der<br />
Lektion betrieben. Die in den gestalterischen Vorinterviews beobachteten<br />
Arbeitsabläufe und die entstandenen Arbeiten wurden<br />
schlussendlich für diese Arbeit nicht verwendet.<br />
Auszug und Einblick<br />
Die folgenden Kapitel geben Einblick in drei der acht Teilgebiete.<br />
Das erste Kapitel «Wieder holen: am Sonntagstisch die Farben riechen»<br />
sammelt verschiedene Auslöser, die zu einer Erinnerung führen<br />
können und zeigt dabei, wie eng die Verknüpfung von visueller<br />
und olfaktorischer Wahrnehmung sein kann. «Auf- und entdecken:<br />
Handlung» beschäftigt sich mit Gesten des Vorzeigens, sowie auch<br />
mit gestisch unterstützten Nacherinnerungen der Schülerinnen und<br />
Schüler. Als drittes Kapitel geht «Gruppenbild: was bleibt» auf die<br />
Erinnerungen an die verschiedenen Sozialformen ein.<br />
Wieder holen: am Sonntagstisch die Farben riechen<br />
Mit dem Wiederaufgreifen von Handlungen aus der Lektion sollte<br />
in den gestalterisch-handelnden Interviews das (später verbalisierte)<br />
Erinnern erleichtert werden. Der Schüler, welcher nachstehende<br />
Aussage macht, hat im gestalterisch handelnden Interview als<br />
erstes Kaffeebohnen im Mörser zerstossen und mit ihnen gemalt.<br />
Ich habe zuerst mit den zwei Brauntönen angefangen, und mir<br />
ist noch in Erinnerung geblieben, dass wenn man sie nachher<br />
mit Acryl vermischt, dass sie so bläulich werden oder violett,<br />
aber ich wusste nicht mehr, dass, wenn man sie nachher aufs<br />
Blatt aufträgt, dass sie nachher wieder braun werden.<br />
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Der Schüler spricht hier von zwei Brauntönen, die aus Erde und<br />
aus Kaffeebohnen entstanden sind. Besonders aufgefallen und<br />
wohl deshalb in Erinnerung geblieben ist ihm die farbliche Veränderung<br />
durch Hinzumischen des Acrylbinders. Dass sich die<br />
Farbe abermals verändert, wenn sie auf dem Papier ist und trocknet,<br />
hatte er allerdings vergessen. Gefragt nach der Wirkung der<br />
gestalterischen Aufgabe für den Erinnerungsprozess sagt er:<br />
Ich denke, das war auch, damit das uns wieder etwas näher<br />
ist, dass man wieder mehr bereit ist im Kopf, und dass wir uns<br />
wieder besser an das erinnern. Ich denke, alle haben sicher jetzt<br />
mit den Sachen, die sie gehabt haben, etwas gemacht, das ihnen<br />
geblieben ist und haben nicht zuerst etwas anderes gemacht.<br />
Und ich denke, hier konnte man auch gleich sehen, welche Farbgruppe<br />
die einzelnen hatten, weil, wenn jemand die Grüntöne<br />
hatte, hätte er hier wohl kaum nur Brauntöne genommen.<br />
Dass er die Brauntöne gebraucht hat, liegt nach seiner Erklärung<br />
demnach darin, dass dieser Schüler bereits in der Lektion mit diesen<br />
Farben und Materialien gearbeitet und somit auf Bekanntes<br />
zurückgegriffen hat.<br />
Wie können Erinnerungsprozesse ausserhalb von bewusst inszenierten<br />
Wiederholungen ausgelöst werden Selten bleibt im<br />
Unterrichtsalltag die Zeit, dieser Frage konkret nachzugehen.<br />
Der Schüler, welcher während des Unterrichts und im gestalterisch-handelnden<br />
Interview die Kaffeebohnen ausgewählt hat,<br />
schilderte eine eindrückliche Assoziationskette.<br />
Haben Sie irgendeinmal nochmals an die Doppellektion gedacht<br />
Wenn ja, wo und warum<br />
Ja, ich glaube, die Lektion war an einem Freitag und an einem<br />
Sonntagmorgen oder so haben meine Eltern einen Kaffee<br />
getrunken und dann hat es nach Kaffeebohnen gerochen, und<br />
dann habe ich eben daran gedacht, dass diese blau geworden<br />
sind, und dass mich das wirklich erstaunt hatte.<br />
Der Geruch der Kaffeebohnen, der in einer komplett anderen Situation<br />
während des Frühstücks wieder bemerkt wurde, löste eine<br />
ganze Bilder- und Gedankenkette aus. Vom Geruch zur Farbe des<br />
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95<br />
Vermittelt<br />
Pigmentes, hin zur farblichen Veränderung während der Verarbeitung<br />
mit Acryl und schlussendlich zur emotionalen Reaktion des<br />
Erstaunens. Der letzte Teil dieser Kette, die abermalige Veränderung<br />
der Farbe nach dem Auftragen auf Papier, fehlt auch hier in<br />
der Erinnerung.<br />
Hans Dietrich Huber stellt in seinem Aufsatz «Die Sinnlichkeit<br />
des Wissens» fest, «dass bei der Geschmackserinnerung sowohl das<br />
Geruchssystem wie das Sehsystem zusammenarbeiten. […]. Das<br />
Zusammenwirken verschiedener modalitätsspezifischer Gedächtnissysteme<br />
erhöht die Zuverlässigkeit der Erinnerung und des Wissens<br />
auf enorme Weise.» 1 Es kann umgekehrt angenommen werden,<br />
dass auch bei der Bilderinnerung andere Gedächtnissysteme<br />
mitspielen, und dadurch die Bilderinnerung verstärken. Es ist keine<br />
neue Erkenntnis, dass die Aktivierung verschiedener Sinne die<br />
Lernleistungen erhöht. Es sind jedoch nicht nur eigene sinnliche Erfahrungen<br />
in einem anderen Zusammenhang wieder aufgetaucht.<br />
Eine Schülerin hat sich während ihres Konfirmationslagers wieder<br />
an den theoretischen Input der Doppellektion erinnert.<br />
Haben Sie nach dieser Lektion irgendeinmal nochmals an diese<br />
gedacht<br />
Ja (unvermittelt). Also, jetzt immer wenn ich mit Farbe arbeite,<br />
dann muss ich schon an das denken, aus was das entsteht und Sie<br />
haben ja auch erzählt, aus was Blau gemacht wird, aus Steinen.<br />
Wir waren im Konfirmationslager an einer Führung in einem alten<br />
Schloss und dort haben sie eben gesagt, dass das Blau aus den<br />
Steinen gemacht wurde, und dass es vermutlich teuer war. Und<br />
das kam mir dann wieder bekannt vor. Das mit den Steinen.<br />
Auch eine andere Schülerin konnte die Erfahrungen mit dem Bindemittel<br />
Eitempera mit ihrem Alltag verknüpfen und dadurch bestätigen:<br />
Mit Eigelb wurde die Farbe glänzend, weil man ja auch den<br />
Zopf mit Eigelb bestreicht.<br />
Wenn es gelingt, den Lerninhalt so zu vermitteln, dass er im Alltag<br />
wieder zum Thema werden kann, erhalten wir eine «gratis»-<br />
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Bild 1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5 6<br />
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Vermittelt<br />
7<br />
8<br />
9<br />
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Repetition des Stoffes. Nicht nur durch den bewussten Bezug zur<br />
Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler während des Unterrichts,<br />
sondern auch durch einen direkten Eingriff in den Alltag kann diese<br />
Verknüpfung hergestellt werden. Hausaufgaben können, was schon<br />
im Begriff selber steckt, das Haus, den ausserschulischen Bereich,<br />
mit dem Schulstoff verbinden.<br />
Gerade im Bildnerischen Gestalten eignet sich das Führen eines<br />
Tage- oder Skizzenbuches hervorragend als Werkzeug dafür. Andrea<br />
Sabisch sieht im Tagebuch den Vorteil, dass jeden Tag wieder<br />
neu angefangen werden kann, die Methoden der Aufzeichnung<br />
gewechselt, Dinge verworfen werden können. 2 «Zudem erlaubt<br />
der Massstab ‹Tag› Bezug zum Alltagsleben. Anschluss an autobiografische<br />
Erfahrungsräume ist für Lehr- und Lernprozesse besonders<br />
wichtig.» 3 In ästhetischer Forschung dienen Tagebücher<br />
gemäss Sabisch also «nicht bloss als Registrierinstrumente, in die<br />
man etwas einträgt. Stattdessen werden sie als Instrumente eingesetzt,<br />
um das Suchen und Forschen voranzutreiben.» 4<br />
Helga Kämpf-Jansen spricht in diesem Zusammenhang treffenderweise<br />
von sichtbar gemachter Wissensorganisation, in der<br />
vorhandene Erfahrungen dokumentiert, reflektiert und kommuniziert<br />
wie auch neue generiert werden können. 5<br />
Damit die Schülerinnen und Schüler die Form des Tage- und<br />
Skizzenbuches auch wirklich einsetzen können, scheinen kompakte<br />
Zeitfenster für diese Aufgabe sinnvoll.<br />
Auf- und entdecken: Handlung<br />
Als Schlussbild erhielten die Schülerinnen und Schüler ein Bild mit<br />
Wolfgang Laib inmitten von gelber Farbe. Auf der aufklappbaren<br />
Rückseite war ein Löwenzahnfeld zu sehen. Nun galt es herauszufinden,<br />
womit Wolfgang Laib hier arbeitet. Erst nach dieser<br />
gedanklichen Aufgabe durften die Schülerinnen und Schüler das<br />
Bild mit dem Löwenzahnfeld aufklappen. Der Moment des Aufklappens<br />
ist der Schülerin im verbal handelnden Interview sichtlich<br />
in Erinnerung geblieben (siehe Bilder 3 und 4).<br />
Im Moment blüht der Löwenzahn. Können Sie sich daran erinnern,<br />
inwiefern dieser einen Bezug zur Lektion hat<br />
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99<br />
Vermittelt<br />
Also, ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob das auf dem Aufklappbild<br />
gewesen ist, oder ob das andere Blumen waren.<br />
Sie meinen das Bild vom Schluss<br />
Ja, einfach das Bild, wo man einen Mann sieht, der malt und<br />
dann kann man so aufklappen und nachher sieht man so<br />
Blumen. Aber ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob das diese<br />
gewesen sind.<br />
Die Schülerin stellt mit ihren beiden Händen den Moment des Aufklappens<br />
dar, als sie sich im Interview an das Bild erinnert. Das<br />
Bild mit Wolfgang Laib wird zum Aufklappbild, die Bezeichnung<br />
bezieht sich auf die Handlung der Schülerin und nicht auf den Inhalt<br />
des Bildes. Schlüsselbild ist hier die Bewegung der Betrachterin.<br />
Eine andere Schülerin bezeichnet das Bild als «Zettel».<br />
Am Schluss haben Sie noch so einen Zettel verteilt, auf dem ein<br />
Künstler noch etwas mit Gelb gemacht oder etwas gemalt hat<br />
und das war vermutlich alles aus Löwenzahn.<br />
Die Bezeichnungen «Zettel» und «Aufklappbild» weisen auf die<br />
unterschiedliche Wertung des Bildes hin. Es bleibt die Frage, inwiefern<br />
das Bild als Projektion und ohne handelndes Dazutun der<br />
Schülerin in Erinnerung geblieben wäre. Durch das kurzfristige<br />
Vorenthalten von Bildern entsteht ein Moment der «Spannung<br />
und Überraschung, [der] ein Staunen vor dem wahrgenommenen<br />
Phänomen auslösen [kann]» 6 . Dies ist nach Georg Peez eine der<br />
Voraussetzungen für eine ästhetische Erfahrung.<br />
Die prägende Wirkung solcher ‹Aufdeckaktionen› ist auch in der<br />
folgenden Passage und den Bildern (Bilder 5–9) beobachtbar:<br />
Also ich kann mich noch sehr gut an den Tisch erinnern, mit<br />
den Esswaren und den Naturprodukten, irgendwie, es war so,<br />
als Sie das abgedeckt haben (macht Abdeckbewegung mit den<br />
Händen), das war zuerst so krass (betont dies mit gespreizter<br />
geöffneter linker Hand). So der Farbkreis und die Farben.<br />
Das gespeicherte Bild von der Auf- und Entdeckung des Farbkreises<br />
bedarf bei der Verbalisierung einer unterstützenden Bewegung<br />
mit den Händen. Während das Aufdecken 1:1 mit den Hän-<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:33 <strong>Uhr</strong>
100<br />
den nachgespielt wird, visualisiert die Schülerin den Moment des<br />
Erstaunens mit der visuell starken Gestik der gespreizten Hand,<br />
die auch körperliche Spannung und Energie impliziert. Die Kraft<br />
des Überraschungsmomentes, im Interview verbal bezeichnet<br />
durch «krass», kommt klar zum Ausdruck.<br />
In beiden Fällen ist das Vorenthalten eines Bildes kombiniert mit<br />
der Performance des Aufdeckens entscheidend für die präsenten<br />
Erinnerungen. Obwohl das Bild von Wolfgang Laib bei der Arbeit<br />
nicht gross gemeinsam besprochen und betrachtet wurde und<br />
für die Frage nach der Herkunft der Farbe von Laib knapp drei<br />
Minuten eingesetzt wurden, ist das Bild in der Erinnerung der<br />
Schülerinnen und Schüler haften geblieben. Der materielle wie<br />
auch zeitliche Aufwand für die Schaffung solcher Momente kann<br />
durchaus sehr klein gehalten werden.<br />
Gruppenbild: was bleibt<br />
Viele Interviewpassagen belegen es: Bilder von der Klasse beim<br />
Arbeiten bleiben bei den interviewten Schülerinnen und Schülern<br />
in starker Erinnerung. Gefragt an welche Aspekte der Doppellektion<br />
sie sich noch erinnern kann, erwähnt folgende Schülerin<br />
als erstes die Gruppenarbeit und das Team. Sie erinnert sich an<br />
Gespräche über die Vorgehensweise.<br />
Also das eifach so d groppearbeit, s team, eifach so metenand z<br />
diskutiere, was me no alls chönti mache het mer uu gfalle, ond<br />
eifach so experimentiere met dene natürliche sache, aso d fröcht<br />
ond gmües ond, eifach so, hani u cool gfonde dass me das o met<br />
natürliche sache cha mache.<br />
Immer wieder wird auch betont, dass die Lust und der Spass an<br />
der Sache sich auch in der Arbeitshaltung positiv gezeigt haben.<br />
Ich hatte den Eindruck, dass alle sehr an der Arbeit waren, aber<br />
es war trotzdem sehr locker und man war nicht so verkrampft, also<br />
man konnte auch noch miteinander sprechen, aber man hat trotzdem<br />
noch die Arbeit geleistet, also es war nicht so, dass man nur<br />
noch im Team miteinander gesprochen hat und beispielsweise drei<br />
in der Gruppe diskutiert haben und der vierte alles gemacht hätte.<br />
Ich hatte den Eindruck, es war etwa bei allen gleich, dass alle ihre<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 100<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:33 <strong>Uhr</strong>
101<br />
Vermittelt<br />
Sache dazu beigetragen haben, es hat einfach gestimmt, finde ich, es<br />
war sehr spassig, und es war trotzdem nicht zu laut, so dass man gut<br />
nachdenken konnte.<br />
Die Arbeitsbeteiligung aller wird nebst der konstruktiven Arbeitsatmosphäre,<br />
dem Spass, dem Gruppenzusammenhalt und dem<br />
Staunen über die Arbeitsergebnisse auch in folgendem Interview<br />
angesprochen.<br />
Die (Arbeitsatmosphäre) fand ich sehr schön. Weil sich alle so<br />
voll darauf eingelassen und sich darauf konzentriert haben. Und<br />
sie hatten auch alle Spass daran, hatte ich das Gefühl. Und eben<br />
so das miteinander Arbeiten. Und keiner war ausgeschlossen<br />
davon. Alle haben mitgemacht. Und waren anschliessend alle,<br />
so glaube ich, erstaunt gewesen, was man alles mit solchen Farben<br />
herstellen und kochen kann. Ich glaube, es hat einfach für<br />
alle «gfägt» (Spass gemacht).<br />
Auch in den anderen Interviews wird die Gruppenarbeit stark betont.<br />
Bei der Frage, woran sie sich in zehn Jahren mutmasslich<br />
noch erinnern wird, meint eine Schülerin:<br />
Ich weiss es nicht so genau. Vermutlich einfach so das Schlussbild,<br />
als wir alle Farben hatten, oder vielleicht auch nur das<br />
Tomatenpüree, aber ich weiss nicht, ob ich mich in zehn Jahren<br />
noch daran erinnern kann. Oder einfach so, vielleicht sehe ich<br />
einfach noch die ganze Gruppe vor Augen. Und das Blatt, auf<br />
das wir geschrieben haben.<br />
Neben dem gestalterischen Schlussbild, dem gebrauchten Material<br />
und dem Farbforschungsprotokoll bleibt dieser Schülerin ein<br />
spezifisches Bild der Gruppe in Erinnerung: «Einfach die ganze<br />
Gruppe sehe ich vielleicht vor den Augen».<br />
Die gut organisierte Lernsituation in Form von Gruppenarbeiten<br />
scheint in dieser Doppellektion von grossem Wert gewesen<br />
zu sein. Die eigenverantwortliche Organisation der verschiedenen<br />
Aufgaben und Arbeitsschritte durch die Gruppe, der dazu notwendige<br />
Austausch der Erfahrungen und der Ansporn, Neues<br />
entdecken und kommunizieren zu können, hat zu einer beeindruckenden<br />
Arbeitsleistung der Schülerinnen und Schüler geführt.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 101<br />
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1<strong>02</strong><br />
Der zeitliche Aufwand der Lehrperson für die Inszenierung einer<br />
solchen Laborsituation für 20 Schülerinnen und Schüler ist<br />
unbestritten gross. Trotzdem darf und soll das Schaffen solcher<br />
Umgebungen im Unterrichtsalltag Platz haben. Durch die Zusammenarbeit<br />
in der Fachschaft und die Wiederverwendung des Labors<br />
in mehreren Klassen lässt sich der Aufwand für die einzelne<br />
Lehrperson reduzieren.<br />
Fazit<br />
Wenn Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Fragen nachgehen<br />
können, bleibt in kurzer Zeit erstaunlich vieles hängen. Wir müssen<br />
unseren Schülerinnen und Schülern handelndes und selbstbestimmtes<br />
Forschen im schulischen Kontext ermöglichen. Das Fach<br />
«Bildnerisches Gestalten» kann durch anregende Forschungsumgebungen<br />
in Atelier-, Labor- oder Werkstattsituationen Kompetenzen<br />
fördern, die fachübergreifend in sämtlichen Forschungsbereichen<br />
von essentieller Bedeutung sind:<br />
>> geschärfte Wahrnehmung von Dingen, Phänomenen und<br />
Handlungen in unserer Umwelt.<br />
>> umfassende Wahrnehmung derselben durch gebildete Hör-, Seh-,<br />
Tast- und Riechsinne.<br />
>> die Fähigkeit, sich mit einer aktiven und fragenden Haltung<br />
Neuem zuzuwenden.<br />
>> die Fähigkeit, forschend Grenzen zu überschreiben.<br />
>> gestalterische und verbale Ausdrucksfähigkeiten.<br />
>> die Fähigkeit, Forschungsfragen zu finden und zu präzisieren.<br />
Wie lange die gemachten Erfahrungen in der Erinnerung der<br />
Schülerinnen und Schüler bleiben, hängt schlussendlich damit zusammen,<br />
wie und wie oft diese wieder aktiviert werden können.<br />
Es gibt vielfältige Möglichkeiten, dies zu tun. Wichtig ist, dass<br />
die Lektionsinhalte immer wieder untereinander verknüpft und<br />
vernetzt werden, so dass die Erfahrungen und Kompetenzen spiralförmig<br />
wachsen können.<br />
Mentorin: Katharina Bütikofer, Praktikumslehrer: Christian Schneider<br />
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103<br />
Vermittelt<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Huber 2007, S. 326.<br />
2<br />
Sabisch 2006, S. 188.<br />
3<br />
Sabisch 2006, S. 188.<br />
4<br />
Sabisch 2006, S. 189.<br />
5<br />
Kämpf-Jansen 2001.<br />
6<br />
Aussage von Georg Peez am Forschungstag der HKB/PHBern am 1.3.<strong>08</strong>.<br />
Bildnachweis<br />
Katharina Bütikofer, Christian Schneider, Katja Büchli<br />
Literaturangaben<br />
Huber 2007<br />
Huber, Hans Dietrich, Die Sinnlichkeit des Wissens, in: Niehoff, Rolf, Wenrich, Rainer (Hrsg.), Denken und<br />
Lernen mit Bildern. Interdisziplinäre Zugänge zur Ästhetischen Bildung. München: kopaed, 2007. S. 321 – 332.<br />
Kämpf-Jansen 2001<br />
Kämpf-Jansen, Helga, Aesthetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft – Zu einem innovativen<br />
Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Salon Verlag, 2001.<br />
Sabisch 2006<br />
Sabisch, Andrea, Am Anfang steht eine Frage. Das Tagebuch in der Ästhetischen Forschung in: Seydel, Fritz<br />
(Hrsg.), Über Ästhetische Forschung. Lektüre zu Texten von Helga Kämpf-Jansen. München: Schriftreihe<br />
Kontext Kunstpädagogik, 2006.<br />
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104<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 104<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:34 <strong>Uhr</strong>
105<br />
Vermittelt<br />
13<br />
Flavia Keller<br />
Zwei zeichnerische<br />
Haltungen<br />
Eine Untersuchung<br />
Der folgende Text basiert auf meiner Bachelorarbeit, verfasst am Studiengang für Vermittlung in Kunst und<br />
Design, Hochschule der Künste Bern, Juni 20<strong>08</strong>. Mentorin: Béatrice Gysin, Mentorin Theorie: Sarah Schmidt<br />
Zeichnen aus der Vorstellung und Zeichnen nach Anschauung<br />
sind unterschiedliche zeichnerische Haltungen. Im Rahmen meiner<br />
Bachelorarbeit ging ich den Verschiedenheiten dieser zwei Ansätze<br />
nach und untersuchte über die eigene zeichnerische Tätigkeit<br />
diese unterschiedlichen Positionen. Die theoretische Arbeit diente<br />
der Vertiefung und Reflexion der zeichnerischen Erkundung. Im<br />
ersten Teil beleuchtete ich verschiedene Bereiche, in denen die<br />
Zeichnung zeichnend erforscht wird. Ich ging auf künstlerische<br />
Positionen ein, die sich zeichnend mit dem Medium oder mit dem<br />
Arbeitsprozess auseinandersetzen. Weiter ging ich der Vermutung<br />
nach, dass das Zeichnen durch die Nähe zum Denkprozess ein geeignetes<br />
Werkzeug für die Visualisierung von Überlegungen, Ideenfindung<br />
und Erforschen des eigenen Tuns darstellt. Im zweiten<br />
Teil setzte ich mich in einem Erfahrungsbericht mit meiner eigenen<br />
zeichnerischen Tätigkeit auseinander. Es ging mir darum, die<br />
über das Zeichnen gemachten Erfahrungen zu sammeln und dabei<br />
ausblickend Rückschlüsse für die Vermittlung zu ziehen. Für viele<br />
Menschen ist eine gute, richtige Zeichnung eine möglichst naturalistische<br />
Abbildung. Es ist mir ein Anliegen, das Zeichnen aus<br />
der Vorstellung, welches sich nicht direkt an der äusseren Erscheinungswelt<br />
misst, aufzuwerten. Der folgende Beitrag zeigt eine<br />
Auswahl an Zeichnungen aus der entstandenen Serie sowie einen<br />
Auszug aus der Theoriearbeit.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:34 <strong>Uhr</strong>
106<br />
Versuchsanordnung<br />
Ich untersuche zwei unterschiedliche zeichnerische Haltungen.<br />
Indem ich aus der Vorstellung und nach Anschauung zeichne,<br />
stelle ich Gesehenes und Erfundenes einander gegenüber. Dabei<br />
stehen innere und äussere Realitäten gleichwertig nebeneinander.<br />
Der Kern der Arbeit bildet die Frage, inwiefern sich diese zwei<br />
Haltungen unterscheiden und worin die Gemeinsamkeiten liegen.<br />
Als Zeichenmittel wähle ich einen weichen Bleistift. Menschen<br />
sind mein Sujet. Für die Zeichnungen nach Anschauung verwende<br />
ich Bildmaterial aus dem Internet, aus Fotobänden oder aus der<br />
Presse. Indem ich Menschen, gezeichnet nach Anschauung und<br />
aus der Vorstellung, zusammen auf ein Blatt setze, begegnen sich<br />
Fantasie und Wirklichkeit. In dieser Konstellation entstehen Erzählräume.<br />
(8 Zeichnungen, siehe folgende Seite)<br />
Zeichnerisch Denken<br />
Bereits in der Renaissance wird mit der Intellektualisierung und<br />
Aufwertung der künstlerischen Tätigkeit und der Einführung der<br />
Begriffe «Disegno interno» und «Disegno externo» die Zeichnung<br />
mit künstlerischer Intention und Denkprozess in Verbindung gebracht.<br />
1 Die Zeichnung wird zum Inbegriff der Idee, was bis heute<br />
noch gilt. «Zeichnen ist eine Form von Denken. Aber nicht in<br />
Form von Transkription wie das Schreiben, sondern ein Formulieren<br />
des Denkens selbst im Augenblick, in dem es sich in ein<br />
Bild übersetzt.» 2 Damit kann das Zeichnen als Tätigkeit mit der<br />
Ideenfindung verglichen werden. Heinrich von Kleist beschreibt<br />
in seinem Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken<br />
beim Reden den Ideenfindungsprozess, indem er schildert,<br />
wie der Redner über das Sprechen zu Ideen und Inhalten findet. 3<br />
Gedanken werden über das Schreiben oder das Sprechen geformt<br />
und geordnet. Beim Zeichnen ist ein ähnlicher Vorgang festzustellen.<br />
Béatrice Gysin schreibt: «Ideen entstehen durch Handlung.<br />
Eine Idee, ein Gedanke wird durch die zeichnerische Annäherung<br />
und Konkretisierung zur sichtbaren, mitteilbaren, überprüfbaren<br />
und diskutierbaren Form. Die Idee wird handelnd «erzeichnet»,<br />
findet zur Form durch aktives, visuelles Denken, das durch die<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 106<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:34 <strong>Uhr</strong>
107<br />
Vermittelt<br />
Hand fliesst.» 4 Das Zeichnen bietet die Möglichkeit, sich über Bilder<br />
und bildnerisches Denken einer Idee anzunähern und daraus<br />
neue Bilder zu entwickeln.<br />
Erfahrungsbericht<br />
Zwei Sichtweisen<br />
Beim Zeichnen bündle ich meine Aufmerksamkeit und konzentriere<br />
mich auf das Geschehen auf dem Blatt. Zeichnen ist für mich eng<br />
mit dem Sehen verbunden. Ich kann das, was ich tue unmittelbar mit<br />
meinem Blick verfolgen. Je nachdem ob ich aus der Vorstellung oder<br />
nach Anschauung zeichne, ist es nicht dieselbe Art, wie ich schaue.<br />
Beim Zeichnen nach Anschauung handelt es sich um ein stetiges<br />
Vergleichen. Ich konzentriere mich auf Tonwerte, Richtungen<br />
und Formen und muss immer wieder Distanz einnehmen,<br />
um von aussen einen prüfenden Blick auf die Zeichnung und die<br />
Vorlage zu werfen. Ich nehme mir Zeit, etwas genau anzuschauen.<br />
Dabei wird mir bewusst, wie relativ die Wahrnehmung ist.<br />
Wenn ich nach einer längeren Pause das abzuzeichnende Objekt<br />
anschaue und vergleiche mit dem, was ich gezeichnet habe, bin<br />
ich ab und zu verblüfft, was und wie ich gesehen habe. Zeichnen<br />
nach Anschauung ist auch Bewusstmachung der täuschenden<br />
Wahrnehmung und unserer Sehgewohnheiten.<br />
Beim Zeichnen aus der Vorstellung steht ein vages inneres Bild<br />
von einem Menschen am Anfang. Was ohne präzise Planung beginnt,<br />
führt zu einer diffusen Formulierung. Aus dieser Vagheit<br />
entsteht mit der Zeit die gültige Zeichnung durch suchendes Arbeiten<br />
an der Erscheinungsform. Anstelle des Vergleichens leitet<br />
mich das Beobachten der im zeichnerischen Prozess entstehenden<br />
Form. Der Zeichenprozess ist hier geprägt vom Anteil nehmenden<br />
Blick. Ich beobachte meine Hand die zeichnet und verfolge die<br />
Spuren, die der Bleistift hinterlässt. Das Sehen schaltet sich zwischendurch<br />
als beobachtende Instanz ein, um danach wieder der<br />
Hand die Führung zu überlassen. Die Folge ist ein stetiges Reagieren<br />
auf das Entstandene und so entwickelt sich die Zeichnung<br />
auf dem Blatt. Es ist ein fliessender Wechsel zwischen Zeichnen,<br />
Betrachten und Denken.<br />
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1<strong>08</strong><br />
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109<br />
Vermittelt<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:35 <strong>Uhr</strong>
110<br />
Zeichnen heisst Erfinden<br />
Nach Anschauung zeichnen bedeutet, sich mit etwas Sichtbarem<br />
auseinandersetzen. Hier beginnen meine Erwartungen an eine<br />
Zeichnung zu steigen. Ich strebe zwar keine rein objektive, sachliche<br />
Darstellung an, versuche aber z.B. den Ausdruck der darzustellenden<br />
Person zu erfassen, sodass die Person erkennbar ist.<br />
Abzeichnen heisst für mich aber nicht kopieren. Es handelt sich<br />
immer ums Übersetzen vom Dreidimensionalen ins Zweidimensionale,<br />
von einem Medium ins andere. Übersetzen heisst auch<br />
Entscheidungen treffen. Entscheiden darüber, was ich zeichne und<br />
was ich weglasse. Zeichnen bedeutet immer erfinden. Ich kann<br />
beispielsweise eine traurige oder mürrische Person wieder glücklich<br />
machen, indem ich ihr in der Zeichnung den Mundwinkel<br />
etwas hochziehe. Genau diese Möglichkeit – beim Zeichnen etwas<br />
zu erfinden – macht für mich einen grossen Reiz des Zeichnens<br />
aus. Zeichne ich nach Anschauung, ist das abzuzeichnende Objekt<br />
die Referenz, zeichne ich aus der Vorstellung, orientiere ich mich<br />
an der vagen Vorstellung und an der künstlerischen Intention.<br />
Doch trotz meiner Lust, zeichnerisch zu erfinden und trotz dem<br />
weissen Papier, das nicht zensuriert und alles aufnimmt, was ich<br />
zeichne, ist mein Bildspektrum eingeschränkt. Womit hat dies zu<br />
tun<br />
Obwohl ich ohne Vorlage zeichne und somit meinen Erfindungen<br />
freien Lauf lasse, beobachte ich, wie ich beim Zeichnen<br />
immer wieder in ähnliche Muster verfalle. Einerseits hat dies mit<br />
den Rahmenbedingungen zu tun, die ich mir setze. Ich habe eine<br />
Serie von zusammenhängenden Blättern, die gemeinsam als Einheit<br />
erscheinen, zum Ziel. Somit entscheide ich mich nach verschiedenen<br />
Experimenten jeweils für ein Zeichnungsmittel und<br />
eine Zeichnungssprache. Trotzdem fällt mir auf, dass ich immer<br />
wieder in gewisse Schemas verfalle. Es braucht viel Energie, sich<br />
von den eigenen Schemas zu lösen und diese zu überwinden.<br />
Bei Kindern sind diese Schemaphasen in der Zeichnung offensichtlich.<br />
Gabi Koeppe-Lokai erwähnt in ihrer Untersuchung zum<br />
zeichnerischen Prozess bei Kindern die Unterscheidung zwischen<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 110<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:35 <strong>Uhr</strong>
111<br />
Vermittelt<br />
Gegenstandswissen, Abbildungswissen und Ausführungswissen.<br />
Ersteres bezeichnet den Wissensbereich, der abgerufen wird, um<br />
zu definieren, wie das zu zeichnende Objekt aussieht. Zweiteres ist<br />
das Wissen darüber, wie die Merkmale eines Objektes dargestellt<br />
werden können und das Dritte betrifft Aspekte der motorischen<br />
Umsetzung. Das Gegenstandswissen deckt sich nicht mit dem<br />
Abbildungs- und Ausführungswissen. Es spielt vor allem dann<br />
eine wichtige Rolle, wenn ein Objekt zum ersten Mal gezeichnet<br />
wird. Danach wird es nicht jedes Mal neu aktiviert. Beim späteren<br />
Zeichnen ruft das Kind das einmal installierte Malschema auf.<br />
Wir wissen also mehr als das, was wir zeichnen können. 5 Heinrich<br />
Müller weist darauf hin, dass das gezeichnete Bild Einfluss hat<br />
auf die interne Repräsentation. «Ein einmal gewonnenes Schema<br />
wird während längerer Zeit unverändert beibehalten und in stets<br />
neuen Situationen und Szenerien verwendet. Das öftere Wiederholen<br />
der gleichen Figuren hat eine doppelte Wirkung: Erstens<br />
prägt sich das auf dem Papier (im Aussenfeld) entstandene Bild<br />
durch die stete Mitbeteiligung des Gesichtssinnes ein und wird<br />
als Gestaltvorstellung zum geistigen Besitz; zweitens erfährt der<br />
sensomotorisch eingeübte Prozess des Machens eine innige Verschmelzung<br />
mit der dazugehörigen Gestaltvorstellung.» 6 Über<br />
das häufige Zeichnen überwinde ich die einzelnen Schemata und<br />
eigne mir damit ein immer grösseres Bildrepertoire an, auf das ich<br />
beim erfinderischen Zeichnen zurückgreifen kann.<br />
Zeichnen heisst Nachvollziehen<br />
Eine naturalistische Zeichnung nehmen wir dreidimensional<br />
wahr. Auch eine Zeichnung, die sich nicht an der Natur misst,<br />
kann Dreidimensionalität vermitteln. Beim Zeichnen aus der<br />
Vorstellung setze ich keine Schattenverläufe ein, um eine räumliche<br />
Wirkung zu erzielen, sondern modelliere die Figur mit dem<br />
Bleistift, indem ich mir das gezeichnete Objekt räumlich vorstelle.<br />
Ich versuche, die Körperlichkeit des zu zeichnendes Objekts<br />
auf der Zeichenfläche nachzuempfinden. Gert Selle schildert, wie<br />
diese innere Vorstellung des Körpers auch beim Zeichnen nach<br />
Anschauung von Wichtigkeit ist. «Wenn man sich nur hinsetzt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 111<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:35 <strong>Uhr</strong>
1<strong>12</strong><br />
mit einem vorgefassten Ziel – «Jetzt will ich diesen Apfel (...) unbedingt<br />
so, wie ich ihn im Augenblick sehe, darstellen», wird man<br />
in aller Regel an der scheinbar einfachen Aufgabe scheitern. Die<br />
Verpflichtung auf die Erscheinungsabbildlichkeit, über die Auge<br />
und Hand sich meist nur recht und schlecht einigen können, muss<br />
erst überlistet werden, indem man zu einfühlenden Nachvollzügen<br />
der Form, zu Umschreibungen findet – was nichts anderes heisst,<br />
als sich den Vorstellungs- und Bewegungsaktivitäten zu überlassen.»<br />
7 Laut Selle heisst aneignen durch Zeichnen nicht «quälendes<br />
Abbilden-Wollen, sondern Erfassen, Einverleiben, Entäußern in<br />
einer belebenden Zusammenfassung mimetischer Aktivitäten, aus<br />
denen der Körper und die an ihn gebundene Bewegungsphantasie<br />
nicht ausgeschlossen sind.» 8<br />
Sind Zeichnen aus der Vorstellung und Zeichnen nach Anschauung<br />
tatsächlich grundsätzlich unterschiedliche Haltungen<br />
Beim Anblick meiner Zeichnungen zeigen sich deutliche Unterschiede.<br />
Die Figuren nach Anschauung sind detailreicher und<br />
kontrollierter gezeichnet. Gewisse Stellen sind ausgelassen. Ich<br />
kann wirklichkeitsnahe Erscheinungsformen bewusst reduzieren.<br />
Die erfundenen Gestalten sehen aus, als wären sie aus Modelliermasse.<br />
Sie wirken plastisch und roh. Der Anspruch an die Zeichnung<br />
aus der Vorstellung ist ein anderer als der an die Zeichnung<br />
nach Anschauung. Oben ging ich auf die Verschiedenheit des<br />
Blicks ein. Zeichne ich nach Anschauung, vergleiche ich mit der<br />
Realität. Ich halte mich in kontrollierender Distanz zum Objekt<br />
und prüfe mit meinem Blick das Gezeichnete. Zeichne ich aus der<br />
Vorstellung, beobachte ich die aufscheinende Form. Hier leitet<br />
mich mein Körperwissen und nicht der Vergleich mit der äusseren<br />
Wirklichkeit. Ich vergleiche mit vorher entstandenen Zeichnungen<br />
und entscheide, ob das entstandene Resultat in die Serie passt.<br />
Die zwei Haltungen haben auch Gemeinsamkeiten: Sie erfordern<br />
höchste Konzentration und viel Zeit. Beide Prozesse schärfen<br />
die Aufmerksamkeit für die Umwelt. Ich sehe durchs Zeichnen<br />
mehr. Silvia Bächli stellt beim Zeichnen das Entstehen einer<br />
«gewisse[n] Wachheit» fest. 9 Und Cécile Hummel notiert: «Im<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:35 <strong>Uhr</strong>
113<br />
Vermittelt<br />
Laufe meiner Tätigkeit ist mir klar geworden, dass es beim Zeichnen<br />
letztlich darum geht, Dinge überhaupt zu sehen. Das Zeichnen<br />
zieht eine Intensivierung der Aufmerksamkeit nach sich, auch<br />
wenn ich Block und Bleistift gerade nicht in den Händen halte.» 10<br />
Ausblick<br />
«Beim Zeichnen hat man stets mit (mindestens) drei Realitäten zu<br />
tun: Mit der draussen in der Welt, mit der im Kopf und mit der auf<br />
dem Papier. (...) Unter gut zeichnen können versteht man im Allgemeinen<br />
(immer noch) die grösstmögliche Übereinstimmung dieser<br />
Realitäten. In der Art der Übereinstimmung oder ihrer Differenz,<br />
der Harmonie oder im Knirschen dieser Realitäten spiegelt sich<br />
das Interesse bzw. das Weltverständnis des Zeichners.» 11<br />
Die Differenz der Realitäten, die sich in Zeichnungen zeigt, erzeugt<br />
eine Spannung. Béatrice Gysin stellt in ihrer Umfrage zum<br />
Zeichnen fest (s. <strong>Heft</strong> 01 S. 131–164), dass die Mehrheit der Befragten<br />
die Fähigkeit «gut» zeichnen zu können mit einer realistischen,<br />
perspektivisch richtigen Darstellung gleichsetzen. Dieser<br />
hohe Anspruch orientiert am Denken der Renaissance mit ihren<br />
Vorbildern führt zur Angst zu scheitern, sobald man eine Zeichnung<br />
beginnt. Beim Zeichnen sind die Konsequenzen des eigenen<br />
Tuns unmittelbar sichtbar. Das Bild ist beim Entstehen kontinuierlich<br />
überprüfbar. Damit ist der Zeichnende beim Zeichnen<br />
auch durchgehend mit seinen Ansprüchen konfrontiert.<br />
Die Umfrage von Béatrice Gysin zeigt auch auf, dass «zeichnen<br />
können» ein grosser Wunsch ist für die meisten Menschen.<br />
93% der Befragten möchten gerne gut zeichnen können. <strong>12</strong> Daher<br />
ist es wichtig, dass gerade die Schule das Zeichnen als eine<br />
Tätigkeit vermittelt, die facettenreich ist. Zeichnen im Rahmen<br />
des Unterrichts sollte nicht auf ein perfektes Resultat hinzielen.<br />
Das Erleben beim zeichnerischen Prozess als Form bildendes,<br />
Fantasie anregendes Ausdrucksmittel sollte eine ebenso wichtige<br />
Wertschätzung erfahren. Zeichnen soll nicht nur mit Scheitern,<br />
Enttäuschung und Bauchschmerzen in Verbindung gebracht werden,<br />
sondern als Mittel, sich lustvoll und selbstbewusst die eigene<br />
persönliche Welt zu erschaffen. Die Tatsache, dass es im Zeichnen<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 113<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:36 <strong>Uhr</strong>
1<strong>14</strong><br />
keine Orthografie gibt, die mit richtig oder falsch zu beurteilen<br />
ist, birgt eine Chance. Gert Selle plädiert für eine Kunstpädagogik,<br />
die eng mit den Begriffen Wahrnehmen, Reflektieren, Selbsterkenntnis<br />
und Bewusstseinsleistung zusammenhängt. Gerade im<br />
Zeichnen sehe ich ein Potential, diese Begriffe ernst zu nehmen<br />
und in die Vermittlung einzubauen.<br />
Für Kinder ist der zeichnerische Ausdruck selbstverständlich.<br />
Sie setzen sich unbeschwert zeichnerisch mit der Umwelt auseinander.<br />
Hartwig macht darauf aufmerksam, dass sich im Jugendalter<br />
die zeichnerischen Ansprüche verschieben. Es ist eine Tatsache,<br />
«dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Jugendlichen mit<br />
ihrer Zeichenfähigkeit unzufrieden werden, weil sie nicht mehr<br />
bereit sind, subjektive Zeichen für die Gegenstände als die adäquate<br />
Darstellungsform für Realität zu nehmen. Sie insistieren<br />
vielmehr darauf, dass ihr Wissen um die Gegenstandsmerkmale<br />
in die Darstellung einfliesst und fordern, dass ihre Zeichenfähigkeit<br />
in dieser Richtung erweitert wird.» 13 Diese Ansprüche müssen<br />
ernst genommen werden und im Unterricht thematisiert werden.<br />
In der Kunst zeigt sich ein freier Umgang mit Zeichnung, die sich<br />
vom Anspruch entfernt, Abbild von etwas zu sein. Wird im Zeichenunterricht<br />
Wert auf den individuellen Ansatz jedes einzelnen<br />
gelegt, eröffnen sich vielleicht neue Möglichkeiten, dass Zeichnen<br />
als zusätzliches Kommunikationsmittel von vielen Jugendlichen<br />
ins Erwachsenenalter hinüber gerettet wird. Zeichnen nach Anschauung<br />
und Zeichnen aus der Vorstellung sind zwei Artikulationsformen,<br />
die unterschiedliche Fähigkeiten erfordern und Felder<br />
neuer Möglichkeiten eröffnen.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 1<strong>14</strong><br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:36 <strong>Uhr</strong>
115<br />
Vermittelt<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Giorgio Vasari schreibt in den Künstler-Viten über den Begriff «Disegno» folgendes: «Die<br />
Zeichnung (disegno) (...) geht aus dem Intellekt hervor und schöpft aus vielen Dingen ein<br />
allgemeines Urteil, gleich einer Form oder Idee aller Dinger der Natur(...).» Die Zeichnung sei<br />
«eine anschauliche Gestaltung und Klarlegung der Vorstellung, die man im Sinne hat, und von<br />
dem, was ein anderer sich im Geiste vorgestellt und in der Idee hervorgebracht hat.» Giorgio<br />
Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister, hrsg. von L. Schorn<br />
und E. Förster, Bd 1, Worms: 1983, S. 63.<br />
2<br />
Emma Dexter (Hrsg.), Vitamin Z. Neue Perspektiven in der Zeichnung, Berlin: 2006, S. 6.<br />
3<br />
Heinrich von Kleist, «Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden»,<br />
in: Sämtliche Werke und Briefe, München: 1982.<br />
4<br />
Béatrice Gysin, Wozu zeichnen Qualitäten und Wirkung der materialisierten Geste durch<br />
die Hand auf die Zeichnenden, (erscheint 2009), Bern: 2003.<br />
5<br />
Gabi Koeppe-Lokai, Der Prozess des Zeichnens, Münster/New York: 1996.<br />
6<br />
Erich Müller 1982, 200 Jahre Zeichenunterricht in Basel, hrsg. von der Gesellschaft für das<br />
Gute und Gemeinnützige, Basel: 1982, S. 26/77.<br />
7<br />
Gert Selle, Gebrauch der Sinne, Reinbek bei Hamburg: 1988, S. 229.<br />
8<br />
ebd, S.229.<br />
9<br />
Silvia Bächli, in: Kunstzeichen Zeichenkunst, Du, Zürich: 1991, S. 17.<br />
10<br />
Cécile Hummel, in: Dorothée Messmer (Hrsg.), Dessine-moi un mouton,<br />
Kunstmuseum Thurgau: 2007, S. 18.<br />
11<br />
Nanne Meyer, Zeichnen, Magazin 4 der Kunsthochschule Berlin-Weissensee, Berlin: 2003.<br />
<strong>12</strong><br />
Béatrice Gysin Wozu zeichnen Qualitäten und Wirkung der materialisierten Geste durch<br />
die Hand auf die Zeichnenden, (erscheint 2009), Bern: 2003.<br />
13<br />
Helmut Hartwig, Sehen lernen, Köln: 1976, S. 89.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 115<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:36 <strong>Uhr</strong>
116<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 116<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:36 <strong>Uhr</strong>
117<br />
Vermittelt<br />
<strong>14</strong><br />
Béatrice Gysin<br />
Nonverbales Artikulieren<br />
von Wahrnehmungs-,<br />
Denk‐, Empfindungs- und<br />
Erinnerungsvorgängen.<br />
Die folgenden Seiten zeigen Resultate zeichnerischer Untersuchungen an Bildvorlagen einer Gruppe<br />
von Studierenden der HKB, Studiengang Vermittlung in Kunst und Design.<br />
Jeweils zu Beginn der Unterrichtseinheit wurden die Studierenden<br />
mit einem Bild konfrontiert. Die Bildvorlage wird als Inspirationsquelle<br />
genutzt. Zunächst findet eine Annäherung an das Bild statt,<br />
indem das ganze Bild oder Teile dessen neu gezeichnet werden.<br />
Während des Zeichnens stellen sich Fragen ein: Was sehe ich Was<br />
fällt zuerst auf Welche Bildteile «fallen ins Auge» Was löst die<br />
Bildlektüre aus Die Aneignung durch die zeichnerische Tätigkeit,<br />
öffnet ein weites Feld an Möglichkeiten, das Gesehene auf persönliche<br />
Weise neu zu «erzählen», zu etwas Eigenem zu machen.<br />
Ein Bild birgt in sich mehrere Bilder. Auf welche innere Reise<br />
schickt es einen Woran erinnern einzelne Teile oder komplexere<br />
Situationen Was hat das Bild – oder Teile davon – mit den Zeichnenden<br />
zu tun Mit diesen Fragen gehen die Studierenden an die<br />
Bildwelten heran. Zeichnerisch/gestalterische Prinzipien, ebenso<br />
wie formale oder inhaltliche Aspekte wurden hinterfragt und erkundet.<br />
Auf welche Weise ist dieses Reagieren auf Bilder mit der<br />
persönlichen Bildwelt verknüpft<br />
Die Studierenden haben in dieser Arbeitsreihe Zeichnen nach Anschauung<br />
und Zeichnen aus der Vorstellung als unterschiedliche<br />
Haltungen erfahren und reflektiert. Sie haben den kritischen,<br />
vergleichenden, eher distanzierten Blick auf die Vorlage und das<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 117<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:36 <strong>Uhr</strong>
118<br />
Erfühlen, das Herantasten an ein nicht klar voraussehbares Resultat<br />
an sich selber erlebt. «Wie bin ich zeichnerisch tätig» «Wie<br />
erscheint das Resultat» (Siehe dazu: «Zwei zeichnerische Haltungen»<br />
von Flavia Keller, <strong>Heft</strong> <strong>02</strong>, Seiten 105–115)<br />
Ziele der Untersuchung waren: Die zeichnerische Kompetenz<br />
in grösserer Breite zu erkunden, die unterschiedlichen Qualitäten<br />
des Abbildens und Erfindens zu erkennen, zeichnerisches traditionelles<br />
«Können» und suchendes Finden individueller Möglichkeiten<br />
als gestalterische «Sprachfähigkeiten» neu zu entdecken.<br />
Am Beispiel des Bildes «Tupperware-Party» der NZZ am Sonntag,<br />
vom 2.3.<strong>08</strong>, lässt sich ablesen, auf welche Art und Weise die<br />
Studierenden zeichnerisch reagierten: Beobachten der Gesamtsituation,<br />
Aufspüren und dokumentieren von Details, Vereinfachen,<br />
suchendes Spurenlegen, Umkreisen und subtiles Animieren<br />
von Einzelfiguren, eine filmische Sequenz erfinden, Erzählen,<br />
Fantasieren.<br />
Am Projekt beteiligte Studierende: Irena Allemann, Nadia Bader, Fränzi Bieri, Lea Fröhlicher, Gabriela<br />
Gerber, Sybill Häusermann, Angela Kummer, Flavia Keller, Tim Leu, Marinka Limat<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 118<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:36 <strong>Uhr</strong>
119<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 119<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:36 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>0<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>0<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:37 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>1<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>1<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:38 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>2<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>2<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:38 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>3<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>3<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:39 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>4<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>4<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:40 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>5<br />
Vermittelt<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>5<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:40 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>6<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>6<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:40 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>7<br />
Artikulation: sichtbar<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>7<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:40 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>8<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>8<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:41 <strong>Uhr</strong>
<strong>12</strong>9 Sichtbar<br />
1<br />
Joel Marti<br />
Mein Leben mit Graffiti<br />
Seit nun mehr als 11 Jahren wird ein grosser Teil meines Lebens<br />
von Graffiti bestimmt. Im Alter von 9 Jahren nahm ich zum ersten<br />
Mal Graffiti als eine Ausdrucksform wahr. Während einer Reise<br />
durch die USA im Jahr 1997 sah ich, wie viele Jungs Baseballcaps<br />
mit bunten Aufschriften trugen. Als ich wieder in der Schweiz war,<br />
begann ich erste Skizzen mit meinem Namen zu malen. Durch meine<br />
ältere Schwester erfuhr ich, dass ein paar Teenager in meinem<br />
Dorf eine Crew bildeten und jeweils an den Wochenenden in der<br />
Nacht die Zugunterführungen bemalten. Ich hatte bis zu diesem<br />
Zeitpunkt kaum Graffitis näher betrachten können, nun wusste<br />
ich, wo solche zu finden waren. Mit einer Einwegkamera fotografierte<br />
ich alle Graffitis, die ich in meinem Dorf finden konnte.<br />
Nebenbei kopierte ich diese fotografierten Bilder auf Blätter und<br />
v e r s u c h t e , d i e S c h r i f t z ü g e s o g e n a u w i e m ö g l i c h n a c h z u z e i c h n e n .<br />
Im darauf folgenden Winter brachte ich meine Mutter dazu, mir<br />
eine blaue und eine rote Baumarktspraydose zu kaufen. Zuhause<br />
angekommen, packte ich diese aus und sprayte Buchstaben im<br />
Garten auf den Schnee. Noch heute erinnern Fotos an meine ersten<br />
Erfahrungen mit der Dose. Die Zeit verstrich, und ich war<br />
täglich am Graffiti malen. Nichts wurde von meinen Skizzen verschont,<br />
so mussten die Schulhefter und ebenso mein Pult hinhalten,<br />
wenn ich gerade kein leeres Blatt Papier zur Verfügung hatte.<br />
Zwei Jahre nach meinen ersten Erfahrungen gelang es mir, mit<br />
meinem Cousin in der Nacht aus dem Elternhaus zu verschwinden.<br />
Unser Plan war es, die Bahnunterführung in der Nähe meines<br />
alten Wohnortes zu bemalen. Mein Puls raste und ich hatte eiskalte<br />
Finger vom Sprühen. Ich erkannte, wie ich mich von Skizze<br />
zu Skizze verbesserte und wie sich mein Interesse an der Graf-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> <strong>12</strong>9<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:41 <strong>Uhr</strong>
130<br />
fitikultur vergrösserte. In der Schule hielt ich Vorträge über die<br />
Schweizer Graffitiszene und verfasste mit Kollegen, die sich auch<br />
für Graffiti interessierten, ein kleines Dossier über diese Art der<br />
Artikulation. Mit 13 Jahren kam ich in eine Schule in Zürich.<br />
So verbrachte ich jeden Tag mindestens eine Stunde im Zug. Ich<br />
erkannte, dass Graffitis in der Stadt noch viel präsenter waren als<br />
in meinem kleinen Dorf. Aufmerksam betrachtete ich alle Graffitis<br />
auf der Zugstrecke. Nach einem Jahr konnte ich alle Pieces<br />
(umgangsprachliches Wort für Graffiti Schriftzüge an der Wand),<br />
die auf dieser Strecke gemalt waren, aufzählen. Durch neue Bekanntschaften,<br />
die ebenfalls angefressen von Graffiti waren, kam<br />
ich an die für Graffiti geeigneten Spraydosen ran. Mein ganzes<br />
Sackgeld verprasste ich für Montanas, Beltons und die dazugehörigen<br />
Caps. Im Keller des Hauses lagen versteckt unzählige Dosen,<br />
Latexhandschuhe, Sturmmasken und Farbroller. Ohne es zu<br />
bemerken, war ich mitten in der Graffiti Szene. Durch mein Mofa<br />
gelang es mir, mein Einzugsgebiet zu vergrössern, so fuhr ich in<br />
der grössten Kälte mitten in der Nacht über Feldwege und Landstrassen,<br />
damit mich die Polizei nicht finden konnte.<br />
In einer solchen Nacht sollte es anders kommen. Ein Kollege<br />
und ich planten, an einem exponierten Ort ein grosses Werk zu<br />
gestalten. Gegen 2 <strong>Uhr</strong> schlichen wir neben meinen schlafenden<br />
Eltern in den Keller und bereiteten unsere Utensilien vor. Chrom,<br />
Schwarz und ein Hellgrün jeweils in 600 Milliliter Dosen wurden<br />
vorgeschüttelt. Ein Schütteln der Dosen am Spot hätte zuviel<br />
Lärm gemacht. Bereits beim Verlassen des Hauses schlug mir mein<br />
Puls bis in den Hals hinauf. Wir stiessen das Mofa einige hundert<br />
Meter von meinem Wohnort weg und machten uns dann auf den<br />
Weg. Der schwere Rucksack und mein Kollege auf dem Gepäckträger<br />
des Mofas verhinderte ein schnelles Vorankommen. Vom<br />
Ort aus, wo wir mein Gefährt abstellten, waren es noch etwa 1<br />
Kilometer zu Fuss, bis wir den Spot erreichten. Wir schlichen uns<br />
durch Gebüsche und robbten uns unter Zäunen hindurch. Mein<br />
Puls spürte ich mittlerweile auch schon in der Magengegend. An<br />
einem geschützten Ort vermummten wir uns und legten unsere<br />
Handschuhe an. Beide wussten wir, dass der gefährlichste Teil des<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 130<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:41 <strong>Uhr</strong>
131 Sichtbar<br />
Abenteuers noch bevor stand. Wir mussten noch die letzte Strasse<br />
überqueren, dann hätten wir es geschafft. Mein Kollege kontrollierte<br />
die linke Strassenseite, währendem ich auf der rechten Seite<br />
nach kommenden Autos Ausschau hielt. Keine fünf Sekunden<br />
später schrie mein Kollege, wir müssen sofort die Strasse verlassen.<br />
Aus Schreck überquerten wir die Strasse und legten uns flach<br />
auf den Kiesweg, der neben der Strasse verlief. Ich hörte meinen<br />
Kollegen leise flüstern: «Die Bullen halten neben uns im Wagen».<br />
Ich sah, wie ein Streifenwagen neben uns auf der Strasse hielt.<br />
Der einzige Ausweg nicht geschnappt zu werden, war flüchten.<br />
Wir zählten auf drei und spurteten los, ohne zu überlegen, wohin<br />
wir gehen sollten. Im rechten Augenwinkel sah ich meinen Kollegen,<br />
wie er mit voller Wucht gegen einen Drahtzaun lief und sich<br />
dort offensichtlich schmerzhaft verletzte. Ich rannte, so schnell<br />
ich konnte, weiter und versteckte mich unter einem ausrangierten<br />
Zug. Den Polizeiwagen sah ich nicht mehr und auch meinen<br />
Kollegen konnte ich nirgends erblicken, als es auf einmal in meiner<br />
Hosentasche vibrierte. Erleichtert erklärte mir mein Begleiter,<br />
er habe sich nicht gross weh getan und sei entkommen. Wir<br />
beschlossen, uns zu treffen, um die Situation gemeinsam zu beobachten.<br />
Nach etwa einer halben Stunde entschieden wir uns, das<br />
Bild trotz den Geschehnissen zu beginnen. Bei völliger Dunkelheit<br />
zog ich die ersten Linien, während das Bild von meinem Kollegen<br />
ausgefüllt wurde. Mein Puls hatte sich beruhigt und ich konnte<br />
die Lines, ohne zu zittern, ziehen. Kurze Zeit später sprayte ich<br />
mit Schwarz die Outline, einige Highlights in Grün und setzte das<br />
Crew Tag unter das vollendete Werk. Es war nun bereits gegen<br />
halb Fünf in der Früh und mein Hals kratzte von den Sprühdämpfen,<br />
da ich keine Maske trug. Völlig erschöpft fiel ich in mein Bett<br />
und schlief bis in die Nachmittagsstunden.<br />
In den letzten 5 Jahren bemerkte ich einen regelrechten Graffiti-<br />
Hype, der jedoch bereits wieder am abschwächen ist. Man konnte<br />
beobachten, dass neue Crews in Zürich wie Pilze aus dem Boden<br />
schossen. So schnell wie sie kamen, war es klar, dass die Qualität<br />
der Bilder abnahm. Die Buchstabenstruktur und die Kombination<br />
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der einzelnen Buchstaben werden heute weniger schwer gewichtet,<br />
wie dies noch vor 6 Jahren der Fall war. Es lässt sich darüber<br />
streiten, ob die Szene nun einen Schritt zurück gemacht hat. Dazu<br />
muss man bedenken, dass sich die Anzahl der Pieces an der Wand<br />
vermehrt hat. Ebenso liegt die Risikobereitschaft der Sprüher<br />
über dem Niveau von früher. Die Spots, welche sich die Crews<br />
aussuchen, sind auffallender und die Reputation ist um einiges<br />
grösser als noch vor einigen Jahren. Die Graffiti Szene lebt nicht<br />
nur von der Qualität der Bilder, sondern auch von der Quantität.<br />
Eine Crew, die sich viel Zeit für ein Bild nimmt, kann niemals den<br />
Output einer Crew erreichen, die sich spezialisiert hat auf schnell<br />
gemalte Bilder (sog. Bombings). Die erste Crew bekommt ihren<br />
guten Ruf von den Kennern der Szene, die sich Zeit nehmen, um<br />
z.B. den Oberen Letten zu besuchen, der voll ist mit schönen Bilder,<br />
während die zweite Crew von dem Ruf lebt, überall präsent<br />
zu sein. In der Öffentlichkeit sind also zwangsläufig die Crews<br />
bekannt mit qualitativ schlechteren Bildern. Wie bereits bekannt,<br />
ist auch Graffiti eine Form der gewaltlosen Auseinandersetzung.<br />
Bei Graffiti ist derjenige der Bessere, der mehr oder schönere Bilder<br />
malt. Bei beiden Arten des Erfolgs erhalten die Sprüher in der<br />
Graffiti Kultur genannten «fame». Mit diesem fame erhalten sie<br />
Respekt unter Gleichgesinnten. So hat sich die heutige Graffiti<br />
Szene in Richtung «fame» auf Grund von Quantität entwickelt.<br />
Viele qualitativ hochwertige Sprüher erreichten nun auch eine<br />
gute Reputation in Galerien und schafften den Sprung, mit Graffiti<br />
in die Kunstszene aufgenommen zu werden. Graffiti hat es<br />
geschafft, bei einem breiten Publikum als eine Kunstform wahrgenommen<br />
zu werden.<br />
Eine weitere Entwicklung durchzog sich bei den verschiedenen<br />
Stilen. Zu Beginn der 90er Jahre war Graffiti in der Schweiz bezüglich<br />
der Technik ein reines Zusammenhängen von dickeren<br />
Buchstaben, die nur gering verformt wurden. Durch das steigende<br />
Können der einzelnen Künstler entwickelten sich komplexere Stile<br />
auch in der Schweiz. So kam es, dass nicht jedes gesprühte Bild<br />
auf Anhieb zu entziffern war. Es wurde ein richtiger Trend, die<br />
Buchstaben so zu gestalten, dass es für einen Laien unmöglich<br />
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wurde, ein Bild als Schriftzug zu erkennen. Wie die Buchstaben,<br />
wurden auch die Fill Inns aufwändiger und bei einigen Künstlern,<br />
wie z.Bsp. Daim dreidimensionaler. Es ist heute bereits ein<br />
Gegentrend zu sehen, der wieder zurück geht zu einfachen Buchstabenkombinationen<br />
und gut lesbaren, aber schön gestylten<br />
Buchstaben. Das Graffiti-Bild ist nicht mehr ein reiner Schriftzug,<br />
dieser ist heute meist nur ein Bestandteil eines Gesamtbildes. So<br />
wird die Schrift in ganze Themen eingepackt, wie z. Bsp. eine Gebäudewand<br />
der Firma Leuthard in Rümlang. Die Sprüher wurden<br />
beauftragt, eine komplette Fassade zu gestalten und die Aufgaben<br />
des Unternehmens mit ins Bild einzubringen.<br />
Ich hoffe, dass die Zukunft des Graffitis weiter belebt wird<br />
durch innovative Stile und junge heranwachsende Künstler.<br />
Joel Marti ist Schüler einer Maturklasse der Kantonsschule Enge Zürich<br />
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2<br />
anonym<br />
Graffiti<br />
Es ist Donnerstag Nacht, ich sitze Zuhause an meinem Pult, vor<br />
mir liegen etliche voll geschriebene und gemalte Skizzenblätter,<br />
meine Pläne für heute Nacht sozusagen. Ein kurzer Blick auf die<br />
<strong>Uhr</strong> verrät mir, dass es bald zwei <strong>Uhr</strong> ist, es wird langsam Zeit<br />
den Schritt vor die Tür zu wagen und mich in Richtung Bahnhof<br />
zu bewegen. Es ist die beste Zeit, um draussen zu malen, noch<br />
besser da es unter der Woche ist und alle Menschen müde von<br />
der Arbeit in ihren warmen Betten liegen. Auch die öffentlichen<br />
Verkehrsmittel fahren nicht mehr und wenn doch noch vereinzelt<br />
Menschen unterwegs sind, dann beachten sie mich nicht. Was<br />
ich für meine Aktion heute Nacht brauche, habe ich bereits auf<br />
meinem Bett ausgelegt: zwei grosse Dosen Chrom von Molotow<br />
plus zwei Fatcaps, hoher Druck, fetter Strahl, keine Kugel, perfekt,<br />
um in relativ kurzer Zeit eine grosse Fläche zu füllen. Eine<br />
Dose Schwarz, kein gewöhnliches, sondern einen Bitumenspray,<br />
was bedeutet, dass die Farbe Teer enthält und somit den Chrom<br />
perfekt überdeckt und ausserdem fast nicht mehr zu buffen ist. Diese<br />
benutze ich für die Outlines. Eine kleine Dose Weiss mit einem<br />
skinny Cap für die Highlights, fertig. Diese vier Dosen packe ich<br />
in meinen kleinen, schwarzen Rucksack. Meine Ausrüstung ist,<br />
nachdem ich noch einen fetten Stift, Gummihandschuhe und meine<br />
Atemschutzmaske eingesteckt habe, komplett.<br />
Auf geht`s in die kalte Nacht. Ich laufe mit grossen Schritten<br />
dem Bahnhof entgegen. Schon jetzt spüre ich die Vorfreude auf<br />
das Malen, auf das Geräusch des Sprayens, auf den Geruch der<br />
Farbe, auf den Adrenalinflash und natürlich auf das unbeschreibliche<br />
Gefühl der Freiheit, wenn ich mein Piece abgeschlossen<br />
habe und mich schleunigst aus dem Staub mache, ohne erwischt<br />
worden zu sein...hoffentlich. Unterwegs sehe ich ein Wahlplakat<br />
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eines SVP-Hampelmanns und male ihm ohne zu überlegen einen<br />
Hitlerschnauz auf. Ausserdem setze ich meinen Namen auf den<br />
20-Minutenbehälter beim Bahnhof, als ich diesen endlich erreiche.<br />
Ein kurzer Blick nach links und rechts, um zu sehen, ob<br />
jemand kommt, und ich ziehe mir meine Sturmmaske über den<br />
Kopf und springe auf die Geleise. Nun ist es nicht mehr weit. Den<br />
Ort, an dem ich malen will, habe ich natürlich schon vorher ausgewählt.<br />
Ich war am Tag vorher schon dort und habe ihn ausgekundschaftet.<br />
Gibt es Kameras Ist eine von der Polizei befahrene<br />
Strasse in der Nähe Wo kann ich am schnellsten abhauen, wenn<br />
ich müsste Ich selbst schätze mich als vorsichtig ein, was solche<br />
Dinge betrifft. Es gibt auch Leute, die sich solche Fragen gar<br />
nicht erst stellen und einfach ans Werk gehen. Bei denen ist es aber<br />
(wahrscheinlich) nur eine Frage der Zeit, bis sie angezeigt oder<br />
gar von der Polizei erwischt werden. Leider musste ich dies auch<br />
schon am eigenen Leib erfahren. Darum bin ich heute viel vorsichtiger.<br />
Angekommen an meinem Ziel fällt mir die Kinnlade runter.<br />
Sie steht dort vor mir, die Umrisse im Mondlicht klar erkennbar,<br />
eine leerstehende S-Bahn. Ein Traum für jeden Sprayer. Wenn<br />
man die Chance hat sich auf einem Zug zu verwirklichen, bedeutet<br />
dies, dass sein Bild sozusagen mobil ist und von Leuten überall<br />
gesehen wird. Also: Planänderung! Von der Mauer auf den Zug.<br />
Ich stelle meine Dosen auf den Boden und ziehe die Handschuhe<br />
und Atemschutzmaske an. Ab diesem Moment scheint es, als ob<br />
jemand den Zeitrafferknopf gedrückt hätte. Je schneller das Bild<br />
fertig ist, desto besser. Jede Sekunde, die ich mehr brauche, ist<br />
eine Sekunde, in der plötzlich zwei Männer in Uniform hinter mir<br />
stehen könnten. Dieser Gedanke schwirrt mir immer im Kopf herum<br />
und treibt mich zum schnellen Arbeiten an. Natürlich ist mir<br />
trotzt des Stresses eine saubere Linienführung wichtiger als die<br />
Zeit, die ich dafür benötige, ich will ja nicht als Pfuscher wahrgenommen<br />
werden. Ich beginne damit die Form mit Chrom vorzuzeichnen,<br />
fülle sie danach mit der gleichen Farbe aus und beginne<br />
dann die Outlines zu ziehen mit dem Bitumenspray. Meine Augen<br />
und Ohren sind während des Malens, was die Wahrnehmung von<br />
Reizen betrifft, viel empfindlicher. Eigentlich weiss ich, dass mir<br />
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hier, geschützt von der Dunkelheit, nicht viel passieren kann. Es<br />
lohnt sich trotzdem, aufmerksam zu sein, denn man weiss ja nie.<br />
Immer wieder sehe ich in der Ferne Passanten vorbeilaufen, sehe<br />
sie reden und einmal sogar wie ein Mann seine Begleitung anhält<br />
und auf mich zeigt, danach jedoch wieder friedlich weiter<br />
spaziert. Den meisten Menschen ist es gleichgültig, was ich hier<br />
mache oder sie sagen einfach nichts, weil sie Angst vor Leuten<br />
mit Sturmmasken haben. Plötzlich passiert es: Über die Brücke,<br />
neben der ich am Arbeiten bin, fährt ein Polizeiauto. Ich verharre<br />
regungslos, beobachte genau, was passiert und mache mich schon<br />
mal darauf gefasst, so schnell ich kann, das Weite zu suchen. Das<br />
Auto fährt vorbei und biegt um die nächste Kurve. Sie habe mich<br />
nicht gesehen, Schwein gehabt. Mein Herz schlägt immer noch<br />
wie wild, als ich meine Arbeit fortsetzte. Nur noch die Highlights<br />
gezogen und ein Spruch daneben gesetzt («still free», haha!), um<br />
mein Piece abzurunden, und meine Arbeit ist vollendet. Die leeren<br />
Dosen werfe ich hinter die Böschung, um alle Beweismittel<br />
los zu sein, ab diesem Moment kann mir nichts mehr passieren...<br />
Was ich nun empfinde ist ein Gefühl der Freiheit in ihrer reinsten<br />
Form, ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber all jenen, die nicht<br />
verstehen wollen, warum ich das jetzt gemacht habe. Herrlich!<br />
Sprayen ist wie eine Sucht, die einem nicht mehr loslässt. Es fängt<br />
an mit bescheidenen Tags an Bushaltestellen und Müllcontainern,<br />
später kauft man sich Dosen und beginnt Pieces zu malen. Die<br />
ersten Versuche scheitern bei den meisten kläglich, doch verbessert<br />
man sich mit jeder geleerten Dose. Zuerst malt man an eine<br />
Hauswand, später an den Gleisanlagen und dann vielleicht mal an<br />
einen Zug und so weiter. Der Drang, zu malen und sich immer zu<br />
verbessern, ist immer da. Ich selbst merke dies z.B. in der Schule.<br />
Es gibt kein Blatt in meinem Mäppchen, auf dem nicht irgendwelche<br />
Zeichnungen oder Tags geschrieben/gemalt sind.<br />
Wenn ich tagsüber mit der Bahn in die Stadt fahre, so achte ich<br />
nicht auf die Werbetafeln, Baustellen, Natur oder ähnliches, ich<br />
achte nur auf das, was andere Leute, wahrscheinlich ebenfalls in<br />
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der Nacht an den Mauern und Wänden hinterlassen haben. Ich<br />
schaue, ob es irgendwo ein neues Piece gibt, ob irgendwo eines<br />
gecrosst wurde und ob es irgendwo noch freie Stellen gibt, die ich<br />
selber bemalen könnte. Wenn man immer und überall auf diese<br />
Dinge achtet, lernt man mit der Zeit auch die Botschaften hinter<br />
den Bildern und Schriftzügen verstehen. Man lernt die verschiedenen<br />
Writer nach ihren Styles zu unterscheiden und zu erkennen<br />
und diese schliesslich auch nach ihrem Können zu beurteilen. Hat<br />
es z.B. jemand geschafft, an einem schier unerreichbaren Ort seinen<br />
Namen hinzumalen, gibt ihm das in der Szene Respekt, auch<br />
Fame genannt. Mir gefällt dabei der Gedanke, dass sich Leute ihr<br />
ganzes Leben lang an dich erinnern werden, wenn du es in der<br />
Szene mal zu etwas gebracht hast, auch wenn sie dich vielleicht nie<br />
persönlich kennenlernten, sondern alleine durch die stetige Präsenz<br />
deines Namens in der Stadt von dir wissen. Fame ist natürlich<br />
nicht der einzige Grund für Sprayer das zu tun, was sie tun.<br />
Ich kann hier natürlich nur für mich sprechen, denn ich finde man<br />
sollte und kann diese Leute nicht einem gewissen Schema zuordnen.<br />
Das einzige, was alle Writer gemeinsam haben, ist die Freude<br />
an ihrer Arbeit, den Spass, den sie dabei haben, Farbe oder Tinte<br />
irgendwo hinzumalen. Ich selbst bin da nicht anders. Wenn ich<br />
nachts rausgehe, bewaffnet mit Dosen und Stift, dann tue ich dies<br />
aus reiner Freude an der Sache und an dem Adrenalin. Ausserdem<br />
ist es ein tolles Gefühl, wenn man durch die Stadt geht und überall<br />
seinen Namen sieht. Es ist wie Gratiswerbung und gleichzeitig<br />
auch eine Art Territorialanspruch und Verschönerungsversuch<br />
dieser grauen und langweiligen Stadt, in der ich lebe. Wenn ich<br />
mich schon sonst in allen Bereichen des Lebens der Gesellschaft<br />
anpassen muss, so ist es nur fair, dass ich nachts rausgehe, um<br />
mein eigenes kleines Stück Freiheit zu erfahren.<br />
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3<br />
Dario Lüdi<br />
Tags<br />
Auszug aus der Maturarbeit 20<strong>08</strong>/2009 von Dario Lüdi, Kantonsschule Enge Zürich<br />
Die Allgemeinheit verachtet oder hasst sie. Von der Polizei werden<br />
sie gejagt und vom Gesetz verurteilt. Als Vandalen verschrien –<br />
Kinder ohne Zukunft. Sie gehören zur Stadt, wie es das Großmünster<br />
auch tut und die Farbtropfen ihrer Schriftzüge rinnen an<br />
grauen Wänden hinab, wie der Regen, der genauso zur Löwenstadt<br />
gehört. Achtet man sich auf ihre Zeichen, so verfolgen einem<br />
diese durch die ganze Stadt. So lernt man Menschen kennen, ohne<br />
zu wissen, wer sie sind. Ihr Name soll möglichst bekannt sein und<br />
gleichzeitig ist die Anonymität ihr einziger Schutz.<br />
Es sind, obwohl auch sehr häufig, nicht pubertierende Jugendliche,<br />
die in ihrem Übermut Gesetze brechen und sich gegen Autoritäten<br />
auflehnen wollen, von denen ich spreche. Es sind, zumindest<br />
mit meinen Augen betrachtet, Künstler, die, sei dies nun auf formeller,<br />
inhaltlicher oder einer ganz eigenen Ebene, kommunizieren,<br />
indem der öffentliche Raum farblich so geändert wird, dass<br />
sogar grauste Mauern zu Trägern von bestimmten Botschaften<br />
werden. Eine Verallgemeinerung, wie gerade geschehen, ist eigentlich<br />
gar nicht möglich, so sind Variationen in Farbe, Schrift, Form<br />
und Lokalität beinahe unendlich groß, was eine sehr hohe Individualität<br />
ermöglicht. Es ist die Rede von «Taggern» oder, wie ich<br />
sie gerne nenne, Urbanen Kalligrafen.<br />
Zu Deutsch heißt das englische Verb «to tag» soviel wie markieren<br />
oder kennzeichnen. Daher stammt auch das Nomen «der<br />
Tagger», der, wie das Verb bereits erahnen lässt, Dinge kennzeichnet.<br />
«Tags», die von einem Tagger angebrachten Markierungen,<br />
werden oftmals fälschlicherweise als Graffiti bezeichnet, jedoch<br />
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sind sie nur deren Vorläufer. Tags sind Namenskürzel, die mit<br />
einem Stift oder Spraydose angebracht werden. Sie sind einfarbig<br />
und oftmals schwarz; gut vergleichbar mit der Unterschrift, wie<br />
sie jedermann kennt und täglich verwendet.<br />
Auf Wänden und Gegenständen Spuren zu hinterlassen, kann<br />
einerseits als Akt des Vandalismus bezeichnet werden, doch wird<br />
bei näherem Betrachten erkennbar, dass es sich oftmals um weit<br />
mehr handelt als das bloße Zerstören. Je länger und intensiver<br />
man hinsieht, umso stärker stört man sich am Begriffe der Zerstörung,<br />
doch wie kann man nur Illegales rechtfertigen Gar nicht!<br />
Schuldzuweisung plagen die Suche nach einer Rechtfertigung:<br />
Ist nun die Gesellschaft schuld, weil sie es nicht versteht, mit jungen,<br />
kreativen Köpfen umzugehen oder sind es genau diese Köpfe,<br />
die unfähig sind, sich so zu präsentieren, dass sie von der Gesellschaft<br />
mit offenen Armen empfangen und geliebt werden<br />
Ich lese keine Bücher, so bin ich jeden Tag viel zu sehr damit<br />
beschäftigt, Strassen zu lesen. Man versetzt sich nicht in die Lage<br />
des Erzählers, hier geht es nur um den Schriftsteller. Ganze Romane<br />
werden mit dem immer selben Wort erzählt, man beginnt<br />
dort zu lesen, wo es einem beliebt. Obschon diese mit wasserfester<br />
Tinte angebracht werden, so verändern sich die Geschichten täglich,<br />
wenn nicht sogar stündlich. Tags werden mit weißer Farbe<br />
übermalen, von Fremden ergänzt oder abgeändert, durchgestrichen<br />
oder wegbewegt, je nachdem, wo ein Tag angebracht wurde.<br />
Es sind ebensolche Geschichten, die mich faszinieren; Geschichten<br />
des Lebens von jedermann für jedermann. Sie sind geprägt von<br />
Freund- und Feindschaft, von Anonymität und Illegalität, von<br />
Leidenschaft und Risiko und von Adrenalin und Kreativität. Irrwitzige<br />
Kombinationen, die einem Außenstehenden völlig fremd<br />
scheinen und nicht nachvollzogen werden können. Hier geht es<br />
um die eigene Handschrift, dem Ein-mal-Eins der Sprache.<br />
Die folgende Erzählung basiert auf Informationen, die ich aus verschiedenen<br />
Interviews erfahren habe. Der Text will weder werten<br />
noch rechtfertigen. Er spielt sich an einem beliebigen Abend in<br />
einer beliebigen Stadt ab und die Personen sind frei erfunden.<br />
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Draußen wird es dunkel, der Entscheid, heute Abend rauszugehen,<br />
fällt spontan und gemeinsam; da draußen will man nicht<br />
unbedingt alleine sein. Auch wenn schon dunkel draußen, ist es<br />
noch viel zu früh, denn die Menschen sollen schlafen, wenn wir<br />
unterwegs sind. Ich freue mich. Gestern habe ich einen neuen<br />
Schriftzug entworfen, der mir sehr gut gefällt. Lange hatte ich<br />
ihn auf Papier geübt, doch nun scheint er zu sitzen. Die neuen<br />
Marker, die ich mir letzte Woche geleistet habe, warten auch<br />
bereits schon auf ihren Einsatz.<br />
Nach dem Abendbrot trinken wir gemeinsam noch ein paar Bier;<br />
die Stimmung ist gut, geprägt von Vorfreude. Wir wissen nicht,<br />
was uns erwartet und doch haben wir klare Vorstellungen von<br />
dem, was heute Nacht geschehen soll. Es ist noch zu früh, um<br />
rauszugehen. Dennoch liegen unsere Stifte schon bereit, schöne,<br />
sorgfältig in Plastiktüten eingepackt, um unsere Hände und<br />
Kleider vor einem möglichen Auslaufen der Farbe zu schützen.<br />
Dies kommt häufiger vor, als man meint, vor allem mit den<br />
Stiften, die in Muttis Garage gebastelt wurden. Doch was nimmt<br />
man nicht alles in Kauf, um den eigenen Style von anderen unterscheidbar<br />
zu machen. Die Farbe unserer selbst gemischten Farbe<br />
klebt mir noch immer an den Händen; jedes Mal vergesse ich die<br />
schützenden Gummihandschuhe anzuziehen, bevor wir unsere<br />
Farben mischen und dann in die Stifte abfüllen. Halb so wild!<br />
Auf dem Tisch liegt ein Stapel Blätter, allesamt voll gekritzelt<br />
mit unseren Namenskürzeln und sonstigen Spielereien, die<br />
wir noch vor dem Abendessen zu Papier gebracht haben. Das<br />
meiste darauf gefällt uns nicht. Es war eher ein Suchen nach<br />
bestimmten Formen und diente auch dem Zweck, die Hand ein<br />
wenig einzuschreiben, bevor er raus geht. Da kommt mir soeben<br />
meine Mutter in den Sinn und wie sie mich gestern fragte, ob<br />
wir bei unseren nächtlichen Ausflügen eigentlich nichts kaputt<br />
machen. Etwas komisch habe ich sie da angeschaut, so hat<br />
sie sich bisher auch nicht an dem gestört, was wir machen.<br />
Ich erklärte ihr, dass wir keine Vandalen seien und fremdes<br />
Eigentum genauso respektierten, wie jeder andere dies auch<br />
tut. Des Weiteren sagte ich, dass wir uns an den grauen und<br />
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dunklen Farbtönen störten die unsere Nachbarschaft seit jeher<br />
dominierten und wir dies gerne ändern wollen, auch wenn es<br />
möglicherweise nicht im Sinne aller Anwohner geschehe. Was<br />
ich ihr zuletzt erläuterte, war ihr wohl am einfachsten begreiflich,<br />
denn ich sagte, dass wir, ganz einfach gesagt, auf eine sehr<br />
leidenschaftliche Art und Weise unsere Handschrift pflegten<br />
und diese Leidenschaft gerne mit Dritten teilen wollten. Eine<br />
Leidenschaft für die es nicht genügt, bloß auf Papier zu stehen,<br />
denn sie lebt davon, in einem öffentlichen Kontext präsentiert<br />
zu werden. Meine Mutter lächelte, was mir als eindeutiges<br />
Zeichen von Vertrauen erschien und nicht von Missmut, wie<br />
anfänglich angenommen.<br />
Es ist Zeit; wir wollen raus. Ich ziehe mir noch kurz einen Pullover<br />
über und stecke meine Plastiktüte mit den Stiften in meine<br />
Hosentasche. Raus! Es ist dunkel; nur noch wenige Lichter<br />
brennen, also genau die richtige Zeit für uns. Erstes Ziel: die<br />
Bahnhofsunterführung. Das kalte Grau des Betons empfängt<br />
uns nicht sehr herzlich. Sie ist leer. Beide haben wir den Stift<br />
in der Hand. Der Abend kann beginnen! Schon beim ersten<br />
Kontakt mit der Mauer tropft der Stift so stark, dass der Tropfen<br />
den Boden mühelos erreicht. Das ganze geht sehr schnell.<br />
Über meine Schulter erblicke ich, dass auch er gleich fertig<br />
ist. Ein letzter Strich. Er hat bemerkt, dass ich ihm zusehe. Er<br />
muss lachen. Deckel drauf und raus. Der Start ist schon einmal<br />
gut gelungen und das Grau der Unterführung hat nun endlich<br />
wieder farbige Gesellschaft. Da kommt auch schon unser Zug,<br />
der uns stadteinwärts bringen soll. Er ist eben so verlassen, wie<br />
es auch die Unterführung war. Er sieht mich an und grinst. Ich<br />
schüttle meinen Kopf. In Zügen habe ich mich beim Schreiben<br />
noch nie wohl gefühlt und es auch meist unterlassen, doch für<br />
ihn scheint es kein Halten zu geben. Ich weise ihn an, noch kurz<br />
zu warten, denn zuerst will ich noch kurz ein Auge ins Abteil<br />
werfen, um auch sicher zu stellen, dass niemand da ist. So ist<br />
es auch; trotzdem bitte ich ihn noch zu warten und den Stift<br />
erst kurz vor unserem Ausstieg auszupacken. So ist es auch. Die<br />
Türen öffnen, er reißt den Deckel von seinem Stift, während<br />
ich raus springe. Zum Glück ist niemand zu sehen. Nun springt<br />
er ebenfalls raus und scheint das Ganze nicht unbeschadet<br />
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überstanden zu haben, denn seine Schuhe sind voller Farbtropfen.<br />
Ich muss lachen, er jedoch scheint dies im ersten Moment<br />
nicht komisch zu finden, doch dann verzieht er sein Gesicht<br />
und springt davon, ich hinten nach. Nun kann kommen, was<br />
wolle. Wir bewegen uns schnell vorwärts, ohne jedoch gute<br />
Gelegenheiten auszulassen, unsere «Tags» anzubringen. Türen<br />
sind beliebt, genauso wie Briefkästen, Tafeln und Schilder<br />
und was man sonst halt spontan noch so findet. Unsere Farbe<br />
scheint in Strömen zu fließen, während Freude und Adrenalin<br />
unsere Wahrnehmung beherrschen. Wir sind in guter Mission<br />
unterwegs, haben wir zumindest das Gefühl, doch die Meinungen<br />
von dritten interessiert uns wenig. Es ist unsere Welt in<br />
unserer Stadt. Wir geben ihr etwas zurück. Wir geben ihr Farbe,<br />
Kontrast und eine Geschichte, die jedermann lesen soll, das hat<br />
sie nämlich verdient. Wir, im Vergleichen zu vielen anderen,<br />
leben unsere Stadt und für mich gehört ein aktives Mitgestalten<br />
genauso dazu, wie etwa das Bezahlen von Steuern.<br />
Die Stifte sind leer, unsere Kleider dreckig und die Gemüter<br />
zufrieden. Wir sind aus dem Alltag der Stadt ausgebrochen<br />
und haben uns eine Abwechslung geschaffen, die uns niemand<br />
nehmen wird. Möglicherweise mag man uns nicht, aber daran<br />
denken wir gar nicht erst; ist man nämlich erst einmal in diese<br />
Welt eingetaucht, so will man da immer wieder rein.<br />
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Interview mit «GANK»<br />
Wie entwirfst du dein «Tag»<br />
Am Anfang ist mir das Wort eigentlich ziemlich unwichtig. Es<br />
geht mir zuerst darum Buchstaben zu finden und diese dann einzeln<br />
zu entwickeln. Erst in zweiter Linie wird für mich dann auch<br />
der Klang des Namens wichtig, aber einen persönlichen Bezug<br />
zu diesem Wort gibt es nicht wirklich. Auch jenes «Tag», das ich<br />
zurzeit verwende, ist erst langsam entstanden. Es sind meistens<br />
bestimmte Momente, in denen dir irgendwelche Namen in den<br />
Kopf schiessen, die einem dann auch gefallen. Dann wird es ein<br />
Ausprobieren, bei dem man sich fragt, wie man einzelne Buchstaben<br />
zusammenhängen und verbinden kann. Sehr viel hängt natürlich<br />
von der eigenen Handbewegung ab, jedoch heisst es nicht<br />
unbedingt, dass wenn einem ein «Tag» missglückt, dieses einem<br />
auch nicht gefällt. Es kann durchaus auch vorkommen, dass man<br />
gerade durch solche Missgeschicke neue Formen findet, die einen<br />
ansprechen.<br />
Kann man sagen, da auch du schon verschiedene Namen angenommen<br />
hast, dass neue Namen eine neue Identität geben<br />
Mir Hm, kommt sehr stark auf die Situation drauf an.<br />
Manchmal behält man einen sehr ähnlichen Stil bei, aber es kann<br />
durchaus auch Wechsel geben. Ich denke eine konkrete Antwort<br />
auf diese Frage gibt es nicht, denn es kommt immer auf die ganze<br />
Situation, den Namen und die Buchstaben drauf an. Denn auch<br />
wenn man mal ein «Tag» angenommen hat, so bleibt dies nicht<br />
für immer bestehen, es verändert sich, teilweise auch sehr stark,<br />
sodass man immer noch dasselbe Wort schreibt, dies nun jedoch<br />
eine komplett neue Form hat.<br />
Was repräsentierst du<br />
Was ich repräsentiere Nichts! Meinen Ausdruck, eine bestimmte<br />
Form, die ich gefunden habe. Noch schwer zu sagen. Indirekt<br />
repräsentiert mein «Tag» mich und meine Person.<br />
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<strong>14</strong>8<br />
Kennt ein «Tagger» die Stadt besser<br />
Ja ich denke schon. Dies hat ganz einfach damit zu tun, dass<br />
er viel genauer darauf achtet, was es in der Stadt zu sehen gibt.<br />
Bestimmte Orte betrachtet er auch viel genauer, weil ihm halt Sachen<br />
auffallen, die andere Menschen nicht wahrnehmen würden<br />
und dadurch ist es auch klar, dass er eine Stadt besser kennt.<br />
Wie würdest du die Kraft beschreiben, die dich treibt Ist diese<br />
kreativ oder destruktiv<br />
Ich achte vor allem auf Kreativität bei meinen «Tags». Mir geht<br />
es nicht darum, möglichst oft gesehen zu werden. Mir ist es wichtig<br />
möglichst speziell zu schreiben. Dies muss nicht unbedingt einmal<br />
schön sein, denn Schönheit ist ohnehin sehr relativ. Es kann<br />
durchaus auch so sein, dass mir «Tags» gut gefallen, obschon ich<br />
diese nicht wirklich schön finde. Sobald ich sehe, dass es überlegt<br />
ist, dass gewisse Gedanken hinter einem «Tag» stehen und so diese<br />
Kreativität sichtbar wird, kann mir das oft genügen, damit mir ein<br />
«Tag» gefällt. Oftmals ist es auch so, dass ich ein «Tag» als Ganzes<br />
nicht wirklich schön finde, mich jedoch einzelne, darin enthaltene<br />
Buchstaben sehr interessant dünken, da sie gut gestaltet sind.<br />
Kannst du deine Kreativität vollständig mit «Taggen» ausleben<br />
Es ist bestimmt nicht so, dass ich meine Kreativität nur mit<br />
dem «Taggen» auslebe, aber es ist halt ein Teil davon. Wie wichtig<br />
es jedoch für mich ist kann ich nicht wirklich sagen. Es ist einfach<br />
etwas, das mir gefällt und Spass macht. Es ist bestimmt auch ein<br />
Ausgleich. Man kommt von diesem Alltagsstress ein wenig runter<br />
und ist mit sich selbst beschäftigt. Es ist einfach eine willkommene<br />
Abwechslung, denn man macht dies auch nicht tagtäglich,<br />
ausser man ist voll in dieser Szene versifft!<br />
Gibt es bestimmte Regeln, die du beim «Taggen» einhältst<br />
Regeln gibt es keine. Es geht einfach darum, dass man über<br />
bestehende Graffitis oder «Tags» nicht drüber schreibt, also ich<br />
zumindest. Klar gibt es gewisse Kreise, die ein solch aggressives<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:43 <strong>Uhr</strong>
<strong>14</strong>9 Sichtbar<br />
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Vorgehen pflegen, gewissermassen Krieg führen mit anderen<br />
«Taggern», aber dazu gehöre ich bestimmt nicht. So etwas interessiert<br />
mich nicht. Ich schaue da manchmal einfach gerne zu,<br />
denn ich finde das oftmals sehr amüsant.<br />
Markers oder Cans<br />
Markers ganz klar!<br />
Zug oder Mauer<br />
Das kommt drauf an, je nachdem wo du deine Kreativität am<br />
besten ausleben kannst. Ich persönlich finde Mauern weniger<br />
interessant. Viel spannender finde ich das «Taggen» auf Gegenständen<br />
wie beispielsweise Ampeln und anderen Dingen die man<br />
auf den Strassen findet. So kann man auch mit der Form des Gegenstandes<br />
spielen und seine Schrift entsprechend variieren. Nur<br />
hat man halt leider meistens nicht allzu viel Zeit. Dadurch, dass<br />
die Zeit begrenzt ist und man auch immer auf neue Gegenstände<br />
triff, lebt man beim «Taggen» von einer sehr spontanen Kreativität.<br />
So besteht auch immer die Möglichkeit, die eigene Schrift zu<br />
verbessern, da sie laufend der Umgebung angepasst wird, obwohl<br />
für mich die Kreativität zuhause beim eigentlichen Entwerfen<br />
am meisten zum Vorschein kommt. Kreativität braucht meiner<br />
Ansicht nach auch Zeit, die man beim «Taggen» draussen sicher<br />
nicht hat, da sind es eher spontane kleine Veränderungen, die man<br />
vornimmt.<br />
Was hältst du von Kalligrafie<br />
Kalligrafie finde ich krass. Die Genauigkeit, mit der gearbeitet<br />
werden muss, beeindruckt mich total und auch die Möglichkeiten,<br />
die eigene Kreativität mit einer derart klassischen Bildung<br />
auszuleben, finde ich bewundernswert.<br />
Kann man sich als «Tagger» etwas von der Kalligrafie abschauen<br />
oder sonst irgendwie davon profitieren<br />
Ja klar. Vor allem die Genauigkeit, die bei den meisten «Tagger»<br />
kaum bis gar nicht vorhanden ist. Auch die ruhige Feder-<br />
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151 Sichtbar<br />
führung, die einen sauberen Strich erst möglich macht, würde<br />
bestimmt auch einem «Tagger» viel nützen. Auf der anderen Seite<br />
ist es auch sehr schwer, Kalligrafie und «Tags» zu vergleichen.<br />
Beim «Tagger» ist die Unterlage oftmals viel härter und vor allem<br />
rauer. Auch die Stifte erschweren genaues arbeiten, da diese halt<br />
oftmals auch unter dem Gebrauch auf diesen Oberflächen leiden<br />
und rasch abgenutzt sind. Auch die verwendete Tinte spielt beim<br />
«Tagger» eine wichtige Rolle. Oftmals spielt dieser mit Farbtropfen,<br />
die bei schnellem Schreiben und je nach Stiftwahl sehr rasch<br />
entstehen. Diese Farbtropfen lassen sich dann nicht kontrollieren<br />
und so spielt auch noch der Zufall eine Rolle.<br />
Was hältst du von Auftrags- und Galleriegraffitis<br />
Finde ich cool. Wenn sich damit Geld verdienen lässt, wieso<br />
nicht Ich kenne auch jemanden, der damit erfolgreich ist und damit<br />
auch ziemlich gut verdient. Natürlich kommt es auch immer<br />
auf den Ort an, denn damit ein Graffiti gut ist, muss auch zu seiner<br />
Umgebung passen, sonst ergibt das Ganze wenig Sinn.<br />
Definiere, was für dich ein gutes «Tag» ausmacht<br />
Ein gutes «Tag»... Schwer zu sagen. Es gibt jeweils mehrere Aspekte,<br />
die entscheidend sind. Auf was ich am meisten achte, ist<br />
ob die Buchstaben gut miteinander verbunden wurden. Wirkt das<br />
«Tag» geschlossen, quasi als eine Einheit oder stehen die Buchstaben<br />
einzeln im Raum. Für mich ist es immer noch das beste, wenn<br />
ein «Tag» in einem Strich gezogen werden kann, ohne Unterbruch.<br />
«Egal wie schön ein Tag ist, diejenigen die am häufigsten zu sehen<br />
sind, werden immer am meisten geachtet, egal wie hässlich diese<br />
teilweise auch sind»<br />
Kann der Style eines «Tags» stellvertretend für den Charakter eines<br />
«Taggers» stehen<br />
Ja, das denke ich schon. Zum Teil merkt man sehr gut, ob ein<br />
«Tagger» seine Hand ruhig führen kann und somit auch mit Sorgfalt<br />
am Werk ist. Teilweise wirken «Tags» auch sehr zerstreut,<br />
was dann eher wieder darauf hin deutet, dass diese Person ein un-<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:43 <strong>Uhr</strong>
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ruhiges Gemüt hat. Ob ein «Tagger» mit der Absicht seinen Namen<br />
zu verbreiten unterwegs ist oder ob es jemand ist, der seinem<br />
Talent nachkommt, lässt sich auch ganz gut erkennen. Für mich<br />
besteht also klar eine Verbindung zwischen Style und Charakter.<br />
Gibt einem das «Taggen» eine Identität, die im ganzen urbanen<br />
Wirrwarr verloren geht<br />
Ich verstehe nicht weshalb du von Wirrwarr sprichst, denn mir<br />
persönlich ist dies nicht wichtig, davon kriege ich gar nicht viel<br />
mit. Ich beachte es nicht und deshalb verstehe ich nicht, weshalb<br />
ich darin eine Identität suchen sollte. Wenn ich mir das Ganze<br />
einmal durch den Kopf gehen lasse, dann denke ich, dass dies<br />
möglicherweise auf «Tagger» zutrifft, die möglichst häufig ihr<br />
«Tag» setzen und sich so gewissermassen Bekanntheit in der Stadt<br />
verschaffen, aber auf mich persönlich trifft dies gar nicht zu. Lustig<br />
ist es dann, wenn man nur die «Tags», aber nicht die Person<br />
selbst kennt, mit dieser dann aber zu einem späteren Zeitpunkt<br />
einmal Bekanntschaft macht.<br />
Wie wichtig ist die Farbwahl<br />
Die Farbwahl spielt zum Teil schon eine Rolle. Was halt ist, sind<br />
die drei Grundfarben, die es beim «Taggen» gibt und zwar Silber,<br />
Schwarz und Weiss. Klar gibt es auch farbige «Tags», aber diese<br />
sind weniger häufig. Auch dadurch, dass Hauswände oft nicht<br />
richtig weiss sind und auch andere Orte eher einen hellen oder einen<br />
dunklen Farbton haben, erreicht man mit einem Schwarz oder<br />
einem Weiss einfach die besten Kontraste. Dazu kommt noch,<br />
dass mir persönlich farbige «Tags» weniger gut gefallen.<br />
Wie reagiert die Szene auf das Wegputzen von «Tags» Ist dies eher<br />
fördernd oder hemmend für einen «Tagger» zu sehen, wie seine<br />
«Tags» verschwinden<br />
Schwer zu sagen, aber ich denke der grösste Teil der «Tagger»<br />
wird dadurch noch zusätzlich motiviert, denn dadurch wird neuer<br />
Platz geschaffen und wenn man beim «Taggen» davon ausgeht,<br />
dass es darum geht, einen Adrenanlinschub zu holen, dann ist<br />
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153 Sichtbar<br />
das Risiko beim zweiten Mal am selben Ort grösser und somit<br />
auch das Adrenalin stärker, weil man weiss, dass «Tags» dort<br />
nicht erwünscht sind und diese Orte beobachtet oder gar bewacht<br />
werden.<br />
Was gibt es für Alternativen zum «Taggen»<br />
Ich denke Zeichnen wäre durchaus eine Alternative. Sei dies<br />
nun das Zeichnen von Figuren, Kreaturen, was auch immer. So<br />
kann man seiner Kreativität ihren freien Lauft lassen. Meistens ist<br />
das «Taggen» ja auch sehr stark mit dem Graffiti verbunden, also<br />
wäre dies sicher auch eine mögliche Alternative, sei dies nun auch<br />
auf Papier gezeichnet oder an die Wand gesprayt.<br />
Bist du kunstinteressiert<br />
Ja, sehr sogar. Man beachtet halt vieles, seien dies nun Fotos,<br />
Skulpturen, Bilder – alles Mögliche halt. «Taggen» hat mein Interesse<br />
an Kunst sicher auch verstärkt und mein Auge geschult, so<br />
dass ich heute genauer hinsehe, egal durch welches Medium sich<br />
ein Künstler nun ausdrückt.<br />
Welche Risiken nimmst du auf dich<br />
Eigentlich das einzige, aber auch grosse Risiko, das man auf<br />
sich nimmt, sind Probleme mit dem Gesetz. Familiäre Probleme<br />
durch meine Aktivität als «Tagger» sind ausgeschlossen, auch<br />
Probleme mit Freunden deswegen sind bei mir kein Thema.<br />
Wenn du jeweils «taggen» gehst, passiert das spontan oder bereitest<br />
du dich irgendwie darauf vor Gibt es spezielle Abläufe, die du<br />
einhältst<br />
Meistens spontan. Wobei ich ohnehin denke, dass spontane<br />
Aktionen jeweils die besten sind, was möglicherweise auch einfach<br />
damit zu tun hat, dass ich ein sehr spontaner Mensch bin.<br />
Abläufe gibt es keine. Das einzige, was immer gleich bleibt, ist,<br />
dass das Ganze sich jeweils in der Nacht abspielt, wenn es Dunkel<br />
ist draussen, doch das ist wohl klar.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:43 <strong>Uhr</strong>
154<br />
Kann «Taggen» eine Sucht sein<br />
Ja, das denke ich. Dies ist bei mir zwar nicht der Fall, doch<br />
kann ich es mir sehr gut vorstellen. Vor allem halt für Leute, die<br />
sehr häufig, wenn nicht sogar täglich, unterwegs sind. Ich glaube<br />
eine Suchtgefahr ist vorhanden, denn das Gefühl, das man hat,<br />
wenn man «taggen» geht, ist sehr speziell. Dies sind sehr verschiedene<br />
Gefühle, so hat man einerseits ein sehr gutes Gefühl, wenn<br />
einem ein «Tag» gelingt, doch kann es andererseits auch scheisse<br />
sein, wenn eines misslingt. Bestimmt hat das Ganze auch mit Adrenalin<br />
zu tun. Dieses Gefühl zu beschreiben, ist sehr schwer und<br />
kann, so glaube ich, ohnehin nur von Personen nachempfunden<br />
werden, die es selbst draussen auf der Strasse erlebt haben. Man<br />
kann das Risiko auch herausfordern und immer heiklere Sachen<br />
wagen, so dass dieses gefühlte Adrenalin immer stärker wird.<br />
Dies sei jedem selbst überlassen.<br />
Gibt es Orte, die du verschonst<br />
Ja, die gibt es. Die Kirche zum Beispiel, obwohl ich eigentlich<br />
auf die Kirche scheisse. Dies hat einfach mit Respekt zu tun. Es<br />
gibt auch ganz einfach Orte, wo «Tags» nicht hinpassen. Schöne<br />
Architektur ist mir beispielsweise meistens ein Hindernis; würde<br />
da drauf «getaggt», störte ich mich selbst daran. Die Orte, die ich<br />
auswähle, brauchen eine Urbanität, wenn ich dem so sagen kann.<br />
Sie müssen Teil der Stadt sein, sonst passt das ganze nicht.<br />
Findest du deine Stadt ist, auf «Tags» bezogen, überfüllt<br />
Bei uns hier in Biel schon, ja. Allmählich haben sie zwar angefangen,<br />
die Stadt zu säubern, wenn man das so sagen darf, aber<br />
hier sind nach wie vor etwa 40% der Häuser «besprayt» oder<br />
«vertaggt».<br />
Was unterscheidet dich von anderen «Taggern»<br />
Eben, so gut als möglich mein individueller Stil und sonst gibt<br />
es eigentlich keine Unterschiede, denke ich. Es ist auch nicht so,<br />
dass sich mein Stil extrem stark von jenem anderer «Tagger» unterscheidet,<br />
denn so individuell ist er auch nicht. Ich versuche mich<br />
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155 Sichtbar<br />
halt, grob gesagt, durch meine Schrift und meine Buchstaben von<br />
anderen zu unterscheiden.<br />
Schreibst du alleine oder nicht Weshalb<br />
Es kann vorkommen, dass ich alleine unterwegs bin, doch<br />
meistens ist es zu zweit einfach lustiger. Dann ist nämlich auch<br />
jemand mit dabei, der seine Kreativität auslebt, was gewissermassen<br />
inspirierend und auch ein zusätzlicher Antrieb ist. Es macht<br />
dann auch Spass, der anderen Person zuzuschauen und zu sehen,<br />
wie ihm die «Tags» gelingen. So findet ein Austausch statt, von<br />
dem beide lernen und profitieren können. Zudem ist es halt auch<br />
so, dass vier Augen häufig mehr sehen als zwei, also gibt dies<br />
einem auch ein Gefühl von Sicherheit, wenn jemand dabei ist, der<br />
auch darauf achtet, dass einen niemand erwischt.<br />
Was sind Zusammenhänge zwischen Alkohol und «Taggen»<br />
Alkohol senkt bekanntlich die Hemmschwelle und hat somit<br />
auch einen Einfluss aufs «Taggen», sofern man auch einen Stift<br />
dabei hat, wenn man betrunken ist. Man nimmt halt dann viel<br />
grössere Risiken auf sich, doch auch die Qualität des «Tags» leidet<br />
stark. Man «taggt» dann zwar überall, aber die «Tags» sind einfach<br />
hässlich, also ist diese Kombination nicht empfehlenswert!<br />
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157 Sichtbar<br />
4<br />
Edith Glaser<br />
«Die Aussicht, die man hat»<br />
«Am meisten interessierte mich das Bett, wie man das machen sollte.<br />
Denn Frau D hat uns erzählt, wir lägen in einem Bett in einem Schiff. (…)<br />
Und dann – eben, – dass man die Aussicht auch hat, dass man seine Füsse<br />
noch sieht. – Das ist witzig.» (Enia, 10 J.)<br />
Enia zeichnet und spricht über ihre Zeichnung<br />
Enia, eine 10-jährige Schülerin, erzählt im Interview, was sie an<br />
einer Zeichenaufgabe besonders interessiert und wodurch sie sich<br />
herausfordern lässt. Sie ist ein neugieriges Mädchen, das gerne<br />
zeichnet. Es macht ihr Spass, sich auf eine schwierige, komplexe<br />
Aufgabenstellung einzulassen und diese mit persönlichen, bildnerischen<br />
Anliegen zu verknüpfen.<br />
Im Kontext eines Forschungsprojektes<br />
Die Aufgabe «Ich erwache in der Kajüte», von der Enia spricht,<br />
steht im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt ‹raviko› 1 , in<br />
welchem die räumlich-visuellen Kompetenzen von Kindern der<br />
4. bis 6. Jahrgangsklassen untersucht werden.<br />
Ausgangspunkt im Projekt war der Gedanke, dass heute nicht<br />
mehr nur das Modell der Fluchtpunktperspektive als Ideal am<br />
Ende der zeichnerischen Entwicklung stehen soll, wie dies die<br />
bisherigen Kinderzeichnungstheorien annehmen. Vielmehr sollen<br />
im Unterricht Bildnerisches Gestalten sehr unterschiedliche räumliche<br />
Darstellungsformen geschätzt und gefördert werden. Dies<br />
alles vor dem Hintergrund, dass unterschiedliche zeichnerische<br />
Raumdarstellungsformen dank der Globalisierung und Virtualisierung<br />
weltweit ohne Hierarchie bestehen und diese Vielfalt an<br />
Bedeutung gewinnt (interkulturelle Kompetenzen / Google Earth<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:43 <strong>Uhr</strong>
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und andere bewegte Bilder / Entwurf virtueller Räume mit unterschiedlichen<br />
Entwurfsstadien). Um die zeichnerischen Vorgänge<br />
besser zu verstehen, wird im Projekt ‹raviko› nicht wie bisher in<br />
der Kinderzeichnungsforschung nur das Endergebnis (Zeichnung)<br />
betrachtet, sondern es werden auch der Zeichen-Prozess (mittels<br />
Video) und die Reflexionen der Zeichnerin (mittels Interview)<br />
erfasst. Das Datenmaterial wird durch das Forschungsteam, bestehend<br />
aus fünf Fachdidaktikdozierenden, während einer Aufgabenreihe<br />
im Unterricht Bildnerisches Gestalten erhoben, anschliessend<br />
aufbereitet und ausgewertet 2 .<br />
Zur ausgewählten Aufgabenstellung<br />
Auf der Grundlage einer offensichtlich motivierenden Rahmengeschichte<br />
formuliert die Lehrperson in der vierten Doppelstunde<br />
folgende Aufgabe: «Ihr befindet euch jetzt in einem alten Holzschiff<br />
auf stürmischer See. Beim Erwachen in einem Bett mit<br />
Baldachin blickt ihr in dieses Zimmer, als eben eine Person zur<br />
Türe rein kommt.» Die Klasse wird damit aufgefordert, die in der<br />
Rahmengeschichte geschilderte Situation 3 in einer Zeichnung individuell<br />
weiter auszubauen.<br />
Enias zeichnerische Anliegen<br />
Die Schülerin realisiert schnell, dass ihr gewohntes, abrufbares<br />
bildnerisches Schema zur Darstellung der geschilderten Situation<br />
nicht mehr genügt. Nach alter Gewohnheit hätte sie sich selbst<br />
früher als Figur im vollständig gezeichneten Bett dargestellt und<br />
sich gleichzeitig als Zeichnerin und Betrachterin ausserhalb des<br />
Bildes gedacht. Nun interessiert sich Enia jedoch für die Nuance<br />
in der Aufgabenstellung und versucht sich vorzustellen, was sie im<br />
Bett liegend von sich selbst, vom Bett und vom Zimmer erblicken<br />
kann.<br />
«Ich habe sonst einfach das Bett gezeichnet (zeigt auf die Bildfläche links),<br />
ich drin und dann den Raum (zeigt auf Bildfläche rechts).<br />
Aber dass es aussieht, dass ich schaue, dann muss man es ja so machen.»<br />
(Enia, S4, Z.275–277)<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 158<br />
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159 Sichtbar<br />
Sie erfindet eine neue Bildlösung, in der die Person im Bett und<br />
das Selbst der Zeichnerin identisch sind. Das Bett, von oben gesehen,<br />
wird angeschnitten dargestellt. Der Blick der im Bett liegenden<br />
Person gleitet über Bettdecke und Füsse hinweg in den Raum<br />
auf Zimmerdecke, Boden, Seitenwände und die frontale Wand des<br />
Zimmers.<br />
Irritation während des (videografierten) Zeichenprozesses<br />
Im viedeografierten Zeichenprozess sind Enias Schwierigkeiten,<br />
die durch die Suche nach einer neuartigen Lösung entstehen, für<br />
uns Forschende gut nachvollziehbar.<br />
Die Schülerin Enia (10J.) beginnt ihre Zeichnung mit schnell<br />
ausgeführten Strichen. Sie zeichnet die sich nach hinten verjüngende<br />
Zimmerdecke und zieht die Kanten zwischen Front- und<br />
Seitenwänden bis zum untern Blattrand herunter. Der untere<br />
Blattrand wird als Bodenlinie gedacht. Die zentrale Herausforderung<br />
für Enia ist jedoch die Sicht aus dem Bett heraus. Es ist<br />
ein bildnerisches Problem, das sie sich lustvoll zu eigen macht.<br />
Um dieses zu lösen, stellt sie das Bett senkrecht auf die untere<br />
Blattkante und markiert die angeschnittene Bettdecke mit einem<br />
Wellenrand. (Abb.1).<br />
Abb.1<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:44 <strong>Uhr</strong>
160<br />
Im weiteren Verlauf des Zeichnens hält sie plötzlich inne. Offensichtlich<br />
überlegt sie sich, was denn nun aus dem Bett heraus<br />
im Zimmer zu sehen ist. Sie betrachtet ihre angefangene Zeichnung,<br />
stellt das Zeichenblatt vor sich auf, legt es wieder auf den<br />
Tisch, denkt lange nach. Plötzlich greift sie entschlossen nach dem<br />
Gummi und radiert Bett und Füsse wieder weg. Im späteren Interview<br />
erinnert sie sich an ihre Überlegung, dass nämlich nach<br />
der ersten Skizze (Abb.1) für all die Dinge, die sie noch zeichnen<br />
wollte, nicht mehr genügend Platz auf dem Zeichenblatt blieb:<br />
Enia: Ich hatte zuerst meine Füsse da oben.<br />
I: aha<br />
Enia: Und dann habe ich gedacht, nein, sonst kann ich ja das hinten nicht<br />
zeichnen. Dann mache ich es lieber ein bisschen mehr<br />
(…unverständlich, zeigt nach unten).<br />
I: ah, weiter unten, damit du mehr Platz hast oben<br />
Enia: mhm (S4, Z.100–107)<br />
Durch den videografierten, sichtbar gemachten zeitlichen Ablauf<br />
lässt sich beobachten, wie Enia zuerst auf das gewohnte Raumkonzept<br />
des Standlinienbildes zurückgreift, in welchem die untere<br />
Blattkante als Boden verstanden wird. Wie sie dann den auftretenden<br />
Krisenmoment meistert, aus dem das Neue entsteht und in<br />
welchem ein Wechsel des mentalen Raumkonzeptes stattfindet.<br />
Enia kürzt die Wände und setzt zwischen Blattunterkante und<br />
Rückwand einen Bodenstreifen ein, auf dessen obere Begrenzung<br />
(eine neue Standlinie) nun die Kiste mit ihren Kleidern drin, Tisch<br />
und Stuhl und die offene Türe gestellt werden können.<br />
Enias Zeichnung<br />
In ihrer Schlusszeichnung (Abb.2) zeigt Enia die Kombination<br />
eines «Streifenbildes» nach orthogonalen Prinzipien und einer<br />
«zentralperspektivischen Darstellung» der Zimmerdecke in der<br />
oberen Bildzone. Dem Konzept «Streifenbild» entspricht die Aufsicht<br />
im unteren Bildstreifen auf Boden, Bett und Teppich und<br />
die Ansicht von Objekten wie Tisch, Schiffskiste etc. vor der getäfelten<br />
Wand im mittleren Streifen. Der mittlere Streifen weist<br />
orthogonale Elemente auf und orientiert sich an einer Standlinie.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:44 <strong>Uhr</strong>
161 Sichtbar<br />
Abb.2<br />
Die Objekte des Mittelstreifens wirken flach und wie an die Wand<br />
geklebt, nur die frontal dargestellte Person steht im Raum drin<br />
auf der Bodenfläche zwischen Bett und Wand.<br />
Der bewusste Perspektivenwechsel ist Enias Stolz<br />
Enia findet eine zeichnerische Lösung, bei der die dargestellte Person<br />
im Bett mit der Identität der Zeichnerin verschmilzt. Vieles<br />
dieser neuen Sichtweise und der entsprechenden Darstellung kann<br />
Enia noch nicht verbal-sprachlich fassen. Sie beurteilt aber die gefundene<br />
Lösung als gut. Sie ist stolz darauf, weil sie, im Gegensatz<br />
zur Mehrheit der andern Schülerinnen und Schüler dieser vierten<br />
Klasse, die neue Herausforderung angenommen und eine ihrer<br />
Meinung nach adäquate, neuartige Lösung realisiert hat.<br />
I: Hast du irgendetwas auf eine Art und Weise gezeichnet, die neu ist<br />
Hast du etwas früher noch nicht so dargestellt<br />
Enia: Fffff (Luft ausgeblasen; lacht dann) – ja, dass es ein Schiff ist.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:44 <strong>Uhr</strong>
162<br />
Ich mache eigentlich nicht so – Sachen in Schiffen – ja – und die Füsse<br />
sind auch neu, das Bett so zu zeichnen<br />
I: aha<br />
Enia: Das war sehr neu. (lacht)<br />
I: Gut, das war neu. Sonst, wie hast du das Bett sonst gezeichnet<br />
Enia: Ich habe sonst einfach das Bett gezeichnet, ich drin und dann<br />
den Raum. Aber dass es aussieht, dass ich schaue, dann muss man<br />
es ja so machen.<br />
I: mhm<br />
Enia: Ja, ich habe auch, wenn ich durch gegangen bin, – ein paar haben<br />
es auch so gemacht, einfach ein Bett und sich darin und dann die, –<br />
einfach die Sachen.<br />
I: Bei den andern Schülerinnen hast du das gesehen<br />
Enia: (nickt) (S4, Z.263–286)<br />
Enia lässt sich mit Vergnügen auf Überraschendes oder auch Irritierendes<br />
ein. Mit Genuss setzt sie sich ungewohnten Erfahrungen aus<br />
und verfolgt hartnäckig neue bildnerische Darstellungsformen.<br />
Die narrative bildnerische Fantasie und das Sprechen über die eigene<br />
Zeichnung<br />
Die Schülerin lässt sich von der gestellten Aufgabe anregen. Sie<br />
weist zum Beispiel darauf hin, dass von der Decke ein Lampe<br />
hängt: «Die Lampe ist oben angemacht. Das hat man so machen<br />
müssen.» (S4, Z.70/71). Während des Zeichnens baut sie dann<br />
die Szene nach eigenen Interessen weiter aus. Zusätzlich will sie<br />
zeigen, wie stark das Schiff im Sturm schaukelt und dass dadurch<br />
die Lampe ins Schwingen kommt. Man sieht durch die Bullaugen<br />
hohen Wellengang. Die Realisierung ihres Anliegens gelingt ihr<br />
durch die gewagte Formvariation der Lampe und die Bewegungszeichen<br />
links und rechts (Abb.2). Sie erläutert im Interview: «Ja,<br />
das Schiff ist ja im Sturm, und es wackelt sehr. Da hat, – ist eben<br />
die Lampe, die wackelt, hin und her schwingt sie (...) – Da ist sie<br />
gerade auf der linken Seite.» (S4, Z.182–184)<br />
Zirkel, Karte und Globus auf dem Tisch (Abb.3) lassen vermuten,<br />
dass Enia stark handlungsorientiert denkt und zeichnet. In<br />
den Interview-Aussagen weist sie auch auf die auf dem Tisch liegenden<br />
Utensilien der Passagierin hin, die damit ihre Schiffsreise<br />
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Abb.3<br />
plant und kontrolliert. «Ja, die Karte vor allem und dann – (...)<br />
der Zirkel, da kann man Kilometer messen. Und dann noch das<br />
(lacht und zeigt auf den Globus)» (S4, Z.28–32). Sie fährt später<br />
im Zusammenhang mit dem Hinweis auf den Besitzer des Schiffes<br />
in ihrer Beschreibung der Dinge und deren Funktion weiter und<br />
holt fantasievoll aus, geht in ihrer Schilderung auch über das tatsächlich<br />
Dargestellte hinaus:<br />
Enia: (...) und das ist eine Schatzkarte<br />
I: aha<br />
Enia: Von den Franzosen (lacht, ...) Ja. Da ist das Kreuz, das ist eben da bei<br />
diesen dreien, diesen drei (Inseln), und da ist noch ein (unverständlich)<br />
Inselchen, das konnte ich nicht zeichnen; das wäre unmöglich<br />
I: ah gut. Also da hat sich jemand orientiert, wo er gerade segelt<br />
mit dem Schiff<br />
Enia: mhm (S4, Z.<strong>14</strong>4–158)<br />
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Die unterschiedlichen Bildelemente werden hauptsächlich unter<br />
inhaltlichen Aspekten betrachtet. Sie charakterisieren die dargestellte<br />
Situation (hin und her schwingende Lampe) oder die Rolle<br />
und Funktion der Personen. Selten fokussiert Enia formale Aspekte,<br />
wie zum Beispiel die räumliche Darstellung von Objekten,<br />
ohne einen konkreten inhaltlichen Bezug herzustellen. Es fehlt<br />
ihr allerdings für die Beschreibung formaler Aspekte ein präziser<br />
Wortschatz. Trotzdem versucht sie zu umschreiben, wie sie Tisch<br />
und Stuhl gezeichnet hat:<br />
Enia: Und dann hab ich noch eben gemacht, dass es ein bisschen<br />
räumlich aussieht, hier da (zeigt) – und dann der Tisch<br />
I: also, wie hast du das gezeigt, ja<br />
Enia: Ich habe beim – Stab, wo man – die Füsse des Stuhls, hab ich ein<br />
bis – also ein bisschen ausgemalt und dann neben dran noch, –<br />
einfach leer<br />
I: aha, also das ist jetzt -<br />
Enia: der Schatten. (...)<br />
I: Und das hast du auch beim Tisch so gemacht<br />
Enia: Ja, beim Tisch, aber da habe ich nicht ausgemalt. (S4, Z.116–134)<br />
Wenige Hinweise in der einführenden Erzählung der Lehrerin<br />
genügen Enia als Auslöser für eigenes assoziatives Fantasieren.<br />
Sie belebt die Kajütenszene. So interpretiert sie die ins Zimmer<br />
tretende Person als «Franzose», namens John McCary, den sie in<br />
historischem Kostüm darstellt. Die Geschichte, die sie sich ausdenkt,<br />
wird mit persönlichem Wissen und mit in der Fantasie Erlebtem<br />
angereichert. Gedanken und Gefühle werden bildnerisch<br />
artikuliert und hinterlassen in der Zeichnung Spuren. Während<br />
des Interviews rekonstruiert und reflektiert sie, was sie im Zeichenprozess<br />
gedacht und erlebt hat:<br />
Enia: Die (Person) ist hier schon im Zimmer. Das ist ein Franzose.<br />
Das Schiff gehört auch dem Franzosen. Derjenige, der es gebaut hat,<br />
war John McCary – Ja (lacht)<br />
I: Ja<br />
Enia: Ja, das war ein Franzose. (lacht) Und das ist sein Diener, die haben<br />
früher so Perücken gehabt, das habe ich auch so gemalt. (lacht)<br />
I: Sehr schön, das sieht man, dass er eine Perücke trägt.<br />
Das ist ein Mann also<br />
Enia: Ja ein Mann. Und dann haben sie noch viel Schmuck gehabt.<br />
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165 Sichtbar<br />
Das ist eben John, sein Diener. (...)<br />
I: mhm – Und was hast du eigentlich hier noch, ist das auf der Türe<br />
oder – daneben<br />
Enia: Nein, die Türe ist offen und das ist dahinten, dann ist so ein<br />
langer Gang, Ja hier ist ein Bild eines Franzosen, das ist, das ist<br />
John McCary und da ist auch noch eine Wachsfigur –<br />
I: ah, – und da sieht man in ein anderes Zimmer hinein<br />
Enia: Nein, da sieht man nicht in ein anderes Zimmer hinein, das war<br />
ein Gang<br />
I: ah ja, ein Korridor.<br />
Enia: Da hinten sind einfach Zimmer. (S4, Z. 211–256)<br />
Mit dem gezeichneten Ausblick durch die geöffnete Türe in den<br />
Gang hinaus erweitert Enia den Bildraum, gleichsam die Bühne,<br />
auf der ihre Geschichte gespielt wird. Sie verknüpft die Gegenwart<br />
des Dieners im Zimmer mit dem Hinweis auf den abwesenden<br />
Schiffsbesitzer, der in Bild und Wachsfigur im Korridor draussen<br />
präsent wird. Die Komplexität wird zusätzlich gesteigert durch<br />
die Verbindung von Kostümen und Utensilien aus vergangener<br />
Zeit mit dem momentan aktuellen Geschehen in der Kajüte.<br />
Vielfältige Artikulation Enias<br />
Die 10-jährige Schülerin Enia setzt Gedanken, Gefühle und Vorstellungen<br />
vielfältig bildnerisch um. Im Interview erläutert und beurteilt<br />
sie, welche Anliegen sie in ihrer Zeichnung verfolgt hat und<br />
ob ihr deren Darstellung gelungen ist. Enia verbindet die schulische<br />
Aufgabe mit ihrer ausgeprägten Phantasiewelt und vermag reichhaltig<br />
bildnerisch zu erzählen. Zusätzlich thematisiert sie in ihrer<br />
Zeichnung und im Interview das Sehen und wechselnde Blickwinkel<br />
– ein quasi filmisch anmutendes bildnerisches Denken.<br />
Sich abzeichnende Tendenzen im Forschungsprojekt raviko<br />
Enias Zeichnung weist eine Mischform zwischen den räumlichen<br />
Darstellungsformen des Streifenbildes und eines zentralperspektivischen<br />
Ansatzes auf, wie wir oben sehen und lesen können. In den<br />
bisherigen Auswertungen im Projekt ‹raviko› 4 entsprechen solche<br />
Zwischen- oder Mischformen der Raumdarstellung einer allgemein<br />
festgestellten Tendenz. Sie treten neben den konventionellen<br />
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166<br />
Raumdarstellungsformen in den Zeichnungen der 83 Kinder sehr<br />
häufig auf. Es ist zudem auffallend, dass Kinder je nach didaktischem<br />
Arrangement Zugriff auf mehrere Varianten von Raumdarstellungsformen<br />
haben, die zu ihrem Repertoire gehören oder<br />
die situativ miteinander kombiniert oder variiert werden. Dies<br />
ist bei Enia u.a. im videographierten Zeichenprozess gut sichtbar,<br />
in welchem sie mit dem Standlinienbild beginnt, um dann<br />
einen Konzeptwechsel hin zum Streifenbild vorzunehmen. Dank<br />
den Interviews mit mehreren Schülern/Schülerinnen wird für uns<br />
Forschende augenfällig, dass hinter den Raumdarstellungsformen<br />
unterschiedliche Verarbeitungsformen, Verarbeitungsmotivationen<br />
und Verarbeitungsintensitäten stehen. Ein Beispiel wird hier<br />
am «Fall Enia» vorgestellt. In den nächsten Untersuchungsphasen<br />
sollen, entsprechend den Projektzielen, aus den festgestellten<br />
Merkmalen des räumlichen Darstellens und mentalen Verarbeitens<br />
die Gruppierung unterschiedlicher Typen des räumlich-visuellen<br />
Wahrnehmens und Darstellens sowie deren Differenzierung<br />
nach Niveau-Stufen bestimmt werden. Die empirisch ermittelten<br />
Ergebnisse können den Weg für eine wirklich schülerorientierte<br />
und binnendifferenzierte Förderung bereiten.<br />
Glaser–Henzer, Edith, Prof., Dozentin für Fachunterricht und Fachdidaktik Bildnerische Gestaltung &<br />
Kunst an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz PH FHNW.<br />
edith.glaser@fhnw.ch<br />
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167 Sichtbar<br />
Verwendete Literatur:<br />
Duncker, L./ Neuss, Norbert (Hrsg.): Ästhetik der Kinder. Frankfurt/M, 1999<br />
Reiss, Wolfgang: Kinderzeichnungen. Wege zum Kind durch seine Zeichnung. Berlin (Luchterhand) 1996. S.7f,<br />
107-136<br />
Peez, Georg: Evaluation ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse. Beispiele zu ihrer empirischen Erforschung.<br />
München (kopaed) 2005. S.13-17<br />
Seydel, Fritz: Biografische Entwürfe. Ästhetische Verfahren in der Lehrer/innenbildung. In: Manfred Blohm<br />
(Hrsg.): Diskussionsbeiträge zur ästhetischen Bildung; Bd.6. Köln (Salon Verlag) 2005. S.156-165<br />
Strübing, Jörg: Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens<br />
der empirisch begründeten Theoriebildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH,<br />
Wiesbaden 2004<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Projekttitel: «Räumlich-visuelle Kompetenzen in Bezug auf ästhetische Erfahrungen im<br />
Unterricht Bildnerisches Gestalten – Eine qualitativ-empirische Untersuchung im Rahmen der<br />
fachdidaktischen Entwicklung von Kompetenzniveaus für Bildungsstandards in den Klassenstufen<br />
4-6» – Laufzeit 2007-2010.<br />
Dies ist ein Forschungsprojekt der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz,<br />
finanziell unterstützt durch die «Jacobs Foundation» und den Verband der «Lehrer<br />
und Lehrerinnen für Bildnerische Gestaltung und Kunst, Schweiz» (LBG)<br />
Weitere Informationen siehe:<br />
www.kunstunterricht-projekt.ch<br />
www.fhnw.ch/ph/ip/forschung/abravikobb-raeumlich-visuelle-kompetenzen<br />
2<br />
Die qualitativ-empirische Untersuchung basiert auf Maximen der «Grounded Theory», auch<br />
«Gegenstandsorientierte Theoriebildung» genannt (Glaser/ Strauss 1967; Strauss/ Cobin<br />
1996; Strübing 2004; Truschkat u.a. 2005).<br />
Mittels dieses Verfahrens werden aus einer geringen Anzahl von Daten gegenstandsbezogene<br />
Theorieaspekte entwickelt. Während der schulischen Förderphase werden in der Regel drei<br />
unterschiedliche Datenformen bei 4 Fällen einer Klasse erhoben: Zeichnung, Zeichenprozess,<br />
Interview. Dieser aus 4 Fällen bestehende Datenkorpus wird ergänzt mit weiteren 4 Fällen,<br />
bei welchen zwei unterschiedliche Daten (Zeichnung und Interview) erhoben werden. Von der<br />
ganzen Schulklasse werden jeweils alle Zeichnungen ausgewertet.<br />
Zum Forschungsteam gehören: Luitgard Diehl Ott, Ludwig Diehl, Edith Glaser – Henzer,<br />
Hermann Graser, Christiane Maier Reinhard und Georg Peez, Professor für Kunstpädagogik<br />
und Didaktik der Kunst, Universität Duisburg-Essen, als wissenschaftlicher Berater.<br />
3<br />
Merkmale der Kajüte im alten Holzschiff: Bett mit Baldachin, Schiffskiste, Pult mit Stuhl,<br />
Globus, getäfelte Wände, Deckenlampe, Fensterlucken an linker Wand, rechts Person, die zur<br />
Türe rein kommt. Diese Begriffe stehen auf Kärtchen geschrieben, welche die Schüler-innen im<br />
Schulzimmer aufhängen. Die Kärtchen dienen während des Zeichnens als Erinnerungsstütze<br />
und Kontrollmöglichkeit.<br />
4<br />
vgl. Zwischenbericht ‹raviko›: www.fhnw.ch/ph/ip/forschung/abravikobb-raeumlich-visuelle-kompetenzen<br />
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169 Sichtbar<br />
5<br />
Vorwort zu ÜBERSCHUSS<br />
Hannes Rickli arbeitet an Stellen, wo die Alltagsästhetik brüchig<br />
ist: Foto- oder videografisch, installativ, öffnet er Durchblicke,<br />
in denen sich eine gesellschaftliche Mechanik im Untergrund der<br />
Medien und ihres Gebrauchs zeigt. Er findet sie in so unterschiedlichen<br />
Bereichen wie dem Parkhaus oder in naturwissenschaftlichen<br />
Laboratorien, wo sich rationale und ästhetische Argumente<br />
überschneiden oder im Widerstreit gebärden.<br />
Er zeigt audiovisuelles Material, das in Messkameras und Mikrofonen<br />
biologischer Laboratorien in Verhaltensexperimenten mit<br />
Fischen und Insekten anfällt. Die operativen Bilder und Klänge<br />
– von den Wissenschaftlern selber nicht weiterverwertet – bergen<br />
einen Überschuss an Zeichen und Bedeutungen, der sich erst<br />
durch die Verschiebung in den Kunstkontext und in den Videoinstallationen<br />
entfaltet. Das ästhetisch-kritische Potenzial dieser<br />
Arbeiten weist über die Laborschwellen hinaus auf den Gebrauch<br />
funktioneller Medienanlagen, die zunehmend gesellschaftliche<br />
Vorgänge steuern und kontrollieren. In welcher Form aber artikuliert<br />
sich hier der Künstler Für wen oder was ist er Sprachrohr<br />
Rickli schreibt dazu in einer Email vom 27.11.20<strong>08</strong> an die<br />
Redaktion:<br />
«Der Künstler nimmt sich vordergründig und scheinbar aus der<br />
eigenen Artikulation heraus, behauptet aber gleichzeitig relevante<br />
Gestaltungen vorzufinden und stellt damit auf die Funktion von<br />
Bildern überhaupt abzielende Fragen (auch an den Kunstbegriff,<br />
denn scheinbar braucht es zur Produktion von Kunst kein Künst-<br />
< Videogramm Trigla, 2007/<strong>08</strong>: Experiment: Akustische Kommunikation bei<br />
Trigla lucerna (Roter Knurrhahn). Experimentalsystem: Aquarium, Hydrophon,<br />
Bioakustikfilter, Infrarot-Videokamera. Philipp Fischer, Biologische Anstalt<br />
Helgoland/Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:45 <strong>Uhr</strong>
170<br />
lersubjekt). Motiv wäre dann eine Art Sensibilität als künstlerische<br />
Strategie. Damit kommt der Künstler wieder in den Blick,<br />
als Ordner, Sortierer, Eingeweihter etc. Diese künstlerische Praxis<br />
ist aber hinlänglich schon bekannt (Dada, appropriation, found<br />
footage etc.). Ein neues Feld wird aufgestossen, wenn das Bezugsmaterial,<br />
die Referenz fremd ist, wie in diesem Fall: Die Labormaterialien<br />
zirkulieren in keinem Diskurs, sind als solche weder<br />
theoretisch noch ästhetisch bisher bewertet. In der ästhetischen<br />
Betrachtung erst wird klar, dass sich hier Unkontrolliertes (Unkontrollierbares)<br />
artikuliert und dass sich darin allenfalls überschüssige<br />
Bedeutungen einschliessen, deren Entschlüsselungen für<br />
die Gesellschaft interessant sein könnten. Dazu müssen neue Interpretationsregeln<br />
gefunden werden, was zur ästhetischen Arbeit<br />
wird und/oder diese ausmacht.»<br />
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171 Sichtbar<br />
Peter Geimer im Gespräch mit Hannes Rickli<br />
ÜBERSCHUSS<br />
Überlegungen zu einer Ästhetik von<br />
Nebensachen<br />
Peter Geimer: Als Ausgangspunkt für unser Gespräch haben wir<br />
eines der Videogramme aus deinem Projekt «Arena, Überschuss»<br />
gewählt. Könntest du beschreiben, was du genau unter einem «Videogramm»<br />
verstehst<br />
Hannes Rickli: Die Bezeichnung ist der Terminologie des Internets<br />
entlehnt und wird hier metaphorisch eingesetzt. Videogramme<br />
sind kleine audiovisuelle Sequenzen, die einfach codiert als Video-<br />
Mail verschickt werden und sich auf jedem System direkt abspielen<br />
lassen. Aufgrund ihrer beschränkten Auflösung, Dauer und Datenmenge<br />
haben sie eine Art beiläufigen, inoffiziellen Charakter.<br />
Sie verweisen meist nur auf etwas anderes. Die beiden Merkmale<br />
– Inoffizialität der kleinen Videomitteilung und Verweischarakter<br />
– beschreiben die Eigentümlichkeit der Sequenzen in der Videosammlung<br />
«Arena, Überschuss» recht gut. Die Sammlung ist dadurch<br />
entstanden, dass ich seit längerer Zeit bei Aufenthalten in<br />
Forschungslaboratorien Material sammle, das integrierte Kamerasysteme<br />
im Inneren von wissenschaftlichen Versuchsanordnungen<br />
während des Forschungsprozesses aufzeichnen. Löst man einzelne<br />
Sequenzen aus den oft stundenlangen Videoprotokollen von Vorbereitungs-<br />
und Experimentierhandlungen heraus, erscheinen sie<br />
wie Botschaften aus einer fremden, hermetischen Welt.<br />
Peter Geimer: Wenn man nicht wüsste, dass hier eine verhaltensphysiologische<br />
Versuchsanordnung zu sehen ist, würde man beim<br />
Anblick dieses Videogramms sicherlich an anderes denken. Die<br />
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173 Sichtbar<br />
Klischeevorstellung eines experimentierenden Wissenschaftlers<br />
zeigt uns ja noch immer einen Mann im weissen Kittel im Labor,<br />
der ein Glasröhrchen prüfend gegen das Licht hält, eine komplexe<br />
Apparatur bedient oder sich in das Studium einer elektronenmikroskopischen<br />
Probe versenkt. Hier aber sieht man aus dem Dunkel des<br />
Raumes heraus einen jungen Mann in Shorts zum Vorschein kommen,<br />
mit nacktem Oberkörper, nicht übermässig muskulös, aber<br />
doch trainiert, der behutsam mit einem rätselhaften Objekt hantiert.<br />
Aus der Erläuterung zum Bild wird klar, dass hier ein Experimentalraum<br />
von Staub befreit werden soll, und vermutlich erklärt<br />
sich auch die spärliche Bekleidung des Mannes aus der Absicht,<br />
jede unnötige Kontamination etwa durch winzige Stoffpartikel zu<br />
vermeiden. Auf der zweiten Aufnahme ist das erwähnte Objekt verschwunden,<br />
stattdessen hat die Lichtregie einen Spot auf die rechte<br />
Hand des Mannes gesetzt. Von seinem experimentellen Setting<br />
isoliert, bekommt das Bild eine andere, zusätzliche Qualität. Das<br />
Ganze erinnert jetzt an eine Tanzperformance. Da man nicht genau<br />
weiss, was das rätselhafte Tun im Dunkel bedeutet, könnte man das<br />
Ganze erstmal für Kunst halten. Die Szenerie hält sich dann irgendwo<br />
zwischen experimentellem und ästhetischem Design; Objekte<br />
wie die Kleberolle, die der Experimentator benutzt, um Staub zu<br />
beseitigen, sehen aus wie Requisiten einer theatralischen Aufführung.<br />
Umgekehrt wirken private Objekte und Nebendinge plötzlich<br />
wie integrale Bestandteile des Versuchsaufbaus. Auf beiden Bildern<br />
fällt z. B. der metallene Armreif des Mannes ins Auge: Ein privates<br />
Schmuckstück des Wissenschaftlers, das keinen Bezug zur Arbeit im<br />
Labor hat, nicht zählt und nicht dazugehört, aber trotzdem da ist.<br />
Es wird sogar eigens beleuchtet. Die Isolierung der Aufnahme lässt<br />
also Beiläufiges und Nebensachen – sozusagen im Off des Experiments<br />
– plötzlich in den Vordergrund treten.Vermutlich ist es genau<br />
diese Qualität, die du meinst, wenn du im Titel deiner Arbeit von<br />
«Überschuss» sprichst.<br />
< Videogramm Ormia, 2000: Experiment: Akustische Orientierung bei der Fliege<br />
Ormia ochracea (Grillenparastit). Experimentalsystem: Flugarena, Lautsprecher<br />
(Audiostimulus), 2 computergesteuerte Infrarot-Videokameras/Trackit-System.<br />
Pie Müller, Zoologisches Institut der Universität Zürich<br />
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174<br />
Hannes Rickli: Ja. Es entsteht eine Aufmerksamkeit in einem<br />
Bereich, in dem sie nicht geplant oder gar gewünscht war. Überschuss<br />
im ökonomischen Sinn meint, dass ein zuvor gemachter<br />
Plan übertroffen wird, dass über diesen hinaus etwas produziert<br />
wird, das ausserhalb der vorgängig festgelegten Absicht liegt. Der<br />
Überschuss ist eine Unbekannte in der Rechnung, sonst wäre er<br />
zuvor in der Planung fixiert worden. Erst im Nachhinein lässt sich<br />
ein Überschuss als Überschuss feststellen. Dieser Zeitaspekt setzt<br />
meines Erachtens das ästhetische Potenzial des Überschusses frei:<br />
Er verschiebt die Optik und wirft damit in ganz eigenwilliger, unkontrollierbarer<br />
Weise ein Licht auf die Mechanik eines Prozesses.<br />
In seiner Zwischenstellung ist der Überschuss immer mehrdeutig.<br />
Er markiert Grenzen des Geplanten aus der Rückwärtsperspektive<br />
und fragt gleichzeitig nach den Lücken des künftig Planbaren.<br />
Peter Geimer: Wie äussert sich dieser Aspekt des Überschusses in<br />
den Videogrammen<br />
Hannes Rickli: Auch hier ist der Überschuss mehrfach deutbar.<br />
Zuerst einmal produzieren die Videogramme auf der Ebene<br />
der Zeichen Bedeutungsüberschüsse, sie fokussieren die oben erwähnten<br />
Nebensachen und lenken damit den Blick um. Auf der<br />
anderen Seite sind die Produkte als Zeichenträger selbst Überschuss<br />
oder Ausschuss. Sie entstehen in einem Aufzeichnungssystem<br />
in einem funktionalen Zusammenhang innerhalb des Experimentalsystems.<br />
Aufnahmegeräte steuern Vorgänge, kontrollieren<br />
und vermessen sie. Das Ziel der Aufzeichnungen sind aber nicht<br />
die erzeugten visuellen Resultate. Die Videoprotokolle sind lediglich<br />
Durchgangsstadien, Einzelglieder einer langen transversalen<br />
Kette von Abstraktions- und Reinigungsoperationen. Sie transformieren<br />
im Labor inszenierte Ereignisse – etwa den Flug einer<br />
Fliege im Flugraum des Zoologischen Instituts – in Tabellen, Diagramme,<br />
Formeln, Karten usw. Was die Schwelle des Labors am<br />
Ende dieser Kette übertritt, sind geklärte und stabilisierte Informationseinheiten,<br />
die sich im Austausch mit anderen Institutionen<br />
weltweit verknüpfen lassen. Man könnte auch sagen, diese Informationen<br />
seien globalisiert. Die Bilder meiner Videogramme ge-<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:46 <strong>Uhr</strong>
175 Sichtbar<br />
hören nicht zu dieser Sorte von Daten. Sie verbleiben im Dunkeln,<br />
auf der «Nachtseite» der Wissenschaft, wie der Wissenschaftshistoriker<br />
Hans-Jörg Rheinberger die Innenwelten der Laboratorien<br />
bezeichnen würde. Die Videogramme sind Reste, Abfall- oder<br />
Ausschussprodukte. Dennoch sind sie wesentliche Bestandteile<br />
des Plans ihrer Erzeuger: Wissenschaftler wollen komplexe Umwelten<br />
beschreiben und konzeptionalisieren. Dies nicht zuletzt<br />
mit dem Ziel, sie zu beherrschen.<br />
Peter Geimer: Dann würden also gerade in Abfallprodukten von<br />
Experimenten Zugänge zum Verständnis wissenschaftlicher Arbeit<br />
liegen.<br />
Hannes Rickli: Wenn ich die Videogramme aus der Perspektive<br />
des Künstlers als Überschuss bezeichne, meine ich, dass sie in einem<br />
bestimmten Verhältnis zum Plan stehen, der sie hervorbringt. Unter<br />
dem ästhetischen Blickwinkel erzählen sie von Herstellungspraktiken<br />
wissenschaftlicher Tatsachen. Sie eröffnen Einblicke in konkrete<br />
Situationen, zeigen Räume, Lichtverhältnisse, Geräte, Menschen,<br />
Gesten, instabile Basteleien. Sie beleuchten unabsichtlich<br />
verschiedene atmosphärische Schichten des Wissenschaftsalltags<br />
aus der Innensicht. Im Gegensatz zum Bild, das die Wissenschaft<br />
von sich selbst nach aussen projiziert und das den rationalen Zugriff<br />
auf die Welt per se verkörpert, finden wir hier Szenen vor, die<br />
das schiere Gegenteil zeigen: Zögern, Tappen im Dunkeln und das<br />
Scheitern in der physischen Berührung mit dem vorläufig Unbekannten.<br />
Daraus ergeben sich für mich wesentliche Fragen. Blendet<br />
der Wissenschaftsbetrieb diese Dimension des Irrationalen gegenüber<br />
der Aussenwelt aus Ist dieses Ausblenden Zufall oder Absicht,<br />
blinde Taktik, Plan Würden solche Bilder eventuell das Monopol<br />
rationaler Weltbeschreibung stören Immerhin ist die Rationalität<br />
das gewichtige Argument des Wissenschaftsbetriebs,mit dem er<br />
seine machtvolle gesellschaftliche und ökonomische Stellung behauptet.<br />
Auf das Argument der Rationalität gründet schliesslich<br />
auch die vorherrschende Technologie- und Expertenkultur. Um<br />
das Bild des Reifs am Arm des Wissenschaftlers wieder aufzunehmen,<br />
der im Zusammenhang mit einem Experiment fehl am Platz<br />
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176<br />
scheint, stellt sich für mich die Frage, ob solche Intimität lediglich<br />
eine Nebensache ist oder ob wir, wenn sich unser Blick plötzlich<br />
auf Leiblichkeit und Atmosphären fokussiert, Wesentlichem auf<br />
der Spur sind: Störfällen des Rationalen, die das Wissenschaftssystem<br />
unabsichtlich generiert. Von der Kunst wird erwartet, dass<br />
sie den Zugriff auf die Welt um Dimensionen der Leiblichkeit und<br />
Subjektivität erweitert. Vielleicht irritieren mich die Videogramme<br />
gerade, weil sich in ihnen Kunst und Wissenschaft auf rätselhafte<br />
Weise zu überkreuzen scheinen. Sie werden zwar nach rationalen<br />
Kriterien hergestellt, rücken aber trotzdem Privates und Intimes<br />
ins Blickfeld.<br />
Peter Geimer: Ich frage mich, welches Verständnis der Rollenverteilung<br />
von Wissenschaft und Kunst du diesen Überlegungen<br />
zugrundelegst. Ich finde auch, dass sich beim Anschauen der<br />
Videogramme beinahe nicht entscheiden lässt, wo hier die Grenze<br />
zwischen der wissenschaftlichen und der ästhetischen Dimension<br />
verläuft. Das hat aber auch damit zu tun, dass sich diese Bilder<br />
natürlich verändern, wenn sie nicht mehr ausschliesslich innerhalb<br />
der Grenzen des Labors zirkulieren, sondern in den Kunstkontext<br />
gelangen. Die oben skizzierte Arbeitsteilung zwischen Kunst und<br />
Wissenschaft wäre demnach etwa folgende: Auf ihrem Weg der<br />
Wissensproduktion erzeugt die Wissenschaft unaufhörlich Abfall<br />
– Fehlschläge, Irrwege, labile Basteleien und subjektive Einsprengsel.<br />
Aus den stabilen Endprodukten – wie Formeln, Diagrammen,<br />
Tabellen – muss dieser Abfall gezielt ausgeschlossen werden. Er ist<br />
schlicht überflüssig. Nun aber tritt die Kunst hinzu und interessiert<br />
sich genau für diese Ausschlüsse, das Material, das die Wissenschaftler<br />
am Wegrand zurückgelassen haben. Wie würdest du diese<br />
Arbeitsteilung beschreiben Hier sind ja sehr verschiedene Modelle<br />
denkbar: Kunst als externe Beobachtung der wissenschaftlichen<br />
Praxis, als explizite Kritik der blinden Flecke, als Korrektiv oder<br />
Kompensation oder einfach als ein ästhetisches und intellektuelles<br />
Weiterspinnen von Fäden, die im Labor erzeugt, aber dann fallengelassen<br />
und nicht weiter verfolgt wurden.<br />
Hannes Rickli: Das Weiterspinnen abgeschnittener Fäden wäre<br />
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sicherlich ein reizvolles Spiel. Künstlerinnen und Künstler betreiben<br />
es, indem sie beispielsweise den Faden der technischen Bildherstellung<br />
aufnehmen und eine Maschine, ein Elektronenmikroskop<br />
etwa oder einen grossen Rechner, mit eigenen, kontextfremden Inputs<br />
füttern. Solche Aneignungen erweitern das formale Vokabular.<br />
Mich interessiert jedoch vielmehr die Präsenz sogenannt einfacher<br />
Bildmedien wie Fotografie oder Video als Bestandteile von<br />
High-Tech-Apparaturen. Ihr Schattendasein ermöglicht es diesen<br />
Medien, weil sie von der Wissenschaft nicht eigentlich gemeint<br />
sind, Bilder zu produzieren, die wir durch die Verschiebung in<br />
den Kunstkontext auch als wissenschaftliche Laien lesen können.<br />
Aufgrund ihrer mimetischen, also konventionellen Sprache bieten<br />
sie uns ein Fenster, durch das wir am physischen Umgang mit dem<br />
Nicht- oder Noch-Nicht-Wissen teilhaben können. Wir werden<br />
Zeugen der Fabrikation des Neuen und Unvorhergesehenen in den<br />
frühen Phasen eines Forschungs- und Erkenntnisprozesses. Ich<br />
betreibe eine Art ästhetische Archäologie, indem ich eine Sammlung<br />
von Resten zeitgenössischer funktioneller Bilder anlege. Im<br />
Selektionsakt werden die Fragmente wertvoll, ohne dass ihr Wert<br />
tatsächlich gemessen und auch nur annähernd beschrieben wäre.<br />
Ob mit einer solchen Sammlung Kritik geübt, Beobachtung betrieben<br />
oder gar ein Korrektiv erstellt werden könnte, vermag ich<br />
momentan noch nicht zu beurteilen. Wichtig erscheint mir aber,<br />
dass die Bilder meiner Sammlung ihr Potenzial dadurch entfalten,<br />
dass sie über ihre funktionelle Absicht hinaus agieren, dass sie<br />
mehr sind als die Absicht, die vor und während ihrer Produktion<br />
in sie hineingelegt wurde. Die Arbeit der Kunst wäre demnach<br />
lediglich der Versuch, vorgefundene Bilder zu fokussieren oder zu<br />
rahmen. Es gälte, den Blick auf das Sammelgut so zu justieren,<br />
dass das Potenzial des Absichts-Überschusses aktiviert wird.<br />
Peter Geimer: Es ist interessant, dass du so explizit auf die Rolle<br />
des wissenschaftlichen Laien verweist. Denn natürlich sind wir<br />
angesichts der meisten Aktivitäten, die im Labor entfaltet werden,<br />
Laien. So wie umgekehrt die Naturwissenschaftler ja auch Laien<br />
der Kunst oder der Geisteswissenschaften sind. Die Konsequenz<br />
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aus dieser Allgegenwart des Laientums kann wohl nicht lauten, die<br />
Autoritäten der anderen umstandslos anzuerkennen, sie hinzunehmen<br />
und auf sich beruhen zu lassen. Aber genauso falsch finde ich<br />
es, die Differenzen, die beispielsweise zwischen Wissenschaft und<br />
Kunst unbezweifelbar bestehen, aus ideologischen Gründen abzumildern.<br />
Eine deutsche Museumsdirektorin hat kürzlich in einem<br />
Interview die Ansicht geäussert, Wissenschaft und Kunst kämen<br />
einander, wie in der guten alten Zeit der Renaissance, gegenwärtig<br />
wieder sehr nahe. Ich sehe das gar nicht so und finde ganz im Gegenteil,<br />
dass jede Auseinandersetzung mit einer anderen, hochspezialisierten<br />
Praxis zuerst einmal mit einer Reflexion der Differenzen<br />
anfangen müsste. Das war auch der Hintergrund meiner<br />
Frage nach der Rollenverteilung zwischen Wissenschaft und Kunst.<br />
Wenn sich ein Künstler, wie du es in deinem Beispiel andeutest,<br />
an ein Elektronenmikroskop oder einen Grossrechner setzt, dann<br />
tut er das natürlich als Künstler. Ganz gleich, was er dort anstellt,<br />
es wird gesellschaftlich sofort als Kunst wahrgenommen. Deshalb<br />
kann er auch nicht erwarten, dass sich der Wissenschaftler neben<br />
ihm per se durch diese Arbeit angesprochen fühlt. Was ich sagen<br />
möchte, ist ganz einfach, dass bei solchen Grenzüberschreitungen<br />
meiner Ansicht nach möglichst mitreflektiert werden müsste, von<br />
welchem Ort aus man agiert und wie man Innen- und Aussenperspektive<br />
miteinander vermittelt. Da reicht es nicht aus, wenn man<br />
sagt: Es gibt keine Grenzen mehr, auch Künstler experimentieren,<br />
oder: Kunst ist auch Wissenschaft.<br />
Hannes Rickli: Wie würdest du aus deiner Sicht das Verhältnis<br />
der beiden Systeme in der Videosammlung umschreiben<br />
Peter Geimer: Die Position, die du mit dem Archiv der Resten<br />
einnimmst, verstehe ich vor diesem Hintergrund als eine Art von<br />
abwartender Distanz. Es geht nicht darum, auf dem Terrain der<br />
Wissenschaftler selbst zu operieren und ihre Technologien zu<br />
benutzen, sondern darum, zu sehen, was in den Randzonen eines<br />
solchen Wissenssystems schlummert, was ein solches System offenbar<br />
nicht verwerten kann und uns als Rest zurücklässt. Das wäre<br />
also eine eher beobachtende und beschreibende Haltung, der es<br />
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etwa nicht darum geht, den Männern und Frauen im Labor einen<br />
Spiegel vorzuhalten.<br />
Hannes Rickli: Ich möchte noch einmal das Dilemma ansprechen,<br />
das entsteht, wenn Kunst und Wissenschaft unter demselben<br />
Nenner versammelt werden, unter dem Aspekt, beides<br />
seien gesellschaftliche Praktiken, die an der Symbolisierung der<br />
Welt arbeiteten. Die gemeinsame Klammer bildet dann oft der<br />
Begriff «Experiment». Der Begriff des Experiments ist aber komplex<br />
und in beiden Feldern sehr unterschiedlich konnotiert. Innerhalb<br />
des jeweiligen Systems ist er zudem äusserst heterogen<br />
besetzt, was darauf verweist, dass er eigentlich nicht zum vereinfachenden<br />
Vergleich taugt. Für den französischen Philosophen Jean-Fran-çois<br />
Lyotard etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, ist die<br />
Kunst»experimentieren». In der Postmoderne bestehe die Kunst<br />
aus dem Experiment als eine Art Bewegung, die in ständig zu<br />
erneuernden Anspielungen die Ahnung des Nicht-Darstellbaren<br />
permanent aufrechterhalten soll. Die Kunstproduktion, so Lyotard,<br />
könne dabei nicht von bestehenden Regeln und Kategorien<br />
geleitet sein, für den Betrachter gäbe es daher keinen Trost in der<br />
wiedererkennbaren Form. Die ständige Durchbrechung der Regeln<br />
ziele nicht auf eine Versöhnung mit der Wirklichkeit ab, sie<br />
solle im Gegenteil den Traum der «Umfassung der Wirklichkeit»<br />
als Phantasma darstellen. (Regellosigkeit, so meine ich, könnte<br />
man dann natürlich auch wieder als Regel kritisieren). Der Status<br />
des Experiments in den Wissenschaften und insbesondere des Experimentalsystems<br />
als gegenseitige Durchdringung menschlicher,<br />
technischer und medialer Komponenten wird erst seit relativ kurzer<br />
Zeit von der Wissenschaftsgeschichte und -theorie erforscht.<br />
Was eigentlich ist ein Experiment, was ein Experimentalsystem<br />
Welche Natur, welche Wirklichkeit wird im Experimentalsystem<br />
repräsentiert oder hergestellt<br />
Zurück zu deiner Frage betreffend die Videogramm-Sammlung:<br />
Deine Beschreibung als «abwartende Distanz» trifft ziemlich genau,<br />
vor allem wegen der darin angedeuteten Latenz. Was nämlich<br />
vom Experiment sowohl in den Wissenschaften wie auch in der<br />
Auffassung Lyotards gesagt werden kann und was womöglich den<br />
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einzigen Berührungspunkt zwischen dem Experiment in der Kunst<br />
und dem wissenschaftlichen Experiment darstellt, ist die eigentümliche<br />
Temporalität, die ihm innewohnt. Lyotard spricht vom<br />
Paradox der Vorzukunft und schreibt: «Künstler und Schriftsteller<br />
arbeiten also ohne Regeln; sie arbeiten, um die Regel dessen zu<br />
erstellen, was gemacht worden sein wird. Daher rührt, dass Werk<br />
und Text den Charakter eines Ereignisses haben. Daher rührt auch,<br />
dass sie für den Autor immer zu spät kommen oder, was auf dasselbe<br />
hinausläuft, dass die Arbeit an ihnen immer zu früh beginnt.» 1<br />
Peter Geimer: Wie funktioniert diese zeitliche Nachträglichkeit in<br />
deinen Videos<br />
Hannes Rickli: Ich sehe die Sequenzen als Spuren, die eine allfällige<br />
Wirkung oder Bedeutung erst in einer nachträglichen Lektüre<br />
entfalten. Allerdings gleichen sie in meinen Augen Hieroglyphen,<br />
zu deren Entzifferung die Schlüssel noch gefunden oder entwickelt<br />
werden müssen. Die Verschiebung in den Kunstkontext erfolgt lediglich<br />
aufgrund der Ahnung, dass ein möglicher Schlüssel in der<br />
ästhetischen Betrachtung liegen könnte. Hier taucht manchmal<br />
eine Unsicherheit auf. Wie und wo soll man diese Arbeit einordnen<br />
Oft werde ich gefragt, ob ich ein Künstler sei, der mit wissenschaftlichen<br />
Methoden arbeite oder ein Wissenschaftler, der<br />
künstlerisch agiere. Keines stimmt, ich bin Künstler und nichts<br />
weiter. Meine Arbeit spielt sich denn auch nicht im Zwischenfeld<br />
von Kunst und Wissenschaft ab,sondern ausschliesslich in der<br />
Kunst. Mich interessiert, wie «Präsenz», «Ereignis» oder «Wirklichkeit»<br />
als ästhetische Kategorien verfertigt und inszeniert werden.<br />
Im Arbeitstitel des Sammlungsprojekts «Arena, Überschuss»<br />
ist die «Arena» synonym zu Experimentalsystem zu verstehen als<br />
ein für Inszenierungen und deren mediale Übertragungen präparierter<br />
Ort. Dazu bewege ich mich zuweilen in kunstfremden Territorien,<br />
wo sich die Praktiken nicht primär ästhetisch definieren,<br />
obwohl dort auch ästhetisch gehandelt wird. Der Gegenstand der<br />
Beobachtung wäre vielleicht zu umschreiben mit dem aus Kunstsicht<br />
ästhetisch Unbewussten, dem nicht professionell ästhetisch<br />
Geplanten und Realisierten, in welchem ich ein Potenzial zu er-<br />
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kennen glaube. Dabei geht es nicht um den Gegenstand selbst,<br />
sondern lediglich darum, zu sehen, wie er sich verhält, als Knoten<br />
beispielsweise oder Riss im immer dichter gewobenen Netz absichtlich<br />
gestalteter Oberflächen in unserem Alltag. Solche Momente<br />
finde ich auch in anderen Systemen, etwa dem Parkhaus, als<br />
Besonderheit des Verkehrssystems. Das Parkhaus ermöglicht uns,<br />
einen Blick zu werfen auf die Arbeit des Designs als Verdrängung<br />
des Realen: Die Fahrzeugindustrie verdrängt mit heimeliger Interieurausstattung,<br />
in der Verniedlichung und Vermenschlichung<br />
der Formen, die Luft-, Lärm-, Landschaftsbelastungen, die Ölpolitik<br />
usw. Die Verdrängung wird im Parkhaus aufgehoben, seine<br />
Konstruktion erschreckt uns mit roher Materialität, desorientiert<br />
und lässt die Atmosphäre ins Unheimliche umschlagen. Das Parkhaus<br />
wirft die Frage auf, ob hier die Gesellschaft, oder besser die<br />
Ökonomie, in der autoritären Geste der Massenorganisation ein<br />
ganz anderes Gesicht offenbart, welches nun plötzlich durch die<br />
dünnen Polituren des auf das Individuum ausgerichteten Designs<br />
aufblitzt. Ich glaube, es ist die Mechanik im Untergrund der (Alltags-)<br />
Ästhetik und ihrer Medien, die mich interessiert, und das<br />
Finden von Stellen, wo sich diese durch die Oberfläche hindurch<br />
zeigen kann.<br />
Peter Geimer: Die Deutlichkeit, mit der du sagst «Ich bin Künstler<br />
und nichts weiter», finde ich überzeugend. In seinem jüngsten<br />
Buch hat der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich ja die aktuelle und<br />
ganz gegenteilige Tendenz beschrieben: Offenbar reicht es oftmals<br />
nicht mehr aus, dass Künstler ein bestimmtes Genre der Kunst<br />
beherrschen, sie müssen zudem auch alle erdenklichen Grenzüberschreitungen<br />
praktizieren, sind zugleich Maler, Bildhauer und<br />
Filmer und können im Rahmen dieses Multi-Tasking auch noch<br />
schreiben, kochen, ein Unternehmen führen usw. 2 Ullrichs Frage,<br />
was damit gewonnen sein soll, finde ich ganz berechtigt. Letztlich<br />
steht hinter dieser Idee vermutlich eine sehr romantische Vorstellung<br />
vom Künstler als einer Figur, die in Zeiten höchster Spezialisierung<br />
noch für das Ganzheitliche zuständig sein soll und die<br />
Ausdifferenzierung noch einmal transzendiert. Die Rolle, die du<br />
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beschreibst, finde ich da wesentlich überzeugender: Künstler sein<br />
und nichts weiter, «in kunstfremden Territorien» eine unfreiwillige<br />
Ästhetik aufzuspüren, die gar nicht als solche gemeint war und gewissermassen<br />
brachliegt. Man schwärmt dabei also weniger in alle<br />
erdenklichen Gebiete aus, um sich dort einzuklinken, sondern holt<br />
die Phänomene eher «zu sich», wie eine seltsame Gesteinsformation,<br />
die man am Strand gefunden hat, nach Hause trägt und dort<br />
von allen Seiten betrachtet. Vielleicht können wir dieser Frage aber<br />
noch an einem anderen Bespiel nachgehen, das du schon angedeutet<br />
hast. Ich meine deine Arbeit «Level # I – V». Hier stellt sich die<br />
Frage der Intervention ja doch noch einmal anders, weil du dich<br />
dabei erstens in den Alltag und zweitens in einen halböffentlichen<br />
Raum, das Parkhaus in Basel/Mulhouse, begibst. Worum ging es<br />
dir bei diesem 2003 realisierten «Eingriff»<br />
Hannes Rickli: Die Ausgangslage war folgende: Die damalige<br />
Crossair – heute Swiss International Airlines – baute ein grosses<br />
Verwaltungsgebäude. Zu Beginn des Projekts im Jahr 2001 realisierten<br />
die Ingenieure, dass sie im geplanten Parkhaus mit fünf<br />
riesigen Parkdecks (je 500 Einstellplätze auf 10‘000 m 2 Fläche pro<br />
Etage) ein Gebilde schaffen würden, in dem mit herkömmlicher<br />
Pfeil- und Schrift-Signaletik und mit ein paar Farbapplikationen<br />
keine Orientierung mehr möglich wäre. In der Konstruktionsweise<br />
dieses Gebäudes war der menschliche Aufenthalt nicht vorgesehen<br />
– dies macht ein Parkhaus ja gerade zum Parkhaus. Trotzdem<br />
war klar, dass die hier parkierenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
der Firma täglich mehrere Minuten in den von Stützenkollonaden,<br />
Brandabschnitten, Fahrzeugen, Sprinkler- und Lüftungsinstallationen<br />
verstellten niedrigen Betonkavernen zubringen<br />
würden. Die Ingenieure sahen voraus, dass auch in ihrem nach<br />
den neusten technischen Standards unter Einhaltung sämtlicher<br />
Grenzwerte geplanten Bau wie in allen übrigen Parkhäusern der<br />
Welt die Passanten desorientiert und damit irgendwie vom Gefühl<br />
des Unheimlichen heimgesucht sein würden. Bei einem künstlerischen<br />
Eingriff konnte es nicht darum gehen, diesen Raum nun<br />
zum Aufenthaltsraum umzustilisieren. Dafür wären die räumlichen<br />
Perimeter zu gross, die Betonmassen zu gewaltig gewesen.<br />
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Und mir fehlte das Interesse an kosmetischer Verschönerung. Ich<br />
wollte etwas anderes – den Zusammenbruch des Sehsinns als primäres<br />
Orientierungsorgan unmittelbar nach dem Verlassen des<br />
einparkierten Autos untersuchen. Oder vielleicht besser: Die Verdrängung<br />
des «Lesesinns» durch Gehör, Geruch- und Tastsinn.<br />
Die Tatsache, dass man sich in einer auf dem Plan und im Kopf<br />
geometrisch geordneten, rationalen Struktur im wirklichen Bau<br />
trotz Routine und Piktogrammen nicht zurechtfindet, konnte ich<br />
mir nur mit einer unkontrollierbaren, plötzlichen Verschiebung<br />
der Wahrnehmungsmodi erklären. Das Parkhaus wurde für mich<br />
im Laufe der Recherchen und des Entwurfs immer mehr zum<br />
paradigmatischen Raum, zum «Raumbild», wie Siegfried Kracauer<br />
sagen würde:»Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche<br />
Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die<br />
störende Dazwischenkunft des Bewusstseins in ihm ausdrücken.<br />
Alles vom Bewusstsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich<br />
übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder<br />
sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines<br />
Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund<br />
der sozialen Wirklichkeit dar.» 3 Gerade im Ingenieurbau, dort wo<br />
nicht die geplante Gestaltung «dazwischenkommt», sondern die<br />
Funktion im Zentrum steht, äussert sich das Ästhetische besonders<br />
heftig. Um zu verstehen, weshalb damit ein Schrecken einhergeht,<br />
orientierte ich mich an der urbanen Interpretationsliteratur<br />
im Übergang des 19. zum 20. Jahrhunderts. Exponenten wie Siegfried<br />
Kracauer, Walter Benjamin und Sigmund Freud hatten damals<br />
eine Sensibilität für die Wahrnehmung der aufkommenden<br />
Metropolen entwickelt. Es zeigten sich neue Phänomene, deren<br />
Wirkungen als «Entfremdung» in Form verschiedener Raumkrankheiten<br />
irritierten. In immer neuen Versuchen umspielten die<br />
Autoren die Fragen an die Gesellschaft und deren Verhältnis zum<br />
Individuum. Sie versetzten sich in leicht halluzinierende Zustände,<br />
um wie ein «Träumender» (Kracauer) oder»Erwachender» (Benjamin)<br />
die soziale Wirklichkeit in sich überschneidenden Konflikten<br />
von Nähe/Distanz, Vertrautem/Unvertrautem 4 , Masse/Individuum,<br />
von Vor- und Nachgeschichte 5 , zu ertasten und zu neuen Bil-<br />
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dern zu montieren. Frühe Phasen von Ereignissen, in denen sich<br />
Phänomene zwar erahnen lassen, sich aber vorläufig nur unscharf<br />
abzeichnen und die Fragen und Methoden ihrer Darstellung erst<br />
noch gefunden werden müssen, halte ich für die produktivsten.<br />
Ich meine, dass in den Unsicherheiten von Suchbewegungen zur<br />
Entwicklung neuer Darstellungen Konstruktionsweisen und Fehlschläge<br />
offen daliegen und im Nachhinein sichtbar werden. Sie<br />
ermöglichen das Erkennen von Unvorhergesehenem. Deshalb faszinieren<br />
mich wohl die Anfangsphasen von wissenschaftlichen<br />
Experimenten. Auf deine Frage, worum es mir bei der Arbeit im<br />
Parkhaus ging, kann ich vielleicht so antworten: Zu Beginn war<br />
ich etwas hilflos und wusste nicht recht, was der scheinbar gewöhnliche<br />
Ort Parkhaus genau ist. Im Arbeitsprozess kristallisierte<br />
sich allmählich heraus, dass es eigentlich die Hilflosigkeit,<br />
das Nicht-Verstehen dieses gesellschaftlichen Raumes war, das<br />
mich antrieb. In dem Sinn sehe ich die entstandenen Eingriffe als<br />
Versuche, Fragen an die Raumkonstruktion dieses Parkhauses<br />
zu stellen. Die Interventionen dienten mir als Instrumente, um<br />
Schichten freizulegen, worin sich das Ästhetische als gesellschaftliche<br />
Realität bestimmen liesse.<br />
Peter Geimer: In deiner Beschreibung des Parkhaus-Projekts<br />
finde ich ein Motiv der Videogramme wieder: Das Interesse für<br />
das Uneigentliche, für die Ästhetik dessen, was nebenbei passiert<br />
und nicht eigentlich zählt. In der zitierten Passage Kracauers<br />
taucht das Bewusstsein als Störung auf, als «Dazwischenkunft»,<br />
die etwas hemmt und unterbricht. Dementsprechend wäre also<br />
gerade das Unbewusste und Randständige der Ort, an dem etwas<br />
zum Vorschein kommt: Nicht im laufenden Verkehr, sondern im<br />
Parkhaus, nicht im geheizten Auto oder dem wohl definierten<br />
Arbeitsraum, sondern auf dem Fussweg dazwischen, in einem<br />
Raum, der sozusagen «Nichts» bedeutet, aber trotzdem da ist und<br />
folglich auch irgendwie umbaut und gestaltet werden muss. Und<br />
gerade dort äussert sich, wie du sagst, das Ästhetische besonders<br />
heftig. Ich habe übrigens keinen Führerschein. Das Unheimliche<br />
der Parkhäuser kenne aber auch ich als ewiger Beifahrer sehr gut.<br />
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Die Rolle des Beifahrers müsste auch dir gefallen: Er fährt Auto,<br />
ist aber am Vorwärtskommen nicht eigentlich beteiligt und kann<br />
stattdessen die Begleiterscheinungen dieses Vorwärtskommens<br />
beobachten. Er versteht letztlich nicht, wann und warum man auf<br />
die Kupplung tritt, kennt die Verkehrsregeln nur sehr unzulänglich,<br />
kann den Verkehr aber gerade deshalb besonders gut beobachten.<br />
Der Beifahrer ist auf eine bemerkenswerte Weise überflüssig: das<br />
Unbewusste des Autofahrens, der «Überschuss» der Strassenverkehrsordnung…<br />
Hannes Rickli: In der Tat ein prächtiges Bild und eine schöne<br />
Figur! Der Künstler als Beifahrer. Wie wäre in diesem Fall seine<br />
Tätigkeit als Kunstproduzent zu beschreiben In welchem Wahrnehmungszustand<br />
ist er unterwegs Weil der beifahrende Künstler<br />
die Mechanismen vielleicht nicht kennt,aber mehr noch,weil er sie<br />
nicht beeinflussen kann,ist er in latenter Anspannung. In seiner<br />
Situation zweifelt er, ob alles mit rechten Dingen zugeht, denn<br />
schliesslich steht seine leibliche Unversehrtheit auf dem Spiel. Was<br />
tut er mit seinem Verdacht, dass das System letztlich nicht kontrollierbar<br />
sei Der Beifahrer-Künstler wird aufmerksam auf alles,<br />
was ihm Zeichen sein könnte für den Lauf der Dinge, er wird<br />
wie der Physiognom zum Deuter, der interpretiert, ohne zu wissen.<br />
Selbst Nebensachen geraten unter diesen Verdacht und der<br />
Künstler hebt sie zur späteren Betrachtung vorläufig auf. Zurück<br />
zum Formlosen, zu Staub, Schmutz und Liegengelassenem als besonderen<br />
Zeichen. Im Parkhaus rücken Abgase und Russ in der<br />
Lunge die Materialität des Verkehrssystems ins Bewusstsein, eine<br />
vertraute Wahrnehmung von Schmutz. Doch Verunreinigungen<br />
und Staub sind auch mit anderen Bedeutungen aufgeladen. Die<br />
dadaistische Avantgarde zum Beispiel benutzte den Staub zur ikonoklastischen<br />
Geste 6 und wollte so den Fokus des Ästhetischen<br />
auf die autorlos gestaltende Arbeit der Zeit verschieben. Wenn<br />
wir heute, 85 Jahre nach der Belichtung in Christian Schads Genfer<br />
Hotelzimmer, den fixierten Schattenwurf ausgefallener Haare<br />
und amorpher Staubfusel auf einem winzigen, unregelmässig beschnittenen<br />
Stück Fotopapier betrachten, sehen wir die Spur einer<br />
der ersten Berührungen von Abfall und Technik in der Kunst: eine<br />
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Urszene gewissermassen. Ein frühes Stadium mit ungewissem<br />
Ausgang, das nachhallt. Ich möchte die Staubmetapher noch weitertreiben.<br />
Schauen wir noch einmal kurz dem Experimentator<br />
zu, wie er im besprochenen Videogramm, ausgerüstet mit der<br />
Stirnlampe, das Experimentalsystem vorbereitet. Seine Arbeit besteht<br />
im Aufspüren und Eliminieren von Störpotenzialen in Form<br />
von Staubpartikeln. Indem er den Schmutz entfernt, verhindert er<br />
ungewollte Artefakte, da die Kamera nicht zwischen Staub und<br />
Fliege unterscheidet. Diese Szene scheint mir symptomatisch zu<br />
sein: Die Arbeit der Wissenschaft und der Politik besteht zu einem<br />
grossen Teil in Reinigungsprozeduren. Die Kunst jedoch beschäftigt<br />
sich aus meiner Perspektive damit, den Staub aufzuheben, um<br />
ihn genauer unter die Lupe zu nehmen.<br />
Das Gespräch wurde zwischen Ende November und Mitte Dezember 2004 per E-Mail geführt.<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Jean-François Lyotard, Beantwortung der Frage, was ist postmodern, in Wolfgang Welsch<br />
(Hrsg.), Wege aus der Moderne, Berlin 1994, S. 203<br />
2<br />
Wolfgang Ullrich,Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst, Berlin 2003<br />
3<br />
Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise (1930); in: Ders., Strassen in Berlin und anderswo,<br />
Berlin, 1987<br />
4<br />
Sigmund Freud, Das Unheimliche, Studienausgabe Bd IV, Frankfurt a/Main, 1990<br />
5<br />
Walter Benjamin, Das Passagenwerk, Bd 1 u. 2, Frankfurt a/Main, 1983<br />
6<br />
siehe Christian Schad, Schadographie «Ohne Titel» (8,2 x 5,9 cm), 1919; oder Marcel<br />
Duchamp/Man Ray, «Elevage de poussière», 1920<br />
Hannes Rickli, geb. 1959, Künstler. Studium der Fotografie (1984–1988) und der Theorie der Gestaltung<br />
und Kunst (1999–20<strong>02</strong>) an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. 1986–1992 Arbeit als<br />
Bildjournalist (u.a. für Das Magazin, NZZ,Weltwoche). Seit 1991 freie künstlerische Tätigkeit mit Ausstellungen<br />
im In- und Ausland. Diverse Projekte im öffentlichen Raum und im Bereich Kunst und Architektur.<br />
Diverse Veröffentlichungen in Katalogen und Fachzeitschriften. Publikation «Spurenkugel – ein Schreibspiel»,<br />
Verlag Lars Müller (1996). Seit 1996 Dozent an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.<br />
Peter Geimer, geb. 1965, Promotion in Kunstgeschichte; bis 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im<br />
Sonderforschungsbereich Literatur und Anthropologie der Universität Konstanz, anschliessend am Max-<br />
Planck-Insti-tut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin; seit April 2004 Oberassistent an der Professur für<br />
Wissenschaftsforschung der ETH Zürich. Buchveröffentlichungen: Die Vergangenheit der Kunst. Strategien<br />
der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert, Weimar: VDG 20<strong>02</strong>; Hg. v. Ordnungen der Sichtbarkeit.<br />
Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 20<strong>02</strong> (2. Aufl. 2004);<br />
Mitherausgeber von Kultur im Experiment, Berlin: Kadmos 2003.<br />
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187 Sichtbar<br />
Videostill (23.1.20<strong>08</strong>, <strong>14</strong>:49:03 <strong>Uhr</strong>)<br />
Videostill (29.1.20<strong>08</strong>, 19:51:16 <strong>Uhr</strong>)<br />
Videogramm Trigla, 2007/<strong>08</strong>: Experiment: Akustische Kommunikation bei<br />
Trigla lucerna (Roter Knurrhahn). Experimentalsystem: Aquarium, Hydrophon,<br />
Bioakustikfilter, Infrarot-Videokamera. Philipp Fischer, Biologische Anstalt<br />
Helgoland/Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:47 <strong>Uhr</strong>
188<br />
Abb. 1, Das arabische Zitat mit Vokal- und Schmuckzeichen (Schriftstil )<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:47 <strong>Uhr</strong>
189 Sichtbar<br />
6<br />
Daniel Reichenbach<br />
Warum ich als europäischer<br />
Zeichner arabische<br />
Kalligrafie betreibe<br />
Ich werde immer wieder gefragt, warum ich mich als Gestalter<br />
mit der arabischen Kalligrafie befasse.<br />
Eine kurze Antwort<br />
Die arabische Kalligrafie ist eine Verbindung von zeichnerischem<br />
Können und grafischem Denken, welche im Entstehungsprozess<br />
zusammenspielen.<br />
Die lange Antwort<br />
Bereits als Kind haben mich fremde Schriften sehr fasziniert. Immer<br />
wieder habe ich versucht, die Bedeutung in den Zeichen zu<br />
erraten. Die kyrillischen Buchstaben, die mich wegen der damals<br />
geheimnisvollen Sowjetunion interessierten, waren einfach zu<br />
lernen. Die chinesischen Zeichen brachte ich erst einmal mit den<br />
Kampfhelden der Kung-Fu-Filme in Verbindung. Die arabische<br />
Schrift gefiel mir besonders gut, weil sie mit ihren temperamentvollen<br />
Schnürchenbewegungen wunderbar in die Sprechblasen<br />
von fluchenden Arabern in meinen Comiczeichnungen passten.<br />
Während meines Grafikstudiums fing ich an, mich ernsthaft mit<br />
der arabischen Kultur auseinander zu setzen. Für die grafische<br />
Abschlussarbeit in der Fachklasse begann ich die Schriften nachzuzeichnen<br />
und suchte nach Büchern mit geeigneten Vorlagen,<br />
nach denen ich im Selbststudium zu lernen begann. Einige Jahre<br />
später hat sich die Kalligrafie als ein wichtiger Bestandteil meines<br />
Lebens erwiesen. Es folgte ein Aufenthalt in Kairo, wo ich bei<br />
einem bekannten Meister lernen konnte. Heute ist die arabische<br />
Kalligrafie zu meinem zweiten Beruf geworden.<br />
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Wenn ich das arabische Schriftbild als Illustrator beschreibe,<br />
rede ich von einer verspielten Landschaft oder von einem üppigen<br />
Garten, in dem verschiedene Insekten tanzen und die Ranken der<br />
Pflanzen ihre Wege suchen. Als Grafiker hingegen achte ich auf<br />
die Ausführung der klaren Linie. Ich bewundere dabei die handwerkliche<br />
Präzision und bestaune die abstrakte Figurenwelt in den<br />
Zeichen. Die arabische Kalligrafie ist für mich Grafikdesign und<br />
Zeichnung in einem Paket. Dieses Paket wurde zu meiner privaten<br />
Denkplattform, welche weder einem wechselnden Trend noch Originalitätsdruck<br />
noch einem Kunstanspruch unterliegt. Während<br />
der Künstler im Motiv und in der Themenwahl über eine uneingeschränkte<br />
Beliebigkeit verfügt, habe ich als Kalligraf den Vorteil,<br />
gleich einem Musiker, auf ein vorgegebnes Schriftensystem zurückgreifen<br />
zu können. Die Kalligrafie ist mein Werkzeug und die<br />
Schrift stellt das Motiv. Diese radikale Kanalisierung gefällt mir.<br />
So wurde der Weg zum Forscher und Entdecker frei. Ich wiederhole<br />
Schriften von Meistervorlagen, um zu lernen als wäre ich ein<br />
Musiker, der die Partitur eines Komponisten abspielt. Sobald ich<br />
mich sicher fühle, beginne ich mit den Tonleitern des Alphabets<br />
zu komponieren. Meine Beschäftigung mit der arabischen Kalligrafie<br />
öffnet mir übrigens im Orient Türen, hinter denen ich im<br />
Austausch mit den Einheimischen viele schöne Momente erlebe<br />
und neue Erkenntnisse gewinne.<br />
Das Hörbare sichtbar machen<br />
Die sinngemässe Übersetzung eines arabisches Sprichwortes lautet:<br />
«Wäre die Malerei eine Art sichtbare Poesie ohne zu tönen, und<br />
wäre die Poesie eine Art hörbare Malerei ohne bildliche Darstellung,<br />
dann müsste die Kalligrafie das Werkzeug des Dichters sein,<br />
welches das Hörbare zum Sichtbaren macht» (Quelle unbekannt,<br />
Abb. 1). Das Werkzeug der arabischen Kalligrafie ist präzis wie ein<br />
Instrument eines Chirurgen. Ich suche ein Schilf- oder ein Bambusrohr<br />
und schneide dessen Spitze zu einer breiten Fläche ab, damit<br />
diese einem Markerstift gleicht. Die ideale Neigung des Rohres<br />
in meiner Hand und die gelöste Haltung des Körpers spielen eine<br />
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Vermittelt<br />
wesentliche Rolle. Ich erlebe oft, dass das Stossen der Feder in die<br />
arabische Schreibrichtung die meisten Anfänger irritiert.<br />
Die Eigenart der Schrift muss ich als Student vorerst durch das<br />
wiederholte Abschreiben verschiedener Beispiele verinnerlichen.<br />
Am Anfang ist der Schreiber an die engen Regeln der arabischen<br />
Kalligrafie gebunden. Es sind die Regeln des Alphabets, die<br />
Strukturen der Grammatik und die Eigenheit der Sprachrhythmen,<br />
welche die Landschaft des Schriftbildes prägen. So sieht eine<br />
arabische Kalligrafie in Persisch oder Urdu anders aus als die im<br />
Arabischen. Es ist die Art der Federführung, es ist der Duktus,<br />
der eine mutige Linie oder Zaghaftigkeit aufweist, und es sind die<br />
Raum- und Abstandgefühle, welche für die Harmonie zuständig<br />
sind. Erst wenn der Schreiber sich dazu reif fühlt, löst er sich von<br />
der Abschrift und beginnt aus seinen inneren Vorlagen heraus zu<br />
schreiben. Unbewusst oder bewusst entwickelt er seine persönliche<br />
Handschrift, bis er schliesslich mit der Kalligrafie Jazz zu<br />
spielen beginnt.<br />
Das Alphabet umfasst achtundzwanzig Buchstaben und jeder<br />
Buchstabe verändert seine Form innerhalb seiner Stellung im<br />
Wort. Man stelle sich zum Beispiel den Buchstaben t vor, der<br />
im Wort Tatort dreimal verschieden aussähe. Im Gegensatz zu<br />
unserem lateinischen Alphabet werden die Buchstaben der arabischen<br />
Schrift nämlich grundsätzlich mit Schnürchen verbunden.<br />
So entstehen recht unterschiedliche positionsbedingte Varianten<br />
ein und desselben Buchstabens. Ligaturverbindungen spielen in<br />
der arabischen Schrift gestalterisch eine wesentliche Rolle. Ausserdem<br />
dürfen je nach Situation auch gedehnte Verbindungslinien<br />
eingefügt werden.<br />
Die Linie ist auch nicht immer gleich breit, sie variiert wie die<br />
Anatomie eines Lebewesens. Die waagrechten Verbindungslinien<br />
wie auch Teile von gewissen Buchstaben erinnern mich zum Beispiel<br />
an Klingenformen von Schwertern oder an Schilflaub im<br />
Wind. Diese Eigenschaften verleiten schnell einmal, die Linie un-<br />
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terschiedlich schnell zu ziehen. Wie der Vergleich des Skispringers<br />
darstellt: Am Start beginnt die langsame Fahrt, in der Mitte folgt<br />
die Beschleunigung, im letzten und schnellsten Abschnitt kommt<br />
die Schanze, die den Springer weg katapultiert. Eine Parallele<br />
dazu beobachte ich beim Anfänger: Am Beginn führt er die Feder<br />
kontrolliert, gegen die Mitte versetzt er sie in Schwung und beim<br />
Schluss verfehlt er jedoch das gewünschte Ziel. Demnach verliert<br />
er während des Prozesses die Spannung und das entstandene Resultat<br />
befriedigt ihn dabei nicht. Er wird daher lernen müssen, sein<br />
Tempo unter Kontrolle zu bringen, das Temperament der Hand zu<br />
zügeln sowie einen harmonischen und langsamen Schreibfluss zu<br />
finden. Dann ist der Verlauf der Linie kein Zufall mehr. Schaut<br />
man die Linie genau an, besteht sie aus einer Summe von kurzen<br />
Federspitzverschiebungen. Mit dieser analytischen Betrachtung<br />
ihres Innenlebens wird sich der Schreibende bewusst, dass die<br />
kalligrafische Linie nach Ehrlichkeit verlangt, dann verschwindet<br />
auch der Raum für Kitsch und Effekthascherei.<br />
Irrtümlicherweise meinen viele, dass der Buchstabe aus einer einzigen<br />
durchgezogenen Linie besteht. Er besteht jedoch aus verschiedenen<br />
Einzelteilen, die in rhythmischer Folge aufeinander<br />
treffen. Die Verbindungsstellen der einzelnen Teile ermöglichen<br />
ein Innehalten. Der Schreiber muss dort über den nächsten Linienverlauf<br />
entscheiden.<br />
Eine spannende Herausforderung ist die Orientierung im Weissraum,<br />
wo sich der Kalligraf seine schwarzen Zeichen erst mal vorstellen<br />
muss. «Die mystische Wüste des Kalligrafen ist die Leere<br />
und der Kalligraf fürchtet sich vor dieser Leere» (Quelle unbekannt).<br />
Je länger ich schreibe, desto mehr interessiert mich die<br />
Kontrasthärte zwischen dem offenen und unfassbaren Bereich des<br />
Weissen gegenüber der streng definierten Materie der Tintenspur.<br />
Sie ist die Spannung zwischen der Offenheit und der Leere.<br />
Das Geniale ist, dass das komplexe Wissen über die Ästhetik in<br />
einem kleinen Alphabet untergebracht ist. Durch intensives Stu-<br />
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dium können wir diese komprimierten Informationen auspacken<br />
und durch Wiederholungen erlebnisvoll nachvollziehen.<br />
Vielschichtigkeiten im gleichen Moment<br />
Die Disziplin der Kalligrafie ist ein Messinstrument des persönlichen<br />
Zustandes und der inneren Reife. Wer eine Stelle oftmals<br />
wiederholt, steckt in der Beglückung des Erfolgs oder in der Bedrückung<br />
des Misslingens. Dieses Sprichwort (Abb. 2) – angeblich<br />
von Platon – finde ich äusserst treffend:<br />
« D i e<br />
Kalligrafie ist die Trense der Gedanken». Im Arabischen kommen<br />
die Wörter Trense und Gedanken interessanterweise von der gleichen<br />
Bedeutungswurzel, vielleicht weil man sich bewusst war,<br />
dass man die Gedanken so kontrollieren muss, wie einen Hengst,<br />
den man auf einem geraden Pfad über eine Weide von rossigen<br />
Stuten lenkt. Wer die Eigenwilligkeit der Pferde kennt, weiss wie<br />
schwierig es ist, auf einem Platz einen korrekten Zirkel zu galoppieren,<br />
ohne dass dieser in eine Eiform zerfällt. Zur Korrektur<br />
muss bei jeder Runde an der Eiform geschliffen werden, damit<br />
der saubere Kreis wieder entsteht. Wie ich die Metapher verstehe,<br />
schleifen wir an unseren Gedanken, um uns zu verbessern.<br />
Die Linie einer Breitfeder besteht aus einer oberen und unteren<br />
Kante, auf die sich der Kalligraf gleichzeitig konzentrieren muss.<br />
Das schwierige ist, die beiden Punkte in einem verharrenden Winkel<br />
parallel und sauber zu verschieben, ohne die Hand zu drehen<br />
oder eine Stelle zu vernachlässigen. Wenn die Feder mit Tinte benetzt<br />
ist und ich mit dem Schreiben beginne, müssen alle zuvor<br />
beschriebenen Mechanismen gleichzeitig in Aktion treten: Das Beherrschen<br />
des Werkzeugs, das gesamte Wissen über die Buchstaben<br />
und der immense Erfahrungsschatz der Ästhetik und der Zustand<br />
der Konzentration. Erst dann glückt die kalligrafische Linie.<br />
Die Lust an der steten Wiederholung lässt mich vermuten, dass<br />
uns diese Linien seit Urzeiten vertraut sind. Sie geistern in unseren<br />
Köpfen, aber wir können sie nicht einfangen, ohne dass wir uns<br />
ihnen in harter Arbeit nähern.<br />
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Kalligrafieunterricht<br />
Um ernsthaft Kalligrafie zu lernen, braucht es nicht zwingend<br />
grosses Talent, wichtiger sind: Fleiss, Beobachtungsgabe, Geduld,<br />
Ausdauer, innere Ruhe, Geschick, Leidenschaft und Präzision.<br />
Arabische Sprachkenntnisse verhelfen anfänglich kaum zu besseren<br />
Resultaten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Muttersprachler<br />
oft oberflächlicher beobachten und ihren Vorteil überschätzen.<br />
Ob Buchhalter, Designer, lateinische Kalligrafen, alle beginnen<br />
von Grund auf und müssen eine neue Fertigkeit lernen. Kaum ist<br />
ihnen etwas von früher vertraut. Dabei kommen sie in die Situation,<br />
sich in aller Naivität als Lernende einer neuen Materie zu<br />
erleben.<br />
Meine Kurse baue ich bewusst so auf, dass die Lernenden möglichst<br />
viel handwerkliche Erfahrung machen können. Weil kaum<br />
jemand Vorkenntnisse hat, ist ein Frontalunterricht ungeeignet,<br />
darum zirkuliere ich zwischen den Plätzen und leite die Teilnehmer<br />
individuell an. Dazwischen lasse ich passende Hintergrundinformationen<br />
aus der Geschichte einfliessen.<br />
Bereits nach den einführenden Instruktionen in der ersten Lektion,<br />
ist die Neugier geweckt. Die Schüler und Schülerinnen beginnen<br />
das Kalligrafieren selbständig zu ergründen. In einem<br />
andächtigen Schweigen erforschen sie das Spiel der Linien und<br />
vergessen dabei die Zeit. Abschliessend verstehen sie einiges über<br />
die Machart der Schrift, sie sind dann auch in der Lage ihren<br />
Namen auf Arabisch zu schreiben, was in unseren Breiten immer<br />
noch einen exotischen Reiz hat.<br />
Daniel Reichenbach, Jahrgang 71, Zürich, Fachklasse Grafik in Luzern, lebt heute als Illustrator und<br />
Kalligraf. Er unterrichtet arabische Kalligrafie für Schüler und Erwachsene im In- und Ausland. Von ihm<br />
sind zwei Bücher erschienen, in denen er sich mit arabisch – deutschen Eselsbrücken auseinander setzt:<br />
www.kubri.ch / www.arabische-kalligrafie.ch<br />
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Abb. 2: Das Platon-Zitat (Schriftstil )<br />
Kurze Federspitzverschiebungen<br />
/Kantenlinien<br />
Anfängerbeispiel analog Sprungschanze<br />
Das in Einzenteilen zerlegte Wort<br />
Abfolgen und Rhythmen im Wort<br />
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7<br />
Samuel Schütz<br />
«9/11» in Mednipure, Indien<br />
Wie Kino ist es, wenn in Dörfern West Bengalens Sänger ihre audiovisuellen<br />
Shows vortragen. Singend oder rezitierend rollen sie<br />
gleichzeitig zum Text ihre Bildrollen ab.<br />
Der Ursprung dieser Art von Unterhaltung reicht mehr als 1000<br />
Jahre zurück und zu den traditionellen mythologischen oder religiösen<br />
Themen sind in neuerer Zeit viele mit Gegenwartsbezug entstanden.<br />
Neben Liebesgeschichten, Bildrollen über lokale Mordfälle<br />
und Flutkatastrophen oder Erdbeben gibt es eine ganze Reihe<br />
sogenannter «Social Pats 1 ».<br />
«Im Kummer geboren, vom Schicksal gezeichnet bin ich; mein Leben<br />
war nichts als Leid, oh Gott – oh! Mein verrückter Geist! (...)<br />
Und so verlief mein Leben: Mein ältester Onkel lehrte mich zeichnen,<br />
Grossvater lehrte mich singen; sie nahmen mich mit in die Dörfer.<br />
Nachdem ich vier, fünf Lieder kannte, ging ich allein in die Dörfer;<br />
viel Reis und viele Münzen brachte ich nach Hause, und unsere<br />
Armut nahm ab. 2 »<br />
Die Tradition des Malens und Singens wird innerhalb der Patua 3 -<br />
Familien weitergegeben. Kinder kopieren zunächst spielerisch<br />
einzelne Figuren aus den Pats ihrer Eltern oder Geschwister, mit<br />
zunehmender Übung Einzelbilder oder ganze Sequenzen. So entsteht<br />
ein für Aussenstehende erkennbare «Familienstil» mit charakteristischen<br />
Figurenmerkmalen oder einer bestimmten Farbigkeit.<br />
Der Altmeister Dukhushyam Chitrakar, von dem die obigen<br />
Liedzeilen stammen, hat mehr als <strong>12</strong>0 eigene Lieder komponiert.<br />
Er lehrte in den neunziger Jahren auch einigen Frauen aus dem<br />
Dorf Naya 4 Bildrollen zu malen und zu singen. Swarna Chitra-<br />
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kar ist eine der innovativsten und erfolgreichsten Frauen. Mit dem<br />
Verkauf von Bildrollen und der Teilnahme an Folkfestivals kann<br />
sie ihre sechs-köpfige Familie ernähren. Von ihr ist das nachfolgende<br />
Lied:<br />
«9/11»<br />
Hört, hört alle her, ich erzähle Euch die Geschichte<br />
von der Zerstörung des World Trade Center.<br />
Das World Trade Center wurde zerstört.<br />
Das World Trade Center in Amerika wurde in Schutt und<br />
Asche gelegt. (Refrain)<br />
Die Nachricht verbreitete sich und die Dorfleute hörten,<br />
dass viele, viele Menschen ihr Leben verloren.<br />
– Ref.<br />
Es brannte und bis alle Flammen gelöscht werden konnten,<br />
verbrannten viele geliebte Menschen, viele schrien «hai, hai!»<br />
– Ref.<br />
Die Nachricht verbreitete sich und als die Rettungsleute das<br />
hörten, retteten und trösteten sie viele Menschen.<br />
– Ref.<br />
Viele, viele Menschen wurden in Spitäler gebracht.<br />
Dort sagten die Ärzte: «Einige werden ihre Hände und<br />
andere ihre Füsse verlieren!»<br />
– Ref.<br />
Amerika ist eine Stadt 5 , die dem Himmel gleicht.<br />
In dieser Stadt geschah dieses schreckliche Unglück.<br />
– Ref.<br />
Die Nachrichten aus Amerika erfüllte mein Herz mit grosser<br />
Sorge, während dem die Taliban in Afghanistan jubelten.<br />
– Ref.<br />
Als George Bush davon erfuhr, rief er einen Krieg aus gegen<br />
Bin Laden: «sei auf der Hut!»<br />
Das World Trade Center in Amerika wurde in Schutt und<br />
Asche gelegt (Refrain).<br />
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199 Sichtbar<br />
Wie genau Swarna sich darüber informierte, ist mir nicht bekannt.<br />
Sie kennt in Calcutta eine Handvoll Intellektuelle, die sie regelmässig<br />
besucht; sie ist auch schon mehrmals ins Ausland eingeladen<br />
worden – der Text und die Bilder dazu sind aber ganz alleine<br />
ihr Werk und wurden uns im Herbst 2003 erstmal vorgetragen.<br />
Kennengelernt haben wir die Patuas von Naya zufällig bei der<br />
jährlich stattfindenden Buchmesse in Calcutta. Dort sass, hinter<br />
einer Reihe von Wellblechständen, der junge Patua Bahaduhr, vor<br />
sich am Boden einige Pats ausgebreitet. Wir baten ihn, uns am<br />
nächsten Tag in unserem Hotel zu besuchen – was er, zusammen<br />
mit weiteren Jungen aus dem Dorf auch tat. Mit der Zeit sind Patuas<br />
aus anderen Dörfern von Mednipure dazu gekommen. 1994<br />
haben wir das Dorf Naya besucht, 1996 eine grosse Ausstellung<br />
in Calcutta organisiert, unter anderen auch mit Swarna Chitrakar.<br />
In den letzten Jahren haben viele junge Patuas ihr Handwerk<br />
zugunsten von lukrativeren Jobs aufgegeben. Ihr Kunsthandwerk<br />
wird durch die Präsenz von Fernsehen und Videoverleih auch in<br />
den ländlichen Gegenden zusätzlich bedrängt.<br />
Samuel Schütz, Zeichenlehrer, zusammen mit Thomas Kaiser seit 1994,<br />
verschiedene Kunstprojekte in Indien, geb. 1963, wohnt/arbeitet in Zürich.<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Das bengalische Wort Pat, (Pata, Pot usw.) für Bild oder Bildrolle wird auf das Sanskrit<br />
Wort Patta – Jutestoff zurückgeführt. Jute war früher der traditionelle Bildgrund – die<br />
heutigen pats werden auf aneinander genähte Papierstücke gemalt. «Social Pats» entstehen zu<br />
Themen wie Hygiene und Gesundheit, zum Bildungssystem, zur Unterstützung von Impfkampagnien,<br />
es gibt Songs gegen das ruinöse Mitgiftsystem oder Informationen zu verschiedenen<br />
Aspekten von Aids. Die Sänger werden im Auftragsverhältnis von NGO›s oder der kommunistischen<br />
Regierung West Bengalens für jedes nachweislich besuchte Dorf bezahlt.<br />
2<br />
Der Sänger Dukhushyam Chitrakar in seinem Lied «Meine Lebensgeschichte».<br />
3<br />
Die Patua (oder Chitrakar) gehören zu einer sozial niedrig gestellten Kaste von Kunsthandwerkern.<br />
4<br />
Das Dorf Naya im Distrikt Mednipure, West Bengalen, liegt etwas 100 km von Calcutta<br />
entfernt. Es hat innerhalb von 20 Jahren weltweite, mediale Aufmerksamkeit erfahren; neben<br />
Filmen haben auch verschiedene Ethnologen Arbeiten über die dortigen Patuas geschrieben –<br />
vgl. zum Beispiel http://learningobjects.wesleyan.edu/naya/articles/lisbon_intro.pdf<br />
5<br />
Gemeint ist hier wohl New York. Aufnahme und Übersetzung :<br />
Thomas Kaiser, Calcutta 2003, Übersetzung ins Deutsch : Samuel Schütz<br />
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200<br />
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201 Sichtbar<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 201<br />
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203<br />
Artikulation: denkbar<br />
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204<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 204<br />
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205<br />
denkbar<br />
1<br />
Mario Leimbacher<br />
Fragestellungen zu<br />
Artikulation und<br />
Interpretation<br />
Gibt es einen zeichnerischen Reflex<br />
Bei der Themenfindung für das <strong>Heft</strong> <strong>02</strong> hat uns der Begriff Artikulation<br />
von Beginn an fasziniert. Er schien ein weites Feld zu<br />
öffnen für die Rolle und die Vielfalt unseres Faches. In einzelnen<br />
Beiträgen dieses <strong>Heft</strong>es wird das Feld sehr weit gesteckt und es<br />
zeigt sich, dass die Frage sinnvoll wird, was Artikulation bedeutet<br />
und ob es nahliegend ist, auf die Suche nach den Grenzen zu<br />
gehen. Denn einerseits lässt sich aus der Sicht des Betrachters und<br />
Interpretierenden alles als Artikulation verstehen. Die Berge, die<br />
uns umgeben, sind die Artikulation der Erdkruste und deren Geschichte,<br />
und wie wir mit ihnen umgehen und sie überwinden, ist<br />
auch wieder eine Artikulation unserer Zivilisation. Andererseits<br />
wird der Begriff in anderen Disziplinen wie z.B. der Musik als<br />
enger, technischer Begriff verwendet, so wie er am Schluss dieses<br />
Artikels von Martin Jäger definiert wird.<br />
Wenn wir unseren Schülerinnen und Schülern die Aufgabe stellen,<br />
ein Stillleben mit Früchten zu betrachten und die Situation<br />
zeichnerisch darzustellen, stellt sich die Frage, ob das entstehende<br />
Abbild als Artikulation betrachtet werden kann oder/und als<br />
Resultat eines Wahrnehmungs- und Darstellungsprozesses. Wenn<br />
die Schülerinnen und Schüler aber in einem Comic eine Situation<br />
aus ihrem Alltag schildern, scheint der Fall klar, da die Geschichte<br />
als lesbare und übersetzbare Botschaft verstanden wird. Müssen<br />
wir irgendwo in diesem Feld eine Grenze ziehen zwischen Artikulation<br />
und Übung, zwischen Sprache und technischer Fertigkeit,<br />
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206<br />
zwischen Zeichen und Reflex, eine Grenze, die in den Sprachwissenschaften<br />
als semiotische Schwelle bezeichnet wird<br />
Im Moment des Naturstudiums tritt für die Zeichnerin und<br />
den Zeichner die Frage nach der Artikulation in den Hintergrund.<br />
Wer in diesem Sinn einen Apfel abzeichnet, fragt sich nicht, was<br />
er damit mitteilt. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Wahrnehmung<br />
und die Möglichkeiten der Wiedergabe und Darstellung<br />
dieses Wahrgenommenen. Der Blick hin und her zwischen Gegenstand<br />
und entstehender Zeichnung ist ein prüfender und vergleichender,<br />
nicht ein deutender. Die Zeichnung entsteht in einem<br />
dauernden Wechsel von Abtasten und Umsetzen. Sind diese Begriffe<br />
wirklich präzise genug, den Prozess zu beschreiben<br />
Es tritt in unserer Arbeit kaum die Frage nach der Wiedererkennbarkeit<br />
eines Gegenstandes in den Vordergrund, was z.B.<br />
bei Porträtzeichnungen häufig zu Missverständnissen führt, sondern<br />
die Frage danach, wie Wahrnehmung funktioniert, was für<br />
Perspektiven und Sichtweisen und was für Mittel und Techniken<br />
möglich oder notwendig sind. In diesem Sinn ist unsere Arbeit<br />
einerseits eine naturwissenschaftliche, in der es um unser Sehen<br />
und dessen Bedingungen geht (Sehvorgang, Optik, Licht, Farbe,<br />
Perspektive), und andererseits eine erkenntnistheoretische, in der<br />
es um die individuellen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen<br />
unserer Betrachtungs-, Sichtweisen und Darstellungstraditionen<br />
geht.<br />
Erst wenn wir vom Moment des Naturstudiums weggehen und<br />
die Arbeiten betrachten, tritt die Frage nach Artikulation in den<br />
Vordergrund. Wer oder was artikuliert sich in einem Stillleben<br />
Im spezifischen Motiv und im Duktus artikuliert sich einerseits<br />
das Individuum und andererseits die gesellschaftliche Situation,<br />
da nicht in allen Kulturen Naturstudium ein Thema ist.<br />
Der Schatten eines Baumes auf einer Hauswand ist ein Abbild des<br />
Baumes, aber er ist keine Artikulation. Ist die Zeichnung eines<br />
Baumes auf einem Blatt Papier mehr als ein Abdruck Wer oder<br />
was artikuliert sich in dieser Zeichnung Im Artikel des Psychologen<br />
Leo Gehrig wird eine spannende Sichtweise auf diese Frage<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 206<br />
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207<br />
denkbar<br />
gegeben, die in unserem Unterricht kaum ein Thema ist. Es lässt<br />
sich feststellen, dass Interpretation, also die Frage nach der Artikulation,<br />
kaum Grenzen kennt. Wie tief sind wir bereit, über das Artikulierte<br />
in die Konstitution eines Menschen einzudringen Wo ist<br />
Interpretation eine objektive Beschreibung und von welchem Punkt<br />
an ist die interpretatorische Aussage ein Zeichen des Interpretierenden<br />
selber, die wieder interpretiert werden müsste Die Grenzen<br />
müssen auch mit ethischen und moralischen Fragen geklärt werden.<br />
Auch diese Fragen sind in unserem Fach kaum ein Thema.<br />
Natürlich erkennen wir, wenn wir die Resultate einer Klasse<br />
vor uns ausbreiten und vergleichen, die Individuen dahinter und<br />
können nach einer gewissen Zeit die Werke auch zuordnen. Im<br />
Duktus und weiteren medien- und darstellungsspezifischen Faktoren<br />
kommt die Person zum Ausdruck. Das Individuum drückt<br />
sich in unserem Unterricht in Merkmalen aus, die wir auch nicht<br />
alle mit unseren Kriterien der Aufgabestellung bewerten dürfen.<br />
Es wird sichtbar, dass die Fragestellung ein komplexes Feld<br />
öffnet. Die traditionelle Aufsplitterung dieser Arbeit in die verschiedenen<br />
Disziplinen und Fächer wie Bildnerische Gestaltung,<br />
Visualistik, Semiotik, Kunstgeschichte, Museumspädagogik, Psychologie<br />
usw. verhindert allzu grosse Konfusion. Man macht es<br />
sich aber zu einfach, wenn man sich auf eine dieser Disziplinen<br />
beschränkt. In Nuancen bewegen wir uns als Lehrpersonen in allen<br />
Bereichen und müssen uns bewusst sein, wo und wie wir die<br />
Grenzen setzen und auch transparent vermitteln. Wenn wir aber<br />
Tendenzen und einzelne Werke der Kunst aus dem letzten Jahrhundert<br />
seriös in unsere Betrachtungsweise einbeziehen wollen,<br />
werden wir mit allen diesen Fragekomplexen überflutet. Ein Werk<br />
von Joseph Beuys lässt sich ohne alles Hintergrundwissen wohl<br />
intuitiv und sinnlich erfassen und beschreiben, nur einbetten in<br />
die Geschichte der Kunst und bewusst in unseren Unterricht lässt<br />
es sich nur, wenn z.B. der Kunstbegriff und der Freiheitsbegriff<br />
des Künstlers einbezogen wird. Und dieser berührt ganz provokativ<br />
und bewusst alle oben aufgelisteten Disziplinen.<br />
«Jeder Mensch ist ein Künstler», eine der zentralen Aussagen<br />
von Joseph Beuys, meint nicht, dass jeder Mensch Maler, Foto-<br />
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2<strong>08</strong><br />
graf oder Regisseur ist, sondern dass jeder Mensch das gestalterische<br />
Potential in sich trägt und zumindest im Wahrnehmen,<br />
Denken, Entscheiden und Handeln umsetzen kann. Wir setzen<br />
dieses Potential in unserem Fach schon in der bescheidensten und<br />
allerkleinsten Aufgabestellung ein, wenn wir die Frage einbeziehen,<br />
wieweit wir Konventionen lehren und vermitteln oder Wahrnehmung<br />
schulen und ermöglichen, Sichtweisen und Perspektiven<br />
aufzuzeigen.<br />
Artikulation als Begriff der Musik<br />
Der Begriff «Artikulation» hat in der Musik eine andere Bedeutung<br />
als in der Sprache, wo er sich auf «Aussprache» bezieht. Die<br />
musikalische Artikulation beschreibt die verschiedenen Möglichkeiten,<br />
Töne miteinander zu verbinden oder voneinander abzuheben.<br />
Die grundlegenden Artikulationsmöglichkeiten sind:<br />
> > legato (gebunden) Symbol: Bogen über oder unter mehreren Noten<br />
> > portato (getragen) Symbol: Strich über oder unter dem Notenkopf<br />
> > staccato (kurz angeschlagen) Symbol: Punkt über oder unter dem<br />
Notenkopf<br />
(nicht zu verwechseln mit dem Punkt rechts neben dem Notenkopf<br />
bei punktierten Noten (rhythmische Verlängerung um die Hälfte<br />
des Notenwertes))<br />
Ferner unterscheidet man Zwischenstufen wie<br />
> > non legato (leicht abgesetzt) Symbol: Bogen über oder unter<br />
mehreren Noten und Punkt über oder unter dem Notenkopf<br />
oder Spezialitäten wie<br />
> > tenuto (gehalten) Symbol: «ten.» über oder unter dem Notenkopf<br />
(Die mit «ten.» bezeichnete Note wird in vollem Wert ausgespielt.<br />
In der Regel sind es Einzelnoten.)<br />
> > marcato (betont, abgesetzt) Symbol: Keil über oder unter dem<br />
Notenkopf<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:50 <strong>Uhr</strong>
209<br />
denkbar<br />
Je nach Instrument wird die Artikulation anders erzeugt:<br />
>> Bei Tasteninstrumenten durch den Anschlag<br />
>> Bei Streichinstrumenten durch den Bogenstrich<br />
>> Bei Blasinstrumenten durch den Luftstrom und den Zungenstoss<br />
Die Artikulation ist bei vielen Kompositionen nicht exakt notiert.<br />
Es ist oftmals Aufgabe des Interpreten, eine passende Artikulation<br />
anzuwenden. Die Artikulation steht in einer ständigen<br />
Wechselwirkung mit der Phrasierung (Einteilung der Musik in<br />
Atembögen) und der Dynamik (Lautstärke). Schlecht artikulierte<br />
Musik klingt in der Regel langweilig (Anfänger am Instrument).<br />
Differenzierte Artikulation erhöht den musikalischen Genuss und<br />
die Prägnanz eines Stückes.<br />
Martin Jäger<br />
Martin Jäger, Dr. med. und dipl. Schulmusiker II,<br />
Abteilungsleiter Musik an der KS Enge, geboren 1953 in Wädenswil<br />
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210<br />
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211<br />
denkbar<br />
2<br />
Leo Gehrig<br />
Was Zeichnungen<br />
auszudrücken vermögen, was<br />
Worte nicht können<br />
Auszüge aus dem Buch Baumzeichnungen –<br />
Zeichen des Menschen<br />
Seit über dreissig Jahren sammle ich Baumzeichnungen von psychisch<br />
gesunden, gestörten oder kranken Kindern, Jugendlichen<br />
und Erwachsenen. Zu Beginn meiner psychologischen Tätigkeit<br />
an einem psychiatrischen Zentrum hielt ich nichts von der Baumzeichnung<br />
als diagnostischem und therapeutischem Hilfsmittel.<br />
Mit vielen psychisch kranken Menschen ist es schwierig, ein Gespräch<br />
zu führen. Deshalb habe ich meine Meinung geändert. Ich<br />
begann in der Begegnung mit den Kranken auch gestalterische<br />
Mittel einzusetzen. In diesem Sinne liess ich die Patienten auch<br />
einen Obstbaum zeichnen. Immer stärker faszinierten mich ihre<br />
Darstellungen und die Gespräche darüber. Ich begann, die Zeichnungen<br />
systematisch zu sammeln und mit den klinischen Eindrücken<br />
und Befunden, den Selbstschilderungen der Patienten und<br />
den Beobachtungen ihrer Angehörigen zu vergleichen.<br />
Immer in Bildern befangen<br />
Wir machen uns immer Bilder von den andern Menschen. Wir<br />
sind immer in Vorstellungen und Vorurteilen in der Begegnung<br />
mit andern befangen. Von frühester Kindheit an entwickeln wir<br />
so genannte Konstrukte, das heisst Schablonen, Kategorien oder<br />
Muster, durch die wir die Welt wahrnehmen und ordnen. Diese<br />
Konstrukte kanalisieren die Art und Weise, wie wir unsere Mitmenschen<br />
sehen, den Wahrnehmungen Bedeutung verleihen und<br />
sie in einen Sinnzusammenhang stellen.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:50 <strong>Uhr</strong>
2<strong>12</strong><br />
Wir sind auch immer in Bildern (Konstrukten) über uns selbst<br />
verhaftet. Wir sprechen vom Selbstbild, vom Selbstkonzept, vom<br />
Idealkonzept. All diese Konstrukte verändern sich im Laufe der<br />
menschlichen Entwicklung, teilweise eigengesetzlich, bis ins hohe<br />
Alter. Die Vielfalt der Lernerfahrungen und der menschlichen Beziehungen<br />
bestimmen mit, inwieweit sie sich zu unverrückbaren<br />
Vorurteilen verfestigen oder wandelbar sind.<br />
Konstruktbildungen und selektive Wahrnehmung sind in einem<br />
gewissen Grade notwendig. Ohne diese Fähigkeiten wären wir<br />
Menschen in der Erfassung und Deutung der Wirklichkeit überfordert.<br />
Wir werden bei der Zeichnung eines schizophrenen Menschen<br />
sehen, was geschieht, wenn Wahrnehmungen nicht mehr<br />
genügend selektioniert und gefiltert werden können: Ein inneres<br />
und äusseres Chaos bricht aus.<br />
Aus diesen Gründen ist für mich die Baumzeichnung bei der<br />
täglichen diagnostischen, beratenden und therapeutischen Tätigkeit<br />
nur ein Hilfsmittel zur Erweiterung des Deutungshorizontes<br />
und zur Erschütterung meiner eigenen Bilder, die ich von den mir<br />
anvertrauten Menschen mache. Gerade die ungeheure Vielfalt der<br />
Zeichnungen macht mir immer wieder deutlich bewusst, wie einzigartig,<br />
unverwechselbar, vielschichtig jeder Mensch ist. Und dies<br />
wird besonders beim gemeinsamen Gespräch und Deuten mit den<br />
Klienten oder Patienten (mit denen das möglich ist) eindrücklich<br />
erfahrbar. Ihre eigene Zeichnung regt sie oft in einer besonderen<br />
Weise an, Gedanken über sich, ihre Persönlichkeit, über ihr Erleben<br />
und Verhalten, ihre Fähigkeiten, Nöte und Sorgen, manchmal<br />
sogar über ihre Lebensgeschichte zu machen. Darin liegt der eigentliche<br />
Gewinn und der Reichtum dieses Verfahrens für mich:<br />
Mit den Klienten oder Patienten zusammen ihre Zeichnungen in<br />
einer anschaulichen, alltagsnahen Sprache so zu beschreiben, dass<br />
Zwischentöne anklingen und für sie das Unsagbare diskrete Konturen<br />
erhält.<br />
Die Baumzeichnung – ein Zeichen des Menschen<br />
Das Erkennen und Verstehen eines andern Menschen bleibt immer<br />
sehr eingeschränkt. «Ist der Forderung, ‹Erkenne dich selbst,›<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:50 <strong>Uhr</strong>
213<br />
denkbar<br />
schwer und nur unzulänglich nachzukommen, da sich ein jeder<br />
über sich selbst am leichtesten täuscht, so stellt uns gar der Versuch,<br />
den anderen zu erkennen, vor unüberwindliche Schranken.<br />
Mögen wir dem anderen noch so nahe stehen, mögen wir ihn<br />
lieben, achten, oder mögen wir seine Gegner sein, wir kennen<br />
ihn nie, wie er ist, wir kennen nur Zeichen, die von ihm kommen,<br />
Wirkungen, die von ihm ausgehen, Fakten die sich feststellen, zusammenstellen<br />
lassen. Wir erleben den andern, oft eindringlich,<br />
manchmal erschütternd, doch unser Wissen über ihn ist grausam<br />
begrenzt, grausam begrenzt aber auch die Möglichkeit, ihm zu<br />
helfen. Der Raum zwischen den Menschen ist unermesslicher, als<br />
wir das wahrhaben wollen» (Friedrich Dürrenmatt).<br />
Und so verstehe ich die Baumzeichnung nur als ein Zeichen unter<br />
vielen, das manchmal auf verborgene Fähigkeiten und Nöte eines<br />
Menschen hinweist.<br />
Selbstversuch<br />
Vielleicht wollen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch einen Obstbaum<br />
zeichen Dann empfehle ich Ihnen folgendes Vorgehen:<br />
>> Nehmen Sie ein A4-Blatt, einen Bleistift und einen Radiergummi.<br />
>> Zeichnen Sie jetzt einen Obstbaum, Sie dürfen so lange an der<br />
Darstellung arbeiten, bis Sie damit zufrieden sind.<br />
>> Beschreiben und deuten Sie danach ihre Baumzeichnung, vielleicht<br />
zusammen mit einem Ihnen vertrauten Menschen.<br />
Das folgende Kapitel gibt Ihnen dazu einige Anregungen.<br />
Hinweise zur Beschreibung der Baumzeichnung und zum deutenden<br />
Gespräch<br />
Schon aus der Beobachtung, wie der Mensch die Aufgabe bewältigt,<br />
einen Baum zu zeichnen, lassen sich Anregungen für das Gespräch<br />
und das gemeinsame Deuten der Zeichnung gewinnen. Folgende<br />
Fragen können dabei beispielsweise aufgeworfen werden:<br />
>> Wie geht der Zeichner an die Aufgabe heran Hält er inne, überlegt<br />
er oder geht er gleich ans Werk<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 213<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:50 <strong>Uhr</strong>
2<strong>14</strong><br />
>> Skizziert er zunächst und gestaltet allmählich seine Darstellung aus<br />
oder wirft er den Baum mit raschen, kraftvollen Strichen hin<br />
>> Wie meistert er Schwierigkeiten, zum Beispiel den Übergang vom<br />
Stamm zu den Ästen Braust er auf oder geht er sie in Ruhe an<br />
Verkrampft er sich bei gestalterischen Problemen, äussert er sich<br />
darüber, überspielt er sie, möchte er gleich aufgeben oder zeichnet<br />
er verbissen und wortlos weiter<br />
>> Dominiert die Eigen- oder die Fremdkritik Wertet er die gestellte<br />
Aufgabe völlig ab, kritisiert er nur den Beobachter oder stellt<br />
er nur sich in Frage und entschuldigt sich dauernd für seine<br />
zeichnerische Unfähigkeit und die fehlende Übung<br />
>> Wie ist der Arbeitsstil Verlangt er immer wieder ein neues Blatt,<br />
weil ihn schon seine ersten Striche nicht befriedigen Kommt<br />
er nie zu Ende, weil er an seiner Darstellung ständig etwas<br />
auszusetzen hat oder gibt er sie rasch zurück Zeichnet er hastig,<br />
unkonzentriert, übereifrig oder ausdauernd und hingebungsvoll<br />
>> Stellt der Zeichner dem Beobachter immer wieder Rückfragen, um<br />
sich zu vergewissern, ob er die Aufgabe ordentlich bewältigt oder<br />
ist er auf aufmunternde Worte nicht angewiesen<br />
Solche und ähnliche Beobachtungen teile ich den Ratsuchenden<br />
oder den Patienten beim gemeinsamen Deutungsprozess mit. Oftmals<br />
berichten sie dann von sich aus über gewisse Nöte, Konflikte<br />
oder auch Fähigkeiten. Eine Frau beispielsweise brach in Tränen<br />
aus, als ich ihr mitteilte, das ich mich gewundert habe, dass sie<br />
trotz meines Erachtens sehr guter Ansätze immer wieder von neuem<br />
einen Baum zu zeichnen begann. Sie berichtete, dass es ihr<br />
schon bei alltäglichen Aufgaben häufig so ergehe. Sie werde ganz<br />
allgemein rasch von so starken Selbstzweifeln überfallen, dass sie<br />
oft entscheidungs- und handlungsunfähig sei, selbst bei einfachen<br />
Herausforderungen. Diese Nöte waren wichtige Themen in den<br />
therapeutischen Gesprächen. Dabei kam sie immer wieder auf<br />
ihre Schwierigkeiten beim Zeichnen eines Obstbaumes zurück.<br />
Ganzheitliche Betrachtung<br />
Am meisten Anregungen für das Gespräch und das gemeinsame<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 2<strong>14</strong><br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:50 <strong>Uhr</strong>
215<br />
denkbar<br />
Deuten können gewonnen werden, wenn man die Baumzeichnung<br />
zunächst auf sich wirken lässt: Welche Atmosphäre strahlt sie<br />
aus Wirkt sie lebendig, chaotisch, steif, düster, froh, anziehend,<br />
abstossend<br />
Hilfreich ist sodann, wenn man dem dargestellten Baum «mit<br />
vielen Fragen begegnet»:<br />
>> Erinnert die Zeichnung an einen Obstbaum oder eher an eine<br />
Trauerweide, an einen Nadel- oder gar an einen exotischen Baum<br />
>> Wirkt er realitätsnah oder realitätsfern, kräftig und gesund oder<br />
schwach und kränklich<br />
>> Wie wirkt er bei näherer Betrachtung Hält er das, was er<br />
auf den ersten Blick verspricht oder verliert er bei intensiver<br />
Auseinandersetzung an Anziehungskraft<br />
>> Regt er die Phantasie an, löst er viele Fragen aus, macht er<br />
zunehmend neugierig oder langweilt er immer mehr<br />
>> Ist der Baum in eine ruhige Landschaft eingebettet oder hängt er<br />
verloren im luftleeren Raum<br />
>> In welcher Umgebung steht der Baum An der Waldgrenze, auf<br />
einer blühenden Wiese, allein auf einem Hügel oder gar in einer<br />
Wüste<br />
>> Ist der Baum dem Sturm ausgesetzt oder wirft die Sonne ihr Licht<br />
auf ihn<br />
>> Kann man auf den Baum klettern oder benötigt man eine<br />
lange Leiter Halten die Äste Belastungen stand, wenn auf ihm<br />
herumgeklettert wird, oder brechen sie gleich ab<br />
>> Wie reagiert er auf atmosphärische Einflüsse Hält er stärkeren<br />
Winden stand oder bricht er schon bei leichten Windstössen<br />
auseinander<br />
Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die genaue Betrachtung<br />
des Kerns des Baumes. Zusammen mit den Wurzeln bilden der<br />
Stamm, die Äste mit den Zweigen das Gerüst des Baumes, das<br />
dem Wechsel der Jahreszeit widersteht.<br />
>> Ist der Baum im Erdboden verankert, hat er Halt oder ist er trotz<br />
grosser Wurzeln entwurzelt Gehen Stamm, Äste und Zweige<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 215<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:50 <strong>Uhr</strong>
216<br />
>><br />
organisch ineinander über oder sind sie additiv aneinander gelötet<br />
Streben die Äste und Zweige ins Licht oder richten sie sich gegen<br />
den Erdboden<br />
Je konkreter, präziser und anschaulicher der dargestellte Baum<br />
beschrieben wird, desto mehr werden die Phantasien des Zeichners<br />
angeregt und seine Gefühle angesprochen. Mit diesem Vorgehen<br />
wird ihm auch überlassen, worüber er sprechen möchte und<br />
worüber nicht.<br />
Dieses schlichte phänomenologisch-deskriptive Vorgehen ist<br />
vergleichbar mit dem Lesen von literarischen Werken. Literatur<br />
beschreibt das menschliche und zwischenmenschliche Verhalten<br />
und Erleben in so konkreter und anschaulicher Weise, dass dadurch<br />
im Leser solche Bilder, Empfindungen, Gedanken, Erinnerungen<br />
und Phantasien erzeugt werden, die in die Tiefe weisen.<br />
Mit den folgenden Baumzeichnungen von psychisch gesunden und<br />
kranken Menschen soll dieses Verständnis verdeutlicht werden.<br />
Geeinte Harmonie der Gegensätze<br />
Die zwei folgenden Darstellungen stammen von zwei dreissigjährigen,<br />
psychisch gesunden Menschen. Beide haben nur den üblichen<br />
Zeichenunterricht in der Volksschule besucht.<br />
In beiden Darstellungen kommt eine Stimmung zum Ausdruck,<br />
die viele Betrachter anzieht, fesselt, fasziniert. Warum In diesen<br />
Baumzeichnungen finden sich gegensätzliche Elemente, die sich<br />
harmonisch zu einem Ganzen vereinen: ein kräftiger Stamm und<br />
feine Zweige, Äste und Blätter, Tragendes und Getragenes, Licht<br />
und Schatten. Diese geeinten Gegensätzlichkeiten, diese bipolaren<br />
Spannungsverhältnisse sind es, die anziehen, anregen und die<br />
Phantasie des Betrachters wecken.<br />
Ist das Lebensgefühl von uns Menschen nicht dann besonders<br />
gut, wenn es uns einigermassen gelingt, unsere widerstrebenden<br />
Kräfte und Bedürfnisse zu vereinen und mit ihnen umzugehen<br />
Ist das Leben nicht dann erfüllt und befriedigend, wenn es uns gelingt,<br />
Denken und Fühlen, das Bedürfnis nach Nähe und Distanz,<br />
nach tragenden Beziehungen und Alleinsein, nach Ausbeutung<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 216<br />
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217<br />
denkbar<br />
Baumzeichnung 1: Zeichnung einer<br />
dreissigjährigen Frau<br />
2: Zeichnung eines dreissigjährigen<br />
Mannes<br />
des Augenblicks und zielorientiertem Handeln, nach Aktivität<br />
und Ruhe, nach Genuss und Verzicht zu verbinden<br />
Die beiden Zeichner haben bis anhin ihr Leben erfolgreich bewältigt.<br />
Beide sind verheiratet und berufstätig. Die Frau arbeitet<br />
halbtags als Verkäuferin in einer Boutique. Beide schildern sich<br />
als zufriedene und interessierte Menschen. Wie die meisten Menschen<br />
haben auch sie schon schwierige Zeiten durchgemacht. Der<br />
Ehemann der Zeichnerin reagierte auf Probleme am Arbeitsplatz<br />
mit einer schwereren depressiven Verstimmung. Die Frau war ihm<br />
in dieser Zeit die entscheidende Stütze und begegnete ihm in einfühlsamer<br />
Weise. Auch der Zeichner hatte ein schweres Ereignis<br />
zu verarbeiten. Als er achtzehnjährig war, verlor er durch einen<br />
Unfalltod seinen jüngeren Bruder. Die Baumdarstellungen dieser<br />
beiden Menschen deuten an, dass sie über die Kräfte verfügen,<br />
solche schweren Schicksalsschläge zu verarbeiten. Bei näherer<br />
Betrachtung ihrer Zeichnungen fällt auf, dass die Hauptteile des<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 217<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:51 <strong>Uhr</strong>
218<br />
Baumes – Wurzeln, Stamm und Äste – harmonisch ineinander<br />
übergehen. In beiden Darstellungen sind die Wurzeln – wie sie<br />
auch in der Natur wahrgenommen werden – angedeutet. Obwohl<br />
der von der Frau gezeichnete Baum am Abhang steht, ist er im<br />
Erdboden verwurzelt. Bei beiden Darstellungen ist der Stamm,<br />
der Träger der Krone, stark ausgebildet, ebenso die Äste, die zusammen<br />
mit dem Stamm das «Holz», die Substanz, den Kern des<br />
Baumes bilden. Solche Bäume halten auch stärkeren Belastungen<br />
stand. Sind sie eine Projektion der Belastbarkeit, der Konfliktfähigkeit<br />
und des Durchhaltevermögens dieser beiden Menschen<br />
Die Darstellungen sind dreidimensional gestaltet und weisen<br />
eine Oberflächenstruktur auf. Sie sind mit Hingabe und Ausdauer<br />
gestaltet. Sind Sie ein zeichnerischer Ausdruck für die Fähigkeit<br />
der zwei Menschen, auf sich zu hören, eigene Gefühle wahrzunehmen<br />
und sich in andere einzufühlen<br />
Vom Zentrum der Krone streben die Äste ans Licht, um dieses<br />
einzuholen. An den Aussenteilen der Krone verfeinert sich das Geäst,<br />
Blätter werden angedeutet. Diese «Extremitäten» bilden die Berührungszone<br />
mit der Umgebung, die Zone der Wechselwirkung,<br />
der Atmung. Sind sie ein symbolischer Ausdruck der Fähigkeit dieser<br />
beiden Menschen, sich in Beziehungen einzulassen, den Dialog<br />
mit dem Du zu suchen und doch bei sich bleiben zu können<br />
Es ist kaum zu glauben, dass diese Zeichnung (S. 219) von einem<br />
zwanzigjährigen, intelligenten Jugendlichen stammt. Der Baum<br />
erschreckt durch seine Armut und Kälte auf den ersten Blick. Er<br />
erinnert an einen Baumstrunk oder an einen Kaktus. Er hat keine<br />
Krone. Bei vielen Betrachtern löst er viele Fragen aus: Wollte der<br />
Jugendliche überhaupt einen Baum zeichnen Nahm er die Aufgabe<br />
überhaupt ernst Ist er tatsächlich nicht fähig, einen wirklichkeitsnäheren<br />
Obstbaum zu zeichnen Ich liess den Jugendlichen mehrere<br />
Male einen Baum zeichnen. Die Grundstruktur blieb immer<br />
dieselbe. Jedes Mal warf er mit wenigen Strichen einen groben,<br />
kargen Baum hin.<br />
«Das kann doch nicht wahr sein, dass ein intelligenter Junge<br />
einen solchen Baum zeichnet», ist ein häufiger Kommentar. Hier-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 218<br />
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219<br />
denkbar<br />
3: Zwanzigjähriger Jugendlicher<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 219<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:51 <strong>Uhr</strong>
220<br />
zu ist zu bemerken: Was wir von der so genannten Realität oder<br />
Wirklichkeit wahrnehmen, in uns aufnehmen und verarbeiten,<br />
hängt - neben vielen andern Faktoren – von unseren emotionalen<br />
Fähigkeiten ab, beispielsweise von der Fähigkeit zu staunen, sich<br />
zu wundern, zu warten und sich in einen Gegenstand oder Sachverhalt<br />
zu vertiefen. Ist die emotionale Erlebnisfähigkeit in diesem<br />
angedeuteten Sinne mangelhaft entfaltet, so liegt in der Regel auch<br />
ein eingeschränkter und gestörter Realitätsbezug vor, wie das bei<br />
diesem Jugendlichen leider der Fall ist. Sehr auffallend sind auch<br />
die armseligen, lanzenartigen Äste, die nach innen und nach aussen<br />
stechen. Tatsächlich liegt bei diesem Jugendlichen eine ausgeprägte<br />
Auto- und Fremdaggression vor, worüber er erst redete, als<br />
ich ihn im gemeinsamen Deutungsgespräch darauf angesprochen<br />
hatte. Seine Freundinnen, die er rasch wechselt, hat er schon oft<br />
brutal geschlagen, wenn sie auf seine Wünsche nicht eingingen,<br />
ihm Widerstand leisteten oder ihm sich sexuell verweigerten.<br />
Auch seine autoaggressiven Handlungen sind erschreckend. Er<br />
schneidet sich oft Wunden in Arme und Beine. Mit einem Glüheisen<br />
hat er sich ein grosses Kreuz auf seine Brust eingebrannt.<br />
Wir stellten bei ihm neben einer schweren Drogenabhängigkeit eine<br />
schwere äussere und innere Verwahrlosung mit unter anderem folgenden<br />
Befunden fest: Geringe Selbststeuerungsfähigkeit, geringe<br />
Affektkontrolle, geringe Frustrationstoleranz (löst Spannungen und<br />
Konflikte durch Flucht in unreflektierte Handlungen); kann wegen<br />
seiner geringen Willensbildung und Selbstdisziplin seine guten intellektuellen<br />
Fähigkeiten nicht in entsprechende schulische und berufliche<br />
Leistungen umsetzen; ist kontaktfähig, es gelingt ihm aber<br />
nicht, Beziehungen auf längere Sicht zu gestalten und zu pflegen.<br />
Heute ist er vierzigjährig. Er lebt alleine und zurückgezogen in<br />
einer kleinen Wohnung und geht mit Unterbrüchen einer Arbeit<br />
nach. Er muss vom Sozialamt unterstützt werden. Seine Auto und<br />
Fremdaggressionen haben sich verloren. Er konsumiert auch keine<br />
so genannten harten Drogen mehr, hat aber nun ein schweres<br />
Alkoholproblem.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 220<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:51 <strong>Uhr</strong>
221<br />
denkbar<br />
4: Seine Baumzeichnung 16 Jahre<br />
später: Form und Strichführung sind<br />
etwas weicher.<br />
Wie Kinder einen Obstbaum zeichnen<br />
Die Zeichnungen der Kinder lassen oft erkennen, was sie innerlich<br />
beschäftigt und bewegt. Sie zeichnen von innen heraus. Sie stellen<br />
oft dar, was sie erleben und phantasieren, was sie empfinden und<br />
wie sie sich fühlen. Erst ab dem neunten/zehnten Lebensjahr wenden<br />
sich die Kinder mehr der äusseren Realität zu und wollen sie<br />
zeichnerisch wiedergeben.<br />
Vierjährige Kinder sind in der Regel fähig, auf Aufforderung<br />
hin einen Apfel- oder Birnbaum zu zeichnen. Mit wenigen Strichen<br />
stellen sie ihr «inneres Bild» des Baumes dar. Die Zeichnungen<br />
sind so verschieden wie die Kinder selbst.<br />
Bei der Betrachtung und Beurteilung von Kinderzeichnungen<br />
muss immer vor Augen gehalten werden, dass die inter- und intraindividuelle<br />
Entwicklung sehr verschieden verlaufen, das heisst,<br />
der Entwicklungsstand von Kindern gleichen Alters ist sehr<br />
verschieden, und auch beim einzelnen Kind entfalten sich die<br />
verschiedenen Fähigkeiten nicht gleichmässig. So können zum<br />
Beispiel seine sprachlichen Fähigkeiten schon sehr fortgeschritten<br />
sein, während seine zeichnerische Gestaltungskraft noch eher bescheiden<br />
ist.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 221<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:51 <strong>Uhr</strong>
222<br />
Drei Zeichnungen von vierjährigen Kindern: 5, 6, 7<br />
Wir erkennen an diesen vielfältigen Zeichnungen, dass fünf- bis<br />
siebenjährige Kinder den Baum in der Regel aus elementaren Figuren<br />
wie Linien, Kreise, Recht- und Dreiecke in additiver Weise<br />
zusammensetzen. Die flächenhaften Schemen haben verschiedene<br />
Bedeutungen. Die kleinen Kreise können Blätter und/oder Früchte<br />
darstellen, die Dreiecke stehen für Äste und Blätter. Charakteristisch<br />
ist auch, dass sie die Früchte und Blätter im rechten Winkel<br />
an die Äste heften. Mit fünf sind die meisten fähig, die Farben<br />
zu unterscheiden und in ihrer Baumdarstellung realitätsnah zu<br />
verwenden. Der Blattrand wird in der Regel als Boden (Halt) benützt.<br />
Die Krone wird häufig als Kugel gestaltet. Nur wenigen<br />
gelingt es in diesem Alter schon, die Krone nur aus Ästen und<br />
Zweigen zu gestalten.<br />
Der Baum von Roger schwebt verloren im luftleeren Raum, er<br />
ist nicht verwurzelt; der Knabe benützt den Blattrand nicht als<br />
Boden. Auffallend sind auch die blauen Äste, die wie Stacheln<br />
aus dem ganzen Stamm herausragen. (Roger ist sonst fähig, die<br />
Farben zu unterscheiden.) Sein Baum erinnert an einen Kaktus. Ist<br />
er ein Ausdruck seiner ausgesprochenen Aggressivität gegenüber<br />
andern und sich selbst<br />
Roger sucht intensiv die Zuwendung und Anerkennung bei<br />
seinen Kameraden. Sie fürchten sich aber vor ihm, da er sie oft<br />
«grundlos» tätlich angreift. Seine Wut wendet er aber auch gegen<br />
sich selbst. Er kratzt sich oft so lange, bis er blutet.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 222<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:52 <strong>Uhr</strong>
223<br />
denkbar<br />
Baumzeichnungen von fünf- bis siebenjährigen Kindern: 8, 9, 10, 11, <strong>12</strong>, 13<br />
Der Knabe scheint von einem tiefen Misstrauen Menschen gegenüber<br />
erfüllt zu sein. Wenn man ihm zu schnell zu nahe kommt<br />
und gewisse Forderungen an ihn stellt, wehrt er sich dagegen, verschliesst<br />
sich und verfällt in eine Trotzhaltung, aus der er kaum<br />
mehr herausfindet. Sind die vielen Stacheln rund um den Stamm<br />
Hinweise, wie man dem Knaben zu begegnen hat Müssen die<br />
Stacheln nicht vorsichtig etwas zur Seite gedrückt werden, wenn<br />
man dem Baum näherkommen möchte Die Kindergärtnerin jedenfalls<br />
scheint das Zutrauen von Roger etwas gewonnen zu haben.<br />
Ohne sich ihm aufzudrängen, geht sie immer wieder behutsam<br />
auf ihn zu, signalisiert ihm Versöhnlichkeit, wenn er wild um<br />
sich geschlagen hat, und sie wartet auch geduldig auf ihn, wenn er<br />
in seiner Trotzhaltung befangen ist.<br />
Der Vater von Roger ist ein schwerer Alkoholiker. Ab seinem<br />
dritten Lebensjahr wurde er immer wieder bei andern Bekannten<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 223<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:53 <strong>Uhr</strong>
224<br />
<strong>14</strong> (Roger, sechsjährig), 15 (Peter, sechsjährig), 16 (Ramona, sechsjährig)<br />
für einige Wochen untergebracht. Nach der Scheidung der Eltern<br />
kam Roger für zwei Jahre in ein Kinderheim. Als die Mutter wieder<br />
heiratete, holte sie ihn zu sich und ihrem neuen Ehepartner<br />
zurück. Der Stiefvater kann ihm nicht den Halt und die Wärme<br />
geben, die er dringend nötig hätte. Die Mutter bemüht sich redlich<br />
um ihn. Sie wurde als Kind selbst vernachlässigt. Sie ist aber in<br />
ihren erzieherischen Haltungen so widersprüchlich, dass Roger<br />
auch bei ihr wenig Sicherheit und Verlässlichkeit finden kann.<br />
Peter zeichnet, was die Form betrifft, einen seinem Alter entsprechenden<br />
Baum. Auch die Grössenverhältnisse sind ihm gut gelungen.<br />
Auffallend sind die Farbgebung (rote Krone, blauer Stamm)<br />
und die wilde Strichführung. Auch sein Baum hängt in der Luft.<br />
Als Peter diesen Baum gemalt hatte, fiel er der Kindergärtnerin<br />
in seinem Verhalten nicht besonders auf. Zu meinem Erstaunen<br />
schilderte sie den Knaben zu diesem Zeitpunkt als eher verschlossenen<br />
und angepassten, willigen, manchmal «abwesend»<br />
wirkenden und unkonzentrierten Knaben. Nach etwa drei Monaten<br />
berichtete sie mir, dass Peter immer mehr Schwierigkeiten<br />
bereite. Er sei ihr gegenüber frech, plage zunehmend seine Kameraden<br />
und beschädige «böswillig» Material und Einrichtungen.<br />
Zeitweise hingegen sei er ausserordentlich anhänglich und wolle<br />
nach Schulschluss noch etwas länger bei ihr bleiben oder sie nach<br />
Hause begleiten.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 224<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:53 <strong>Uhr</strong>
225<br />
denkbar<br />
In seiner Baumzeichnung hat sich offenbar Peters seelische<br />
Notlage schon zu einem Zeitpunkt gezeigt, als er der Kindergärtnerin<br />
durch sein Verhalten noch kaum Anlass zur Besorgnis gab.<br />
Peters Eltern führen gemeinsam ein eigenes Geschäft. Sie sind beinahe<br />
den ganzen Tag im Betrieb beschäftigt und haben kaum Zeit<br />
für den Knaben. Für ein Kindermädchen fehlt das Geld. So ist<br />
Peter oft allein und verbringt viel Zeit vor dem Fernseher. Ist die<br />
rotglühende Krone mit der wilden Strichführung ein Ausdruck<br />
seines Protestes gegen seine Vernachlässigung Darf sie als ein<br />
früher Hinweis dafür genommen werden, dass sich in Peter Wut<br />
und Ärger darüber stauen, dass sich seine Eltern zu wenig um ihn<br />
kümmern Geht die Interpretation zu weit, wenn man sagt, dass<br />
sich die drohende Entladung seiner gestauten Aggressionen schon<br />
zu einem Zeitpunkt ankündigte, als er in seinem Verhalten noch<br />
kaum auffiel<br />
Der kleine und verloren wirkende Baum von Ramona stimmt<br />
traurig. Er ist ganz in blau gemalt, einige Blätter oder Früchte<br />
sind in einem Ockergelb schwach angedeutet. Im Gegensatz zu<br />
Peter, der einen kraft- und schwungvollen Baum darstellt, wirkt<br />
die Darstellung von Ramona zaghaft.<br />
Das Mädchen und seine Geschwister werden schwerstens vernachlässigt.<br />
Sie ist ein schüchternes und gehemmtes Kind, das<br />
seine Sorgen und Nöte nach aussen hin nicht auszudrücken vermag.<br />
Sie wird von der Kindergärtnerin als ein stilles Mädchen<br />
beschrieben, das sich von seinen Kameradinnen erdrücken lässt.<br />
Sie steht oft abseits und muss zum Spielen mit den andern Kindern<br />
zusammen ermuntert werden.<br />
Im siebten oder achten Lebensjahr befinden sich die meisten Kinder<br />
– einige früher, andere etwas später – in der Phase des ersten<br />
Gestaltwandels. In dieser Zeit verändert sich ihr Äusseres stark.<br />
Sie verlieren nicht nur die ersten Zähne, sondern auch ihr kleinkindhaftes<br />
Aussehen. Die Kinder lösen sich zunehmend von den<br />
Eltern. Die Lehrer und Klassenkameraden werden zu immer wichtigeren<br />
Bezugspersonen. Ihr Urteil ist für sie oft wichtiger als das<br />
der Eltern. Sie sind lernbegierig, und es macht ihnen Freude auf<br />
spielerische Weise zu rechnen, zu lesen und zu schreiben.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:53 <strong>Uhr</strong>
226<br />
17 (Ursula, siebenjährig), 18 (Bruno, siebenjährig)<br />
Es ist eindrucksvoll zu beobachten, wie sich dieser Entwicklungsschritt<br />
in der Regel in der Baumzeichnung spiegelt. In dieser<br />
Phase des ersten Gestaltwandels zeichnen viele Kinder Äste, die<br />
aus dem Stamm wachsen. Die additive Darstellungsweise, wie sie<br />
typisch für das Kindergartenalter ist, wird durch eine mehr organische<br />
Gestaltung abgelöst.<br />
Ursula zeichnet nebst dem kraftvollen Stamm, der im Erdboden<br />
verwurzelt ist, auch starke Äste, die Belastungen standhalten.<br />
Erstaunlich ist ihr auch der schwierige Übergang vom Stamm zu<br />
den Ästen gelungen. Sie ist ein «Zugpferdchen» der Klasse, die<br />
interessiert und lernbegierig ist. Ursula zeichnet neben dem Baum<br />
ein Kind – wahrscheinlich sich selbst – mit einer Blume in der<br />
Hand. Die Lehrerin beschreibt das Kind als lebensfroh, gemütvoll<br />
und aufgeweckt.<br />
Der Baum von Bruno hingegen stimmt traurig. Obwohl er<br />
beim Zeichnen am selben Tisch wie Ursula sass und sie hin und<br />
wieder beobachtete, verwendet er keine Farben. Der Baum hat<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 226<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:54 <strong>Uhr</strong>
227<br />
denkbar<br />
keinen Halt; der Stamm verjüngt sich gegen unten und ist nicht im<br />
Erdboden verwurzelt. Das Kind neben dem Baum – wahrscheinlich<br />
auch ein Selbstbildnis – hat keine Füsse und keinen Halt. Die<br />
Äste in seinem Baum streben nicht ins Licht, – sie sind von aussen<br />
nach innen gerichtet. Das Kind hat keine Hände, und der Kopf ist<br />
gesenkt. Wendet sich Bruno von den Menschen ab Findet er die<br />
Beziehung zum Gegenüber, zum Du nicht Auf die Lehrerin wirkt<br />
der Knabe oft verloren, abwesend, in sich gekehrt. Es scheint, als<br />
trage das Kind einen Rucksack. Ist dies der symbolische Ausdruck<br />
für seinen grossen Kummer In der Mitte der Krone zeichnet der<br />
Knabe einen Vogel mit einem offenen Schnabel. Leidet der Knabe<br />
unter einer mangelnden Nestwärme Ist seine weitere Entwicklung<br />
wegen einer mangelnden Befriedigung seiner psychischen<br />
Grundbedürfnisse gefährdet<br />
Die weitere Entwicklung der Kinderzeichnungen zeigt deutlich<br />
den zunehmenden Realismus der Welterfassung. Jene Kinder,<br />
die Bäume schon mit Überschneidungen von Blättern, Ästen und<br />
Menschen in guter Profildarstellung zeichnen können, sind auch<br />
in ihrem Denken und Sozialverhalten aus der Struktur des «naiven<br />
Realismus» allmählich in die Struktur des «kritischen Realismus»<br />
vorgedrungen.<br />
Baumzeichnungen von zehn- bis dreizehnjährigen Kindern: 19, 20, 21<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 227<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:54 <strong>Uhr</strong>
228<br />
In diesem Alter versiegt die Bereitschaft zu zeichnen, denn die<br />
«Produkte» können dem kritisch-realistischen Denken des Kindes<br />
nicht standhalten. Die Diskrepanz zwischen der Erscheinung<br />
der Dinge und den Möglichkeiten, diese realistisch wiedergeben<br />
zu wollen, fordert zur Selbstkritik heraus und lässt Gefühle der<br />
Unzulänglichkeit entstehen, die sich der bildnerischen Gestaltung<br />
hemmend entgegenstellen. Ein guter Zeichenunterricht, der<br />
vor allem auch auf die Möglichkeiten nicht-realistischer Darstellungen<br />
hinweist, kann diese Hemmnisse helfend überbrücken. Das<br />
Kind interessiert sich für das aktuelle Tagesgeschehen. Manche<br />
lesen die Tageszeitung oder informieren sich im Internet. Diese<br />
vermehrte Hinwendung zur Aussenwelt findet auch im Zeichnen<br />
seinen Ausdruck. Das Kind entwirft Pläne für ein Wohnhaus oder<br />
es macht Illustrationen zum Abenteuerbuch, das es gerade liest.<br />
Die Zeichnungen von Kindern in dieser Phase des «kritischen<br />
Realismus» wirken im allgemeinen nüchtern. Dies hängt unter anderem<br />
damit zusammen, dass die Kinder die «Realität» so genau<br />
wie möglich abbilden möchten. Sie spüren aber, dass ihnen für<br />
die angestrebte «photographische» Wiedergabe der Aussenwelt<br />
die technischen und gestalterischen Fähigkeiten fehlen. Da sie ihrem<br />
zeichnerischen Gestalten kritisch gegenüberstehen, lassen sie<br />
sich auf keine Risiken ein und geben oft nur das wieder, wovon<br />
sie meinen, es auch einigermassen realitätsgerecht darstellen zu<br />
können. Wir dürfen deshalb nicht erstaunt sein, wenn die Baumzeichnungen<br />
von Mittelstufenkindern im allgemeinen nüchtern,<br />
sachlich wirken.<br />
Die obenstehenden Baumzeichnungen sind typisch für Mittelstufenkinder.<br />
Sie stellen alle wesentlichen Merkmale dar: Wurzeln,<br />
Stamm, Äste und Zweige. Das Grundgerüst des Baumes<br />
steht nun. Was aber meistens noch fehlt, sind die räumliche Darstellung<br />
und die Hell-Dunkel-Schattierungen. Wohl deshalb wirken<br />
die Zeichnungen so nüchtern.<br />
Typisch für manche Baumzeichnungen von diesen Kindern sind<br />
die wuchtigen Kronen mit weit ausladenden Ästen: ein zeichnerischer<br />
Ausdruck ihrer vermehrten Hinwendung zur Aussenwelt,<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 228<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:55 <strong>Uhr</strong>
229<br />
denkbar<br />
zum Du Recht viele Kinder in diesem Alter legen auch grosses<br />
Gewicht auf die Gestaltung der Zweige und Blätter, welche die<br />
Berührungszone zwischen innen und aussen, die Zone des Stoffwechsels,<br />
der Atmung bilden. Eine symbolische Darstellung ihres<br />
starken Bedürfnisses nach Anregung und «Nahrung» von aussen<br />
22: Urs, elfjährig<br />
Als Urs diesen Baum zeichnete, bereitete er in der Schule grosse<br />
Schwierigkeiten. Der Lehrer hatte Mühe, ihn anzunehmen, gern<br />
zu haben. Urs war frech, vorlaut und störte laufend den Unterricht.<br />
Er war gegenüber seinen Kameraden ausfällig, belästigte fortwährend<br />
die Mädchen und provozierte den Lehrer mit peinlichen<br />
Fragen. Einen ganz anderen Eindruck von Urs vermittelt seine<br />
Baumzeichnung. In der Zeichnung finden sich viele Merkmale,<br />
die auf eine traurige Verstimmung, auf Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühle<br />
hinweisen. Der Baum erinnert an eine Trauerweide.<br />
Die Krone ist wie mit einem Schleier überzogen, der den Blick<br />
in das Innere versperrt. Der Baum steht einsam und ungeschützt<br />
auf einem Hügel, links davon ein Grab. Ist Urs so deprimiert, so<br />
hoffnungslos, so resigniert, dass er dorthin gehen möchte<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 229<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:55 <strong>Uhr</strong>
230<br />
Bei der Besprechung mit dem Lehrer stellten wir die Hypothese<br />
auf, dass Urs seine Depression nach aussen hin überspiele, «ausagiere»,<br />
und auf unglückliche Weise Zuwendung und Halt bei ihm<br />
und den Kameraden suche. Diese Vermutung bestätigte sich in<br />
der Folge. Dem Lehrer gelang es, wieder eine andere Einstellung<br />
gegenüber Urs zu finden. Die Baumzeichnung habe ihm die Augen<br />
geöffnet für die innerpsychische Not des Knaben.<br />
In den ersten Lebensjahren konnten die Eltern Urs die Geborgenheit<br />
geben, die er brauchte. In Zusammenhang mit dem beruflichen<br />
Aufstieg des Vaters lebten sich die Eltern zunehmend<br />
auseinander. Die Mutter trank heimlich und in immer grösseren<br />
Mengen Alkohol. Sie ist heute kaum mehr fähig, den Haushalt<br />
selber zu besorgen. Urs, ein intelligenter und feinfühliger Knabe,<br />
schämte sich wegen seiner Mutter. Er wagte aber nicht, seine Sorgen<br />
und Nöte anderen Menschen anzuvertrauen. Er suchte Halt<br />
bei seinem Vater, der aber wegen seiner vielen beruflichen und<br />
anderen Verpflichtungen kaum Zeit für ihn hatte. Symbolisiert<br />
das Haus, das Urs im Hintergrund darstellt, den Verlust der familiären<br />
Geborgenheit<br />
In der Vorpubertät und Pubertät bemühen sich die Jugendlichen<br />
mit Licht und Schatten, oft auch mit ellipsenförmigen Strukturen<br />
(siehe Darstellung von Willi), Stamm und Äste plastisch zu gestalten.<br />
Die Plastizität greift allmählich auf den ganzen Baum über.<br />
Die Jugendlichen lassen jetzt die Seitenäste nicht nur nach links<br />
und rechts, sondern auch gegen den Betrachter abzweigen. In Heidis<br />
Darstellung erkennen wir, dass zusätzlich Äste in die Raumtiefe<br />
wachsen. Sie versucht also, die Kugelform der Baumkrone in allen<br />
Dimensionen darzustellen. Neben Licht und Schatten kommt<br />
als neues graphisches Mittel die Oberflächenstruktur hinzu.<br />
In den Baumzeichnungen widerspiegelt sich oft sehr eindrucksvoll<br />
der Prozess der Identitätsfindung. Es gibt Jugendliche, die<br />
schon einen eigenen Stil, eine ganz «persönliche Handschrift»<br />
haben, und andere, die noch stark auf der Such nach ihrem eigenen<br />
Ich sind und die sich auch beim Zeichnen «auf keine Äste»<br />
hinauswagen.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 230<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:55 <strong>Uhr</strong>
231<br />
denkbar<br />
Baumzeichnungen von dreizehn- bis sechzehnjährigen Jugendlichen:<br />
23 (Heidi, dreizehnjährig), 24 (Willi, dreizehnjährig)<br />
25 (Thomas, fünfzehnjährig), 26 (Erika, fünfzehnjährig, Gymnasiastin)<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 231<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
232<br />
Thomas hat diesen Baum vor vielen Jahren gezeichnet. Seine Lehrer<br />
schilderten ihn damals als intelligenten, fleissigen, aber scheuen<br />
Jugendlichen, der sich unterschätze und deswegen auch nicht<br />
alle seine Möglichkeiten ausschöpfen könne.<br />
Seine Baumzeichnung ist der zeichnerische Ausdruck eines reifen<br />
Jugendlichen, einer schon recht gefestigten Persönlichkeit. Sie<br />
fasziniert durch ihre Stimmung und deutet an, dass der Zeichner<br />
ein reiches Innenleben hat.<br />
Thomas wuchs in einfachen, intakten bäuerlichen Verhältnissen<br />
auf. Nach Schulabschluss machte er eine Lehre als Modellschreiner.<br />
Später bildete er sich auf dem zweiten Bildungsweg zum Physiker<br />
aus. Er gibt heute an, ein erfülltes Leben zu haben. Er ist verheiratet,<br />
Vater von zwei Kindern und Dozent an einer Universität.<br />
Die Zeichnung von Erika, einer Gymnasiastin, erschreckt unter<br />
Berücksichtigung ihres Alters und ihrer Schulbildung. Die Krone<br />
ist im Verhältnis zum Stamm viel zu klein geraten. Die schwachen<br />
Äste sind in additiver Weise an den Stamm geheftet. Sie halten Belastungen<br />
nicht stand. Schwache Winde können die ganze Krone<br />
zerzausen. Die Äpfel sind teilweise im rechten Winkel an die Äste<br />
angefügt.<br />
Erika wurde von ihrer geschiedenen Mutter wegen Übergewicht<br />
und ungenügender Leistungen im Gymnasium zu mir geschickt.<br />
Die Frau machte sich Sorgen darüber, dass ihre Tochter<br />
Kontakte mit Jugendlichen pflege, die auf sie einen schlechten<br />
Einfluss ausüben.<br />
Erikas Mutter ist eine sehr erfolgreiche Rechtsanwältin. Sie<br />
drängte darauf, ohne die Anwesenheit Erikas mit mir zu sprechen.<br />
Sie gab mir gleich beim ersten Kontakt zu verstehen, dass<br />
sie sich im Bereich der Psychologie und Psychiatrie auskenne, und<br />
liess mich bald auch wissen, dass sie eine Analyse hinter sich habe.<br />
Die redegewandte Mutter brachte eine «fertige» Persönlichkeitsbeschreibung<br />
von Erika mit.<br />
Erika kam nur widerwillig zur ersten Besprechung. Sie war<br />
wortkarg, «verstockt», misstrauisch. Im Laufe der weiteren Besprechungen<br />
kam sie etwas mehr aus sich heraus. Sie gab an, sich<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 232<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
233<br />
denkbar<br />
zu Hause sehr unwohl zu fühlen. Ihre Mutter lasse ihr keine Freiheit,<br />
schreibe ihr alles vor, und in Diskussionen fühle sie sich immer<br />
unterlegen. Den Stiefvater möge sie nicht leiden, ohne zu wissen<br />
warum. Der einzige Mensch, zu dem sie ein gewisses Vertrauen<br />
habe, sei ihr Vater, den sie aber nur selten treffe, da die Mutter mit<br />
allen Mitteln versuche, ihre Beziehung zu ihm zu stören.<br />
In diesem Fall half die Baumzeichnung, die Mutter auf einer<br />
emotionalen Ebene auf die Sorgen und Nöte Erikas hinzuweisen.<br />
Beim gemeinsamen Phantasieren über die Darstellung von Erika<br />
und von Thomas brach sie in Tränen aus. Sie erkannte im Vergleich<br />
der beiden Zeichnungen die kindliche Darstellungsweise<br />
ihrer Tochter. Sie war erschüttert über die kleine Krone mit den<br />
nach innen gebogenen, schwachen Ästen, die sich in alle Richtungen<br />
biegen lassen. Sie meinte dabei auch, dass sie der Tochter<br />
«zu sehr mit dem Kopf und zu wenig mit dem Herzen» begegne<br />
und sie mit ihrer Redegewandtheit und Waren Vorstellungen so<br />
bedränge, dass es für ihr Kind schwer sei, eigene Ideen zu entwickeln<br />
und Mut in die eigenen Fähigkeiten zu fassen.<br />
Wertvolle diagnostische und therapeutische Hinweise<br />
Selbstverständlich werden auf Grund einer Baumzeichnung und<br />
auch anderer testpsychologischer Befunde allein keine Diagnose<br />
gestellt oder Aussagen über die Persönlichkeit eines Menschen gemacht.<br />
Unter Einbezug der Lebensgeschichte des Patienten, dessen<br />
Aussagen über sein Erleben und Verhalten, der Schilderungen<br />
seiner wichtigsten Bezugspersonen und der klinischen Eindrücke<br />
und Befunde können testpsychologische Ergebnisse aber oft wichtige<br />
weiterführende diagnostische und therapeutische Hinweise<br />
geben. Die testpsychologische Situation erweitert das Beobachtungs-<br />
und damit auch das Hypothesenspektrum. Da der Klient<br />
oder der Patient sich dabei weniger auf gewohnte, eingeschliffene<br />
Verhaltensmuster abstützen kann, werden unter Umständen gewisse<br />
Nöte, Schwierigkeiten und Gefährdungen, aber auch verschüttete<br />
Fähigkeiten oft rascher und deutlicher spürbar als im<br />
Gespräch. Dies möchte ich mit der folgenden Fallskizze abschliessend<br />
illustrieren:<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 233<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
234<br />
Gedicht an Schwester Ruth<br />
Trauer und Angst verdüstern die Welt; Ich spüre die Stärke deiner<br />
Seele.<br />
Eisiger Reif weht durch das Land: Ich spüre die Wärme deiner Seele.<br />
Ein Blick irrt druch die Zukunft:<br />
Ich spüre die Sicherheit deiner Seele;<br />
Entwurzelt schwanken Bäume; Ich spüre den Halt deiner Seele.<br />
Vergangenheit ist von Krankheit geschwächt; Ich spüre die kräftige<br />
Gegenwart deiner Seele.<br />
Schrille Töne zerreissen das Ohr; In dir ist Ruhe – meine Sehnsucht.<br />
27<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 234<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
235<br />
denkbar<br />
Baumzeichnung und Gedicht eines achtunddreissigjährigen Gymasiallehrers<br />
Der Baum ist nicht im Boden verwurzelt und droht in der Mitte<br />
zu zerbrechen. «Entwurzelt schwanken Bäume» heisst es im Gedicht<br />
des Patienten an Schwester Ruth (eine psychiatrische Pflegefachfrau).<br />
Mit seinen offenen Ästen ist der Baum schutzlos den<br />
atmosphärischen Bedingungen und Veränderungen ausgesetzt.<br />
Regen, Schnee und Winde können durch die Röhrenäste in ihn<br />
eindringen. «Eisiger Reif weht durch das Land», «Schrille Töne<br />
zerreissen das Ohr», so drückt der Patient in seinem Gedicht seine<br />
Schutzlosigkeit und sein Ausgeliefertsein aus. Beim gemeinsamen<br />
Betrachten seines Baumes gab der Patient an, dass beim Frontalunterricht<br />
die Blicke seiner Schüler so sehr in ihn eindringen würden,<br />
dass ihm oft nichts anderes übrig bleibe, als wegzugehen.<br />
Beim Betrachten der Zeichnung fragt man sich, ob sich der<br />
kranke Baum noch je wird erholen können. Auf jeden Fall muss<br />
er jetzt geschützt werden. «Eisiger Wind» muss durch eine Schutzwand<br />
von ihm ferngehalten werden. Der Stamm droh in sich zusammenzubrechen,<br />
wenn er in der Mitte nicht gestützt wird.<br />
Auch mit seinem Gedicht appelliert der Patient an Schwester<br />
Ruth, ihm das zu geben, was er jetzt dringend braucht: «Wärme»,<br />
«Sicherheit», «Halt», «kräftige Gegenwart». Er sucht derzeit keine<br />
Auseinandersetzung über seine Konflikte und keine Bearbeitung<br />
seiner Lebensgeschichte. Dazu fühlt er sich jetzt zu schwach,<br />
zu zerbrechlich, zu gefährdet.<br />
Wir entschlossen uns, auf Grund all dieser Eindrücke und Befunde,<br />
dem Patienten gegenüber zunächst eine führende und stützende<br />
Haltung einzunehmen und so auf ihn einzugehen, dass er<br />
es wagen würde, sich über seine aktuellen Nöte und sein inneres<br />
Erleben auszusprechen. Dabei traten seine schweren inneren Nöte<br />
deutlicher zutage. Der Patient fühlte sich vom «Untergang» bedroht,<br />
er war sich seiner Identität nicht mehr sicher, konnte oft<br />
zwischen Du und Ich nicht mehr unterscheiden und litt an Verfolgungswahn.<br />
Mit den offenen Ästen in seiner Baumzeichnung<br />
signalisierte er unbewusst diese Ich Demarkationsstörung (Ich-<br />
Grenzauflösung).<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 235<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
236<br />
Es zeigte sich auch, dass der Patient schon früher mehrere<br />
psychotische Episoden durchgemacht hatte und sich jeweils auf<br />
Anraten seiner Ehefrau oder von Freunden in psychiatrische oder<br />
psychotherapeutische Behandlung begab, die er jeweils nach wenigen<br />
Kontakten wieder abbrach. Es scheint, dass sich dabei immer<br />
wieder dasselbe wiederholte: Er wurde von den Therapeuten<br />
überfordert, weil sie ihn gesünder einschätzten, als er tatsächlich<br />
war. Dass er eine Psychotherapiestation nach zwei Wochen verliess,<br />
war kein Ausweichen des Patienten vor einer Bearbeitung<br />
seiner Konflikte und der schmerzhaften Trennung von seiner Ehefrau,<br />
wie es seine damaligen Therapeuten deuteten, sondern war<br />
für ihn notwendig, ja lebensrettend. Er schützte sich damit wahrscheinlich<br />
vor einem schwereren Zusammenbruch, weil er spürte,<br />
dass er einer aufdeckenden Einzeltherapie und der Auseinandersetzung<br />
in der Gruppe zu jenem Zeitpunkt nicht gewachsen war.<br />
Seine Flucht zur Mutter war kein regressives Verhalten im neurosenpsychologischen<br />
Sinne, wie es die damaligen Therapeuten<br />
haben wollten. Meines Erachtens kehrte er in seiner Einsamkeit,<br />
Schutzlosigkeit, seinem Bedrohtsein durch die Psychose und auf<br />
der Suche nach Halt und Stützung an jenen Ort zurück, der ihm<br />
wenigstens etwas vertraut war.<br />
Nach der Entlassung aus der Klinik kehrte er an seinen früheren<br />
Wohnort zurück und kam von dort regelmässig in die Sprechstunde.<br />
Seinen Beruf als Gymnasiallehrer konnte er nicht mehr ausüben.<br />
Vor einer Klasse zu stehen, wo alle Augen auf ihn gerichtet<br />
sind, war für ihn eine zu grosse Belastung. Er fand eine berufliche<br />
Anstellung, bei der er nicht eng mit Menschen zusammen arbeiten<br />
musste. Heute lebt er zurückgezogen. Er scheint aber mit seinem<br />
Leben nicht unzufrieden zu sein.<br />
Ein heiterer Schlusspunkt!<br />
Ich erlebte beim Sammeln von Baumzeichnungen auch viele heitere<br />
Momente, vor allem bei der Begegnung mit Kindern und Jugendlichen.<br />
Diese letzte Baumdarstellung stammt von Marial, einem<br />
zwölfjährigen, fröhlichen, witzigen und gemütvollen Mädchen.<br />
Es wäre schön, wenn alle Kinder so unbeschwert leben könnten!<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 236<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
237<br />
denkbar<br />
28<br />
Leo Gehrig, Dr. phil., aufgewachsen in Woltertwil, Vater von drei erwachsenen Kindern, von 1975 bis<br />
1998 Leitender Psychologe am Psychiatrie-Zentrum Hard, Embrach, von 1995 bis 1998 Aufbau und<br />
Leitung der ersten Drogenstation für Jugendliche der Schweiz, seither in eigener Praxis und als Dozent<br />
tätig, Lehrerinnen und Schülerinnenberater.<br />
Zahlreiche Publikationen, unter anderem die Bücher «Verwahrloste Jugend – verwahrloste Gesellschaft»,<br />
«Reden allein genügt nicht», «Kiffen – was Eltern wissen müssen» und «Baumzeichnungen –<br />
Zeichen des Menschen»<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 237<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
238<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 238<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
239<br />
denkbar<br />
3<br />
Georg Peez<br />
«Dass sich jeder verändern<br />
kann, aber das immer noch<br />
ist.»<br />
Verbalisierung ästhetischer Erfahrungs- und<br />
Lernprozesse im Unterricht einer 6. Klasse<br />
Ziele der evaluierten Unterrichtseinheit<br />
Die fachdidaktisch motivierte Frage, wie digitale bildnerische<br />
Gestaltungsmedien in den Kunstunterricht zu integrieren sind,<br />
ist Ausgangspunkt der vorliegenden Darstellung. (Im Folgenden<br />
wird der in Deutschland übliche Begriff «Kunstunterricht» verwendet,<br />
es liesse sich analog auch vom Unterricht in Bildnerischer<br />
Gestaltung sprechen.) Der Kunstunterricht beschäftigt sich von<br />
jeher mit den Möglichkeiten der Praxis bildnerischer Gestaltung<br />
in der Schule. Treten nun neue gestalterische Werkzeuge und Medien<br />
sowohl in der Alltagskultur als auch der Kunst hinzu, so<br />
ist es Aufgabe der Kunstdidaktik, zu erkunden, ob und wie diese<br />
im Kunstunterricht zu nutzen sind (Kirschenmann/Peez 2004).<br />
Knapp und zielorientiert gesagt: Kinder und Jugendliche sind zu<br />
befähigen, bildnerische Gestaltungsmedien aktiv und reflexiv zu<br />
nutzen, nicht nur um diese instrumentell zu beherrschen, sondern<br />
um durch die bildnerische Gestaltung sich selbst und die Welt besser<br />
kennen zu lernen und sich hiermit neue, kreative Artikulationsmöglichkeiten<br />
zu erschliessen.<br />
Eingebettet war die Konzeption und Durchführung des im<br />
Folgenden evaluierten Unterrichts sowie dessen wissenschaftliche<br />
Begleitforschung im Modellprojekt «Multisensueller Kunstunterricht<br />
unter Einbeziehung der Computertechnologie» innerhalb<br />
des Bund-Länder-Programms «Kulturelle Bildung im<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 239<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
240<br />
Medienzeitalter» (http://netzspannung.org/learning/muse oder<br />
Computer+Unterricht Themenheft 55 «Computer sinnlich und<br />
kreativ» oder www.muse-forschung.de).<br />
Das Modellprojekt (kurz: «MuSe-Computer») setzte sich zur<br />
Aufgabe, Situationen zu schaffen, die «zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit<br />
kreativen Verhaltens» beitragen.<br />
Unterrichtsverlauf und didaktische Vorüberlegungen<br />
Unter dem Titel «Wer bin ich» wurden in einer 6. Gesamtschulklasse<br />
(Frankfurt a.M.) zunächst (1) Porträt- und Selbstporträt-<br />
Zeichnungen mit Bleistift angefertigt, worauf sich (2) die Betrachtung<br />
expressionistischer Porträt-Gemälde anschloss. (3)<br />
Die eigenen Bleistiftzeichnungen wurden nun farbig übermalt.<br />
(4) Parallel machte die Lehrerin Judith Werner Porträtfotos aller<br />
Schülerinnen und Schüler. (5) In einem werkstatt-orientierten<br />
Unterricht gestalteten die Schülerinnen und Schüler diese Fotos<br />
an Arbeits-Stationen um. Sie übersprühten mit Sprayfarbe, sie<br />
übermalten mit Dispersionsfarbe oder bearbeiteten digital mit<br />
Photoshop. Zusätzliche Stationen waren eine Fotoecke mit Digitalkameras,<br />
ein Verkleidungs- und Schminkbereich oder auch die<br />
Möglichkeit, Hip-hop- bzw. Rap-Texte über sich zu verfassen und<br />
diese zu vertonen (Werner 2004). Es ging also knapp gesagt um<br />
die Identitätskonstruktion mittels analoger und digitaler Medien.<br />
Den Zwölf- bis Dreizehnjährigen sollten Wege einer «freieren»<br />
Selbstdarstellung aufgezeigt werden. Weitere Intentionen waren<br />
der spielerische Umgang mit sich selbst sowie die Förderung von<br />
Flexibilität, Toleranz und Selbstironie. All diese Ziele sollten vor<br />
allem durch das weitgehend selbstbestimmte Arbeiten an Stationen<br />
in Kleingruppen erreicht werden sowie durch das Angebot, auch<br />
die digitale Bildbearbeitung zu nutzen. Denn schon in der ersten<br />
Unterrichtsphase der Porträt- und Selbstporträt-Zeichnungen mit<br />
Bleistift zeigte sich deutlich, dass der bereits hohe Anspruch der<br />
naturalistischen Wiedergabe besonders in dieser Altersgruppe im<br />
Widerspruch zum tatsächlichen zeichnerischen Vermögen steht.<br />
Die Aussage der beteiligten Schülerin Mayowa «Dass sich jeder<br />
verändern kann, aber das immer noch ist» (siehe den Kontext des<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 240<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:56 <strong>Uhr</strong>
241<br />
denkbar<br />
Titel-Zitats weiter unten), fasst viele dieser Optionen zutreffend<br />
zusammen, ohne sie auf ein festes Lernziel engzuführen.<br />
Die Lehrerin selbst hatte noch keine Erfahrungen mit digitaler<br />
Bildbearbeitung im Kunstunterricht gesammelt. In einer projektbegleitenden<br />
Fortbildung war sie – bis dahin völlig ungeübt<br />
– mit den Grundfunktionen des Programms Photoshop vertraut<br />
gemacht worden. Ganz bewusst ging es im Projekt darum, Unterrichtseinheiten<br />
fast «voraussetzungslos» zu entwickeln und auszuprobieren.<br />
Vorerfahrungen der Schülerinnen und Schüler auf<br />
diesem Gebiet waren rudimentär bzw. meist gar nicht vorhanden.<br />
Für die ganze Klasse gab es keine allgemeine Einführung in Photoshop<br />
innerhalb des Projekttages, sondern lediglich in individueller<br />
Form innerhalb der Stationen-Betreuung durch die Lehrerin.<br />
Nach diesem Initial wurden neu zur Station hinzukommenden<br />
Schülern diese Grundfunktionen von den Mitschülern und der<br />
Lehrerin gezeigt, was dem didaktischen Prinzip einer reformpädagogisch<br />
orientierten freien Stationenarbeit ohne restriktive Instruktionen<br />
entspricht.<br />
Forschungsfrage<br />
Will man etwas evaluieren, so sollte zunächst gefragt werden: Worüber<br />
will ich Erkenntnisse erhalten Wie lautet meine Fragestellung<br />
In der vorliegenden Fallstudie ging es um die Art und Weise<br />
der Nutzung digitaler Medien im bisherigen analog ausgerichteten<br />
Kunstunterricht. Wichtige Stichworte sind gemäss den Projektzielen<br />
die Multisensualität und die Prozesshaftigkeit: Wie lassen sich<br />
der Computer und seine Peripheriegeräte innerhalb schulischen<br />
Kunstunterrichts in eher multisensuell ausgelegte bildnerische Gestaltungsprozesse<br />
‹zwischen Realität und Digitalität› integrieren<br />
Im Blickpunkt stehen komplexe Veränderungsprozesse innerhalb<br />
bestimmter Zeiträume.<br />
Wurden im gesamten Projekt sehr unterschiedliche digitale<br />
Gestaltungsmedien und –werkzeuge ausprobiert und kombiniert,<br />
ging es in der evaluierten Unterrichtseinheit primär um die digitale<br />
Bildbearbeitung als einem Stationsangebot. Die bewusst<br />
recht allgemein gehaltene Forschungsfrage der evaluativen Be-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 241<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:57 <strong>Uhr</strong>
242<br />
gleitforschung bezogen auf die hier vorgestellte Unterrichtseinheit<br />
lautete: Welche Lernerfahrungen und ästhetischen Erfahrungen<br />
wurden im Kontext der Verwendung der Station «digitale Bildbearbeitung»<br />
gemacht Mit Blick auf den Themenschwerpunkt<br />
«Artikulation» dieses <strong>Heft</strong>es <strong>02</strong> wird hierauf primär eingegangen.<br />
Forschungsmaterial<br />
Nach Abschluss der Unterrichtseinheit wurden hierzu narrative<br />
Einzel- und Paar-Interviews mit zehn Schülerinnen und Schülern<br />
geführt. Die Auswahl dieser Stichprobe erfolgte kontrastierend.<br />
Wichtig war, dass ich selber als Forscher nicht am Unterricht<br />
teilgenommen hatte und den Unterricht auch nicht geplant hatte.<br />
Meine Funktion war es, das empirische Material zu erheben,<br />
aufzubereiten und auszuwerten sowie den verantwortlichen Lehrenden<br />
eine empirisch fundierte inhaltliche Rückmeldung zu geben.<br />
Auf der Basis dieser Rückmeldung wurden dann neue Unterrichtseinheiten<br />
geplant. Die befragten Schülerinnen und Schüler<br />
sahen sofort ein, dass sie mir die Unterrichtseinheit ganz genau erklären<br />
mussten. Die Unterrichtseinheit wurde mir also aus dieser<br />
Perspektive geboten. Die Heranwachsenden waren im Interview<br />
die ‹Experten› für den Unterricht und für die hierin gesammelten<br />
Erfahrungen. Zusätzlich wurden nach dem Interview die<br />
bildnerischen Ergebnisse von mir fotografisch dokumentiert, da<br />
angesichts technischer Probleme oft nur Ausdrucke der eigentlich<br />
digitalen Schülerarbeiten vorhanden waren.<br />
Vor allem soll durch die Analysen ersichtlich werden, welche<br />
Bedeutung die verbale Artikulation für die Reflexion der Schülerinnen<br />
haben kann. Mittels der verbalen Artikulation im Interview<br />
nutzen die zwei Schülerinnen die Möglichkeit, sich ihres<br />
eigenen Tuns gemeinsam bewusster zu werden. Ein zweiter wichtiger<br />
Punkt ist, dass in scheinbar beiläufigen Schüler-Äusserungen<br />
bei näherer Betrachtung häufig Aspekte angesprochen werden, die<br />
für Lehrerinnen und Lehrer von grosser Bedeutung sein können,<br />
weil sie tiefere Einblicke in Erfahrungs- und Lernprozesse geben.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 242<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:57 <strong>Uhr</strong>
243<br />
denkbar<br />
1–3: Schülerarbeiten von Zaneta (<strong>14</strong> Jahre), Janine (<strong>12</strong> Jahre) und Mayowa (<strong>12</strong> Jahre)<br />
/ Zaneta, 6. Kl., dig. Bildbearbeitung<br />
Unterrichtsinhalte aus Schülerinnensicht<br />
Im Folgenden analysiere ich auf phänomenologischer Grundlage<br />
und mit sequenzanalytischer Ausrichtung (zu dieser Methode siehe<br />
Peez 2005) ein Interview (in der Transkription 27 Seiten bzw.<br />
987 Zeilen lang) mit Mayowa (<strong>12</strong> Jahre) und Zaneta (<strong>14</strong> Jahre)<br />
in Verbindung mit deren bildnerischen Unterrichtsergebnissen.<br />
Hierfür beginne ich mit einer längeren Passage, in der die beiden<br />
Mädchen über eine ihrer mit Photoshop erstellten Bildbearbeitungen<br />
sprechen (Abb. 1), die sie später als «Unser Meisterwerk»<br />
(Zeile 584) bezeichnen. Von dieser Passage aus werden weitere<br />
Sequenzen knapp erschlossen. (Das gesamte Interview ist verfügbar<br />
unter www.georgpeez.de/texte/download/ikozm03.pdf. In<br />
Klammern steht jeweils nach dem Zitat die Zeilenangabe aus der<br />
originalen Transkription.)<br />
Z. Also, wir haben den Andy als Grundlage genommen.<br />
Und dann haben wir dem Fred seine Nase ausgeschnitten und das<br />
dann auf den draufge..., ja, geklebt.<br />
M. Kopiert.<br />
Z. Kopiert. Und dann Franks Augen mit so einer dicken Brille ...<br />
I. Aha.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 243<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:57 <strong>Uhr</strong>
244<br />
Z. Und Evas Mund.<br />
M. Als Hut.<br />
Z. Ja. Äh.<br />
M. Und das danach. Und ähm.<br />
Z. Inams Haare.<br />
M. Nein, oder<br />
Z. Doch.<br />
M. Ja, was denn.<br />
Z. Als Schnurrbart.<br />
M. Ach so, stimmt. (lacht)<br />
Z. Und Freds Ohr und den Hintergrund haben wir dann,<br />
glaub’ ich, lila angemalt.<br />
M. Ja.<br />
I. Ah ja. Das hat doch sicher ziemlich lang gedauert, oder<br />
M. Ja, nein eigentlich gar nicht.<br />
Z. Nein, nur eine halbe Stunde.<br />
I. Ach echt, so schnell!<br />
M. Noch weniger! Wenige Minuten.<br />
Z. Zwanzig Minuten ungefähr.<br />
I. Wie habt ihr denn die Augen zum Beispiel ausgeschnitten<br />
Wie habt ihr das gemacht<br />
M. Also, da war so’n Lasso, sag’ ich jetzt mal und damit konnte man das<br />
dann ausschneiden auf dem Bild und dann kopieren rüber.<br />
I. Aha.<br />
M. Das ist halt …<br />
I. Aber das mit dem Lasso muss man doch wahrscheinlich auch relativ<br />
exakt entlang gehen.<br />
M. Ja.<br />
Z. Nein, muss man nett! Nicht so genau.<br />
M. Muss nicht. Man kann’s ja dann auch übermalen aber ... (Z. 210–244)<br />
Ent-Kontextualisierung und Umdeutung<br />
Den Schülerinnen stehen Porträtfotos am Computer zur Verfügung,<br />
die sie im Unterrichtsverlauf zunächst auf neue Weise wahrnehmen.<br />
Denn sie entkontextualisieren Elemente aus den Fotos. Die Nase von<br />
Fred wird an die Stelle der Nase von Andy gesetzt. «Franks Augen<br />
mit so einer dicken Brille» ersetzen Andys ursprüngliche Augenpartie.<br />
In einem weiter reichenden Schritt vollziehen die beiden Schülerinnen<br />
Umdeutungen des Realen. Sie werden von Zaneta und Mayowa<br />
auch erst als zweites genannt. Diese Umdeutungen, die sich als<br />
vorwiegend spielerisch und experimentell charakterisieren lassen,<br />
münden in eine aktive De-Konstruktion: Bestimmte Elemente der<br />
Gesichter werden ausgeschnitten und in einem Akt der Konstruk-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 244<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:57 <strong>Uhr</strong>
245<br />
denkbar<br />
tion neu zusammengefügt. «Evas Mund» wird zu einem «Hut»,<br />
«Inams» Kopf-»Haare» werden zu einem «Schnurrbart» umgedeutet.<br />
Diese Umdeutungen werden in einer bildnerischen Gestaltung<br />
zunächst probeweise, dann endgültig in die Tat umgesetzt,<br />
um etwas Neues zu kreieren. (In einer separaten, hier aus Platzgründen<br />
nicht dokumentierten Bildanalyse konnten vor allem diese<br />
Aspekte verifiziert werden.) Durch Ent-Kontextualisierungen<br />
und Umdeutungen wird die Flexibilität, auch für absurde bildnerische<br />
Lösungen gefördert.<br />
Ästhetische Erfahrung<br />
Im bildnerischen Gestalten der Zwei scheint demnach ein Merkmal<br />
ästhetischer Erfahrung auf. Die beiden Mädchen sind «von<br />
den Zwängen der Konvention und der Routine befreit und für die<br />
Erfahrung des Augenblicks geöffnet» (Seel 2007, S. 16). Der Philosoph<br />
Martin Seel schreibt, ästhetische Erfahrungen seien «ästhetische<br />
Wahrnehmungen mit Ereignischarakter» (Seel 2007, S. 58).<br />
Und Seel weiter: «Ereignisse in diesem Sinn sind Unterbrechungen<br />
des Kontinuums der biografischen und historischen Zeit» (ebd.,<br />
S. 59). Das Zeitgefühl geht für einen gewissen Moment verloren.<br />
Solche Ereignisse «erzeugen Risse in der gedeuteten Welt» (ebd.).<br />
Zum einen sind sich auch Zaneta und Mayowa über die zeitlichen<br />
Ausmasse ihres Tuns in der Rückschau unsicher («halbe Stunde ...<br />
Wenige Minuten ... Zwanzig Minuten ungefähr»). Zum anderen<br />
sind die «Risse in der gedeuteten Welt» eine offensichtliche Vorstufe<br />
der erfolgten Umdeutungen.<br />
Gestaltungsprinzipien<br />
Martin Seel sagt ausserdem, Kunsterfahrung speise sich aus den<br />
Erfahrungen, die ausserhalb der Kunst gesammelt werden (Seel<br />
2007, S. 66). Wer im Alltag keine ästhetischen Erfahrungen<br />
macht, kann diese später auch nicht in der Kunst-Rezeption machen.<br />
Im hier behandelten Unterricht wird es den Schülerinnen<br />
ermöglicht, ästhetische Erfahrungen in Form einer Ent-Kontextualisierung<br />
und De-Konstruktion zu sammeln. Hierdurch erfahren<br />
sie zugleich zwei grundsätzliche Gestaltungsprinzipien, wie<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 245<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:57 <strong>Uhr</strong>
246<br />
sie vor allem die Kunst des 20. Jahrhunderts prägten, und wie<br />
sie sich in der Montage oder Collage finden. Kunstströmungen<br />
wie der Kubismus, der Dadaismus, der Surrealismus oder die Pop-<br />
Art basieren u.a. auf diesen Gestaltungsprinzipien; aber auch die<br />
Kunst des Malers Guiseppe Arcimboldo (1527–1593). Haben die<br />
Heranwachsenden diese Prinzipien im eigenen Tun – durchaus<br />
auch als lustvoll – erlebt, so werden ihnen solche Kunststile – der<br />
Argumentation Seels folgend – nicht mehr ‹fremd› sein.<br />
Patchwork-Identitäten<br />
Neben einem bereits dargestellten ‹Personen-Mix› («Evas Augen,<br />
Beates Mund und Janines Haare» Z. 657) geschieht auch eine<br />
Auseinandersetzung mit Medien-Klischees («Ja, das ist die Claudia<br />
als Barbie. (lacht)» Z. 651). Die Mitschülerin Janine treibt in<br />
ihrer Montage das Spiel mit Patchwork-Identitäten noch einen<br />
Schritt weiter (Abb.2) (Das Transkriptionszeichen «@» steht für<br />
lachend gesprochene Passagen.):<br />
M. Wo der Mike @Janines Haare hatte@, hat mir gut gefallen.<br />
I. Was ist da passiert<br />
M. Ja, da hat die Janine halt auch den Mike als Hintergrund genommen ...<br />
I. Ja.<br />
M. Und dann halt ihre Haare drauf gesetzt.<br />
Das sind halt so lange, blonde Haare und dann ...<br />
I. Das sieht komisch aus.<br />
M. Ja. (lacht)<br />
Z. Ja. Und der Mike ist dunkelhäutig und ...<br />
I. Ah ja, o.k.<br />
Z. … und das sah dann so witzig aus. (Z. 470–480)<br />
Zwar wird an dieser Stelle keine explizite verbale Reflexion geleistet.<br />
Doch wird die Montage der Mitschülerin Janine implizit<br />
als bedeutend hervorgehoben («hat mir gut gefallen»; «das sah<br />
dann so witzig aus»). Dass diese Bildbearbeitung symbolisch aufgeladen<br />
und hierdurch etwas Besonderes ist, ist den Schülerinnen<br />
durchaus bewusst. Diese Montage überschreitet Grenzen: Sie ist<br />
mit den Begriffen ‹Cross-Culture› und ‹Cross-Gender› zu charakterisieren.<br />
Es handelt sich um eine Identitätskonstruktion, wie sie<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 246<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:57 <strong>Uhr</strong>
247<br />
denkbar<br />
zwar äusserlich so kontrastiv kaum möglich ist, aber innerlich lassen<br />
sich die «zwei Welten» als Patchwork-Identität (Nordafrika/<br />
Mitteleuropa und Mädchen/Junge) durchaus in den Jugendlichen<br />
finden. In Phasen des Umbruchs wie der Adoleszenz orientieren<br />
sich die Betroffenen einerseits zwar an Sicherheit versprechenden<br />
Leitbildern, andererseits bieten Experimente aber auch neue Optionen<br />
des Ausprobierens.<br />
Möglichkeitsräume<br />
Der Unterricht eröffnet auf diese Weise Möglichkeitsräume für<br />
das Spiel mit Identitäten, hin zu einer ‹freieren› Selbstdarstellung.<br />
Demgemäss beschreiben Zaneta und Mayowa auch die vermutete<br />
Intention der Lehrerin in ihren Worten:<br />
M. Ja, dass halt ...<br />
Z. Herauszufinden wer wir sind.<br />
M. Ja und ...<br />
Z. Oder und wie wir aussehen, wenn wir nicht so aussehen,<br />
wie wir jetzt aussehen.<br />
M. Normal aussehen.<br />
I. Aha.<br />
M. Also, dass sich jeder verändern kann, aber das immer noch ist. So halt.<br />
I. Hm. Und ist das bei euch passiert Habt ihr so das Gefühl gehabt<br />
Z. Ja, bei mir.<br />
M. Bei mir schon. (Z. 877–887)<br />
Konventionalität wird ein Stück weit aufgehoben («Normal aussehen»),<br />
ein spielerischer Umgang mit dem Selbst wird angeregt<br />
(«dass sich jeder verändern kann, aber das immer noch ist»). Verfremdende<br />
und auch teils absurde Darstellungsweisen werden nun<br />
als sinnvoll erfahren («Herauszufinden wer wir sind»). Hierdurch<br />
werden Situationen geschaffen, die «zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit<br />
kreativen Verhaltens» beitragen, denn ein Merkmal<br />
von Kreativität ist es, dem Unkonventionellen nachzuforschen.<br />
Experimentieren<br />
Das Gestalten und Lernen der Mädchen am Computer wird regelrecht<br />
von intrinsischer Motivation beflügelt. Dies bedeutet, dass<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 247<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:57 <strong>Uhr</strong>
248<br />
ihr Tun nicht durch externe Belohnungen motiviert ist, sondern<br />
kognitiv und affektiv z.B. durch Sinn, Freude, Interesse, Erfolg,<br />
Neugierde oder auch selbstbestimmte Arbeitsabläufe aufrechterhalten<br />
wird.<br />
M. @Wir waren die ganze Zeit am Computer.@<br />
I. Und das durftet ihr, war auch o.k. gewesen<br />
Z. Ja.<br />
M. Ja.<br />
Z. Ja, weil wir es so gut konnten.<br />
I. Ach so. Und woher konntet ihr das so gut<br />
M. Ich weiss nicht. Wir haben einfach einmal zugeguckt. Und dann<br />
haben wir es nachprobiert und dann ...<br />
Z. ... ging’s!<br />
M. @Dann ging’s halt.@ (Z. 272–281)<br />
Aufgrund dieser Interviewpassage lässt sich der Umgang mit der<br />
Bildbearbeitungssoftware als ‹Lernen durch Beobachten› («einfach<br />
einmal zugeguckt») und in einem zweiten Schritt als ‹Experimentieren›<br />
(«dann haben wir es nachprobiert») charakterisieren.<br />
Der schnelle Lernerfolg («und dann ... ging’s halt») scheint ihrem<br />
Vorgehen nicht nur recht zu geben, sondern diese Form der<br />
Kompetenzaneignung («weil wir es so gut konnten») wirkt auch<br />
motivierend. An anderer Stelle sagt Zaneta selbstbewusst: «Wir<br />
können’s ja!» (Z. 358) Beide Mädchen bekräftigen, dass sie in dieser<br />
Beziehung ohne Vorkenntnisse sind (Z. 285ff.). – Wie eingangs<br />
erwähnt, wurden die Schülerinnen von der Lehrerin bzw. von<br />
Mitschülern in das Programm zwar eingewiesen. Dies geschah allerdings<br />
lediglich auf der Basis der Betreuung der Station «digitale<br />
Bildbearbeitung» am Projekttag. Einen Lehrgang oder Ähnliches<br />
hatten die beiden nicht absolviert. Diese Instruktionen blenden sie<br />
im Interview zudem weitgehend aus, was darauf verweist, dass sie<br />
sich stark mit ihrem gestaltenden Tun identifizieren.<br />
Es kann festgehalten werden, dass die digitale Bildbearbeitung<br />
durch ihre Eigenschaft, jeden Schritt rückgängig machen zu können,<br />
die Bereitschaft zum Experimentieren erhöht. Dies wurde<br />
auch durch die Auswertung weiterer Interviews zur gleichen Unterrichtseinheit<br />
deutlich (Peez 20<strong>08</strong>).<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 248<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:57 <strong>Uhr</strong>
249<br />
denkbar<br />
Kommunikation und Identifikation<br />
Intensive kommunikative Sachauseinandersetzung, die u.a. zum<br />
instrumentellen Umgang anregt, zeigt sich zum einen im Interview,<br />
in dem die beiden Mädchen häufig längere Dialoge untereinander<br />
führen, ohne Beteiligung des Interviewers. Zum anderen<br />
zeigt sich aber auch, dass sie Kommunikation über den Unterricht<br />
hinaus selbst initiieren.<br />
Z. Wir machen vielleicht eine Ausstellung.<br />
M. Ja und ich denk’ mal, danach dürfen wir das auch mit nach Hause<br />
nehmen, was wir gemacht haben, halt. Weil ich wollt, also, ich wollt’s<br />
auch gern mal @meinen Freunden zeigen@.<br />
I. Ja.<br />
Z. Ja, ich will auch meins im Zimmer aufhängen.» (Z. 422–427)<br />
Eine starke Identifikation mit den bildnerischen Produkten zeigt<br />
sich zudem in folgender Sequenz:<br />
Z. Das Beste hängt bei mir zu Hause.<br />
I. Ach so, das hast du schon mitgenommen<br />
Z. Ja, natürlich! (Z. 818–820)<br />
Kunstpädagogik findet in der Schule immer in Gruppen, Schulklassen<br />
oder Kursen statt. Didaktisch kann die Interaktion und<br />
Kommunikation entsprechend gefördert werden, etwa durch die<br />
Stationenarbeit, so dass sie von den Betroffenen als bereichernd<br />
erlebt wird und über den Unterricht hinaus fortgesetzt wird.<br />
Fach-Terminologie<br />
Lernerfahrungen lassen sich in Bezug auf die Anwendung von<br />
Fachbegriffen durch die Mädchen ermitteln. Sie können einige<br />
Funktionen des Programms benennen, u.a. das «Lasso»-Werkzeug.<br />
Interessant ist die Stelle des Eingangs-Zitats, an der Mayowa<br />
ihre Freundin Zaneta korrigiert. Zaneta spricht im Digitalen<br />
von «geklebt», wohingegen Mayowa mit «kopiert» berichtigt. An<br />
vielen anderen Stellen des Interviews werden Fachbegriffe benutzt:<br />
«Fotomontagen» (Z. 111); «Montage» (Z. 268); «Photoshop» (Z.<br />
<strong>12</strong>1); «gescannt» (u.a. Z. 558); «gespeichert» (u.a. Z. 353); «ab-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 249<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:58 <strong>Uhr</strong>
250<br />
gestürzt» (u.a. Z. 3<strong>12</strong>). Und es werden Werkzeuge beschrieben,<br />
z.B. «Ja, was verschieben, halt so’n Kreuz, da konnte man was<br />
mit verschieben» (Z. 377) oder «Farbtopf» (Z. 363). Zum Umgang<br />
mit dem Computer gehört eine gewisse Terminologie, diese<br />
eignen sich die Heranwachsenden mitgängig im Gestaltungsprozess<br />
an, auch durch Lernen voneinander.<br />
Geringe reflexive Verfügbarkeit des Lernerfolgs<br />
Es kann festgehalten werden, dass Mayowa und Zaneta die bildnerische<br />
Integration verschiedener Teilaspekte eines Porträts<br />
oder im übertragenen Sinne einer Persönlichkeit zu einem neuen<br />
‹Ganzen› leisteten – und dies mit grossem Engagement und<br />
hoher Motivation sowie eindrücklichen Erfolgserlebnissen. Aufgrund<br />
der Interpretation der Interviews fällt jedoch auf, dass diese<br />
Transformation von Einzelaspekten zu einem neuen ‹Ganzen›<br />
nicht verbal erfolgt. Die Mädchen formulieren beispielsweise keine<br />
integrierenden Titel für Ihre Arbeiten, sondern sie beschreiben<br />
und benennten ihre Bilder immer nur in additiver Form (z.B.<br />
«Evas Augen, Beates Mund und Janines Haare» Z. 657). Offenbar<br />
wurde im Unterricht selbst sowie in der Nachbesprechung<br />
hierauf wenig eingegangen. Dies deutet darauf hin, dass der weiter<br />
oben ermittelte Lernerfolgsanteil für die Mädchen selbst eventuell<br />
(noch) kaum verbal-diskursiv reflexiv verfügbar ist. Oder<br />
die neu gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse werden von<br />
den Jugendlichen vorzugsweise im Bildlich-Präsentativen artikuliert.<br />
Fazit<br />
Im Kunstunterricht steht die Auseinandersetzung mit bildnerischen<br />
– in neuerer Zeit auch digitalen – Medien im Mittelpunkt.<br />
Empirische Forschung innerhalb der Kunstpädagogik reflektiert<br />
diesen Einsatz, überprüft ihn auf seine Wirkungen und Potenziale<br />
für zukünftige kunstdidaktische Konzepte. Um Spekulationen<br />
hierüber zu vermeiden und um Projektionen in Bezug auf erhoffte<br />
Wirkungen zu reduzieren, sollte Kunstunterricht fallspezifisch<br />
evaluiert werden. Denn ästhetische Prozesse lassen sich nicht über<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 250<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:58 <strong>Uhr</strong>
251<br />
denkbar<br />
Multiple-Choice-Fragebögen oder Statistiken ermitteln und näher<br />
untersuchen. Aus zunächst scheinbar banalen Äusserungen<br />
der Schülerinnen und Schüler können auf der Grundlage qualitativer<br />
Empirie aufschlussreiche Hinweise auf Lernen, ästhetische<br />
Erfahrungen und Bildungsprozesse erlangt werden. Lesen Kunstlehrende<br />
solche Forschungsergebnisse, so erkennen sie auch in<br />
ihrem eigenen Unterrichtsalltag die Bedeutungen hinter solchen<br />
unscheinbaren Äusserungen; so lautet zumindest eine Prämisse<br />
zur Vermittlung von Forschungsergebnissen.<br />
Der Einsatz digitaler Bildbearbeitungssoftware in einem offenen,<br />
werkstattorientierten Setting im Rahmen des Kunstunterrichts<br />
der untersuchten 6. Klasse erwies sich in mehrfacher<br />
Hinsicht als sinnvoll. Die ausgelöste intrinsische Motivation zum<br />
Experiment auf der Grundlage eines zuvor erfolgten Beobachtungslernens<br />
sowie die spielerische Freiheit und die Kooperation<br />
der beiden Mädchen im Gestaltungsprozess führten zu oben<br />
dargelegtem Kompetenzzuwachs im Umgang mit Bildbearbeitung<br />
und dem Computer allgemein. Der digitale Gestaltungsvorgang<br />
wird u.a. deshalb als ästhetisch lustvoll erfahren, weil ein experimentelles<br />
Probehandeln vollzogen werden kann, stärker als in der<br />
analogen Gestaltung.<br />
Durch den zeitlichen Freiraum eines Projekttages war es den<br />
Schülerinnen möglich, sich länger mit den relevanten Gestaltungsvorgängen<br />
(und den auftretenden Problemen) zu befassen.<br />
Sie konnten ihren Arbeits- und Zeit-Rhythmus stärker selbst bestimmen.<br />
Ferner gab die Arbeit an Stationen den Mädchen Halt<br />
und Unterstützung sowie die Möglichkeit der Konzentration auf<br />
von ihnen gewählte Gestaltungsverfahren.<br />
Gefördert wird die Ent-Kontextualisierung und De-Konstruktion<br />
von Wirklichkeitselementen. Im untersuchten Fall werden<br />
Persönlichkeitsmerkmale flexibel gemacht und neu kombiniert.<br />
Die Schülerinnen verstehen den hintergründigen Sinn durchaus<br />
(s. Titel dieses Aufsatzes). Die Umbruchphase der Adoleszenz ist<br />
hierfür ein empfänglicher Lebensabschnitt. Forschungsergebnisse<br />
aus der Medienpädagogik stützen diese Erkenntnis (Niesyto/Marotzki<br />
2006; Brüggen/Hartung 2007).<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 251<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:58 <strong>Uhr</strong>
252<br />
Arbeitsblatt mit Frageimpulsen<br />
Die Methode der Verbalisierung sollte aber nicht nur den beiden<br />
Schülerinnen Zaneta und Mayowa zugute kommen. Die Idee, Interviews<br />
zu führen, wurde von der Lehrerin aufgegriffen. Sie selber<br />
konnte freilich nicht alle Schülerinnen und Schüler in dieser<br />
Weise befragen, doch fand sie einen Weg, dass alle Schülerinnen<br />
und Schüler nochmals innehielten, bevor die nächste bildnerische<br />
Aufgabe gestellt wurde (Werner 2004, S. 49). Sie entwickelte ein<br />
Arbeitsblatt mit Frageimpulsen:<br />
Interview zum Kunstprojekt: «Wer bin ich»<br />
Suche dir bitte einen oder zwei Interviewpartner. Befrage sie<br />
zu ihren/seinen Bildern und Ergebnissen. Im unteren Schaubild<br />
kannst du erkennen, auf welche Fragen es ankommt. Halte dein<br />
Gespräch entweder schriftlich fest oder nimm es auf Tonband auf.<br />
Bildergebnisse<br />
Entstehung Technik Herstellung Idee<br />
Thema<br />
Persönliche Erfahrung; persönliche Bewertung; Wie geht es<br />
weiter<br />
Gerade auch in diesen gegenseitigen Kurz-Befragungen zeigten<br />
die Schülerinnen und Schüler besonderes Engagement. Sie hatten<br />
die Chance, sich eigener Einsichten bewusster zu werden und diese<br />
untereinander zu kommunizieren.<br />
Prof. Dr. Georg Peez (www.georgpeez.de) , Professur für Kunstpädagogik / Didaktik der Kunst an der<br />
Universität Duisburg-Essen, Fachbereich 4, Kunst und Design; Studiengangsprecher für die Lehramtstudiengänge<br />
Kunst<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 252<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:58 <strong>Uhr</strong>
253<br />
denkbar<br />
Literatur<br />
Brüggen, Niels/Hartung, Anja (2007). ‹Kontextuelles Verstehen der Medienaneignung› als Methodenansatz.<br />
In: Georg Peez (Hg.). Handbuch Fallforschung in der Ästhetischen Bildung / Kunstpädagogik.<br />
Baltmannsweiler: Schneider Verlag. S. 79-89<br />
Marotzki, Winfried/Niesyto, Horst (Hg.) (2006). Bildinterpretation und Bildverstehen. Methodische Ansätze<br />
aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive.<br />
Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften<br />
Peez, Georg (2005). Evaluation ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse. München: kopaed<br />
Peez, Georg (20<strong>08</strong>). «Weil vorher hat man das nie so gesehen.» Janine, 6. Klasse. Empirische Unterrichtsforschung<br />
und Rekonstruktion ästhetischer Erfahrungsprozesse. In: Klaus-Peter Busse (Hg.).<br />
(Un)Vorhersehbares lernen: Kunst – Kultur – Bild. Dortmund: Dortmunder Schriften zur Kunst<br />
Seel, Martin (2007). Die Macht des Erscheinens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp<br />
Werner, Judith (2004). «Wer bin ich» – Selbstporträt und Porträtdarstellung in einer integrativen 6. Klasse.<br />
In: Johannes Kirschenmann/Georg Peez (Hg.). Computer im Kunstunterricht. Donauwörth: Auer. S. 45-49<br />
Kirschenmann, Johannes/ Peez, Georg (Hg.): Computer im Kunstunterricht. Werkzeuge und Medien. Donauwörth<br />
(Auer Verlag) 2004<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 253<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:58 <strong>Uhr</strong>
254<br />
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255<br />
denkbar<br />
4<br />
Susanne Sauter<br />
Über das künstlerische<br />
Schaffen sprechen<br />
Was bedeutet es zu sprechen, Formulierungen zu finden, sich zu<br />
artikulieren Die Bedingungen und Konsequenzen des (eigenen)<br />
Sprechens zu kennen und seine Vorstellungen darstellen zu können,<br />
sind die Voraussetzungen, um überhaupt ein ‹sprechendes<br />
Subjekt› zu werden, um eine sprechende und damit handelnde<br />
Position einzunehmen und als ‹Citoyen› eine gesellschaftliche<br />
Verantwortung zu übernehmen.<br />
In diesem Text versuche ich, auf das Potential hinzuweisen, welches<br />
durch eine gezielte Kombination von künstlerischen Schaffensprozessen<br />
und der sprachlichen Auseinandersetzung mit Vorstellungen<br />
und Wahrnehmungen aktiviert wird. In diesem kurzen Text kann<br />
der komplexen Thematik der Zusammenhänge von Sprache und<br />
Kunst als spezifische Form der Kommunikation nicht ausreichend<br />
auf den Grund gegangen werden. Ich versuche massgebende Gedanken<br />
zusammenzufassen, die auch im Unterricht von gestalterischen<br />
Fächern auf allen Stufen interessant sein dürften. Im Folgenden<br />
wird von Kunst die Rede sein. Die relevanten Aussagen<br />
dazu können jedoch für alle Bereiche der Gestaltung geltend gemacht<br />
werden. Der Fokus weist auf den verbalen Umgang mit den<br />
Zeichen, die durch die Schaffensprozesse generiert werden.<br />
Wird die Kunst als komplexes System von Kommunikation betrachtet,<br />
kann konstatiert werden: Ein Kunstwerk erhält seinen<br />
Sinn als Kunstwerk, wenn es wahrgenommen wird und bei den<br />
betrachtenden Personen etwas auslöst. Dieser Aussage folgend ist<br />
das Kommunizieren eine zentrale Aufgabe des Kunstwerks.<br />
Die Frage wie durch oder mit Kunst kommuniziert wird, führt<br />
zur Betrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den<br />
Absichten und Methoden der künstlerischen und der sprachlichen<br />
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Kommunikation. Stellvertretend für die buchfüllenden Ausführungen,<br />
die an dieser Stelle folgen müssten, zitiere ich diese bezeichnende<br />
Stelle des Systemtheoretikers Niklas Luhmann aus<br />
seinem Buch «Die Kunst der Gesellschaft»:<br />
«Für die Kommunikation von Kunst kommt hinzu, dass sie<br />
gar nicht auf die Automatik des Verstehens abzielt, sondern<br />
inhärent vieldeutig angelegt ist, und dies unabhängig davon, ob<br />
die Divergenz der Betrachtungsmöglichkeiten eingeplant war<br />
im Sinne eines «offenen Kunstwerks» oder nicht. Es mag dann<br />
geradezu das Interesse eines Kunstwerks verstärken, dass die<br />
Betrachter sich nicht auf eine einhellige Interpretation verständigen<br />
können.» 1<br />
Diese hier genannte Vieldeutigkeit fasziniert den Betrachter und<br />
lässt ihn immer wieder hinschauen. Die Wahrnehmung ist bei jeder<br />
Betrachtung neu. Die Wahrnehmung von Kunst bringt eine<br />
Verzögerung und eine Reflexivierung mit sich, die sich vehement<br />
von der Wahrnehmung von Sprache unterscheidet, welche in der<br />
Regel möglichst schnell und präzise erfolgt. Die Vielfalt von Deutungen<br />
und Bedeutungen, welche die Betrachterin, der Betrachter<br />
erkennen kann, bieten Anlass, um sich auszutauschen. Die gemeinsame<br />
Besprechung von Kunstwerken erweist sich im Sinne<br />
der vielen möglichen Betrachtungsweisen, respektive der vielen<br />
Einschlüsse, welche in einem Kunstwerk zeitgleich wahrgenommen<br />
werden können, als enorme Bereicherung.<br />
Im Sprechen und auch in der künstlerischen Artikulation wird<br />
nach allgemein verständlichen Zeichen gesucht, welche der/dem<br />
anderen die eigene Welt erschließen und näher bringen. Dies bedingt,<br />
dass die RezipientInnen die Zeichen verstehen können.<br />
Eine Artikulation glückt also nur im Umfeld einer Gemeinschaft,<br />
welche über ein gemeinsames Vokabular verfügt und/oder einen<br />
selben oder überschneidenden sozialen, politischen und kulturellen<br />
Kontext kennt. Eine Aussage allein genügt also nicht, sie<br />
funktioniert nur in einem gemeinsam bekannten Kontext. Umgekehrt<br />
kann eine Aussage nur aus einem Kontext heraus entstehen.<br />
Das sprechende Subjekt braucht ein Umfeld, eine Erfahrung und<br />
ein Wissen, aus dem heraus es seinen Text generiert. Aus diesem<br />
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257<br />
denkbar<br />
Sachverhalt 2 erweist sich die Notwendigkeit der Diskussion über<br />
eine Materie, hier das künstlerische Schaffen, das eigene, aber<br />
auch die Diskussion über relevante Werke. Wenn Ideen reichhaltig<br />
ausformuliert werden, anderen zugänglich gemacht werden können,<br />
dann erweitert sich dieser gemeinsame Kontext. Je genauer<br />
alle Mitglieder einer Gruppe Ihre Gedanken über Ihre eigenen<br />
Projekte, aber auch ihr Gedanken zu Objekten, die betrachtet werden,<br />
verbalisieren können, umso grösser wird der oben genannte<br />
gemeinsame Kontext, der Raum, in dem Verstehen entwickelt werden<br />
kann. In der Gruppe werden das Vokabular und das Wissen<br />
gemeinsam angereichert. Das Wissen um die Überlegungen und<br />
über das Vokabular des anderen erweitert folglich auch die Ressourcen,<br />
aus denen heraus eigenen Vorstellungen generiert werden.<br />
Es festigt und bereichert die Möglichkeiten und die Finessen des<br />
eigenen Schaffens. Aus diesem Grund erachte ich regelmässige Diskussionen<br />
über künstlerische Schaffensprozesse und über Kunstwerke,<br />
die von gemeinsamem Interesse sein können, als absolut<br />
wichtig. Sie bereichern das Volumen des Kontexts, aus dem heraus<br />
wir uns verbal und künstlerisch artikulieren, beachtlich.<br />
Gespräche über die eigenen Arbeitsprozesse können in jedem<br />
Alter durchgeführt werden. Mit Kindergärtner kann es genau so<br />
faszinierend sein wie mit professionellen Kunstschaffenden. Die<br />
Diskussion über Kunst gehört nicht nur in den Bereich der Sprache<br />
oder der Theorie, sie gehört in den Arbeitsprozess und in die<br />
Kunstbetrachtung.<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Luhmann Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main, 1997. S. 72<br />
2<br />
Siehe zu dieser Thematik: Peter Weibel (Hg.): Kontext Kunst. Köln, 1994.S. 9–<strong>14</strong>.<br />
Peter Weibel verweist in seinem Text:» Kontext Kunst: Zur sozialen Konstruktion von Kunst» auf<br />
den russischen Literaturtheoretiker und Semiologen Michail Michajlovic Bachtin (1895-1973).<br />
Dieser bestimmt Sprache als dialogische Handlung, er unterstreicht das soziale Ereignis der<br />
sprachlichen Interaktion, welches durch Äußerung und Gegenäußerung realisiert wird. Bachtin<br />
relativiert die Autonomie des Sprechens, er setzt nicht auf einen subjektiven, sondern auf einen<br />
objektiven Ursprung des sozialen Verhaltens. Bachtin betont die «dialektische Natur der sozialen<br />
Situation, die durch die Interaktion der Sprecherin/des Sprechers und der komplexen Menge der<br />
sozialen Umstände entsteht, in der die Äußerung stattfindet. Auch Jacques Lacan kommt in seiner<br />
Sprechakttheorie auf ähnliche Feststellungen. Siehe: Widmer Peter: Subversion des Begehrens.<br />
Jaques Lacan oder die zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt a. M., 1990.<br />
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259<br />
denkbar<br />
5<br />
Thomas Sieber<br />
Im Netz der visuellen<br />
Kultur<br />
Schnittstellen und Differenzen in Medien,<br />
Design und Kunst<br />
1. Medienkunst – Grenzlinien und Annäherungen 1<br />
Das künstlerische Feld, das gemeinhin als Medienkunst bezeichnet<br />
wird, existiert seit rund 30 Jahren. Am Anfang der Medienkunst<br />
stehen das Video der 1960er und 1970er und die Videoskulptur der<br />
1980er Jahre. 2 Diese künstlerischen Ausdrucksformen haben sich<br />
vor dem Hintergrund einer von Marshall McLuhan und anderen<br />
Protagonisten seit den 1960er Jahren propagierten telematischen<br />
Technokultur im Zeichen grenzenloser Kommunikation und Partizipation<br />
entwickelt. 3 Nicht nur in der Auseinandersetzung mit<br />
den bereits etablierten Gattungen, Ästhetiken und Praktiken der<br />
bildenden Kunst, sondern auch in der Auseinandersetzung mit<br />
den visuellen Massenmedien Film und Television gewinnt das Video<br />
als künstlerisches Medium Profil. 4 Dieser Profilierungs- und<br />
Etablierungsprozess ist zunächst vom Kunstsystem, insbesondere<br />
aber von der akademischen Kunstgeschichte vernachlässigt<br />
worden. Erst im vergangenen Jahrzehnt, erst als die Videokunst<br />
gleichsam Geschichte geworden ist, hat die Kunstgeschichte die<br />
Kunst im Medium Video entdeckt und diese in den Fachdiskurs<br />
integriert. 5 In dieser zögerlichen und noch keineswegs abgeschlossenen<br />
Integration widerspiegelt sich die Tradition der Disziplin<br />
Kunstgeschichte, die dem als Bild verstandenen Kunstgeschehen<br />
einen Rahmen gegeben hat.<br />
Mit Hans Belting kann man «heute von einer Aus-Rahmung<br />
sprechen, die zur Folge hat, dass das Bild sich auflöst, weil es<br />
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nicht mehr von seinem Rahmen eingeschlossen wird». 6 Nur wenn<br />
sich die Kunstgeschichte zur Kunstwissenschaft entwickelt und<br />
sich von dem in der Moderne etablierten Ideal einer gültigen Erzählung<br />
von Sinn und Ablauf einer allgemeinen Geschichte der<br />
Kunst verabschiedet, kann sie zu einer Wissenschaft der Bilder<br />
werden, die der Kunst und der visuellen Kultur der Gegenwart<br />
gerecht wird.<br />
Wenn man vor diesem Hintergrund die mittlerweile als Sammelbegriff<br />
etablierte Bezeichnung Medienkunst analysiert, so beruht<br />
diese letztlich auf einer Verschiebung der Aussagetypologie<br />
hin zu einem Material, einem Stoff oder eben einem Medium.<br />
Wenden wir diese Verschiebung beispielsweise auf jene Bilder an,<br />
die in der Regel den Hauptteil der in Ausstellungen von Museen<br />
und Kunsthallen gezeigten Kunstwerke ausmachen, so müssten<br />
wir von Öl- oder Acrylkunst sprechen. Der Begriff Medienkunst<br />
macht aber viel mehr: Er behauptet, Avantgarde zu sein, indem<br />
er eine Kunst verspricht, die sich neuester Technologien bedient.<br />
Der Begriff ist deshalb so kraftvoll, weil er viel integriert: progressiv<br />
und ernsthaft, experimentell und unverzichtbar, mutig<br />
und verpflichtend, kurz: Medienkunst verspricht das Neue und ist<br />
eingebunden in das Bekannte. Diese diskursive Aufladung wird<br />
begleitet von der Tendenz, «die Einheit der Bilder in die Pole der<br />
Medien und der Kunst» zu spalten. 7 Während die Medienwissenschaft<br />
in der Regel die alten Medien als «Kunst» behandelt wissen<br />
will und sich auf die neuen, technischen Medien wie Foto, Film,<br />
Video und Computer konzentriert, beschäftigt sich die Kunstwissenschaft<br />
vornehmlich mit der «nichtmedialen» Kunst, die nicht<br />
im Verdacht steht, den Kunstcharakter der Werke zu verraten.<br />
Diese historisch gewachsene Grenzlinie ist nicht nur deshalb problematisch,<br />
weil damit die Medialität von Kunst und die Kunstfähigkeit<br />
von Medien gleichermassen verfehlt werden. Vollends<br />
unproduktiv wird diese angesichts der jüngeren Entwicklungen<br />
im Bereich der zeitgenössischen Kunst im Zeichen von Hybridisierung,<br />
Media-Mix und Crossover (Abb.1).<br />
Diese summarischen Ausführungen zu den mit der Medienkunst<br />
verbundenen Diskursen können und wollen die Frage «Was<br />
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denkbar<br />
ist Medienkunst» nicht beantworten. Gesucht werden müssen<br />
Antworten, aber jenseits der Gebietsansprüche und Abgrenzungsrituale<br />
der akademischen Wissenschaften. Gleichzeitig gilt es, die<br />
Integrations- und Vereinnahmungsgesten jenes postmodernen<br />
Diskurses kritisch zu befragen, der die Differenzen zwischen Ökonomie<br />
und Kultur, Design und Kunst und der Figur des Ingenieurs<br />
und der Figur der Künstlerin bis zur Unkenntlichkeit nivelliert.<br />
In dieser Redeweise werden Unterschiede nämlich zu antiquierten<br />
Merkmalen einer Kunst, die sich auf kunstimmanente Positionen<br />
zurückziehe und sich so der Einsicht verschliesse, dass «die Kunst<br />
von morgen von den Engineers of Experience in ihren Werkstätten<br />
der Welterfindung und Welterschaffung (gemacht wird)». 8 In<br />
diesem Diskurs, der die Kunst «zwischen Las Vegas und Tate Modern,<br />
zwischen IT-Algorithmen und Proteinsequenzen» inszeniert<br />
und von Personen getragen sieht, «die ihre Identität zwischen<br />
Künstler, Ingenieur, Sozialarbeiter und Experience-Designer ansiedeln»,<br />
wird letztlich nicht mehr zwischen angewandten Künsten,<br />
Gestaltung oder Design auf der einen und Kunst auf der anderen<br />
Seite unterschieden. 9<br />
Abb. 1:<br />
Michel Jaffrennou,<br />
Ceci est une image, 20<strong>02</strong>, mixmedia,<br />
in: Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.),<br />
Iconoclash: beyond the image wars<br />
in science, religion and art, Karlsruhe<br />
20<strong>02</strong>, S. 479.<br />
Inzwischen gehört es zum Common Sense, die Differenzierung<br />
zwischen «freien» und «angewandten Künsten» für überholt, ja<br />
geradezu rückständig zu halten. In der Tat ist diese Unterscheidung<br />
zwischen «Kunst» und «Design» – verstanden als «Kunst,<br />
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die sich nützlich macht» – von der Idee der Autonomie und der<br />
Aura der Kunst wie auch von der kunsthandwerklichen Reformbewegung<br />
am Ende des 19. Jahrhunderts geprägt und nicht erst<br />
im Zeitalter der sogenannten neuen Medien überholt. 10 Von grosser<br />
Aktualität ist jedoch die Frage, wie sich Differenzen und Interferenzen<br />
zwischen Kunst und Design in einer visuellen Kultur im<br />
Zeichen von Hybridisierung, Mediatisierung, Ästhetisierung, Demokratisierung<br />
und Globalisierung – um nur einige Phänomene<br />
zu erwähnen – fassen lassen. Auf dieser Unterscheidung hat Uta<br />
Brandes im Kontext der Neubestimmung von Aufgaben und Perspektiven<br />
von Design bereits mit dem Titel ihres 1998 erschienenen<br />
Buches insistiert: «Design ist keine Kunst». 11 Wenn es im Design<br />
aber nicht mehr bloss um die Gestaltung einzelner Produkte bzw.<br />
Produktgruppen geht, sondern um die Strukturierung von Information,<br />
Kommunikation und ihren Schnittstellen – wenn Design<br />
folglich eher Konzept und Prozess als Objekt ist und «Ökonomie<br />
und Ökologie, Technik, Medien und Dienstleitungen, Kultur und<br />
Sozialität (vermittelt und vernetzt)» –, dann muss die Frage nach<br />
den Grenzen dieser die disziplinären Schranken überschreitenden<br />
Praxis und Reflexion von Gestaltung gestellt werden. <strong>12</strong><br />
Mit Blick auf die neue Medienkunst sind hier keine eindeutigen,<br />
aus der Tradition der Moderne stammenden Antworten zu erwarten.<br />
Festzuhalten ist jedoch, dass die von der Kunst und ihren<br />
Akteurlnnen bis in die Gegenwart verteidigte Grenzlinie zwischen<br />
den «freien» und den «angewandten Künsten» längst «von hybriden<br />
Brüdern und Schwestern perforiert» worden ist. 13 Zurückzuweisen<br />
ist in diesem Kontext dann allerdings die apodiktisch<br />
anmutende Behauptung, die Kunst habe im Kontext der nachindustriellen<br />
Gesellschaft ihre Leitfunktion schon lange verloren:<br />
«Kunst ist heute zur weitgehend postmodernen, genauer gesagt<br />
beliebigen Unterhaltungskategorie verkommen: «An ihren gesellschaftlichen<br />
Auftrag glaubt sie selbst schon lange nicht mehr.» <strong>14</strong><br />
Nicht erst die Diskursplattformen und Ausstellungen im Rahmen<br />
der Documenta 11 haben gezeigt, dass Kunst nicht nur an ihrem<br />
gesellschaftlichen Anspruch festhält, sondern diesen auch mit relevanten<br />
Positionen, pointierten Kommentaren und spielerischen<br />
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263<br />
denkbar<br />
Irritationen einlösen kann. 15 Obwohl das der Kommunikation<br />
verpflichtete Design im Kontext der durch Mediatisierung und<br />
Digitalisierung geförderten gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozesse<br />
eine bedeutendere Rolle in der kulturellen Sinn- und Bedeutungsproduktion<br />
übernommen hat, sollte man voreilige und<br />
absolute Wertungen vermeiden. Wenn aus dieser Entwicklung<br />
nämlich die Schlussfolgerung gezogen wird, «dass die Rolle der<br />
kulturellen Avantgarde vom Design übernommen wurde», dann<br />
endet diese Interpretation in jenen Aporien der Moderne, die sie<br />
zu überwinden hätte. 16 Unbestritten ist, dass die Fragen nach der<br />
Rolle von Kunst und Design, nach dem Stellenwert der von ihnen<br />
geschaffenen Objekte und nach den Formen, Bedingungen und<br />
Effekten der von ihnen produzierten Bedeutungen im Kontext der<br />
in der Medienkunst besonders sichtbar werdenden Annäherung<br />
ästhetischer Codes und Logiken der Produktion, Präsentation<br />
und Distribution neue Dringlichkeit erhalten haben. 17<br />
2. Netzkunst und Netz-Werke<br />
Die im Jahre 2000 erschienene Neuauflage des Buches mit dem<br />
ambitionierten Titel «Was ist Kunst» verzeichnet <strong>14</strong>60 Antworten<br />
auf eine Frage, die in dieser allgemeinen Form nicht zu beantworten<br />
ist. 18 Erfolgversprechender erscheint es, die Frage bescheidener<br />
und präziser zugleich zu formulieren und danach zu fragen, was<br />
Kunst im Allgemeinen und Netzkunst im Speziellen leisten bzw. zu<br />
leisten haben. In den vergangenen Jahren hat die Netzkunst oder<br />
«net.art» als neueste Form der Medienkunst nicht nur im Cyberspace<br />
des World Wide Web (WWW), sondern auch im Diskurs<br />
von Wissenschaft und Feuilleton an Raum gewonnen. 19 Wenn unter<br />
dem Begriff Netzkunst nur jene künstlerischen Projekte subsumiert<br />
werden, die für das WWW entworfen werden, von dessen<br />
spezifischen Charakteristika ausgehen und nur bzw. hauptsächlich<br />
auf dem Netz existieren, dann reduziert sich die Quantität der auf<br />
dem Netz präsenten «Netz-Werke» beträchtlich. 20<br />
Vor dem Hintergrund der charakteristischen Merkmale des Internets<br />
– Konnektivität, Globalität, Multimedialität, Immaterialität,<br />
Interaktivität und Egalität – lassen sich vier für die Netzkunst<br />
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konstitutive Merkmale identifizieren. Diese ist erstens genuin<br />
ortlos, nirgends und überall, jederzeit verfügbar und unverfügbar<br />
zugleich; zweitens ist sie prinzipiell unabgeschlossen und veränderbar;<br />
drittens zeichnet sie sich durch die Möglichkeit aus, sich<br />
von einem Text oder Bild per Hyperlink in einen ganz anderen<br />
Bereich zu «linken» und von dort wieder und wieder weiterzukommen;<br />
und viertens bietet das Netz neue Möglichkeiten, das<br />
Dreieck «Künstlerln – Kunstwerk – BetrachterIn» zu durchbrechen.<br />
Auf dieser Grundlage lassen sich die im Netz existierenden<br />
künstlerischen Projekte mit einem dem Potenzial des Mediums<br />
angemessenen rezeptionsorientierten Ansatz kategorisieren. 21 Aus<br />
der Perspektive des Users, der Userin und ihrer Interaktionsmöglichkeiten<br />
lassen sich die Netz-Kunstwerke in Anlehnung an Hans<br />
Dieter Huber und Giaco Schiesser in vier Kategorien unterteilen. 22<br />
Bei «reaktiven Werken» können Userlnnen sich durch Scrollen und<br />
Klicken durch das Projekt bewegen; bei «interaktiven Werken»<br />
können Userlnnen durch Eingabeflächen oder Scripts den Server<br />
zu einer momentanen Veränderung des jeweiligen Webprojektes<br />
veranlassen, das beim Verlassen der Site wieder in den Ausgangszustand<br />
zurückgeht; bei «partizipativen Werken» hingegen können<br />
Userlnnen durch verschiedene Handlungen – u.a. durch das<br />
Downloaden, Bearbeiten, Rücksenden von Text-, Bild-, Tonfiles<br />
und/oder das Onlinesteuern von Programmen bzw. Robotern – zu<br />
einer dauerhaften Veränderung des jeweiligen Projektes beitragen,<br />
und schliesslich können Userlnnen bei «kollaborativen Werken»<br />
eine von KünstlerInnen gestaltete Plattform für ihre eigenen Zwecke<br />
nutzen, so dass die Veränderungen einzig von den Entscheidungen<br />
der interagierenden Benutzerinnen bestimmt werden. Diese<br />
vorläufige Topographie der Netzkunst macht zweierlei deutlich.<br />
Einerseits zwingt uns die Netzkunst wie keine andere Kunstform<br />
zur permanenten Reflexion der Frage, was wir als Kunst anerkennen<br />
wollen und welche Gründe wir für diese Kunstfähigkeit<br />
anführen können. Andererseits wird vollends deutlich, dass die<br />
massgeblich auf Marcel Duchamps Ready-mades zurückgehende<br />
«kontextuelle Definition von Kunst» keine Antworten mehr auf<br />
die Frage verspricht, was Kunst leistet und leisten soll 23 (Abb. 2).<br />
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265<br />
denkbar<br />
Abb. 2:<br />
Rafael Koch und Raphael Muntwyler,<br />
How to Build a Network. [plug.in]<br />
zu Gast bei «Schweizer Kunst», in:<br />
Schweizer Kunst Nr. 1/20<strong>02</strong>, hg.<br />
v. Visarte. Berufsverband visuelle<br />
Kunst Schweiz, Zürich 20<strong>02</strong>, S. 6f.<br />
Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, nach den Kontexten der<br />
Produktion und Distribution von Netzkunst zu fragen, um die<br />
Leistungen dieser sich weitgehend jenseits der traditionellen, institutionalisierten<br />
Plattformen des Systems Kunst entwickelnden<br />
Medienkunst besser zu verstehen. «Neue Medien bilden neue<br />
Netzwerke» – mit diesem programmatischen Satz eröffnet die<br />
dem Forum für neue Medien [plug.in] gewidmete Nummer der<br />
Zeitschrift «Schweizer Kunst». 24<br />
Der einleitende Beitrag «How to Build a Network» unterstreicht<br />
einmal mehr, dass Netzkunst ohne Netzwerke der Produktion,<br />
Distribution und Reflexion nicht zu denken ist. Zwischen<br />
2000 und 20<strong>02</strong> haben sechs Netzwerkerlnnen mit dem [plug.in]<br />
als multimedialer und -funktionaler Plattform ein wachsendes<br />
Network aufgebaut (vgl. Abb. 2), das aus Personen wie Künstlerinnen,<br />
Kuratoren und Wissenschaftlerlnnen, aus Institutionen<br />
wie Museen, Hochschulen und Kulturförderern, aus Projekten<br />
wie Ausstellungen, Kongressen und Festivals sowie aus WWW-<br />
Plattformen besteht. 25 Mit Blick auf die populäre, euphorische<br />
und zuweilen naive Rede über die digitale Revolution und ihre<br />
kreativen, partizipativen und sozialen Potenziale ist diese Verortung<br />
der Netzkunst in sozialen und materiellen Praktiken ein<br />
wichtiges Korrektiv. Das Versprechen der Ortslosigkeit, der Verfügbarkeit,<br />
der Unabgeschlossenheit, der Egalität, insbesondere<br />
aber die suggestive Rede von der Auflösung des Autors und der<br />
Überwindung des Dreiecks «Künstlerln – Werk – BetrachterIn»<br />
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müssen mit Blick auf die im Feld der Netzkunst existierenden<br />
kulturellen Praktiken relativiert werden. Diese Sicht entspricht<br />
dem oben skizzierten Verständnis von Kunst als einem Ensemble<br />
von Methoden und einem Set von Praktiken und löst sich von der<br />
Vorstellung, Kunst als einen Gegenstandsbereich oder ein gesellschaftliches<br />
Teilsystem zu begreifen. Auch die ausschliesslich für<br />
den virtuellen Raum des WWW konzipierten künstlerischen Arbeiten,<br />
die von jedem an ein Netz angeschlossenen Rechner über<br />
einen Browser betrachtet und bearbeitet werden können, kommen<br />
nicht ohne soziale und kulturelle Netze aus. Kunst im Allgemeinen<br />
und Netzkunst im Besonderen entsteht in realen und/oder<br />
virtuellen, in individuellen und/oder kollektiven Räumen, immer<br />
aber in Netzen kreativer, diskursiver und sozialer, kurz kultureller<br />
Praktiken.<br />
3. «Kunst», «Netz» und visuelle Kultur<br />
Die intermediale Präsenz des Computers, die Dominanz des Visuellen<br />
hat den tendenziellen Bedeutungsverlust der Kunst insofern<br />
beschleunigt, als diese ihre lange Zeit unbestrittene Stellung in<br />
der Lenkung der visuellen Kultur verloren hat. Es ist jedoch gerade<br />
dieser marginalisiertere Status, welcher die Kunst vom Zwang<br />
der Darstellung und des Darstellens entlastet. In diesem Kontext<br />
kann sich eine selbstbewusste Kunst bzw. Medienkunst als Ort<br />
der Störung in einer nach einheitlichen Vorgaben synchronisierten,<br />
massenmedial inszenierten und hierarchisch strukturierten<br />
Kommunikations-, Wissens- und Informationsgesellschaft positionieren.<br />
Wie keine andere künstlerische Ausdrucksform zeigt<br />
die Netzkunst in aller Deutlichkeit, dass «keine Oberfläche mehr<br />
zu tragen oder gar auszudrücken vermag, was Kunst zu leisten<br />
hat, die sich den wirklichen Problemen – der Erkenntnis, des Handelns,<br />
des Bezugs zur Gesellschaft und der sie prägenden Medien<br />
– widmet». 26 Wenn wir Kunst als ein Dispositiv jenseits des<br />
Kunstbetriebs, als ein Ensemble von Methoden verstehen, die sich<br />
nicht mehr in der Erzeugung von Bildern materialisieren müssen,<br />
dann ist Kunst in den Worten Hans Ulrich Recks «eher ein Synonym<br />
für das nicht vollkommen Verständliche als ein Darstel-<br />
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denkbar<br />
lungskörper für das durch sie sichtbar Gemachte. Sichtbarmachen<br />
ist ein Syndrom vehementer Gewalttätigkeit. Und mithin auch ein<br />
Triumph der Wahrnehmung gegen die Vorstellung, eine Zurücksetzung,<br />
Entmächtigung und Beleidigung der Imagination.» 27<br />
Gerade wenn man der keineswegs nur von Hans Ulrich Reck<br />
vertretenen These zustimmt, die Kunst habe «keine Prägkraft<br />
mehr für die ganze Kultur oder die Kultur als ganzer», muss<br />
man sich der Frage stellen, wie «Kultur» – und zumal «die ganze<br />
Kultur» – überhaupt konzipiert werden können. 28 Dies ist umso<br />
dringlicher, als der Kulturbegriff in den vergangenen 30 Jahren<br />
eine eigentliche diskursive Explosion erlebt hat und man heute angesichts<br />
der geradezu inflationären und mithin enervierenden Präsenz<br />
von «Kultur» in medialen, wissenschaftlichen, politischen<br />
und wirtschaftlichen Diskursfeldern an dessen Erkenntniskraft<br />
zu zweifeln beginnt. Deshalb sollen an dieser Stelle die in den<br />
Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 1960er Jahren eingetretenen<br />
Verschiebungen in der Konzeption von Kultur, die damit<br />
verbundene Erweiterung von Methoden und Fragestellungen und<br />
die Etablierung der Kulturwissenschaften wenigstens summarisch<br />
beleuchtet werden. 29<br />
Dabei gehe ich von drei grossen «Turns» aus, welche die jüngere<br />
Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften geprägt<br />
haben: der Linguistic Turn, der Cultural Turn und der Pictorial<br />
Turn. Im Folgenden sollen drei mit diesen Verschiebungen zusammenhängende<br />
Aspekte thematisiert werden, die für die Wahrnehmung<br />
und die Bedeutung von Kunst und der von ihr generierten<br />
Bilder, aber auch für die Konzeptionalisierung von Bildlichkeit<br />
und Medialität bedeutsam erscheinen.<br />
Die mit dem Begriff Linguistic Turn bezeichneten wissenschaftlichen<br />
Ansätze sind alle von einer grundsätzlichen Skepsis<br />
gegenüber der Vorstellung von Sprache als transparentem Medium<br />
zur Repräsentation von Wirklichkeit geprägt. Von Interesse<br />
sind hier insbesondere die in Anschluss an Michail Bachtin untersuchte<br />
Polyphonie und Dialogizität literarischer Texte und die<br />
im Anschluss an Michel Foucault analysierten Diskurse als die<br />
an Institutionen gebundenen Redeweisen, die gesellschaftliche<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:59 <strong>Uhr</strong>
268<br />
Wissensbereiche repräsentieren und durch charakteristische Bedingungen,<br />
Regeln und Praktiken strukturiert werden. 30 Für die<br />
Bedeutung von Kunst, die Beschreibung ihrer Verfahren und die<br />
Diskussion ihrer Leistungen sind insbesondere die Konzepte der<br />
Intertextualität bzw. Intermedialität und das von Jürgen Link<br />
vorgeschlagene Konzept des Interdiskurses von Bedeutung. 31<br />
Der Fokus auf die manifesten, insbesondere aber auf die latenten<br />
Bezüge und Referenzen zwischen Texten bzw. Medien und die<br />
Bedeutung von Metaphern und Symbolen als «interdiskursive<br />
Sprachspiele» ist für das Verständnis der kreativen und diskursiven<br />
Praxis von Kunst und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ausgesprochen<br />
produktiv. 32 Am Beispiel von Sprachbildern wie dem<br />
Ballon hat Jürgen Link Literatur als Interdiskurs interpretiert, mit<br />
dem die zunehmende Diskursspezialisierung mindestens teilweise<br />
überwunden und die gesellschaftlich notwendige Reintegration<br />
von Fachdiskursen gefördert wird. In dieser Perspektive liesse sich<br />
Kunst als interdiskursive bzw. intermediale Praxis verstehen, die<br />
im Bereich der visuellen Kultur eine substanzielle Kommunikations-<br />
und Integrationsleistung erbringt (Abb. 3).<br />
Der sogenannte Pictorial Turn dürfte in den vergangenen Jahren<br />
die für die Produktion, Distribution und Interpretation von Bildern<br />
folgenreichste Wende gewesen sein. Die von der Entwicklung<br />
der Computertechnologie begünstigte «Rückkehr des Bildes in die<br />
Naturwissenschaften» hat tiefgreifende Folgen für die Bereiche<br />
Wissenserwerb, Wissensspeicherung, Wissensverteilung und Wissensvermittlung,<br />
insbesondere aber für den Status von Kunst in<br />
einer von den Bildern der Informationsmedien geprägten visuellen<br />
Kultur. 33<br />
An dieser Stelle interessiert nicht der Blick auf die kulturellen<br />
Konzepte, die bei den auf der Basis digitaler Daten operierenden<br />
Verfahren der Bildkonstruktion in den Technik- und Naturwissenschaften<br />
wirksam werden, sondern die Folgen dieser «Piktorialisierung».<br />
34 Diese für die visuelle Kultur prägende Zäsur hat die<br />
aus den Naturwissenschaften kommende Medienwissenschaft-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 268<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:59 <strong>Uhr</strong>
269<br />
denkbar<br />
Abb. 3:<br />
Eric J. Heller,<br />
Transport II, 2000,<br />
LightJet Digital Imager,<br />
in: Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.),<br />
Iconoclash: beyond the image wars in<br />
science, religion and art,<br />
Karlsruhe 20<strong>02</strong>, S. 310.<br />
lerin Lydia Andrea Hartel folgendermassen bewertet: «Wirklich<br />
revolutionär sind in den letzten Jahren vielleicht weniger die Bilder<br />
der Kunst, sondern die Bilder der Naturwissenschaften<br />
und die Präsenz dynamischer Bildcollagen in den<br />
Massen- und Informationsmedien.» 35 Man mag Vorbehalte gegen<br />
diese etwas apodiktisch anmutende Wertung haben, doch unstrittig<br />
ist, dass mit der massenhaften Verbreitung und Rezeption der<br />
Produkte dieser Piktorialisierung die Fragen nach dem Bildstatus,<br />
nach dem Gegenstandsbereich der Kunstwissenschaft und nach<br />
der Leistungsfähigkeit der Kunst neue Aktualität erhalten haben.<br />
Der Pictorial Turn zwingt uns, die gesellschaftliche Relevanz<br />
künstlerischer Bilder und die Frage nach dem Status von Kunst im<br />
Allgemeinen und Medienkunst im Besonderen neu und im Wortsinn<br />
radikaler zu denken. Wenn die Beschäftigung mit den Oberflächen<br />
der Bilder – unabhängig von deren Produktions-, Distributions-<br />
und Präsentationskontexten – keine Antworten mehr auf<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 269<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:59 <strong>Uhr</strong>
270<br />
diese Fragen verspricht, müssen wir diese in den kreativen und<br />
diskursiven Praktiken von Kunst als Ort der Konstruktion von<br />
Bedeutung in der Differenz suchen.<br />
Bereits bevor der Pictorial Turn die Entwicklung der Kunstwissenschaft<br />
in Richtung der Bildwissenschaften gefördert hat,<br />
war es der sogenannte Cultural Turn, der die Geistes- und Sozialwissenschaften<br />
mit den Theoremen, Konzepten und Methoden<br />
der anglo-amerikanischen Cultural Studies erweitert und<br />
erneuert hat. 36 Am Schnittpunkt von Moderne und sogenannter<br />
Postmoderne ist die für die deutsche Wissenschaftsgeschichte so<br />
prägende Opposition gegen Geld, Technik und Medien brüchig<br />
geworden. Erst die Einsicht in die immer schon sprach- bzw. medienvermittelten<br />
Formen des Wahrnehmens, Denkens und Empfindens<br />
sowie in die experimentelle Offenheit symbolischer Formen,<br />
epistemologischer Erkenntnisstile und Deutungsmuster haben zu<br />
einer mittlerweile unhintergehbaren Pluralisierung und Kulturalisierung<br />
wissenschaftlicher Erkenntnis geführt. In diesem Kontext<br />
hat die Metapher vom Netz grosse Bedeutung. Diese geht auf den<br />
amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz zurück, der<br />
in den 1980er Jahren zum Vorreiter eines semiotischen Kulturbegriffs<br />
wurde. In seinem Standardwerk «Dichte Beschreibung»<br />
hat er den Kulturbegriff in Anschluss an Max Weber wie folgt<br />
konzipiert: «[...] der Mensch (ist) ein Wesen, das in selbstgesponnene<br />
Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses<br />
Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle<br />
Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende,<br />
die nach Bedeutungen sucht.» 37<br />
Das in diesem Standardwerk skizzierte Konzept von Kultur ist<br />
in der Folge als «das Netz von Bedeutungen, in das die Menschen<br />
eingesponnen sind», und als «Ensemble von Texten» rezipiert worden.<br />
38 An diesem semiotischen, oder präziser, an diesem hermeneutischen<br />
Kulturbegriff ist zu Recht kritisiert worden, dass dieser<br />
eine holistische und hegemonisierende Tendenz habe, kulturelle<br />
Praxis ausschliesslich über die Lektüre von Symbolen verstehen<br />
wolle und Kultur letztlich «auf Produkte, vollzogene Handlungen<br />
und realisierte Artefakte» reduziert werde. 39 Zudem ist darauf hin-<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:59 <strong>Uhr</strong>
271<br />
denkbar<br />
gewiesen geworden, dass man überall Netze, aber keine Spinnen<br />
sehe: «Wer jedoch spinnt die Gewebe kultureller Bedeutungen<br />
Wer sind die Akteure Oder herrscht nur die andauernde Übersetzung<br />
von Handlungen in Zeichen, in Repräsentationen, Bilder<br />
und Geschichten, die sich verbreiten und vervielfältigen [...], ohne<br />
konkrete Handlungsträger» 40 Das im Anschluss an Geertz entwickelte<br />
Kulturkonzept ist in den vergangenen Jahren in Empirie<br />
und Theorie erprobt und erweitert worden. Zum einen sind die<br />
Akteurlnnen als handelnde, mitspinnende Subjekte einbezogen<br />
worden, zum anderen ist unter dem Einfluss der Foucault›schen<br />
Diskursanalyse die Dominanz hermeneutischer Verfahren hinterfragt<br />
und schliesslich ist dieses Konzept durch den stärkeren Einbezug<br />
nichttextueller Praktiken und konfliktueller Handlungen<br />
verfeinert und erweitert worden. 41 In dieser Form bietet der in der<br />
Metapher «Kultur als Netz» verdichtete Kulturbegriff eine produktive<br />
Grundlage für die Beschreibung und Interpretation der<br />
uns umgebenden, von uns mitgestalteten visuellen Kultur. Gerade<br />
mit Blick auf das hier interessierende Feld der Kunst besteht<br />
eine wichtige Qualität dieser Perspektive darin, das diese keine<br />
Grenzen zwischen Darstellungsweisen und Inhalten zieht und alle<br />
gesellschaftlichen Bereiche und sozialen Gruppen als kulturrelevante<br />
Faktoren einbezogen werden können.<br />
4. Kultur, Kunst und Differenz<br />
Auf dieser Grundlage möchte ich mich noch einmal der Leitfrage<br />
meiner Erkundungen zuwenden: Was leisten Kunst im Allgemeinen<br />
und Medienkunst im Speziellen Diese Frage soll abschliessend<br />
am Beispiel der im Jahre 20<strong>02</strong> am Zentrum für Kunst und<br />
Medientechnologie Karlsruhe gezeigten Ausstellung «Iconoclash.<br />
Jenseits der Bilderkriege in Wissenschaft und Kunst» diskutiert<br />
werden. 42 Diese Präsentation lässt sich als visuelles Archiv für<br />
die dynamischen Bedeutungsnetze der visuellen Kultur lesen. Die<br />
dort versammelten Zeichen und Bilder vom Mittelalter bis in die<br />
Gegenwart zeigten die an der Bilderproduktion beteiligten Akteurinnen<br />
und ihre Schöpfungsleistungen. Die Bedeutungen dieser<br />
Werke wurden in diesem Rahmen im Kontext von religiös, po-<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:59 <strong>Uhr</strong>
272<br />
litisch, wissenschaftlich oder künstlerisch motivierten Praktiken<br />
und Diskursen, insbesondere aber im Akt der Bilderzerstörung<br />
beleuchtet. In dieser Perspektive nähern sich Zerstörungs- und<br />
Schöpfungsgesten in einer auf den ersten Blick irritierenden Weise<br />
an. Für den Bereich der zeitgenössischen Kunst kommt Bruno Latour<br />
denn auch zu folgendem Fazit: «Je mehr die Kunst zu einem<br />
Synonym für die Zerstörung von Kunst geworden ist, desto mehr<br />
Kunst wurde produziert, bewertet, besprochen, gekauft und verkauft<br />
und, ja auch, verehrt. Es wurden neue Bilder produziert,<br />
so mächtig, dass es unmöglich ist, sie zu kaufen, zu berühren, zu<br />
verbrennen, zu reparieren, ja zu transportieren. Und so sind noch<br />
mehr Iconoclashs erzeugt worden ... Eine Art » 43 (Abb. 4 und Farbtafel 11).<br />
Der Blick auf die zeitgenössische künstlerische Produktion an<br />
den Schnittstellen von Kunst, Design, Wissenschaft und Wirtschaft<br />
bestätigt die paradoxe Beobachtung von der schöpferischen<br />
Zerstörung oder zerstörerischen Schöpfung von Kunst. Nicht nur<br />
die religiös, ökonomisch, politisch oder kulturell motivierten Akte<br />
materieller Zerstörung, sondern auch der Transfer künstlerischer<br />
Ausdrucksformen in andere gesellschaftliche Wert- und ökonomische<br />
Verwertungszusammenhänge lässt sich als verlustreicher<br />
und zugleich produktiver Prozess verstehen. Wenn wir kulturelle<br />
bzw. künstlerische Ausdrucksformen als Bedeutungsnetze verstehen,<br />
innerhalb deren sich Kommunikation und soziales Handeln<br />
vollziehen, sollten wir nicht nur die Kontextabhängigkeit von<br />
Ausdrucksformen und Symbolen postulieren. Auch die Eingebundenheit<br />
der materiellen Artefakte in pragmatische Zusammenhänge<br />
und Handlungsverläufe, seien diese nun sakral-künstlerischer,<br />
politisch-repräsentativer, funktional-ökonomischer Herkunft oder<br />
alltäglich-weltlicher Art, gilt es verstärkt zu beachten. In diesem<br />
offenen und dynamischen Verständnis von Kunst und Kultur hat<br />
es weder Platz für die kulturpessimistische Klage vom Verlust der<br />
Bilder und vom Zwang zur Sichtbarkeit noch für die naive Euphorie<br />
von der Visibilität und der grenzenlosen Partizipation an der<br />
Produktion und Distribution von Bildern.<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:<strong>14</strong>:59 <strong>Uhr</strong>
273<br />
denkbar<br />
Abb. 4:<br />
Michel Jaffrennou (mit<br />
A. Gräper), This is not a<br />
picture, 20<strong>02</strong>, mixmedia,<br />
in: Latour, Bruno/Weibel,<br />
Peter (Hg.), Iconoclash:<br />
beyond the image wars in<br />
science, religion and art,<br />
Karlsruhe 20<strong>02</strong>, S. 480f.<br />
Kunst als ein Dispositiv jenseits des Kunstbetriebes, als ein Ensemble<br />
von Methoden, Praktiken und Prozessen kann nicht mehr<br />
prägende Zentralkraft des Visuellen sein. Kunst im Allgemeinen<br />
und die hybride Netzkunst im Besonderen lassen sich in dieser<br />
Perspektive nicht mehr konsistent definieren. Vielmehr gilt es,<br />
Kunst und Netzkunst als künstlerische Praktiken zu verstehen,<br />
die in einer visualisierten, massenmedial inszenierten und normativ<br />
strukturierten Gesellschaft Differenz wagen. 44 In diesem<br />
«Triumph der eigenen Marginalität» kann sich Kunst dann mit<br />
verschiedenen Künsten, Stilen, Lebensformen und mit Alltag verbinden.<br />
45 Ihre Leistung in diesen Verbindungen besteht in Kommentar,<br />
Störung und Zuspitzung, in Unbestimmtheit, Irritation<br />
und Konflikt. Diese Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft<br />
hat Hans Ulrich Reck pointiert charakterisiert: «Kunst<br />
wird künftig etwas sein [...], das mit den Formationskräften der<br />
Gesellschaft, aber auch den Energieschüben von Wissenschaft<br />
und Technologie nicht mehr kooperativ, sondern allenfalls in Gestalt<br />
von Konflikten verbunden ist.» 46 Recks Aufsatz ist jedoch –<br />
nicht nur an dieser Stelle – von holistischen, dichotomischen und<br />
zentristischen Konzepten wie «die ganze Kultur», «Oben versus<br />
Unten» oder «Zentrum versus Peripherie» geprägt, die in einem<br />
eigentlichen Spannungsverhältnis zu seinem Plädoyer für eine<br />
prozessorientierte, offene Kunst der Differenzen und der Differenzierungen<br />
stehen. 47 Gerade weil man dieser vom Denken der<br />
Moderne imprägnierten Diagnose und Prognose nicht vorbehalt-<br />
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274<br />
los zustimmen kann, sollte sich jede deskriptive und interpretative<br />
Annäherung an die zeitgenössische Medien- und Netzkunst der<br />
mühsamen Aufgabe einer dichten Beschreibung stellen, die ohne<br />
fertige Konzepte und Begriffe letztlich immer nur vorläufige Deutungen<br />
anbieten kann.<br />
Am Ende dieser Erkundungen im Netz der visuellen Kultur soll<br />
deshalb der Kulturphilosoph Georg Simmel zu Wort kommen, der<br />
sich bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert scharfsinnig und<br />
eklektizistisch zugleich mit Fragen der Ästhetik, der Produktion,<br />
Distribution und Rezeption von Kunst, Gestaltung und Kultur beschäftigt<br />
hat. 48 In seinem «Kulturmodell» wird Kultur bzw. Kunst<br />
als produktiver und zugleich verlustreicher Prozess verstanden, in<br />
dem Kultur ihre Objekte unablässig neu erschaffen muss, nur um<br />
diese sogleich wieder an andere Verwertungszusammenhänge zu<br />
verlieren: «Damit aber erscheint Kultur eingebunden in die stetige<br />
Notwendigkeit, über sich selbst nachzudenken, indem sie aus<br />
der Fremdverwertung ihrer selbst Anstösse für die Konstruktion<br />
neuer Objekte gewinnt.» 49 In dieser produktiven, verlustreichen,<br />
reflexiven und radikalen Arbeit am Erhalt von Widerständigkeit<br />
und Konflikthaftigkeit könnte in letzter Konsequenz die fundamentale<br />
gesellschaftliche Leistung von Kunst als Ort von Differenzierung,<br />
Differenz und Unbestimmtheit bestehen. Diesem Profil<br />
der Kunst nach ihrer «Aus-Rahmung» (Hans Belting) sollte<br />
auch das Reden und Schreiben über Kunst gerecht werden. Das<br />
Reflektieren über Kunst im Medium der Sprache sollte deshalb<br />
nicht nur disziplinäre Grenzen überwinden und eine angemessene<br />
Begrifflichkeit entwickeln. Dieser Diskurs muss insbesondere eine<br />
sorgfältige und selbst-bewusste Bewegung der Annäherung an einen<br />
Gegenstand vollziehen, der nicht in eindeutige Rahmen passt:<br />
Kunst.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 274<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
275<br />
denkbar<br />
Thomas Sieber, Kulturwissenschaftler und Kulturvermittler, ist Dozent und Mitglied des Leitungsteams<br />
des Master-Studiengangs Art Education am Departement Kulturanalysen und -Vermittlung der Zürcher<br />
Hochschule der Künste ZHdK. Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik an den Universitäten<br />
Hamburg und Basel (lic. phil. I) und an der Pädagogischen Hochschule Basel (DHL) arbeitete er als Leiter<br />
Bildung & Vermittlung am Historischen Museum Basel und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität<br />
Basel (1998–2001), als Leiter Weiterbildung und Entwicklung an der Hochschule für Gestaltung<br />
und Kunst HGK Basel (2001-2003), als Kurator und Mitglied der Projektleitung Neues Landesmuseum<br />
am Schweizerischen Landesmuseum Zürich (2003–2005) und als Leiter des Departements Lehrberufe für<br />
Gestaltung und Kunst der HGK Zürich (2005–2007).<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Für die präzise Lektüre des Manuskripts und wertvolle Anmerkungen danke ich Mirjam<br />
Beerli und Ursula Sinnreich.<br />
2<br />
Für einen Überblick über die Anfänge der Videokunst in Deutschland vgl. Herzogenrath,<br />
Wulf (Hg.), Videokunst in Deutschland 1963-1982. Videobänder, Installationen, Objekte,<br />
Performances, Dokumentation zur Ausstellung im Kölnischen Kunstverein u.a., Stuttgart<br />
1982.<br />
3<br />
Zum Medienbegriff McLuhans siehe McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle. «Understanding<br />
Media», Düsseldorf/Wien 1968. Einen guten Überblick über Theoreme und Begriffe<br />
bieten Baltes, Martin u.a. (Hg.), Medien verstehen. Der McLuhan-Reader, Mannheim 1997.<br />
4<br />
Vgl. dazu und zum Folgenden a. die Beiträge von René Pulfer und Alexandra Stäheli sowie<br />
von Irene Schubiger in SchnittStellen. Basler Beiträge zur Medienwissenschaft, Schade Sigrid,<br />
Sieber Thomas, Tholen Georg Christoph (Hg.), 2005, Basel.<br />
5<br />
Vgl. dazu Belting, Hans, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren,<br />
München 1995,v.a. S. 87-103 u. S. 164-171.<br />
6<br />
Belting, a.a.O. [Anm. 5], S. 8.<br />
7<br />
Belting, a.a.O. [Anm. 5], S. 166.<br />
8<br />
Stocker, Gerfried, «Takeover. About the thing formerly known as art», in: ders./ Schöpf,<br />
Christine (Hg.), Takeover. Who›s doing the art of tomorrow. Ars Electronica 2001, Wien/<br />
New York 2001, S. 17-20, hier S. 19.<br />
9<br />
Stocker, a.a.O. [Anm. 8], S. 19f.<br />
10<br />
Brandes, Uta, Design ist keine Kunst. Kulturelle und technologische Implikationen der<br />
Formgebung, Regensburg 1998, S. 8-11, hier S. 9.<br />
11<br />
Vgl. dazu Brandes, a.a.O. [Anm. 10], v.a. S. 46-73.<br />
<strong>12</strong><br />
Brandes, a.a.O. [Anm. 10], S. 9.<br />
13<br />
Brandes, a.a.O. [Anm. 10], S. 72.<br />
<strong>14</strong><br />
Bürdek, Berhand E., «Design. Von der Formgebung zur Sinngebung», in: Zurstiege, Guido/<br />
Schmidt, Siegfried J. (Hg.), Werbung, Mode und Design, Wiesbaden 2001, S. 183-196, hier<br />
S. 189.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 275<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
276<br />
15<br />
Vgl. dazu insbesondere die Essays von Okwiu Enwezor und Ute Meta Bauer im Katalog zur<br />
Documenta 11: Documenta 11 Plattform 5: Ausstellung. Katalog, Ostfildern-Ruit 20<strong>02</strong>, S.<br />
42-55 u. S. 103-106.<br />
16<br />
Bürdek, a.a.O. [Anm. <strong>14</strong>], S. 189.<br />
17<br />
Dieser Aufgabe stellt sich auch der an der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGK)<br />
Basel angebotene interdisziplinäre Nachdiplom-Studiengang «Executive Master in Design |<br />
Art + Innovation», in dessen Zentrum die Erscheinungsformen, Bedingungen, Dynamiken und<br />
Strategien des Neuen an den Schnittstellen von Design und Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft<br />
und Gesellschaft stehen.<br />
18<br />
Mäckler, Andreas (Hg.), <strong>14</strong>60 Antworten auf die Frage: was ist Kunst, Köln 2000.<br />
19<br />
Für einen Überblick zum weiten Feld von Netzkunst und Netzkultur vgl. Rötzer, Florian,<br />
Digitale Weltentwürfe. Streifzüge durch die Netzkultur, München 1998; Baumgärtel, Tilmann,<br />
[net.art]. Materialien zur Netzkunst, Nürnberg 1999; Schade, Sigrid / Tholen, Georg<br />
Christoph (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999; Hemken,<br />
Kai-Uwe (Hg.), Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik, Köln 2000; Storz, Reinhard/Herzog,<br />
Samuel, Und ständig die Frage: Ist es denn Kunst Netzkunst - Versuch einer<br />
Positionsbestimmung im Ortlosen, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 131, 9./10.Juni 2001, S. 85.<br />
20<br />
Baumgärtel unterscheidet zwischen «Netz-Werken» als Bezeichnung für Kunstwerke, die<br />
für das und im WWW realisiert werden, und «Netzwerken» als Bezeichnung für Projekte<br />
zur Förderung des Informationsaustausches und der Kollaboration mit Hilfe des Internets;<br />
vgl. Baumgärtel, a.a.O. [Anm. 19], S. 15f. Für Beispiele künstlerischer Netzprojekte und die<br />
entsprechenden Internetadressen siehe Baumgärtel, a.a.O. [Anm. 19], S. 166ff., u. Schiesser,<br />
Giaco, «Kategorisierung von Netzkunst - exemplarische Beispiele», unter: www.xcult.ch/<br />
texte/schiesser/netzkunst.html.<br />
21<br />
vgl. dazu Huber, Hans Dieter, «Digging the Net. Materialien zu einer Geschichte der Kunst<br />
im Netz», in: Hemken, Kai-Uwe (Hg.), Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik,<br />
Köln 2000, 5. 158-174. Die von Huber ebenfalls diskutierten «produktionsorientierter<br />
Ansatz» und «werkorientierte Ansätze» sind stärker in der Tradition der Kunstgeschichte und<br />
ihren Methoden verankert und werden den charakteristischen Merkmalen des WWW und der<br />
«net.art» nicht gerecht.<br />
22<br />
Zu den Kategorien und für Beispiele von Projekten siehe Huber, a.a.O. [Anm. 21], S.<br />
166-170; Schiesser, a.a.O. [Anm. 20]. Siehe dazu auch den Beitrag in Schnittstellen vom ClimaxTeam<br />
(Margarete Jahrmann, Max Moswitzer und F. E. Rakuschan), dessen Netzkunst-<br />
Projekt «nybble-engine-toolZ» an der Ars Electronica 2003 in der Kategorie «Interactive Art»<br />
ausgezeichnet worden ist.<br />
23<br />
Blais, Joline/Ippoliti, Jon, «Wie man Kunst immer am falschen Ort sucht», in: Stocker,<br />
Gerfried/Schopf, Christine (Hg.), Takeover. Who›s doing the art of tomorrow. Ars Electronica<br />
2001, Wien/New York 2001, S. 34-39, hier S. 34.<br />
24<br />
Schweizer Kunst Nr. 1/20<strong>02</strong>, hg. v. Visarte. Berufsverband visuelle Kunst Schweiz, Zürich<br />
20<strong>02</strong>, S.2.<br />
25<br />
Vgl. Koch, Rafael/Muntwyler, Raphael, How to Build a Network, in: Schweizer Kunst,<br />
a.a.O. [Anm. 24], S. 3-8. Siehe dazu a. Abb. 2.<br />
Die von der HGK Basel konzipierte Sektion «Medien - Kunst - Performanz» im Rahmen<br />
des Kongresses «SchnittStellen. 1. Basler Kongress für Medienwissenschaft» hat denn auch<br />
Gastrecht in den Räumen des [plug.in] bekommen. Diese Sektion versammelte die im Band<br />
SchnittStellen als Aufsätze publizierten Beiträge von Verena Formanek, vom Climax-Team<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
277<br />
denkbar<br />
(Margarete Jahrmann, Max Moswitzer und F. E. Rakuschan), von Sibylle Omlin und Thomas<br />
Sieber, von René Pulfer und Alexandra Stäheli, von Irene Schubiger sowie die im Medium der<br />
Schrift leider nicht repräsentierbare Performance «Medium - Body - Art» von Muda Mathis,<br />
Andrea Saemann und Sus Zwick. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle nochmals herzlich für<br />
die gute Zusammenarbeit im Zeichen gelebter Netzwerke gedankt.<br />
26<br />
Reck, Hans Ulrich, «Zwischen Bild und Medium. Zur Ausbildung der Künstler in der Epoche<br />
der Techno-Ästhetik», in: Weibel, Peter (Hg.), Vom Tafelbild zum globalen Datenraum.<br />
Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren, Ostfildern-Ruit 2001,<br />
S. 17-50, hier S. 40.<br />
27<br />
Reck, a.a.O. [Anm. 26], S. 48.<br />
28<br />
Reck, a.a.O. [Anm. 26], S. 46.<br />
29<br />
Für einen Überblick zu Geschichte und Fragestellungen der Kulturwissenschaften vgl.<br />
Bachmann-Medick, Doris (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der<br />
Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1998; Lutter, Christina/ Reisenleitner, Markus,<br />
Cultural Studies. Eine Einführung, Wien 1998; Hall, Stuart, Cultural studies: ein politisches<br />
Theorieprojekt, Hamburg 2000.<br />
30<br />
Vgl. dazu Bachtin, Michail, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt am Main 1979; Foucault,<br />
Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am<br />
Main 1974, v.a. S. 413-462.<br />
31<br />
Vgl. dazu Link, Jürgen, «Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des<br />
Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik», in: Fohrmann, Jürgen/Müller,<br />
Harro (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1988, S.<br />
284-307; Lachmann, Renate, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen<br />
Moderne, Frankfurt am Main 1990; Helbig, Jörg (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis<br />
eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998; Tholen, Georg Christoph, Die Zäsur<br />
der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main 20<strong>02</strong>, v.a. S. 43-60 u. S.<br />
197-203.<br />
32<br />
Link, a.a.O. [Anm. 31], S. 288; vgl. dazu auch den Beitrag von Sibylle Omlin im Band<br />
SchnittStellen.<br />
33<br />
Weibel, Peter, «Neue Berufsfelder der Bildproduktion. Wissensmanagement vom künstlerischen<br />
Tafelbild zu den bildgebenden Verfahren der Wissenschaft», in: ders. (Hg.), Vom<br />
Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender<br />
Verfahren, Ostfildern-Ruit 2001, S. 8-10, hier S. 9.<br />
34<br />
Für einen Überblick über die interdisziplinäre Diskussion dieser Fragen siehe Heintz, Bettina/Huber,<br />
Jörg (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen<br />
und virtuellen Welten, Zürich 2001. Zu den Differenzen und Interferenzen zwischen<br />
Wissenschaft und Kunst vgl. a. Kemp, Martin, Bildwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher<br />
Phänomene, Köln 2003. Siehe dazu a. Abb. 3, die ein Bild des Physikers und<br />
Künstlers Eric J. Heller zeigt, das Bewegungen von Elektronen repräsentiert und dem Bereich<br />
«Art of Physics - Physics of Art» zugeordnet werden kann.<br />
35<br />
Hartel, Lydia Andrea, «Die Verkörperung des Unsichtbaren. Vom Analphabetismus beim<br />
Bilderlesen», in: Weibel, Peter (Hg.), Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten<br />
der Bildproduktion und bildgebender Verfahren, Ostfildern-Ruit 2001, S. 51-75, hier<br />
S.71.<br />
36<br />
Siehe dazu die in Anmerkung 29 genannte Literatur.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 277<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
278<br />
37 Geertz, Clifford, «Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur«, in: ders., Dichte<br />
Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, S. 7-43,<br />
hier S. 9.<br />
38<br />
Bachmann-Medick, Doris, «Kulturen: ein Sprengstoff für die Kulturwissenschaften in Ann Arbor, Michigan (USA)», in: Historische Anthropologie. Kultur,<br />
Gesellschaft, Alltag, 9/1 (2001), S. 158-164, hier S. 162; Algazi, Gadi, «Kulturkult und die<br />
Rekonstruktion von Handlungsrepertoires», in: L›Homme. Zeitschrift für Feministische<br />
Geschichtswissenschaft, 11/1 (2000), S. 105-119, hier S. 107.<br />
39<br />
Algazi, a.a.O. [Anm. 38], S. 111.<br />
40<br />
Bachmann-Medick, a.a.O. [Anm. 38], S. 162.<br />
41<br />
Vgl. dazu insbesondere die Überlegungen bei Algazi, a.a.O. [Anm. 38], v.a. S. 111-419.<br />
42<br />
Vgl. dazu den Ausstellungskatalog von Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.), Iconoclash:<br />
beyond the image wars in science, religion and art, Karlsruhe 20<strong>02</strong>. Vgl. dazu a. Abb. 1<br />
und Abb. 4, die Werke von Michel Jaffrennou zeigen und in dieser Publikation kommentiert<br />
werden: Jaffrennou, Michel, «Ceci n›est plus une image!», in: LatourlWeibel, a.a.O. [Anm.<br />
42], S.479-482.<br />
43<br />
Latour, Bruno, Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkriegs, Berlin 20<strong>02</strong>, S. 28f.<br />
44<br />
Vgl. dazu a. die zur Ars Electronica 2003 erschienene Publikation mit zahlreichen Beiträgen<br />
zu den charakteristischen Merkmalen einer digitalen Medienkunst und ihren Schnittstellen<br />
mit den Bereichen Technologie und Gesellschaft, v.a. Stocker, Gerfried, Code. The Language<br />
of Our Time, in: ders. /Schöpf, Christine (Hg.), Ars Electronica 2003. Code: The Language of<br />
Our Time, Ostfildern-Ruit 2003, S. 10-13.<br />
45<br />
Reck, a.a.O. [Anm. 26], S. 49.<br />
46<br />
Reck, a.a.O. [Anm. 26], S. 46.<br />
47<br />
Anzumerken - und eingehender zu thematisieren - bliebe, dass sich diese Konzepte an der<br />
Textoberfläche auch in einer von Kampfmetaphern durchzogenen Sprache manifestieren.<br />
48<br />
Zu Simmels «Kulturbegriff « siehe v.a. Simmel, Georg, «Der Begriff und die Tragödie der<br />
modernen Kultur» u. «Der Konflikt in der modernen Kultur», beide in: ders., Das individuelle<br />
Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. u. eingeleitet von Michael Landmann, Neuauflage mit<br />
einem Nachwort v. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1987, S. 116-<strong>14</strong>7 u. S. <strong>14</strong>8-<br />
173.<br />
49<br />
Müller, Achatz von, «Nur Krieg und Care-Pakete - das kann doch nicht alles sein», in:<br />
Basler Zeitung Nr. 263, 10./1l. November 2001, S. 41f.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 278<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
279<br />
denkbar<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 279<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
280<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 280<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
281<br />
denkbar<br />
6<br />
Eva Sturm<br />
Kapitel aus dem Buch «Im Engpass der Worte»<br />
Die Artikulation der Werke<br />
AM ANFANG WAR DAS WORT AM.<br />
(Timm Ulrichs) 1<br />
UNORT SPRACHE<br />
Das zweifache Tableau<br />
Die Beispiele, welche Michel Foucault (1971) in seiner «Ordnung<br />
der Dinge» gibt, um zu demonstrieren, wie sich im sprachlichen<br />
Raum, Teile von Welt in absurden Ordnungen wiederfinden können,<br />
hören sich an wie die Register wunderlicher Museumssammlungen.<br />
Borges zum Beispiel, fand in einer chinesischen Enzyklopädie<br />
2 eine Ordnung der Tiere wie folgt: «a) Tiere, die dem Kaiser<br />
gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine,<br />
e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde» (Foucault 1971,<br />
17). Wo, fragt Foucault, könnten sich diese Tiere treffen, wenn<br />
nicht in der Sprache, auf einer Buchseite oder im Mund eines Sprechers.<br />
Sprache ist in diesem Sinn nichts anderes als eine Unterlage,<br />
so Foucault, welche «dem Denken gestattet, eine Ordnungsarbeit<br />
... vorzunehmen, eine Aufteilung in Klassen, eine namentliche<br />
Gruppierung, durch die ihre Ähnlichkeiten und ihre Unterschiede<br />
bezeichnet werden» (Foucault 1971, 19). Die chinesische Enzyklopädie<br />
macht deutlich, wie instabil die Verhältnisse zwischen<br />
den Dingen und ihren Bedeutungen sind. «Nichts ist tastender,<br />
nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung<br />
einer Ordnung unter den Dingen. ... Die Ordnung ist zugleich<br />
das, was sich in den Dingen als ihr innerstes Gesetz, als ihr<br />
geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 281<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
282<br />
betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer<br />
Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert.» (Foucault 1971, 22) 3<br />
Ob sich die Tiere aus der chinesischen Enzyklopädie tatsächlich<br />
auch an einem realen Ort wie dem Museum hätten treffen<br />
können, ist nicht auszuschließen. Ihre Aufzählung könnte auch<br />
umgekehrt das Inventar einer Wunderkammer, einer wunderlichen<br />
Naturschau oder eines der «Künstlermuseen» des 20. Jahrhunderts<br />
sein 4 . Man könnte sogar annehmen, daß sich zwar nicht<br />
diese, aber durchaus ähnlich strukturierte Sammlungen mit vertrauteren<br />
Dingen auch in Museen der Neuzeit und der Moderne<br />
finden lassen. Dann gäbe es nicht nur, wie in Borges’ Entdeckung,<br />
die Worte, sondern zu diesen auch Dinge einer realen Sammlung.<br />
Angenommen, die wunderliche Tiersammlung würde tatsächlich<br />
nicht nur in der Sprache und in der Imagination existieren,<br />
sondern irgendwo an einem wirklichen Ort, dann würde sie zumindest<br />
auf doppelte Weise, als zwei faches Da-Sein, existieren.<br />
Jedes ihrer Teile wäre gleichzeitig ein reales und ein sprachliches<br />
Objekt: Ding / Tier und Name.<br />
Abb. 3:<br />
Tier und Wort- der Traum von der<br />
Deckungsgleichheit<br />
«Der Kuckuck (Cuculus canorus) das<br />
einzige Lebewesen, das ausschließlich<br />
den eigenen Namen besingt Timm<br />
Ulrichs, 1968<br />
Ein Kunst-/ Museum ist demnach so etwas wie der Seziertisch,<br />
auf dem die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm<br />
stattfinden kann 5 . Würde auch diese Szene, wie die Tier-<br />
Sammlung, nicht nur in der Literatur, sondern real existieren,<br />
so wäre der Seziertisch gleichzeitig ein architektonisches Gestell<br />
und ein Wort 6 . Er stünde mit seinen Beinen in der Wirklichkeit,<br />
wäre die materielle, tragende, waagrechte Unterlage für zwei<br />
andere Objekte und das diskursive Plateau für die Begegnung<br />
zweier Worte: Die Begriffe Nähmaschine und Regenschirm tre-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 282<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
283<br />
denkbar<br />
ten mit dem Begriff Seziertisch in eine sprachlich-literarische<br />
Beziehung.<br />
Das Nebeneinander der Welt in dieser Weise ist jedoch zu normal,<br />
um bewußt zu werden. Man tritt den Dingen und Teilen körperlich<br />
gegenüber und ist gleichzeitig immer schon unterwegs zu<br />
Worten, um sie zu benennen. Der Übergang vom Ding zum Wort<br />
ist dabei wie ein Sprung von einer Ebene auf eine andere, von<br />
einem realen Raum in einen anderen, sprachlichen Raum, welcher<br />
selbstredend weit über das Kunst-/ Museum hinausgeht. Der<br />
sprachliche Raum, ist – so gesehen – eigentlich ein Unort, denn<br />
Sprache ist immer so etwas wie ortlos, d.h. Raum und Zeit überschreitend,<br />
«dort, wo seit fernsten Zeiten die Sprache sich mit dem<br />
Raum kreuzt» (Foucault 1971, 19).<br />
Jacques Lacan nennt diesen Un-Ort, der Sprache ist, das große<br />
Andere oder «das Symbolische». In der Tradition von Saussure<br />
und Freud 7 denkend, deutet er Sprache als alles durchdringende<br />
Struktur. Kultur, d.h. auch Institutionen wie das Kunst-/ Museum<br />
und natürlich das ganze künstlerische Feld, gibt es nur, weil es<br />
Sprache gibt. Die Ordnung auf dem zweifachen Tableau ist eine<br />
sprachliche und das Tableau basiert auf einer bzw. existiert erst<br />
aufgrund seiner sprachlichen Struktur. Dies meint nicht, außer<br />
Sprache würde es nichts geben. Regenschirm und Nähmaschine<br />
als real existierende Gegenstände liefern den Beweis dafür. Es besagt<br />
allerdings – und dies ist nicht unerheblich –, daß es die beiden<br />
eigentlich erst gibt, wenn sie benannt sind, d.h. wenn sie in die<br />
Ordnung der Sprache aufgenommen wurden. «Es ist vielmehr die<br />
Welt der Worte, die die Welt der Dinge schafft – die zuerst im hic<br />
et nunc eines werdenden Ganzen ununterscheidbar sind – indem<br />
sie ihrem Wesen konkretes Sein verleiht und ihrem Immerseienden<br />
überall seinen Platz zuweist.» (Lacan 1953, 117)<br />
In diesem Sinn sind alle unsere Beziehungen zur Wirklichkeit<br />
symbolisch und das heißt sprachlich strukturiert. «Die Macht<br />
die Objekte zu benennen, strukturiert die Wahrnehmung selbst.»<br />
(Lacan 1954-1955, 217) Der Satz des Künstlers Lawrence Weiner:<br />
«Ohne Sprache könnten sie meinen Bart nicht einmal sehen.»<br />
(Weiner zit.nach Ruhs 1994, 33), läßt sich eins zu eins auf den Se-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 283<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
284<br />
ziertisch und alle im Kunst-/Museum befindlichen Objekte übertragen:<br />
Ohne Sprache könnten sie die Begegnung von Nähmaschine<br />
und Regenschirm auf dem Seziertisch nicht einmal sehen.<br />
Die Worte machen die Szene erst als solche sichtbar. 8 Wer einen<br />
Schnurrbart, einen Regenschirm und eine Nähmaschine nicht<br />
sagen kann, erkennt sie nicht als solche. 9 Was dennoch wahrgenommen<br />
wird, kann man nicht sagen. Und sagt man es doch, so<br />
ist es wieder aus Sprache gebaut. 10 In diesem Sinn formt und differenziert<br />
erst das Wort die Welt. Es macht sichtbar, indem es<br />
ununterbrochen benennend ordnet. Und es macht unsichtbar, weil<br />
es ordnend verdeckt, was es benennt.<br />
Versuchte Vereinnahmung<br />
Die Künstlerin Andrea Fraser hatte sich als institutionalisierte<br />
Sprecherin Jane selbst zum «Ort der Sprache» (Fraser 1994) –<br />
mit Foucault hätte sie sagen müssen, zum «Urort der Sprache»<br />
– gemacht. Sie agierte in dieser Weise selbst wie eine Bühne, wie<br />
ein Tableau, auf dem sich die verschiedensten, teilweise ganz unvereinbaren<br />
Diskursfragmente in einer neuen Ordnung kreuzten.<br />
Indem sie zum Beispiel die realen Teile eines Kunstmuseums, wie<br />
seine Objekte, seine Toiletten, seine Aussicht etc. besprach oder<br />
neben ihnen herredete, 11 unterlegte sie diese und den Rahmen Museum<br />
mit einem Text, gab den Teilen von Welt auf dem Tableau<br />
einen (ihren) diskursiven Abdruck, rückte sie in verschiedenste<br />
Ordnungen ein, und produzierte dadurch Sichtbarkeiten.<br />
Was aber im zweifachen Tableau Kunst-/ Museum – zumindest<br />
seinen Versprechungen gemäß – gewöhnlich zusammengeredet<br />
wird und daher als zusammengehörig wahrgenommen werden<br />
soll, was normalerweise zur unzertrennlichen Einheit erklärt<br />
und im Wort zur Deckung gebracht werden will, was permanent<br />
aneinander bewiesen und als logisch, ästhetisch, historisch<br />
oder sonstwie zusammenhängend einsichtig gemacht wird, riß<br />
sie sprechend auseinander, ließ es nebeneinandertreten. Durch<br />
das Aufsagen von Texten, die im herkömmlichen Sinn nicht zu<br />
den Sichtbarkeiten passten und gewöhnlich an anderen Orten zu<br />
Ohr gebracht werden, isolierte sie die Teile voneinander, machte<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 284<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:00 <strong>Uhr</strong>
285<br />
denkbar<br />
die beiden Ebenen des Tableaus als unabhängige, aber untrennbar<br />
miteinander verquickte Schauplätze sichtbar. Sie redete den<br />
Ort Kunst-/ Museum zu einer befremdlichen chinesischen Enzyklopädie,<br />
zu einer absurden und machtvollen Zone der Ordnung<br />
von Welt durch den Diskurs. Sie zeigte das Kunst-/ Museum als<br />
Raum, der durch die Konstruktion verschiedenster Ordnungssysteme<br />
ununterbrochen bedeuten und vorzeigen will, «Wie zu sehen<br />
ist» (Fliedl 1995). Machtvolles Arrangement.<br />
Abb 4, Abb 5:<br />
Die Institution durchkreuzt real und diskursiv die Körper der Subjekte ebenso wie<br />
deren Träume und Phantasien. Wer vereinnahmt hier wen «Ort loan from the museum<br />
in us.» («Leihgaben aus dem Museum in uns»). Hubbard & Blrchler, Installation im<br />
Offenen Kulturhaus, Linz, 1993 2 Glasvitrinen, je 230 x 185 x 160 cm. Gips, Papiermaché,<br />
Pigment, Glasaugen, Haar ausgestopfte Tiere diverse Insektensammlungen,<br />
künstliche Pflanzen, Glas, Holz Eisen. Der Kommentar der beiden Künstler zu ihrer Arbeit:<br />
«Authenticity Is not about factuallty or reallty lt is about authorlty. Objects have<br />
no authorlty, people do» In den Vitrinen befinden sich Doubles des Künstlerpaares,<br />
umgeben von Tieren aus dem O.Ö,Landesmuseum<br />
Frasers künstlerische Strategie ist eine von vielen möglichen Antworten<br />
auf den Ort Kunst-/ Museum als Zone, in der die realen<br />
Dinge, Teile, Spuren, Reste, Objekte, die künstlerischen Äußerungen<br />
permanent mit Diskursen unterlegt und von diesen durchkreuzt<br />
werden. Dieses Unterlegen und Durchkreuzen stellt sich<br />
in jedem Fall – und dies ist die vielbeklagte Ambivalenz an der<br />
Sache – als gewaltsame Maßnahme dar. Die Ordnung der Dinge /<br />
der Diskurse macht sichtbar, was er benennend zeigt und unsichtbar,<br />
was er verschweigend verdeckt oder ausschließt. «Was Sie hier<br />
sehen, ist Kunst.», sagt zum Beispiel das Kunst-/ Museum – als<br />
reales und architektonisches Zeichen-Arrangement und als Text.<br />
Und man wird es früher oder später, vielleicht skeptisch, aber den-<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 285<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:01 <strong>Uhr</strong>
286<br />
noch mit einem Rest an Respekt, als (gute oder schlechte) Kunst<br />
hinnehmen. Der diskursive Akt formt sich unmittelbar zum Wahrnehmungs-<br />
<strong>12</strong> und zum Verhaltensprogramm, wird zum Gesetz. 13<br />
Marcel Duchamp – ein anderer Stratege auf dem Feld der Spieler/innen<br />
gegen die versuchte Vereinnahmung der Kunst durch das<br />
Kunst-/ Museum – drehte den Spieß um und sagte (selbst) mit<br />
der Stimme der Institution (im Rücken), zum Beispiel über jenen<br />
vielzitierten Flaschentrockner: «Was sie hier sehen, ist Kunst.»<br />
– und es ward Kunst. <strong>14</strong> Als er dann später durch Original-Verdoppelungen<br />
zu verstehen gab, es sei vielleicht doch nur ein ganz<br />
gewöhnlicher Flaschentrockner gewesen, beliebig reproduzierbar<br />
und keineswegs «Kunst», war es zu spät. 15 Die symbolische Macht<br />
des Kunst-/ Museums, der sich Duchamp bedient und dieser in<br />
ihrer Funktionsweise aufgedeckt hatte, ereignet sich im Wort,<br />
macht dieses zur Handlung. Sie schreibt sich in die Dinge ein,<br />
wenn möglich unauslöschlich. Diese Einschreibungen nicht zu<br />
lesen bzw. nicht lesen zu können, ist ein symbolischer und ein<br />
sozialer Skandal, ein Verstoß gegen das Gesetz. «Wenn sich in<br />
unserer Kultur jemand so verhält, als sei ein Flaschentrockner ein<br />
Flaschentrockner und ein Pissoir ein Pissoir, so kann es ihm passieren,<br />
daß er aus dem Museum fliegt.» (Pazzini 1986, <strong>12</strong>)<br />
Abb. 6:<br />
«Bezahlte Anzeige» In einer Kunstzeitschrift<br />
Ceci n est pas une readymade.<br />
Duchamp und Magritte fusioniert. Die<br />
Werbenden wissen, daß ihre Leser/innen im<br />
Kunst-Diskurs versiert sind.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 286<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:01 <strong>Uhr</strong>
287<br />
denkbar<br />
Der Diskurs muß aufrecht erhalten, tradiert werden, damit die<br />
Dinge nicht verwechselt und vergessen werden. Und vor allem:<br />
Das Tableau darf nicht auseinanderfallen.<br />
Widerständiges Material<br />
Die genannten Künstler/innen stehen beispielhaft für jene Tradition<br />
in der Moderne, welche von Anfang an gegen die reale und<br />
diskursive Fassung Kunstmuseum, diese für sie und ihre Produkte<br />
geschaffene Bühne revoltierte. Die wütenden Rufe der Künstler/innen<br />
16 sind mittlerweile ebenso unverzichtbarer Teil der Geschichte<br />
der Kunst geworden wie ihre Gesten, das Kunst-/Museum zu<br />
imitieren, zu ironisieren, zu prozessualisieren, zu hintergehen, zu<br />
befragen, seinen Rahmen zu sprengen, mit ihm als Tableau, als<br />
Weltenproduktionsstätte, als Text zu spielen, seine Diskurse zu<br />
subvertieren. 17 Cézannes Formulierung des Konflikts scheint bis<br />
heute einen Nagel auf den Kopf zu treffen: Pissaro habe gemeint,<br />
erzählt dieser, man solle den Louvre verbrennen. «Er hatte recht,<br />
sagte Cézanne darauf ... aber man soll es nicht tun» (Tavel 1988,<br />
27). Das Avantgarde-Museum ist «entstanden ... gegen den Louvre,<br />
gegen die Herrschaft der alten Kunst. Die Avantgarde-Bewegung<br />
hat nicht das Alte restlos abgeschafft, sondern ... Modelle<br />
des Alten benutzt, um neue Positionen zu finden.» (Gohr 1991,<br />
232). Etwas widerständiger und provokanter formuliert Schmidt-<br />
Wulffen (1989, 42): «Die kritischen, avantgardistischen Strategien<br />
müssen zwangsläufig guerillaartig sein, müssen parasitär auf<br />
den zu kritisierenden Strukturen aufsitzen.» 18 So galt eigentlich<br />
von Anfang an, was Harald Szeemann (1981, 23) in den siebziger<br />
Jahren explizit als künstlerisches Programm definierte: «Der<br />
Rahmen wird zum Teil der Aussage». 19 Die Antworten auf den<br />
Rahmen formierten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts schubweise<br />
und immer wieder neu. Jede Generation suchte die Fehler der<br />
Vorgänger zu vermeiden, jedes Jahrzehnt brachte neue Antworten<br />
und Fragen aufs Tapet bzw. aufs Tableau. In den neunziger Jahren<br />
erleben sie wiedereinmal Konjunktur. Andrea Fraser ist nur eine<br />
von vielen «institutionskritischen» Künstler/inne/n, die energisch<br />
danach fragen, wie Kunst zur Kunst werden kann und welche<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 287<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:01 <strong>Uhr</strong>
288<br />
Rolle Rahmen, Gesellschaft und sie selbst als sprechendes Subjekt<br />
dabei spielen. Solche Befragungen sind mit Sicherheit Möglichkeiten,<br />
um mit dem Dilemma umzugehen, welchem Künstler/innen<br />
stets ausgesetzt sind. Mitunter aber gehen die künstlerischen<br />
Antworten bis an die Grenze der totalen Selbst-Reflexion und<br />
Selbst-Referenzialitat, münden in einen Diskurs, der sich nur<br />
mehr im Kreis dreht und dadurch vollkommen elitär wird.» 20<br />
Abb. 7<br />
Wenn Kunst die Brisanz verliert, weil sie<br />
nur mehr sich selbst thematisiert.<br />
Kunst ist jetzt nur für Künstler aufregend.<br />
Ernst Caramelle, 1976.<br />
Aus dem Buch , «Blättern» <strong>12</strong>7 Zeichnungen<br />
Frankfurter Kunstverein 1981<br />
SPRACHEN MIT BEGRENZTEM NUTZEN<br />
Zerfall und Wiederkehr der Pfeife<br />
Wie der Flaschentrockner, so taucht auch die Magrittesche Pfeife<br />
(nicht nur) im Kunst-Diskurs immer wieder auf. Sie soll auch<br />
an dieser Stelle als DenkModell dienen, um das in der Aktion<br />
von Andrea Fraser angekündigte drohende Auseinanderfallen des<br />
zweifachen Tableaus ein Stück historisch zurück und strukturell<br />
weiter zu verfolgen. Die Geschichte – sie soll noch einmal mit<br />
Foucault gelesen werden – zeigt, daß die Art der Ordnung von<br />
Welt durch Sprache, wie sie auf dem zweifachen Tableau präsentiert<br />
wurde, nicht immer gleich, und nicht immer wie dargestellt,<br />
funktionierte. Im Gegenteil, wurde das Zeitalter der Moderne 21<br />
mit einem epistemologischen 22 Bruch eingeleitet, der im 19. Jahrhundert<br />
begonnen hatte. 23 Das duale System der Theorie der<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 288<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:01 <strong>Uhr</strong>
289<br />
denkbar<br />
Repräsentation, welches die Epistem des Klassischen Zeitalters<br />
(vom 17. bis zum 19. Jahrhundert) gewesen war, fiel auseinander<br />
und verschwand. 24 An ihre Stelle trat etwas, das Foucault Mensch<br />
nennt. Mit der strukturalen Sprachwissenschaft könnte man es<br />
probeweise auch mit dem Begriff Artikulation 25 belegen.<br />
Statt der Gleichsetzung und Entsprechung von Ding und Zeichen,<br />
statt der Gültigkeit von Sprache als spontanem Bild und<br />
ursprünglichem «Raster der Dinge, als … Relais zwischen der<br />
Repräsentation und den Wesen» (Foucault 1971, 26), bildete sich<br />
ein Raum, «der geprägt ist von Organisationen, das heißt von inneren<br />
Beziehungen zwischen den Elementen, deren Gesamtheit<br />
eine Funktion sichert» (Foucault 1971, 270). Das Denken reproduziert<br />
nicht mehr eine vorgegebene, «natürliche» Ordnung der<br />
Dinge, sondern erkennt die Dinge erst dadurch, daß es sie (selbst)<br />
in Ordnungen bringt. «Eine tiefe Historizität dringt in das Herz<br />
der Dinge, isoliert sie und definiert sie in ihrer eigenen Kohärenz,<br />
erlegt ihnen Ordnungsformen auf, die durch die Kontinuität der<br />
Zeit impliziert sind. … Sprache … wird ihrerseits eine Gestalt der<br />
Geschichte.» (Foucault 1971, 26). Mensch und Geschichtlichkeit<br />
werden als Denkformen möglich, Kategorien, die für die Entstehung,<br />
die Existenz der Kunst-/Museen fundamental sind, aber als<br />
Ausformungen zu einer modernen Subjektphilosophie auch fatale<br />
Auswirkungen hatten und haben. 26 «In einer Art unendlicher Cogito<br />
versucht das Cogito sich seines Ungedachten zu versichern»<br />
(Fink-Eitel 1989, 44) und übersieht dabei, daß es, wie Foucault<br />
in seiner Analyse von Diego de Velasquez’ Bild «Las Meninas»<br />
exemplifiziert, alles repräsentieren kann, nur nicht sich selbst.<br />
Deshalb heißt nach Foucault die Episteme der Moderne Mensch,<br />
welcher «wahrscheinlich nichts anderes als ein bestimmter Riß in<br />
der Ordnung der Dinge ..., eine einfache Falte in unserem Wissen»<br />
(Foucault 1971, 26f) ist. Das Zeitalter der Moderne ist das Zeitalter<br />
selbstbezüglicher und transzendentaler Subjektivität. Und weil<br />
Sprache nicht mehr als verläßliche Verbindung zur Welt diente,<br />
weil sie in ihrer strukturierenden Weise entdeckt worden war,<br />
trat die Welt der Dinge und der Namen unmerklich auseinander.<br />
Das zweifache Tableau zeigte seine rißhafte Struktur. Indem sich<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 289<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>02</strong> <strong>Uhr</strong>
290<br />
die Dinge aber nicht mehr mit ihren Namen deckten, verloren sie<br />
auch ihren klaren Sinn, ihre Bedeutung, die vordem als ein ihnen<br />
innewohnender Bestandteil angenommen worden war.<br />
Der Begriff Artikulation 27 – nach dem Verständnis der strukturalen<br />
Linguistik und strukturalen Psychoanalyse – bedeutet genau<br />
in diesem Sinn nicht nur das Auseinandertreten von Zeichen und<br />
Repräsentiertem, sondern auch den Verlust der Einheit zwischen<br />
Signifikant und Signifikat. Die Bedeutung ist nicht mehr einfach<br />
da, existent und muß lediglich freigelegt werden, sie entsteht immer<br />
erst aus den Beziehungen der Elemente innerhalb des Feldes<br />
zueinander. Gertrude Steins Satz «Eine Rose ist eine Rose ist eine<br />
Rose ist eine Rose...» ist kein repräsentatives System, sondern eine<br />
Artikulation. Als solche ist sie eine endlose Kette der Selbstverweisungen.<br />
Die Rosen bleiben Sprache, aber sie produzieren in<br />
ihren Zwischenräumen etwas Neues.<br />
«Ceci n’est pas une pipe», schrieb Rene Magritte 1926 unter<br />
die Zeichnung einer Pfeife auf ein Bild. Die Pfeife (und auch die<br />
Rose) ist längst zur Ikone der Moderne avanciert, denn was sie<br />
vorbildhaft zeigt, ist genau dieses Auseinanderfallen des zweifachen<br />
Tableaus. Wort und Bild sind nicht imstande, sich gegenseitig<br />
zu repräsentieren, weil sie sich auf unterschiedlichen Schauplätzen<br />
befinden, von denen jeder seinen eigenen Gesetzen gehorcht. «Das<br />
Bild und der Text fallen je auf ihre Seite, gemäß der ihnen eigenen<br />
Schwerkraft. Sie haben keinen gemeinsamen Raum mehr, wo sie<br />
sich überlagern könnten, wo die Wörter ihre Gestalt annehmen<br />
und die Bilder in den Wortschatz eingehen könnten», schreibt<br />
Foucault (1983a, 20) in seiner Analyse des Magritte-Bildes. Auch<br />
die Gleichsetzung des Wortes oder des Bildes mit jenem Ding,<br />
das sie bedeuten wollen, funktioniert nicht (mehr). Was in jedem<br />
Fall verfehlt wird, ist die Pfeife, der Gegenstand, welcher da bezeichnet<br />
werden soll. «Die berühmte Pfeife ... man hat sie mir<br />
zur Genüge vorgehalten! Und trotzdem ... können Sie sie stopfen,<br />
meine Pfeife Nein, nicht wahr, sie ist nur eine Darstellung. Hätte<br />
ich also unter mein Bild Das ist eine Pfeife geschrieben, hätte<br />
ich gelogen!» (Magritte 1966, 536) Jede der «drei Pfeifen», die<br />
hier im Spiel sind, existiert unabhängig als Dimension und doch<br />
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denkbar<br />
sind alle drei untrennbar miteinander verbunden. Tritt die Pfeife<br />
in einer der drei Dimensionen auf, sind die anderen beiden jeweils<br />
garantiert schon mit ausgelöst, aber eben jeweils anders, nicht deckungsgleich.<br />
Abb 8<br />
Dies ist keine Pfeife<br />
Rene Magritte, «La Trahision des<br />
Images Version» von 1928, 62x81cm<br />
Hier ein Schema der dreifachen Existenz der Pfeife:<br />
> Das Wort Pfeife läßt das Bild (Pfeife) auftauchen und verfehlt<br />
etwas [Pfeife].<br />
> Das Bild (Pfeife) wird erst durch das Wort Pfeife wahrnehmbar<br />
und verfehlt etwas [Pfeife].<br />
> Das Etwas-Verfehlen [Pfeife] löst das Wort Pfeife aus und<br />
produziert das Bild (Pfeife).<br />
> Das Etwas-Verfehlen [Pfeife] löst das Bild (Pfeife) aus und<br />
setzt das Wort Pfeife in Gang.<br />
> Dem Bild (Pfeife) fehlt etwas [Pfeife], welches das Wort Pfeife<br />
auslöst.<br />
> Dem Wort Pfeife fehlt etwas [Pfeife], welches das Bild (Pfeife)<br />
auftauchen läßt.<br />
In jedem Fall vorgeordnet und vorordnend ist die Sprache: Pfeife.<br />
Was nicht in ihr aufgeht, diese Kategorie des Verfehlens von Etwas<br />
[] und das Bild () selbst, gehört nicht zur Lacanschen Dimension<br />
des eingangs charakterisierten «Symbolischen». Diesem entgegen<br />
liegen zwei weitere Dimensionen, die aber mit ihm untrennbar<br />
verknüpft sind: das «Imaginäre» und das «Reale». Die beiden<br />
letzten Dimensionen wurden in der Metapher vom zweifachen Ta-<br />
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bleau bislang dem Unort Sprache einfach entgegengesetzt. Es wird<br />
sich zeigen, daß es nötig ist, das was in Sprache nicht aufgeht,<br />
nocheinmal zu differenzieren. Hier die drei Dimensionen:<br />
Das Lacansche «Imaginäre» ist zunächst einmal alles, was dem<br />
visuellen Bereich zugeordnet werden kann, dem Bereich der Bilder,<br />
Vorstellungen, Phantasien und Darstellungen. Im vorliegenden Fall<br />
wäre es das Bild der (Pfeife) bzw. das Bild das im Kopf auftaucht,<br />
wenn das Wort Pfeife zur Sprache kommt. Wobei, sobald man das<br />
Bild als (Pfeife) identifiziert, d.h. differenziert, diese schon wieder<br />
symbolisch ist. Das Imaginäre wird also erst sichtbar, wenn es von<br />
Sprache durchkreuzt wird, sonst ist es unsichtbar.<br />
Das Lacansche «Reale» ist alles das, was sich weder sagen<br />
läßt, noch Bilder hat. Es ist das, was im Wort und im Bild immer<br />
schon verfehlt ist, ein unbenennbarer Rest []. 28 Es ist «ein nichtsymbolisierbarer<br />
Kern, der plötzlich inmitten der symbolischen<br />
Ordnung auftaucht» (Zizek 1992, 62). Lacan gibt dem Realen<br />
verschiedene, auch in sich widersprüchliche Umschreibungen. Er<br />
nennt es zum Beispiel das «Unmögliche» oder den «Ort des Abwesenden».<br />
Das Reale schlechthin ist der Tod, er ist absolut und<br />
unbeschreiblich. Auch die Körperlichkeit gehört in jenes Feld des<br />
Nicht-Sagbaren. Wiederholt nennt Lacan das Reale «das, was immer<br />
am selben Platz sei – das kann etwas Körperliches sein, aber<br />
auch etwas Unfaßbares – schließlich das Widerständige, wogegen<br />
man mit dem Kopf anrenne» (Widmer 1990, 57). 29 Vor allem<br />
aber legt Lacan Wert darauf, das Reale als etwas zu verdeutlichen,<br />
das aus der Logik vollkommen ausgeschlossen ist und dafür verwendet<br />
er den Begriff Ek-sistenz, welcher wieder auf den Körper<br />
verweist. Die Wunde, ob sie sich schließt oder nicht, die Sexualität,<br />
die immer rätselhaft und immer auch unmöglich bleiben<br />
wird, auch der Wahnsinn – alles was Foucault zum Anderen der<br />
Vernunft 30 zählt und was doch immer wieder sprachlich (logisch)<br />
erklärt, gefaßt werden will, verweist auf das Ek-sistieren. Daß gerade<br />
die Unmöglichkeit, dieses zu sagen, immer wieder zu Symbolisierungen<br />
veranlaßt, beweist die ganze Geschichte der Kunst. 31<br />
Im vorliegenden Beispiel – auch diese Analogie ist gewagt, weil<br />
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denkbar<br />
so sehr bildhaft und sprachlich – könnte man in die Dimension<br />
des Realen jenes Etwas zählen, das es da gibt, das da ist 32 , auf<br />
welches da verwiesen und das gleichzeitig immer auch verfehlt<br />
ist. Die Pfeife als das nie zu erreichende, immer zurückweichende<br />
Kantsche Ding an sich.<br />
«Eine Pfeife ist eine Pfeife ist eine Pfeife ist eine Pfeife ...» bliebe<br />
also, wie die Rose, auf der Ebene der Sprache, gibt aber eine Ahnung<br />
davon, daß da noch etwas ek-sistiert, das sich aber nicht oder<br />
immer nur mangelhaft symbolisieren läßt. Und was sich symbolisieren<br />
läßt, ist übersetzt in etwas (sprachlich) Anderes. Wir kommen<br />
der Sache also immer gleichzeitig näher und ferner. Der Preis<br />
der Moderne ist genau diese Verfehlung und Selbst-Verfehlung,<br />
durchaus aber im Glauben der Ankunft und der Selbst-Findung. 33<br />
Das SelbstVerfehlen wird in der Moderne zum Programm. Es ist<br />
dialektisch: vergeblich und produktiv. 34<br />
Magrittes Satz ist mittlerweile fast siebzig Jahre alt. Er hat<br />
nicht an Aktualität verloren – im Gegenteil. Auch Frasers Aktion<br />
wäre gegenwärtig genauso aktuell wie vor zehn Jahren. Das legt<br />
den Verdacht nahe, daß sich im Kunst-/ Museum gewisse epistemologische<br />
Reste aus vormodernen Zeiten erhalten haben und<br />
immer wieder wiederholt werden (wollen). Denn immer noch behauptet<br />
das Kunst-/ Museum hartnäckig – im Sinne des Zeitalters<br />
der Repräsentation –: Dies ist eine Pfeife. Oder: dies ist ein Werk<br />
von Rene Magritte. Punkt. 35<br />
Sprechende Qualitäten<br />
Von Magritte und den übrigen bisher angeführten künstlerischen<br />
Beispielen ausgehend, läßt sich an dieser Stelle eine Differenz<br />
definieren, die künstlerische Arbeiten von nicht-künstlerischen<br />
Arbeiten unterscheidbar macht. Man könnte, anders formuliert,<br />
eine Art «Qualitätenliste» 36 erstellen, welche zusammenfassend<br />
verdeutlicht, womit man es zu tun hat, wenn man künstlerischen<br />
Artikulationen 37 als geformten Symbolisierungen nicht nur im<br />
Kunst-/ Museum entgegentritt. Der Effekt einer solchen Qualitätenliste<br />
könnte aber unter anderem sein, Tableaus, auf denen<br />
moderne und zeitgenössische Kunst aufgetischt wird, von anderen<br />
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Museumstypen strukturell unterscheidbar zu machen bzw. umgekehrt,<br />
mögliche Übergänge zwischen Kunstmuseen und anderen<br />
Museen aufzudecken. Ich liste in der Folge jene Qualitäten,<br />
welche moderner und zeitgenössischer Kunst zugerechnet werden<br />
könnten auf und stelle jeweils im Anschluß daran eine knappe<br />
Verbindung zu Materialisationen in Museen her, die von ihren<br />
Inhalten nicht behaupten, daß es sich dabei um Kunst handle.<br />
> > Erste Qualität: Offenheit und Objektstatus 38 als Aussagequalität<br />
Mit Umberto Eco (1982, 404f) 39 kann man künstlerische Artikulationen<br />
als «ästhetische Botschaften» bezeichnen, denn sie<br />
sind immer autoreflexiv und mehrdeutig strukturiert. Die Autoreflexivität<br />
bezieht sich jeweils auf die eigene formale, materielle,<br />
prozessuale etc. Beschaffenheit, auf die Form, das Material,<br />
das Ritual als Aussage. In ihrer Ambiguität antworten sie immer<br />
auf einen herrschenden Code, d.h. ein existierendes ästhetisches<br />
Gesetz. Dieses wird überschritten, verletzt und schließlich umgestaltet.<br />
In dieser Konfrontation produzieren die künstlerischen<br />
Artikulationen einen neuen, eigenen Code, der so etwas wie ihren<br />
Idiolekt bildet und ihr eigenes, ihnen inneliegendes Gesetz ist, ein<br />
strukturales Schema, das in allen Teilen herrscht. Idiolekte erzeugen<br />
wiederum Nachahmer, Manier, stilistische Gewohnheiten<br />
und münden schlußendlich in neuen Normen, welche – wie die<br />
Kunstgeschichte lehrt – wieder durchbrochen werden. 1964 hatte<br />
Eco die Seite der Ambiguität der ästhetischen Botschaft mit dem<br />
Namen «Offenheit», deren Grenze das «weiße Rauschen» 40 ist,<br />
versehen. «Eine völlig zweideutige Botschaft erscheint als äußerst<br />
informativ, weil sie mich auf zahlreiche interpretative Wahlen einstellt,<br />
aber sie kann an das Geräusch angrenzen, d.h. sie kann sich<br />
auf bloßes Geräusch reduzieren. Eine produktive Ambiguität ist<br />
die, welche meine Aufmerksamkeit erregt und mich zu einer Interpretationsanstrengung<br />
anspornt, mich aber dann Decodierungserleichterungen<br />
finden läßt.» (Eco 1982, 405) Auf der anderen<br />
Seite der Offenheit steht die Autoreflexivität, die Form, in welcher<br />
sich der Code eines Werkes materialisiert, realisiert. In der Dialektik<br />
zwischen Offenheit und Form, zwischen «der Stimulierung<br />
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denkbar<br />
von Interpretationen und der Kontrolle 41 des Freiheitsraumes der<br />
Interpretationen» (Eco 1982, 421) entwickeln sich die künstlerischen<br />
Artikulationen. «Die Theorie», schreibt der Theoretiker<br />
Brüderlin (1993, 43), «beneidet die Kunst um die Möglichkeit,<br />
sich auch auf der real-materiell-sinnlichen Ebene auszudrücken.»<br />
Bisweilen überschreiten aber ohnehin auch Theoretiker/innen<br />
das herkömmliche ritualisierte Ausdrucks-Formenrepertoir, um<br />
den eigenen Text/Diskurs sinnlich-materiell zu erweitern oder zu<br />
kommentieren, machen eine Geste, arbeiten mit Dingen bzw. verstehen<br />
sich explizit selbst als Künstler/innen. 42 – Sie gehen, kurz<br />
gesagt, ästhetisch vor, indem sie herkömmliche Codes durchbrechen<br />
und die Form selbst explizit zur mehrdeutigen Aussage machen.<br />
Form wird – wie in künstlerischen Arbeiten – zu einem Weg<br />
des Sagens und Zeigens.<br />
– Zum Vergleich: Objektstatus als Aussagequalität haben nicht<br />
nur Materialisationen in modernen Kunstmuseen. Auch an anderen<br />
Orten kann man Dinge finden, die mehrdeutig und autoreflexiv<br />
gestaltet sind.<br />
> > Zweite Qualität: Selbstreferentialität<br />
Die Ecosche Analyse der ästhetischen Botschaft läßt sich um jene<br />
bereits zitierte Komponente erweitern, welche von Anfang an ein<br />
entscheidendes Merkmal der Episteme der Moderne war. Kunst<br />
ist nicht nur ambivalent, offen und autoreflexiv, sie ist – wie sich<br />
zeigte – zumindest potentiell auch «selbstreferentiell». Die Selbstreferentialität<br />
bezieht sich nicht nur auf das künstlerische Feld und<br />
den jeweiligen Rahmen der Kunst, sie bezieht sich auch auf die<br />
diskursive Ebene, auf die Frage der Repräsentation 43 und Artikulation,<br />
auf Wahrnehmungs- und Rezeptionsbedingungen u.a.m.<br />
Das klassische Beispiel für Selbstreferentialität aus der Geschichte<br />
der Kunst, ist der immer wieder zitierte Flaschentrockner, wurde<br />
doch mit diesem «die Selbstreferenz als operationale Strategie in<br />
die Kunst eingeführt» (Wulffen 1994, 53f).» Selbstreferentialität<br />
taucht zwar historisch auch in vormoderner Zeit schon auf, aber<br />
nur marginal und wenn, dann in verdeckter Form, als schwer zu<br />
entziffernder Subtext. 45<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>02</strong> <strong>Uhr</strong>
296<br />
– Zum Vergleich: In Materialisationen, welche nicht zur modernen<br />
oder zeitgenössischen Kunst gezählt werden, liegt Selbstreferentialität<br />
kaum bis nicht vor. Sie wird allerdings manchmal durch das<br />
Tableau produziert. Wenn sich der Rahmen selbst in Frage stellt,<br />
überträgt sich diese Haltung unter Umständen auf das, was er birgt.<br />
> > Dritte Qualität: Betrachterfiktion<br />
Künstlerische Artikulationen sind Aussagen und richten sich<br />
immer imaginär an jemanden. Man kann dieses Aussagen als<br />
den Diskurs der Kunst selbst bezeichnen. Die Betrachterfiktion<br />
ist unmittelbar mit den ersten beiden Qualitäten verbunden. Im<br />
Ecoschen Zitat zur «Offenheit» tauchte sie bereits als Einladung<br />
künstlerischer Artikulationen, interpretiert zu werden, auf. «Das<br />
Kunstwerk ist als intentionales Gebilde für Betrachter konzipiert,<br />
das gilt für alle Werke, auch für diejenigen, die Außenbezüge<br />
scheinbar demonstrativ verneinen. … sprechen wir mit Michael<br />
Fried von der Betrachterfiktion einer Kunst, die ein Nichtvorhandensein<br />
des Betrachters vorgibt, realiter aber nur eine besondere<br />
und bei genauerem Hinsehen vielfältig angelegte Beziehung zu<br />
ihm unterhält.» (Kemp 1992, 20)<br />
– Zum Vergleich: Betrachterfiktion liegt bei jenen Materialisationen<br />
vor, die auch ästhetische Botschaften sein wollen.<br />
> > Vierte Qualität: Kommunikationsanfänge<br />
Mit der vierten Qualität, welche an die dritte anschließt, ist man<br />
endgültig in den Bereich der Rezeption eingetreten. Die herkömmliche<br />
Form, auf künstlerische Arbeiten zu reagieren, ist sie zu betrachten,<br />
über sie zu reden, zu schreiben, sie also auf eine diskursive<br />
Ebene zu übersetzen. Das wäre dann der Diskurs über Kunst.<br />
Man kann es aber auch mit Picasso halten, welcher sagte: Die einzige<br />
Form, ein Bild zu verstehen, ist ein neues zu malen. Niklas<br />
Luhmanns Diktum, daß etwas überhaupt erst ein Kunstwerk sei,<br />
wenn nachher darüber kommuniziert werde, ist als Fortsetzung<br />
und Radikalisierung der Ecoschen Thesen mittlerweile zum Gemeinplatz<br />
geworden – ganz im Sinne von Duchamps Verschiebung<br />
des Kunst-Begriffs: «Und das bringt mich dazu zu sagen, daß ein<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>02</strong> <strong>Uhr</strong>
297<br />
denkbar<br />
Werk vollständig von denjenigen gemacht wird, die es betrachten,<br />
es lesen und die es durch ihren Beifall oder ihre Verwerfung<br />
überdauern lassen.» (Duchamp zit. nach Daniels 1992, Hervorh.<br />
E.S.) Der Gemeinplatz wird aber unterschätzt, denn nimmt man<br />
ihn wörtlich, so besagt er, daß alle vorherigen Qualitäten sich erst<br />
in der bzw. durch die letzte/n realisieren. Offenheit und Objektstatus<br />
als Aussagequalität, Selbstreferentialität und Betrachterfiktion<br />
bleiben irrelevant und bedeutungslos, wenn nicht jemand da<br />
ist, der/die imstande ist, die künstlerischen Arbeiten zu befragen,<br />
d.h. sie zu deuten, bedeutend zu machen. Wenn Michael Lingner<br />
(1994) konstatiert, Kunst hätte keinen Ort mehr, so meint auch<br />
er eigentlich damit, der tatsächliche und einzige Ort der Kunst sei<br />
der Diskurs. 46 So betrachtet, findet also der in Verbindung mit der<br />
dritten Qualität genannte Diskurs der Kunst nur als Diskurs über<br />
Kunst statt – in der Übersetzung. Womit sich auch die Frage nicht<br />
mehr stellt, was Kunst sei, sondern wann sie werde. 47<br />
– Zum Vergleich: Kommunikationsanfänge können natürlich<br />
alle Objekte in jedem Museum sein. Dennoch liegt ein Unterschied<br />
vor, zwischen solchen, die auch die anderen drei Qualitäten aufweisen<br />
und solchen, die weder ästhetische Objekte, noch selbstreferentiell,<br />
noch publikumsfiktional sind. Natürlich aber kann<br />
jedes Objekt zur ästhetischen Botschaft erklärt werden, dadurch<br />
publikumsfiktional werden und unter Umständen auch selbstreferentielle<br />
Qualitäten entwickeln. Duchamp tat mit seinem Flaschentrockner<br />
nichts anderes.<br />
Mehr-Sagen<br />
Die fünfte Qualität charakterisiert speziell Kunst bzw. ästhetische<br />
Botschaften. Sie hat mit Liebe zu tun, einem Bereich, in dem sich<br />
Psychoanalyse, Pädagogik / Vermittlung / Übersetzung und Kunst<br />
überschneiden. 48 Wie die ersten vier Qualitäten kann auch sie nur<br />
entstehen, wenn Rezipient/inn/en ek-sistieren.<br />
> > Fünfte Qualität: Mehr-Sagen<br />
Marc Le Bot (1988, 336f), welcher historisch und strukturell vorgeht,<br />
ortet eine Parallele zwischen der Sprache (der Liebe) und der<br />
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298<br />
Kunst (als Sprache). Beide haben eine ungewöhnliche Beziehung<br />
zum Wirklichen. Le Bot unterscheidet prinzipiell zwei Formen,<br />
wie diese Beziehung, welche – wie auch er betont – immer sprachlich<br />
vermittelt ist, gerichtet sein kann:<br />
Die eine Form ist auf nutzenorientierte Zweckmäßigkeit gerichtet.<br />
Sie artikuliert sich in einer auf Finalität gerichteten Sprache.<br />
Ein Wirkliches soll durch ein Zeichensystem beherrscht werden,<br />
damit von ihm Gebrauch gemacht werden kann.<br />
Die andere Form nennt Le Bot eine leidenschaftliche Form<br />
der Wirklichkeitserfahrung. Die sich hier manifestierende Sprache<br />
ist nicht nutzenorientiert, sie ist nicht an der «Bezwingung»<br />
des Wirklichen interessiert, sondern daran, «mit dem Wirklichen<br />
eine ungewöhnliche Beziehung einzugehen.» (Le Bot 1988, 337)<br />
Kunst wie Liebe sind zwar gleichermaßen zielorientiert, auf Effekte<br />
ausgerichtet und mit Absichten verbunden, aber letztlich<br />
können keine Kriterien des Erfolges benannt werden. Diese müssen<br />
jedesmal situationsspezifisch definiert werden. 49 In beiden<br />
geht es letztlich um das Ziel, anerkannt zu werden und zumindest<br />
in der Kunst geht es selbstredend auch immer um die Frage<br />
des Geldes. 50 Was die zweite Artikulationsform aber tatsächlich<br />
von der ersten unterscheidet und sie so ungewöhnlich macht, ist,<br />
daß sie ihr Interesse vorrangig auf die «Beziehung» zum Wirklichen<br />
richtet, mit dem Effekt, ständig neue Artikulationsformen<br />
als Beziehungsformen zu produzieren. 51 Die Erfüllung, der Nutzen,<br />
wird unterwegs erreicht, d.h. im Prozeß der Artikulation, im<br />
Erfinden immer anderer symbolischer Formen, in diesem Sagen,<br />
das ein dauerndes Mehr-Sagen ist. Es ist dementsprechend notwendig,<br />
daß die Andersheit des anderen dabei – im Unterschied<br />
zur ersten Sprachform, welche diese durch Bezwingung negiert<br />
– auf keinen Fall aufgehoben wird, sondern als gegenwärtige hervorgerufen,<br />
provoziert wird, damit der Weg, die Beziehung nicht<br />
aufhöre. Deshalb ist kein Werk jemals einfach «Ausdruck eines<br />
Codes, es ist die Variation einer Kodifizierungsarbeit: Es ist nicht<br />
die Niederlegung eines Systems, sondern die Generierung von Systemen»<br />
(Barthes 1990, 158). Künstlerische Artikulation ist ein<br />
andauerndes Mehr-Sagen-Wollen.<br />
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denkbar<br />
Die beiden von Le Bot auseinander differenzierten Sprachformen<br />
gibt es nicht pur, sie existieren immer nur tendenziell und<br />
immer gleichzeitig. Sie widerstreiten in der Sprache und haben<br />
ihren Kampfplatz in der Kunst. Die Geschichte zeugt von diesem<br />
Widerstreit. Auch Le Bot ortet einen historischen Bruch. Allerdings<br />
diagnostiziert er ihn gegen Ende des Mittelalters, in dem<br />
erstmalig Kunst als Kunst und Liebe als Liebe (in der höfischen<br />
Liebe) begriffen wurde. Kunst und Liebe treten als Reinformen,<br />
d.h. in speziellen Sprachen auf den Schauplatz der Welt. Seit vierhundert<br />
Jahren, so Le Bot, nennt man die nicht nutzenorientierten<br />
Formen der Sprache «Kunst». Sie sind im Alltag ebenso präsent,<br />
wie in den Bereichen, die man explizit «Künste» nennt. «Die im<br />
eigentlichen Sinn Kunst genannte Kunst würde also den Ort der<br />
Sprache bilden, an dem sich in einer reinen Form die nutzlose Beziehung<br />
zum anderen inszenierte, die Liebe genannt wird.» (Le<br />
Bot 1988, 338) In der Moderne radikalisiert sich diese nichtnutzenorientierte,<br />
auf Mehr-Sagen und Vergegenwärtigung abzielende<br />
Sprache. Die Dinge gehen vollends auf «in der Beziehung<br />
leidenschaftlicher Begeisterung die die Kunst zum Sichtbaren»<br />
(Le Bot 1988, 343) unterhält. Die Folge ist: «Kunst nimmt dem<br />
Betrachter und dem Betrachteten, dem vorgeblichen Subjekt und<br />
dem vorgeblichen Objekt des Verlangens ihre Identität, die somit<br />
auch aufhören, Subjekt oder Objekt mit einer stabilen Identität<br />
zu sein.» (Le Bot 1988, 344, Hervorh. E.S.) 52<br />
Die Sprache der Kunst und die Sprache der Liebe vorexerzieren so<br />
das Ende stabiler Identitäten, das Ende der Repräsentation, und zwar<br />
auf beiden Seiten des Spiels: des Betrachters und des Betrachteten,<br />
des Liebenden und des Geliebten. Sie beweisen, daß die Beziehung<br />
zum Wirklichen durch keine Sprache und kein Denken beherrschbar<br />
ist und verweisen immer wieder auf die Position, welche der<br />
Mensch der Moderne als «Riß in der Ordnung der Dinge» (Foucault<br />
1971, 26) einnimmt. «Wenn das Wirkliche hier also außerhalb des<br />
Sinns existiert, entgeht es dem Denken der Beherrschung. Es wird<br />
als unbezwingbare Gegenwart gegeben.» (Le Bot 1988, 341)<br />
Über Kunst zu sprechen, bedeutet demnach in jedem Fall auf<br />
eine Sprache zu antworten, die nicht auf Finalität, sondern auf<br />
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300<br />
Evokation gerichtet ist; auf eine Sprache, die ihre eigenen Gesetze,<br />
ihre eigenen Codes, wahrnehmbar in sich tragend verwirklicht<br />
und selbst befragt; auf eine Sprache, die sich selbstreferentiell<br />
und autoreflexiv gebärdet; auf eine Sprache, die sich weder schematisieren,<br />
noch endgültig übersetzen, noch fassen läßt, sondern<br />
für die jedes an sie gerichtete Wort ein zusätzlicher Kommentar,<br />
etwas Neues, Anderes, immer auch Verfehlendes und Verfehltes<br />
ist. Dabei wird man zwangsläufig immer wieder an eine Grenze<br />
stoßen, an eine Grenze des Kommunizierbaren, eine Grenze der<br />
Sprache. «Ceci n›est pas une pipe.»<br />
LEKTÜRE ALS ARTIKULATION<br />
Der Leser<br />
Betrachtet man die künstlerischen Arbeiten – wie dies bisher geschah<br />
– als Artikulationen, so wird der Betrachtende zum Leser.<br />
Michel de Certeau 53 (1991, 295f) definiert den Ort des Lesers<br />
als einen «Nicht-Ort». Der Terminus erinnert keineswegs zufällig<br />
an Foucaults Beschreibung von Sprache als «Un-Ort». Der<br />
Leser, so Certeau, «hat keinen festen Boden unter den Füßen und<br />
schwankt zwischen dem, was er erfindet, und dem, was ihn verändert»<br />
(Certeau 1991, 297). Die Lektüre wird, so gesehen, zum<br />
Prozeß, in dem beide Seiten sich verändern. Der Leser ergeht sich<br />
im Werk seiner Aufmerksamkeit, ordnet es seinem Schritt, seinen<br />
Bewegungen und seiner Perspektive gemäß, stößt auf Widerstände,<br />
Hindernisse, muß Umwege nehmen, verirrt sich, kommt auf<br />
Holzwege, findet Wegweiser usw. Der Leser wird zum Wanderer.<br />
Er ordnet und wird geordnet, er prägt und wird geprägt – im<br />
Durchgang. «Der Leser / Betrachter wird ... aus der reservierten<br />
Distanz ... mitten ins Text-Bild hineingelockt.» (Weiss 1990, 66)<br />
Ähnlich formuliert auch Peter Bichsel 54 (1989, 29): «Lesen ist für<br />
mich ... Eintritt in eine Gegenwelt – ... Mich selbst oder meine<br />
Lage darin zu erkennen, das ist ... eine nachträgliche Sache. Im<br />
Augenblick des Lesens ist es immer das Andere, das mein Verhalten<br />
bestimmt. Ich verspüre beim intensiven Lesen ein leichtes<br />
Abheben vom Boden, das sich steigern kann bis zum Gefühl der<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 300<br />
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301<br />
denkbar<br />
Schwerelosigkeit; ich komme in einen Rauschzustand, den ich<br />
genieße.»<br />
Ganz in diesem Sinn, könnte man vermuten, ortet auch die<br />
Rezeptionsästhetik den Leser überhaupt und immer «im Bild»<br />
(Kemp 1992) 55 . Sie bezieht sich dabei auf die 19<strong>02</strong> von Alois Riegl<br />
formulierte Einsicht, daß «jedes Gemälde von Rang den Betrachter<br />
als potentiellen Vollender des Kunstwerks impliziert, ja ihn<br />
voraussetzt» (Brüderlin 1993, 40). Rezeptionsästhetik anerkennt<br />
den Prozeß der Betrachtung zunehmend als gleichwertigen Anteil<br />
der Bedeutungskonstitution von Kunst. Sie geht davon aus, daß<br />
erst die Lektüre es ist, die das Werk zur Sprache bringt, die ihm<br />
eine Stimme gibt und es wesentlich macht. Diese Sichtweise kann<br />
– gemäß der vierten Qualität – in ihrem Grundzug spätestens seit<br />
Umberto Ecos (1964) Postulat des «offenen Kunstwerkes» zum<br />
kollektiven Bewußtsein gezählt werden. «Die Decodierungserfahrung<br />
wird offen, prozeßartig, und unsere erste Reaktion besteht<br />
darin, daß wir glauben, daß alles, was wir in die Botschaft einfließen<br />
lassen, tatsächlich in ihr enthalten sei.» (Eco 1982, 413)<br />
Während Eco von «Offenheit» spricht, postuliert die Rezeptionsästhetik<br />
«Vollendung» in der/durch die Rezeption. Nach dem<br />
Certauschen Lektüre-Konzept wäre der Leser wohl eher auf der<br />
ersten Seite zu suchen. Die gegenseitige Prägung läuft auf kein stabiles<br />
Ende und gerade nicht auf Ganzheit hinaus, sondern immer<br />
nur auf einen vorübergehenden Abschluß. Sie ereignet sich in der<br />
Dialektik zwischen Ankunft und Aufbruch, zwischen Zu-Gabe<br />
und Aufbrauch.<br />
Die aktive Rolle des Leser-Betrachters bzw. des Diskurses überspitzte<br />
Bazon Brock vor einigen Jahren in einem seiner «Action<br />
teachings». Er ließ dem Publikum an der Kasse ÖS 30.– ausbezahlen,<br />
nicht nur um auf dessen fundamentale Rolle als Rezipient/Inn/<br />
en und auf den Rezeptionsprozeß als Arbeit zu verweisen, sondern<br />
auch um ein Plädoyer zu geben, «für den emanzipierten, aktiven<br />
Rezipienten, der zunehmend droht, durch die Banalität der Unterhaltungsindustrie<br />
zum Konsumidioten zu verkümmern» (Brüderlire<br />
1993, 45). Brock erklärt den Betrachter selbst zum Künstler.<br />
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3<strong>02</strong><br />
Abb 9<br />
Auch wenn der Rezeptionsvorgang<br />
umgekehrt – vom Text zum Bild verläuft<br />
– er ist in jedem Fall Schwerarbeit und<br />
Neuschopfung. «Der Übersetzer<br />
Sprecbarbeit<br />
Rezeption zur Kunst machen bzw. sie künstlerisch anlegen, wollten<br />
auch die französischen Poststrukturalisten 56 . Was sie als Antworten<br />
auf Kunst schufen, waren selbst wieder ästhetische Botschaften,<br />
Neuheiten mit parallelen Qualitäten zur Kunst. Die Lektüre wird<br />
zur Artikulation, zur Sprech- und Schreibbewegung. 57 Roland<br />
Barthes schreibt sich zum Beispiel an Cy Twombly (TW) heran<br />
und produziert dabei selbst wieder einen poetischen Text:<br />
«Was ist das Wesen einer Hose (falls sie eins hat) Sicher nicht<br />
jenes zurechtgemachte und glatte Objekt auf den Kleiderbügeln<br />
in den Kaufhäusern; eher schon als Stoffknäuel da, das<br />
achtlos aus der Hand eines Heranwachsenden, wenn er sich<br />
auszieht, auf den Boden gefallen ist – schlaff, träg, gleichgültig.<br />
Das Wesen eines Gegenstandes hat etwas mit seinem Abfall<br />
zu tun: nicht unbedingt mit dem, was überbleibt, nachdem<br />
man davon Gebrauch gemacht hat, sondern mit dem, was aus<br />
dem Gebrauch geschmissen worden ist. So die Schriftzüge von<br />
TW. Es sind die Brocken einer Trägheit – daher ihre extreme<br />
Eleganz. Als ob vom Schreiben, diesem starken erotischen Akt,<br />
die verliebte Müdigkeit bliebe, dieses in eine Ecke des Blattes<br />
hingeworfene Gewand.» (Barthes 1983, 9)<br />
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denkbar<br />
Das Bild, schreibt Barthes, existiert nur «in der Erzählung, die<br />
ich von ihm wiedergebe; oder: in der Summe und der Organisation<br />
der Lektüren, zu denen es mich veranlaßt: Ein Gemälde ist<br />
immer nur seine eigene vielfältige Beschreibung. Man sieht wie<br />
nahe und gleichzeitig fern dieses Abschreiben des Bildes durch<br />
den Text, durch den ich es konstituiere, von einer als Sprache<br />
angesehenen Malerei ist.» (Barthes 1990, 158) Statt eine Summe<br />
statistischer Erhebungen vorzunehmen, fordert Barthes den ständigen<br />
«Sprechakt». Zwar sind Schreiben und Sprechen nicht das<br />
gleiche. An dieser Stelle interessieren sie aber beide in erster Linie<br />
als Artikulationsformen.<br />
«Im Werk von TW herrscht der Duktus: nicht seine Regel,<br />
sondern seine Spiele, seine Grillen, seine Expeditionen, seine<br />
Trägheiten. Es ist insgesamt eine Schrift, von der nur das Schiefe,<br />
das Kursive bleibt; im antiken Schriftzug ist die Kursivschrift<br />
aus dem (ökonomischen) Bedürfnis entstanden, schnell zu<br />
schreiben: die Feder heben kostet viel. Hier ist es das Gegenteil:<br />
es fällt, es regnet fein, es neigt sich wie Gras, es streicht durch<br />
aus Untätigkeit, als ob es darum ginge, die Zeit sichtbar zu<br />
machen, das Beben der Zeit.» (Barthes 1983, 17)<br />
Abb. 10:<br />
Kunst fordert laut Roland Barthes (1983, 8) zu Sprecharbeit heraus.<br />
Cy Twombly Mars und der Künstler (Ausschnitt), 1975<br />
Collage ÖI, Kreide. Kohle und Buntstift auf Papier <strong>14</strong>2x<strong>12</strong>7.5cm<br />
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Barthes (1990, 159) sieht sein Unternehmen als eine Art «Grammatographie<br />
... (welche, E.S.) die Schrift des Bildes schreibt». Der<br />
ständige Sprechakt und die Sprech- bzw. Schreibarbeit, die er in<br />
seiner Arbeit zu realisieren versucht, verhindern selbst jegliche<br />
Festlegung, jede Vereindeutigung der Bilder. Das immer wieder<br />
von vorne begonnene Sich-Heranschreiben, das Umkreisen mit<br />
Worten bleibt offen. Der Text wird – im Dienste des Werkes, aber<br />
auch im Dienste des Lesers – selbst zur nicht-nutzenorientierten,<br />
evozierenden Sprache, die ein Wirkliches – auf das es auch das<br />
Werk selbst abgesehen hat – gegenwärtig machen will. Gleichzeitig<br />
sind die Barthe’schen Texte in hohem Maße selbstreferentiell,<br />
denn sie befragen ständig das Funktionieren von Text, Bild, Sprache.<br />
Seine Errungenschaft, so Kaja Silverman ist gerade, «to have<br />
articulated an interpretative strategy which permits the realer (or<br />
viewer) to uncover the symbolic field inhabited by a given text,<br />
and to disclose the oppositions – sexual and other – which structure<br />
that field» (Silverman 1983, 237).<br />
«Man sagt: dieses Gemälde von TW ist dies oder das. Aber eher<br />
ist es etwas ganz anderes: ausgehend von diesem oder jenem;<br />
mit einem Wort: zwiespältig, weil buchstäblich und metaphorisch:<br />
es ist deplaziert.» (Barthes 1983, 7)<br />
Barthes’ Verhalten als Leser der Kunst ist die reale Umsetzung des<br />
Certeauschen Lesers. Lesen, schreibt dieser (1991, 295), heißt, «in<br />
einem vorgegebenen System herumzuwandern», wobei die genaue<br />
Trennung zwischen demjenigen der liest und dem lesbaren Text<br />
(Buch oder Bild) nicht aufrecht zu erhalten ist. Der Ort des Lesers<br />
«ist nicht hier oder dort, der eine oder der andere, sondern weder<br />
der eine noch der andere, gleichzeitig innen und außen; er verliert<br />
beide, indem er sie vermischt, indem er stillgelegte Texte miteinander<br />
in Verbindung bringt, deren Erwecker und Gastgeber er<br />
ist, die aber niemals zu seinem Eigentum werden» (Certeau 1991,<br />
297f). Lesen, so Certeau, ist im Sinne von Levi-Strauss (1989, 29f)<br />
«bricolage», Bastelei: Eine Produktion, die auf kein bestimmtes<br />
Vorhaben gerichtet ist.» Und wenn diese Formen der bricolage<br />
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denkbar<br />
auch noch – wie Barthes› ästhetische Artikulationen – selbstreferentiell<br />
sind, geraten sie tatsächlich in die Nähe von Kunst.<br />
Im Kunst-Diskurs der neunziger Jahre distanziert man sich von<br />
den Methoden der Poststrukturalisten 59 – allerdings nur teilweise,<br />
denn mitunter greift man doch auf sie zurück. Mein Verdacht<br />
ist, daß solche Rückgriffe, wenn sie Kommunikationseröffnungen<br />
im Barthes›schen Sinn sind – d.h. offen, ästhetisch, autoreflexiv,<br />
selbstreferentiell, ansteckend und mehr-sagend –, nach wie vor<br />
Sinn machen.<br />
Dr. Eva Sturm, geb. 1962, Kunst und Theorie der Kunstvermittlung, Hamburg, Studium von Kunsterziehung<br />
und Germanistik in Salzburg, Linz und Wien. Ausbildung zur Museumspädagogin: 1996<br />
Erziehungswissenschaftliche Dissertation an der Universität Hamburg bei Prof.Karl-Josef Pazzini.<br />
Co-leitung und Co-Kuratorin in verschiedenen Projekten im Kontext der Kunstvermittlung, Organisation<br />
von Tagungen, u.a. im März 2000 Co-Organisation der Tagung «Dürfen die das Kunst als sozialer Raum.<br />
Art / Education / Cultural Work / Communities» im O.K Centrum für Gegenwartskunst Linz.SoSe 2003<br />
Gastprofessorin am Institut für Kunst im Kontext / Universität der Künste BerlinWiSe 2003/2004 Vertretungsprofessorin<br />
am Kulturwissenschaftlichen Institut: Kunst – Textil- Medien an der Carl von Ossietzky<br />
Universität Oldenburg. Unregelmäßig eigene künstlerische Projekte.<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Timm Ulrichs, geb.1940 in Berlin, der sich selbst seit 1959 als «Totalkünstler» bezeichnet,<br />
ist in der Tradition des Dadaismus zu sehen. Sein berühmtestes Werk ist die Ausstellung seiner<br />
selbst als «erstes lebendes Kunstwerk» 1965, eines der frühen Beispiele für Concept Kunst.<br />
Den oben zitierten Ausspruch tat er im Jahr 1962 (Ulrichs 1975, 36).<br />
2<br />
Die Enzyklopädie hat ein für abendländisches Denken aberwitziges Ordnungsschema. «Dies<br />
ist die Perspektive des Buches: Verfremdung des Eigenen und Ver-Änderung des Gleichen<br />
durch seine Konfrontation mit dem Fremden, demgegenüber es ein Anderes und Fremdes ist.»<br />
(Fink-Eitel 1989, 50) Ähnlich verfährt auch Kunst.<br />
3<br />
Wie notwendig ein gemeinsamer Raum, ein Tableau für Ordnungssysteme ist, zeigt Foucault<br />
am Leiden der Aphasiker. Weil ihnen die Unterlage fehlt, auf der sich die Dinge treffen<br />
können, vermögen sie keine Ordnungen zu bilden. «Das Unbehagen, das uns lachen läßt, wenn<br />
wir Borges lesen, ist wahrscheinlich mit der tiefen Schwierigkeit derjenigen verwandt, deren<br />
Sprache zerstört ist.» (Foucault 1971, 21)<br />
4<br />
Harald Szeemann widmete einen Teil der Documenta V den sogenannten ,.Künstlermuseen».<br />
Zugrunde liegt diesen ein neues Museumsverständnis nach 1968, eine neue Definition<br />
des Ortes: «Das Museum ... (wird ein, E.S.) zentraler Ort, wo Fragiles ausgestellt und neue<br />
Zusammenhänge als Werk ausprobiert werden können.» (Szeemann 1981, 92) Klaus Hoffmann<br />
und Timm Ulrichs produzierten z.B. «das kleinste museum der welt – tabu format»;<br />
Herbert Distel errichtete ein «Schubladenmuseum»; Marcel Broodthaers untersuchte mit<br />
seinem Museum «Der Adler vom Oligozän bis heute» die Aura des Kunstwerks «als lebendig<br />
begrabene Illusion einer bürgerlichen Gesellschaft» (Grasskamp 1979, 72). Claes Oldenburg<br />
baute sein «Mouse Museum», eine fröhlichskurrile thematische Sammlung von Alltagsgegenständen<br />
u.a.m. Die Beispiele von Künstlermuseen setzten sich bis in die Gegenwart fort (vgl.<br />
Grasskamp 1979, 1989; Meinhardt 1993; Speicher 1993; Zeiller 1994).<br />
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306<br />
5<br />
Comte de Lautreamont (1847–1879) (bürgerl. Name: Isidore Ducasse), von dem dieser Satz<br />
stammt, betont die Schönheit dieser Szene. Lautreamont erfreute sich im Kreis der Surrealisten<br />
besonderer Verehrung. (vgl. Badura-Triska 1980, 59).<br />
6<br />
Auch das Beispiel von Lautreamont war zuerst Literatur, also nur im sprachlichen Raum<br />
(und als Vorstellung) existent. Es wurde aber später tatsächlich zum Objekt: Man Rav schuf<br />
1933 eine Hommage à l’ Lautreamont, in der sich tatsächlich ein Regenschirm und eine<br />
Nähmaschine begegnen (vgl. Badura-Triska 1980, 60). Im Kunstwerk fehlt der Seziertisch. Ein<br />
bewusster Verzicht auf eine Unterlage oder ein Verweis auf die Ortlosigkeit der Sprache,<br />
7<br />
«Es ist erstaunlich, welcher Grad von Verwandtschaft zwischen den Aussagen Freuds, der die<br />
Arbeiten seines Zeitgenossen de Saussure nicht gekannt hat, und dessen Konzeption besteht. Freud<br />
spricht von Sach- und Wortvorstellungen und selbst der Begriff des Zeichens ist im gleichen Sinne<br />
gebraucht wie bei Saussure. Freud hat sich damit strukturale Gesichtspunkte zu eigen gemacht. Dies<br />
hat Lacan ermöglicht, ihn in der Terminologie von de Saussure zu lesen.» (Widmer 1990, 39).<br />
8<br />
Die Reize, die z.B. das Auge von außen treffen und die die Physik im elektromagnetischen<br />
Wellenbereich von 400 bis 800 müM nachweisen, werden von uns nicht bloß verarbeitet,<br />
sondern vom Gehirn als Licht und Farbempfindungen gleichsam hervorgebracht. Diese Hervorbringung<br />
schließt sich ab in ihrer Verfügbarkeit mittels der Sprache. Sprache repräsentiert<br />
also nicht Wirklichkeit, sie artikuliert sie erst, mit Hilfe einer Differenz – Name und Begriff –<br />
die erst nachträglich Identitäten als ihre Effekte produziert.» (Meyer 1982, 60, Hervorh. E.S.)<br />
9<br />
An dieser Stelle wird der Unterschied des Lacanschen Wahrnehmungskonzeptes zu anderen<br />
EinSchätzungen des Verhältnisses von Wahrnehmen und Sprache deutlich. Bei Lacan wird<br />
nur durch Sprache, durch Benennung sichtbar, während vergleichsweise, zum Beispiel bei<br />
Rudolf Arnheim, Sprache eine nachgeordnete Funktion einnimmt: «Die Sprache ist kein<br />
Mittel, über die Sinne eine Verbindung zur Realität zu erlangen – sie dient nur dazu, das<br />
Gesehene, Gehörte oder Gedachte zu benennen.» (Arnheim 1965, XIV) Eine ähnlich gelagerte<br />
Einschätzung der Nachordnung von Sprache findet sich zum Beispiel auch im Konstruktivismus<br />
nach Bateson und Maturana, Valera (1987). «Wir leben ... in zwei Wirklichkeiten»,<br />
schreibt der Konstruktivist Gerhard Frank vom Institut für Wechselspiel und Didaktik, Wien,<br />
«in der Wirklichkeit der Ereignisse und Dinge, sowie in der Wirklichkeit der Wörter über<br />
die Ereignisse und Dinge (Postman 1988). ... in einer gewissen Hinsicht ähneln wir einem<br />
wundersamen Fahrzeug, das auf zwei Schienen läuft, die von diesem Fahrzeug während seiner<br />
Reise selbst erzeugt werden. Für jeden Schienenstrang steht dabei ein eigener Konstrukteur zur<br />
Verfügung.» (Frank 1994, 54) Mit Lacan könnte man entgegnen, der eine Schienenstrang (der<br />
Dinge) wird erst durch den anderen (der Sprache) sichtbar.<br />
10<br />
Demgemäß ist auch jede Äußerung über vorsymbolische Zustände, zum Beispiel über den<br />
Zustand von Babys vor dem Sprechen spekulativ.<br />
11<br />
Eine kurze Textpassage aus Janes Redefluß: «Jetzt allgemein: Wo die besten Geschmackseigenschaften<br />
bis spät ins Jahrhundert hinein bewahrt wurden ...». Sich auf den Hocker<br />
des Wärters in der Ecke beziehend: «Vorn Ausmaß und von der Komplexität her ... das<br />
ehrgeizigste Unternehmen ... der großen europäischen Tradition ... Fülle und Anmut ...<br />
unabhängig von Zeit und Wandel ...». Sich beziehend auf «Die vier Jahreszeiten. Der Herbst<br />
des Bacchus»: Ah, und das ist ... Amerikanerin, Mutter, drei Brüder deutlich subnormal, selbst<br />
geistig unterbemittelt, gewalttätig, undiszipliniert und bar jeder Befähigung zur Mutterschaft,<br />
unbeholfen, verantwortungslos ...» (Fraser 1990, <strong>12</strong>4) Die zugehörigen Fußnoten, sich auf die<br />
beiden Zitate im Zitat beziehend, lauten: «Die obenstehende Beschreibungen ... stammen in<br />
der Reihenfolge ihres Vorkommens aus der Introduction to tbe Philadelphia Museum of Art,<br />
Philadelphia: Philadelphia Museum of Art, 1985. Ich betrachte diese Beschreibungen nicht<br />
als Darstellungen von Gemälden, sondern als Repräsentationen des idealen Museumsbesuchers;<br />
Repräsentationen seiner Interessen, Repräsentationen seiner Vor- und Nachteile, seines<br />
Vergnügens und Mißvergnügens. Ich betrachte diese Repräsentationen als ein Begriffsfeld<br />
in einer Reihe von parallelen und gegensätzlichen Repräsentationen, Vorstellungspaaren.<br />
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307<br />
denkbar<br />
Diesen gegenübergestellt werden könnten beispielsweise die folgenden Beschreibungen aus<br />
einer Publikation des Gesundheits- und Wohlfahrtsamts von Philadelphia aus dem Jahr 1910<br />
... (Department of Public Health and Charities of Philadelphia, The Degenernte Children of<br />
Feeble-Minded Women, 1910.)» (Fraser 1990, 134).<br />
<strong>12</strong><br />
Die vielzitierte «Gebärde der Besichtigung» (Rumpf 1990) ist angesagt.<br />
13<br />
Zwar gibt sich das Museum immer den Anschein von Neutralität, doch in Wahrheit<br />
bestimmt es «durch seine Auswahlverfahren, was unter Kunst verstanden wird. Zum Beispiel<br />
Duchamps Readymades haben gezeigt, daß die Funktion des Museums darin besteht, von den<br />
in ihm wohnenden Objekten zu behaupten: Dies ist ein Kunstwerk ... Sein Rahmen verändert<br />
sehr wohl die Bedeutung der in ihm sich befindenden Objekte so wie auch seine Architektur<br />
und Präsentationsform Wahrnehmungsverhalten konditionieren.» (Graw 1991, 2<strong>14</strong>)<br />
<strong>14</strong><br />
Das erste Ready-made Duchamps: «Schon 1913 hatte ich die glückliche Idee, das Rad eines<br />
Fahrrades auf einem Küchenschemel zu montieren und es drehend zu beobachten.» (Duchamp<br />
zit. nach Richter 1964, 93) 19<strong>14</strong> erklärte er einen Flaschentrockner aus dem Kaufhaus zur<br />
Kunst und 1917 datierte er ein Urinoir zum Kunstwerk.<br />
15<br />
«Natürlich ist weder der Flaschentrockner noch das Urinoir Kunst. … Der Flaschentrockner sagt:<br />
Kunst ist Blech. Das Urinoir sagt: Kunst ist Schwindel» (Duchamp zit. nach Bürger 1974, 70f)<br />
16<br />
Schon vor den Futuristen positionierten sich die Künstler gegen das Museum. Manet soll gesagt<br />
haben: «Seid wie die Kinder, geht nicht ins Museum!» Lauter und aggressiver noch waren<br />
die Rufe der italienischen Futuristen. 1909 schrieb Marinetti: «Wir wollen die Museen, die Bibliotheken<br />
und die Akademien jeder Art zerstören ... Schon zu lange ist Italien ein Markt von<br />
Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe<br />
über und über bedecken. Museen: Friedhöfe! ... Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen man<br />
für immer neben verhassten oder unbekannten Wesen schläft! Museen: absurde Schlachthöfe<br />
der Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig mit Farben und Linien entlang der umkämpften<br />
Ausstellungswände abschlachren.» (Marinetti zit. nach Richter 1974, 65) Die Kritik bezog<br />
sich vor allem auf das Museum als bürgerliche Prestige- und Bildungsinstitution.<br />
17<br />
«Die Museen und die Musen - nur bedingt gehören sie zusammen. Sie findet in der Wahrnehmung<br />
statt, nicht an fixen Orten und in fixen Dingen. Die Kunst bewegt sich. Das Museum<br />
als Wächter der Werte und als Bastion fixiert: Ob «Schatzkammer» oder «Waffenkammer»,<br />
ob «Kunsthaus» oder «Zeughaus» - das Museum als konservierender, archivierender und<br />
ästhetisierender Ort und Hort betreibt eine Politik der Entschärfung der Dinge», schreibt zum<br />
Beispiel die Künstlerin Sylvia Breitwieser (1990, 47).<br />
18<br />
Das Zitat verweist auf die wiederkehrende Frage, von wo aus Strukturen besser zu bekämpfen<br />
seien: von innen oder von außen.<br />
19<br />
«Diese Aneignung des Rahmens als Teil der Aussage ist nicht neu, sie begann mit der<br />
Provokation Duchamps und endete vorläufig mit der subtilen musealen Weltsicht von Marcel<br />
Broodthaers.» (Szeemann 1981, 23).<br />
20<br />
Derzeit (Februar 1996) plant die O. Bundeskuratorin Stella Rollig eine Gruppenausstellung<br />
in Chicago, in der Künstler/innen ihren Status und ihre Situation als selbstreferentielle und<br />
institutionskritische Künstler/innen der neunziger Jahre reflektieren sollen.<br />
21<br />
Es gibt viele Theorien über den Beginn der Moderne. Ich orientiere mich an denen, die ihren<br />
Anfang im 19. Jahrhundert orten. Vorausgegangen war diesem die Herauslösung der Kunst<br />
aus sämtlichen profanen Zusammenhängen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Kunst war<br />
eine Welt an sich geworden, die eine Welt für sich schuf. Nicht nur Malraux sieht im Jahr 1947<br />
Manet als den Künstler, in dessen Werk sich der totale Bruch mit dem klassischen Zeitalter<br />
erstmals in Reinform manifestiert. (vgl. Malraux 1987)<br />
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22<br />
Die «Episteme» einer Zeit ist «das dem alltäglichen Wissen, der Wissenschaft und der Philosophie<br />
einer Epoche zugrundeliegende, kognitive Ordnungsschema» (Fink-Eitel 1989, 38) Foucault<br />
diagnostiziert zwei große Diskontimitaten in der Episteme der abendländischen Kultur:<br />
1. Renaissance: Ähnlichkeit<br />
2. (ab ca. 1650) Klassisches Zeitalter: Repräsentation<br />
3. (ab ca. 1800) Moderne: Mensch<br />
Die epistemischen Entwicklungen laufen nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich und<br />
über harte Brüche.<br />
23<br />
vgl. Boehm 1995, 23f<br />
24<br />
«Auf der archäologischen Ebene sieht man, daß das System der Positivitäten sich an der<br />
Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert auf massive Weise gewandelt hat. Das<br />
heißt nicht, daß die Vernunft Fortschritte gemacht hat, sondern daß die Seinsweise der Dinge<br />
und der Ordnung grundlegend verändert worden ist, die die Dinge dem Wissen anbietet,<br />
indem sie sie aufteilt.» (Foucault 1971, 25)<br />
25<br />
Die Legitimität für diesen Gedanken-Sprung hole ich mir von Foucault selbst. Ich verlasse<br />
seinen Denk-Zusammenhang in der «Ordnung der Dinge» für einen Moment, überspringe<br />
seine kompliziert entwickelte Kritik an den Humanwissenschaften, an denen er eine zweifelhafte<br />
Rationalität und letztlich auch Unwissenschaftlichkeit diagnostiziert, und begebe mich<br />
zu Foucaults eigener Hoffnung, den von ihm vorgeschlagenen «Gegenwissenschaften». Zu<br />
diesen zählt er neben der Ethnologie (Levi-Strauss), vor allem die Psychoanalyse (Lacan) und<br />
die Linguistik (v.a.Saussure). Mit ihnen denkend, will Foucault die humanwissenschaftliche<br />
Subjektphilosophie, die eine Subjcktzentrierung ist, überwinden.<br />
26<br />
Foucaults Strategie ist, Gefahren durch Analysen aufzudecken, um sie zu bekämpfen.<br />
27<br />
Mit der Konzeption von Sprache als Artikulation ist ein Grundproblem abendländischen<br />
Denkens berührt. Hermann Lang unterscheidet grundsätzlich zwei Traditionen: Da ist einmal<br />
jene Tradition «von Platon über Hegel bis zu Husserl und der neopositivistischen Philosophie,<br />
die Sprache, das Wort, als etwas Konzipiertes, das zu einer bereits bestehenden Idee, Vorstellung<br />
Bedeutung hinzutritt und diesem Vorgegebenen Ausdruck gibt. Auch Freud reiht sich in<br />
diese Tradition» (Lang 1986, II). Ihr gegenüber steht eine andere Tradition, «die vom ersten<br />
Satz des Johannes-Evangeliums und der aristotelischen Bestimmung des Menschen als desjenigen<br />
Lebewesens, das Sprache hat, über die Sprachwissenschaft Wilhelm von Humboldts<br />
bis zur philosophischen Hermeneutik Heideggers und Gadamers sowie zur Linguistik eines<br />
Whorf reicht» (Lang 1986, 11I). In dieser Tradition drückt Sprache nicht etwas Vorgegebenes<br />
aus, «ist vielmehr Artikulation für dieses Vorgegebene selbst, konstitutiv für menschliches<br />
Dasein überhaupt» (Lang 1986, 111, Hervorh. E.S.). In diese Tradition schreiben sich auch<br />
Foucault und die französischen Strukturalisten ein.<br />
28<br />
Magritte war, wie Gottfried Boehrn (1995, 29) konstatiert, sicherlich nicht daran interessiert,<br />
«erkenntniskritische Probleme mit den Mitteln der Malerei zu illustrieren. ... Es ging<br />
ihm darum, in der sichtbar gewordenen Lücke, dort wo die Differenz zwischen ikonischen<br />
Zeichen und bezeichneter Sache aufklafft, die Erfahrung einer entgrenzten, schlechterdings<br />
vorsprachlichen Wirklichkeit zu stimulieren. ... Er nennt diesen anderen Zustand der Realität<br />
das Mysterium. Seiner logischen Struktur nach ist er kein irrationaler Ausbruch, sondern jenes<br />
Ganze, das sich dann zeigt, wenn wir über die Grenzen von Bild und Sprache, vom Künstler<br />
kundig gelenkt, einen kurzen Blick hinaus tun. Die Störung der Referenz, die bis zur Kluft<br />
vertiefte Distanz von Wort und Bild bedeutet für Magritte (und darin ist er ein typischer<br />
Moderner) eine Erkenntnischance, eine Erweiterung der bekannten Welt.»<br />
29<br />
«... für das Reale, in welche Unordnung man es auch immer bringt, befindet es sich immer<br />
und in jedem Fall an seinem Platz, es trägt ihn (den Ort, den Platz, E.S.) an seiner Sohle mit<br />
sich fort, ohne daß es etwas gibt, das es aus ihm verbannen könnte» (Lacan 1973, 24).<br />
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309<br />
denkbar<br />
30<br />
«Die Geschichte des Wahnsinns wäre die Geschichte des Anderen, dessen, das für eine Zivilisation<br />
gleichzeitig innerhalb und außerhalb steht, also auszuschließen ist (um die innere Gefahr zu bannen),<br />
aber indem man es einschließt (um seine Andersartigkeit zu reduzieren).» (Foucault 1971, 27).<br />
31<br />
Auch in der Theorie versucht man, sich an dieses Reale, dieses Ek-sistierende heranzuschreiben,<br />
einen Begriff, ein Bild davon zu geben, eine symbolisch-visionäre Ahnung zu artikulieren<br />
von dem, was es sein könnte. Der Lacanianer Slovoi Zizek zum Beispiel versucht das «Reale»<br />
anhand einer Szene aus einem Science-fiction-Roman zu charakterisieren: In The Unpleasant<br />
Profession of Jonathan Hoag von Robert Heinlein fahren die beiden Protagonisten in ihrem<br />
Auto mit dem Auftrag, auf keinen Fall das Fenster ihres Wagens zu öffnen. Auf ihrer Fahrt<br />
passieren sie einen Unfall, bei dem ein Kind von einem Auto überfahren wurde. Zunächst<br />
beherrschen sie sich und lassen das Fenster geschlossen. Als sie aber einen Streifenpolizisten<br />
sehen, beschließen sie, es doch zu öffnen, um Bericht zu erstatten. Doch in dem Moment, als<br />
die Protagonistin das Fenster öffnet, ist außerhalb des Wagens - nichts. Sie sehen nichts, «als<br />
einen grauen, gestaltlosen Nebel, der langsam pulsierte, wie erfüllt von primitivem Leben.<br />
Durch den Nebel hindurch konnten sie nichts von der Stadt sehen, nicht weil er zu dicht war,<br />
sondern weil er leer war. Kein Geräusch war aus ihm zu hören; keine Bewegung zeigte sich in<br />
ihm. Er verschmolz mit dem Fensterrahmen und begann hereinzuströmen. ... Dieser graue und<br />
gestaltlose Nebel ..., was ist er anderes als das Lacanscbe Reale, das Pulsieren der präsymbolischen<br />
Substanz in ihrer horriblen Vitalität» (Zizek 1992a, 25f).<br />
32<br />
vgl. Widmer 1990, <strong>14</strong>5<br />
33<br />
«In dem Augenblick, in dem man sich darüber klar geworden ist, daß alle menschliche<br />
Erkenntnis, alle menschliche Existenz, alles menschliche Leben und vielleicht das ganze biologische<br />
Erbe des Menschen in Strukturen eingebettet ist, d.h. in eine formale Gesamtheit von<br />
Elementen, die beschreibbaren Relationen unterworfen sind, hört der Mensch sozusagen auf,<br />
das Subjekt seiner selbst zu sein. Man entdeckt, daß das, was den Menschen möglich macht, ein<br />
Ensemble von Strukturen ist, die er zwar denken und beschreiben kann, deren Subjekt, deren<br />
souveränes Bewußtsein er jedoch nicht ist.» (Foucault zit. nach Altwegg, Schmidt 1987, 86)<br />
34<br />
«In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen<br />
denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist<br />
nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich<br />
ist, zu denken.» (Foucault 1971, 4<strong>12</strong>)<br />
35<br />
Eine differenzierte Lektüre von Kunst-/ Museen mit der Foucaultschen Archäologie wäre<br />
eine eigene Untersuchung wert.<br />
36<br />
Ausgangspunkt für die hier erstellte Liste ist die «Qualitätenliste» von Brüderlin (1993, 43).<br />
Sie wurde von mir überarbeitet und um zwei Qualitäten erweitert.<br />
37<br />
Hielte man sich genau an die Gesetze der Semiologie, so wäre der Begriff der Artikulation,<br />
auf die Werke selbst bezogen, nicht ganz korrekt. So antwortet etwa Roland Barthes (1990,<br />
157) auf die Frage, ob Malerei (und andere Werke der Kunst) eine eigene Sprache wäre(n):<br />
«Bisher blieb ... die Antwort (in der Semiologie, E.S.) aus. Man war nicht imstande, das allgemeine<br />
Vokabular und die allgemeine Grammatik der :Malerei zu erstellen, die Signifikanten<br />
und die Signifikate des Bildes auseinanderzudividieren und ihre Substitutions- und Kombinationsregeln<br />
zu systematisieren.» Die Bestrebungen der klassischen Semiotik liefen bis jetzt<br />
darauf hinaus, «angesichts der Vielgestaltigkeit der Werke (Gemälde, Mythen, Erzählungen)<br />
ein Modell zu erstellen oder zu postulieren, von dem aus sich jedes Produkt in Begriffen der<br />
Abweichung definieren ließe» (Barthes 1990, 158). Man müßte diese strengen Gesetze der<br />
Semiologie verlassen, fordert Barthes und tut es auch.<br />
38<br />
Schränkt man künstlerische Artikulationen auf «Objekte» ein, so setzt man sich speziell in<br />
den neunziger Jahren leicht dem Vorwurf aus, reaktionär zu denken. «Kunst ist für mich ein<br />
sich permanent verändernder Begriff - durch den schnellen Schlagabtausch der Beteiligten»,<br />
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310<br />
formuliert etwa Ute Meta Bauer (1994, 426f), eine andere Stimmführerin des gegenwärtigen<br />
KunstDiskurses. «Mich ärgert, wenn die Museen und Institutionen den Kunstbegriff nachwievor<br />
auf das Bild / die Installation limitieren. Das stimmt doch so nicht mehr. Das ist reaktionärer<br />
denn je.» Wenn also hier vom «Objektstatus» die Rede ist, so bedeutet dies nicht eine<br />
Einschränkung des Kunstverständnisses auf Objekte. Zu bedenken bleibt allerdings auf der<br />
anderen Seite, daß der materielle Überrest, die reale Spur, das Objekt nach wie vor Qualitäten<br />
aufweisen, auf die man nicht so schnell verzichten wollen / können wird. (vgl. Fliedl 1995a;<br />
Fliedl, Pazzini 1994; Schwärzler 1992; u.a.m) Dazu mehr in Kapitel 111.<br />
39<br />
Umberto Eco verfolgt mit seinem Sender-Empfänger-Modell ein anderes Komrnunikations-<br />
und Wahrnehmungskonzept als die strukturale Psychoanalyse. Ersterer führt auch die<br />
klassische Trennung zwischen Subjekt und Objekt fort. Im Unterschied dazu wird zweitere,<br />
sich als Theorie des Subjekts darstellend, diese Zweiteilung unterlaufen.<br />
40<br />
Das «weiße Rauschen hat keine Information mehr, es ist die «undifferenzierte Summe aller<br />
Frequenzen»(Eco 1964,172).<br />
41<br />
Eco bleibt bei seinem Konzept der «Kontrolle»: «Vor dreissig Jahren ging es mir, auch<br />
ausgehend von Luigi Pareysons Interpretationstheorie, darum, eine Art von Oszillation oder<br />
instabilem Gleichgewicht zwischen Initiative des Interpreten und Werktreue zu definieren. im<br />
Lauf dieser dreißig Jahre haben manche sich zu sehr auf die Seite der Initiative des Interpreten<br />
geschlagen. Es geht jetzt nicht darum, einen Pendelausschlag in die entgegengesetzte Richtung<br />
zu vollführen, sondern noch einmal die Unausweichllchkeit der Oszillation zu betonen.» (Eco<br />
1992, 22, Hervorh. E.S.)<br />
42<br />
1994 hielt zum Beispiel der Theoretiker Martin Zeiller einen Vortrag über Künstlermuseen.<br />
Bei jedem Zitat, das er vorlas, winkte er mit einem Stofftaschentuch in der rechten Hand, als<br />
wollte er etwas Unsichtbares wegfächeln, das durch die Lektüre der Zitate entstanden war.<br />
43<br />
«Kunst nun – ganz allgemein gesprochen mit Gültigkeitsanspruch von etwa 1900 an -, was<br />
im einzelnen, im Besonderen erst erwiesen werden kann, setzt sich mit dem Problem der Repräsentation<br />
selber auseinander. Nicht zuletzt daraus, entsteht der Streit und die Schwierigkeit<br />
zu sagen, was denn Kunst sei. Wir haben aber Kenntnis davon, dass es solches gibt. Und die<br />
Kunst und der Streit darum zeigen es uns.» (Pazzini 1990, 19)<br />
44<br />
«Die Readv-mades stehen ausserhalb des Systems und konstituieren gleichzeitig das System.<br />
Malewitschs Schwarzes Quadrat und Picassos Demoiselles d’Avignon bestimmten das Feld<br />
der Malerei neu ... . Die Fontäne (oder der Flaschentrockner, ES.) aber legte die Strukturen<br />
offen.» (Wulffen 1994, 55)<br />
45<br />
Ich denke zum Beispiel an das Gemälde «Las Meninas» von Diego Veläsquez, 1656, Madrid<br />
Museo des Prado. Michel Foucaults (1971, 31 f) Analyse des Werkes als eines, welches das<br />
Ende der Repräsentation ankündigt und in dieser Weise seibstreferentiell genannt werden kann,<br />
löste eine Flut theoretischer Schriften aus. (vgl. Asemissen 1981; Schmeiser 1990; u.a.m.)<br />
46<br />
«Kunst lebt heute nicht mehr in den Werken, sondern durch die Kommunikation über die<br />
Produktionen, die Werke genannt werden. Die künstlerische Qualität ist dann abhängig von<br />
der Qualität der Kommunikation. Verantwortlich sind gerade Sie!» (Lingner 1991)<br />
47<br />
Die Frage, so Johannes Meinhardt (1993, 161), ist nicht mehr Was ist die Kunst, sondern<br />
Wo ist die Kamst. «Zu versuchen, den Raum der Kunst (und nicht mehr ihr Wesen) zu<br />
definieren, den Ort unserer Kultur, wo die Figur der Kunst sich erhebt, könnte uns wohl<br />
helfen, das zu sehen, was sie konstituiert, uns so eine Frage wie Was ist die Kunst aufknoten»<br />
(l.ebensztejn zit. nach Meinhardt 1993, 161) «Diese Forschung wird heute schon in der vierten<br />
künstlerischen Generation betrieben: Sie begann um 1915 mit Marcel Duchamp, wurde in den<br />
späten 60er Jahren von Daniel Buren und Marccl Broodthaers weitergetrieben, in den frühen<br />
80er Jahren von Louise Lawler und Allan McCollum auf das gesellschaftliche Phänomen<br />
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311<br />
denkbar<br />
Kunst generell ausgeweitet, und wird in den 90er Jahren von einer neuen Generation junger<br />
Künstler eingesetzt.» (Meinhardt 1993, 161)<br />
48<br />
«Ich beschäftige mich ... mit zwei Disziplinen», so etwa Karl-Josef Pazzini (19926, 40) «der<br />
Psychoanalyse und der Kunst- (Pädagogik), die ein gemeinsames Merkmal hahen: ihre Zwecklosigkeit<br />
oder Ziellosigkeit oder einen nicht-nutzenorientieren Gebrauch der Sprache. Dieses<br />
Charakteristikum haben sie mit Kunst gemeinsam.»<br />
49<br />
In beiden geht es um das ohen genannte prozessuale Wo (ist Kunst / Liebe) und das Wann<br />
(ist Kunst / Liebe), und weniger um das definitorische Was ( ist Kunst / Liebe).<br />
50<br />
In diesem Sinne ist es nicht nur immer wieder notwendig zu betonen, dass Kunst zu machen,<br />
ein Beruf ist wie jeder andere auch, sondern auch auf die Instrumentalisierung dieser<br />
leidenschaftlichen Artikulationsform zu verweisen. «... es kann gar nicht um eine Ontologie<br />
des Künstlerischen gehen, sondern um eine Analyse von Kunst innerhalb der verschiedenen<br />
gesellschaftlichen Felder. ... Nicht Funktionslosigkeit ist das Kriterium zeitgenössischer Kunst,<br />
wie die Modernisten immer so euphorisch behaupten, sondern wie diese technologische Funktionslosigkeit<br />
sozial und politisch instrumentalisiert, motiviert und bedingt wird.» (Draxler<br />
1993) Es geht also gerade nicht darum, das künstlerische Schaffen zu mystifizieren, sondern<br />
zu yersachlichen, ohne aber dessen spezifische Qualitäten aus den Augen zu verlieren.<br />
51<br />
Das oben dargestellte Ecosche Modell vom permanenten Bruch mit herrschenden Codes in<br />
der Moderne erscheint hier aus einem anderen Licht.<br />
52<br />
Nocheinmal zeigt sich der Unterschied zwischen Marc Le Bot und Umberto Eco. Bei letzterem<br />
bleiben Subjekt und Objekt getrennte Entitäten.<br />
53<br />
Michel de Certeau (1925–1986), Historiker und Spezialist für Mystik. Mitglied der Ecole<br />
freudienne seit ihrer Gründung. Philosoph, Linguist, Ethnologe, Soziologe.<br />
54<br />
Peter Bichsel, geb. 1935 in Luzern, ist Schriftsteller.<br />
55<br />
Wolfgang Kemp (1992) will eine «Geschichte der Kunstbetrachtung» aus der «Geschichte<br />
der Institutionen» entwickeln. Die Rezeptionsästhetik arbeitet eng mit der Wahrnehmungspsychologie<br />
zusammen und entwickelt eine «Betrachterforschung°, welche Rückschlüsse auf<br />
das Rezeptionsverhalten ermöglichen soll.<br />
56<br />
Der Poststrukturalismus, der sich Ende der siebziger Jahre in Frankreich entwickelte, ist zunächst<br />
«Diskursanalyse und Diskurskritik; revolutionäre: Möglichkeiten sehen Poststrukturalisten vor<br />
allem in der Revolution des Diskurses, im subversiven Sprechen und Schreiben» (Schiwy 1985, 17).<br />
57<br />
Der Unterschied zwischen Sprechen und Schreiben wird an anderer Stelle noch genauer<br />
(Kapitel IV) erläutert.<br />
58<br />
«In seinem ursprünglichen Sinn lässt sich das Verbum bricoler auf Billard und Ballspiel, auf<br />
Jagd und Reiten anwenden, aber immer, um eine nicht vorgezeichnete Bewegung zu betonen:<br />
die des Balles, der zuspringt, des Hundes, der Umwege macht, des Pferdes, das von der geraden<br />
Bahn abweicht, um einem Hindernis aus dem Weg zu gehen.» (Levi-Strauss 1989, 29f)<br />
59<br />
«Postmoderne / Poststrukturalismus bestanden ja gegenüber einem hierarchischen Denken<br />
auf einem topologiscben (Lyotard) oder geographiscben (Foucault), z.B. darauf, dass die Wissenschaft<br />
keine ausgezeichnete Erkenntnisweise gegenüber Literatur sei. Feststellungen, hinter<br />
die ich keineswegs zurück will, dennoch hat dieses Denken zu immer mehr Offenheit, immer<br />
mehr eklektizistischer Beliebigkeit, immer mehr Nivellierung und Kriterienverlust geführt.»<br />
(Terkessidis 1992, 94) Die Gefahren, auf welche Terkessidis hier hinweist, sind nicht zu leugnen.<br />
Die Qualität des Diskurses von Roland Barthes ist hoch. Dennoch sollte das Kind nicht<br />
mit dem Bade ausgeschüttet werden, gerade nicht mit dem verdeckten oder offenen Argument<br />
der versuchten Rückgewinnung einer letztlich und einzig gültigen legitimen Sprache.<br />
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313<br />
denkbar<br />
7<br />
Mieke Bal<br />
Sagen, Zeigen, Prahlen 1<br />
Für »A« in liebendem Angedenken<br />
Umgebung als Bild, Natur als Zeichen<br />
New York City – in vieler Hinsicht das Herz und die Ikone der<br />
amerikanischen Kultur – gibt dem Flanierenden die Möglichkeit,<br />
die semiotische Aufladung der Umgebung auf sich einwirken zu<br />
lassen. Mit ihrer Zentralachse, die zentripetal auf ihr grünes Herz<br />
hinlenkt, das an die von ihr selbst verdrängte unentbehrliche<br />
Natur erinnert, mit ihren gewaltigen, den Park entlang verlaufenden<br />
Hauptstraßen artikuliert schon die Gestalt der City die<br />
Wichtigkeit eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Hintergrund<br />
und Figur, zwischen Gesamtplan und Einzelheiten sowie<br />
zwischen Organisation und Spontaneität.<br />
Dem Touristen, der von Downtown her nach Manhattan<br />
kommt, fällt es vielleicht nicht einmal auf, wie klar die Symmetrie<br />
in der Mitte der Stadt ist: Auf jeder Seite des Central Park, diesem<br />
Zeichen eines unentbehrlichen, domestizierten Reservats der<br />
Natur-in-der-Kultur, liegt eines der beiden Hauptmuseen – Reservate<br />
der Kultur und der Natur. Die Symmetrie gilt ebenso wie der<br />
sie tragende rationale Grund als selbstverständlich. Der Stadtplan<br />
selbst verweist auf Elemente des Lebens der Stadt.<br />
Zur Rechten, auf der eleganteren East Side, liegt das Metropolitan<br />
Museum of Art, auch MMA oder Met genannt: die Schatzkammer<br />
der Kultur. Die große Kunst der Welt wird hier gehortet<br />
und ausgestellt, und das mit einer quantitativen wie auch ausstellerischen<br />
Betonung der Kunst des europäischen Abendlands, als<br />
sollte damit eine ästhetische Basis für die in dieser Gesellschaft<br />
herrschenden sozialen Strukturen zur Geltung gebracht werden.<br />
Dadurch wirkt die den Park umgebende Welt nachgerade normal. 2<br />
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3<strong>14</strong><br />
Das Museum entspricht allen von seiner eigenen sozialen Umgebung<br />
gesetzten Prioritäten: Die westeuropäische Kunst dominiert,<br />
die amerikanische Kunst kommt an zweiter Stelle gut weg – ein<br />
weniger gewichtiger Verwandter, der heranwächst, indes Europa<br />
verfällt –, während die parallele Behandlung der buchstäblich im<br />
Dunkeln aufbewahrten »archaischen« und »fremden« Kunst von<br />
Mesopotamien bis Indien mit der Bedeutung kontrastiert, die man<br />
der »Antike«, den Griechen und Römern, als Vorläuferin zubilligt.<br />
Der Gesamteindruck ist einer der vollständigen Verfügung, des<br />
Besitzens und Hortens: Das Met hat die Kunst der Welt innerhalb<br />
seiner Mauern, und seine Besucher haben sie in der Tasche.<br />
Die West Side hat, heute zumindest, weniger »Klasse«. Auf der<br />
linken Seite des Parks steht das American Museum of Natural<br />
History (AMNH). Um zehn <strong>Uhr</strong> morgens ist Gelb die vorherrschende<br />
Farbe in der Umgebung. Zu dieser Zeit entlassen die zahllosen<br />
Schulbusse jene lärmenden Kindergruppen, die das Museum<br />
besuchen, um etwas über das Leben zu erfahren. Eine 1984 veröffentlichte<br />
und 1990 unter dem ein wenig bombastischen Titel<br />
Official Guide to the American Museum of Natural History wieder<br />
aufgelegte Broschüre liegt im Museum zum Verkauf aus und<br />
sorgt dafür, dass die Bedeutung, die dieser Institution auf dem<br />
Stadtplan zukommt, vom Publikum nicht unterschätzt wird. Der<br />
Anfang dieser Broschüre lautet: Das amerikanische Museum für<br />
Naturgeschichte, ein Komplex aus großen Granitgebäuden mit<br />
Türmen, die Aussicht auf die Westseite des Central Park gewähren,<br />
breitet seit über einem Jahrhundert seine Wunderdinge vor<br />
einem dankbaren Publikum aus. Die hier aufbewahrten Schätze<br />
bezaubern jedes Jahr Millionen von Besuchern und werden von<br />
hiesigen Wissenschaftlern wie von Gastforschern aus der ganzen<br />
Welt studiert. Mit diesem Museum wurde der Menschheit und<br />
der Natur ein Denkmal gesetzt. Es belehrt, gibt Anregungen und<br />
liefert eine solide Grundlage für das Verständnis unseres Planeten<br />
und seiner verschiedenen Bewohner. 3<br />
Der Guide hat gar keine Ähnlichkeit mit einem richtigen Führer. Die<br />
Broschüre enthält weder Raumverteilungspläne noch ein Verzeich-<br />
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315<br />
denkbar<br />
nis der Ausstellungsstücke; sie schlägt weder einen Weg durch die<br />
Räume vor, noch zeichnet sie sich durch einen Katalog aus. Der Akzent<br />
liegt auf einer Selbstpräsentation, die darstellt, in welche Richtung<br />
die Ambitionen dieser Einrichtung vor allem gehen. Nimmt<br />
man die Broschüre als Symptom des Selbstgefühls dieses Museums,<br />
frappiert insbesondere das insistierende Gebaren. 4 Dieses grandiose<br />
Bild des Museums wird offenbar nicht einfach vorausgesetzt. Die<br />
emphatische und wiederholte Darstellung der Ambitionen dieser<br />
Institution signalisiert ein gewisses Unbehagen hinsichtlich der eigenen<br />
Stellung, einen Mangel an Selbstverständlichkeit, dem ebenjene<br />
Konflikte innewohnen, aus denen sie hervorging und in deren<br />
Rahmen sie steht: Sie ist nicht fest angesiedelt.<br />
An diesem Unbehagen ist nichts Verwunderliches: In einer Zeit<br />
des Postkolonialismus werden wir hier mit einem Produkt des<br />
Kolonialismus konfrontiert. Die Vergangenheit kollidiert mit der<br />
Gegenwart, zu der sie ebenfalls gehört und aus der sie nicht herausoperiert<br />
werden kann, obwohl sie im Inneren der Gegenwart<br />
als Sonderling weiterbohrt. Auf dem Wege einer Erkundung der<br />
das Ausstellen betreffenden Fragen werden die Unruhe im Wesen<br />
dieses Monuments der ruhigen Besiedlung und die Verfahren der<br />
Auseinandersetzung damit im vorliegenden Kapitel thematisiert.<br />
Diese monumentale Institution beherbergt das »Andere« des<br />
Met in dreierlei Hinsichten, deren jede etwas Paradoxes hat.<br />
Erstens ist sie nicht der Kultur, sondern der Natur gewidmet.<br />
Dennoch wird die Natur mit dem fundamentalen, definierenden<br />
Merkmal der Kultur ausgestattet: mit Geschichte. Zweitens haben<br />
in diesem Museum die Tiere Vorrang und werden in ihrer »natürlichen«<br />
Umgebung vorgeführt, deren Darstellung mit grösstem<br />
künstlerischem Können gestaltet ist. Die natürliche Umgebung<br />
ist der Hintergrund des Tierreichs. Doch daneben gibt es einige<br />
Räume, die Völkern gewidmet sind, den Völkern Asiens, Afrikas,<br />
Ozeaniens und den Ureinwohnern Amerikas. Das sind genau die<br />
Völker, deren künstlerische Hervorbringungen im Met in abgelegenen<br />
und dunklen Sälen ausgestellt werden. Dabei handelt es<br />
sich um die »exotischen« Völker, von denen Werke produziert<br />
wurden, die wir nur zögernd, unseres Urteils ungewiss, als Kunst<br />
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316<br />
einstufen. Hier werden diese Werke als Artefakte ausgestellt und<br />
bleiben somit streng auf der anderen Seite des von Clifford dargelegten<br />
Kunst-Kultur-Systems. 5<br />
Das Nebeneinander der Kulturen dieser Völker und der Tiere<br />
ist konstitutiv für den Konflikt im Innersten dieses Museums und<br />
unterscheidet es von seinem unangezweifelt elitären Kollegen jenseits<br />
des Parks. Durch ebendiese Teilung des Stadtplans wird der<br />
allgemeine Begriff »Menschheit« mit spezifischem Sinn erfüllt.<br />
Die Aufteilung von »Kultur« und »Natur« auf das östliche bzw.<br />
westliche Manhattan degradiert die grosse Mehrheit der Weltbevölkerung<br />
in den Rang statischen Daseins und billigt ihr im Rahmen<br />
der Geschichte nur einen geringen Anteil am höheren Status<br />
der Kunstproduzenten zu. Während die in den Schaukästen ausgestellte<br />
»Natur« im Stillstand erstarrter Hintergrund ist, wird<br />
die »Kunst« im Met als unabänderliche Entwicklung präsentiert<br />
und mit Geschichte ausgestattet. Aber auch das AMNH führt<br />
eine Geschichte vor, nämlich die Geschichte der Fixierung, der<br />
Leugnung der Zeit. Seine eigene Geschichte. 6<br />
Doch im Rahmen der Darstellung dieser fremden Völker<br />
nimmt die Ausstellung der künstlerischen Produktion einen<br />
wichtigen Platz ein. Die Artefakte fungieren als Indizes der<br />
Kulturen, deren Strukturen und Lebensweisen vom früheren<br />
(hauptsächlich früheren) und gegenwärtigen Personal des Museums<br />
aufwendig gestaltet wurden. Ihre Kunstwerke jedoch<br />
verweisen nicht auf die Kunst jener Völker, sondern auf den<br />
Realismus ihrer Darstellung. Sie dienen einem »Effekt des Realen«,<br />
einem Effekt, bei dem die Bedeutung »realistisch« die<br />
Oberhand gewinnt über die spezifischen Bedeutungen. 7 Anstatt<br />
wie auf der Ostseite des Parks als zu ästhetischen Objekten verarbeitete<br />
Artefakte zu gelten, sind sie als Natur interpretierte<br />
Indizes. 8 Das AMNH beherbergt das Andere des Met auch in<br />
diesem dritten Sinn: Es stellt Kunst als Natur aus, denn wenn<br />
es sich erweist, dass die »Natur« schwer zu isolieren ist, kommt<br />
die »Kunst« zu Hilfe, allerdings als Dienerin der Natur. Während<br />
das Met Kunst um der Kunst willen als Höhepunkt der<br />
Errungenschaften des Menschen ausstellt, zeigt das AMNH<br />
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317<br />
denkbar<br />
Kunst als instrumentelles, kognitives Werkzeug: als anonym,<br />
notwendig, natürlich.<br />
Diese Exposition – im umfassenderen, allgemeinen Sinn von<br />
»einen Gedanken exponieren« wie auch im spezifischen Sinn von<br />
»ausstellen« – zeigt auf Objekte und macht im Vollzug dieser Gebärde<br />
eine Aussage. Der konstative Sprechakt übermittelt einen<br />
»Text«, der aus dem zusammengesetzten Satz »Diese Artefakte<br />
sind natürlich (im Gegensatz zu künstlerisch)« plus »Dies (diese<br />
Auffassung) ist real« besteht. Hoffentlich wird es mir gelingen,<br />
diesen Text weiter zu analysieren und in seine »Teilsätze«, wie ich<br />
sie 1991 bei meinem Besuch las, zu zerlegen.<br />
Wer spricht<br />
Ein erstes Element, das zutage gefördert werden muss, ist das unsichtbare<br />
»Ich«, das Subjekt des Texts, jenes schwer fassbare deiktische<br />
Element, das ausserhalb der diskursiven Situation selbst<br />
keine Bedeutung hat. Zunächst möchte ich mit Nachdruck auf<br />
die falsche Antwort hinweisen, die sich hier einschleichen könnte:<br />
Der expositorische Akteur ist nicht mit den Kuratoren und dem<br />
übrigen Museumspersonal identisch. Die Leute, die derzeit in Museen<br />
arbeiten, sind bloss ein winziges Bindeglied in einer langen<br />
Kette von Subjekten.<br />
Das amerikanische Museum für Naturgeschichte hat nicht<br />
nur in puncto Architektur und Gestaltung etwas Monumentales,<br />
sondern auch im Hinblick auf Grösse, Umfang und Inhalt. Diese<br />
Monumentalität verweist schon als solche auf die Hauptbedeutung<br />
des Museums, die es aus seiner Geschichte geerbt hat:<br />
umfassende Sammeltätigkeit im Rahmen des Kolonialismus. 9 In<br />
dieser Hinsicht gehören Museen einer von der Renaissance bis ins<br />
frühe zwanzigste Jahrhundert reichenden Zeit wissenschaftlicher<br />
und kolonialer Ambitionen an, die ihren Höhepunkt in der zweiten<br />
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erlebte. Sie gehören zur<br />
selben Kategorie wie gleichzeitige Bemühungen auf Gebieten wie<br />
etwa experimentelle Medizin (Claude Bernard), Theorien der biologischen<br />
Evolution (Charles Darwin) und der naturalistische Roman<br />
(Emile Zola) und sind, ebenso wie diese, mit dem Anspruch<br />
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318<br />
aufgetreten, eine umfassende Untersuchung des gesellschaftlichen<br />
Bereichs vorzulegen. Derartige Projekte sind durch die postromantische<br />
Kritik, den postkolonialen Protest und die postmoderne<br />
Desillusionierung endgültig kompromittiert worden. 10<br />
Doch diese beunruhigende Vorsilbe »post-« macht die Dinge<br />
nicht leichter. Jedes Museum dieser Grösse und mit derartigen<br />
Bestrebungen trägt heutzutage die Last eines doppelten Status.<br />
Unweigerlich ist es zugleich ein Museum des Museums, ein Reservat<br />
– allerdings nicht für gefährdete natürliche Arten, sondern<br />
für ein gefährdetes kulturelles Selbst –, ein Metamuseum. 11 Ein<br />
solches Museum regt nolens volens zu Reflexionen über seinen<br />
eigenen ideologischen Standort an, die auch ebendiesen Standort<br />
widerspiegeln. Es spricht seine eigene Mitschuld an Herrschaftspraktiken<br />
an, während es zugleich an einem Erziehungsprojekt<br />
weiterarbeitet, das, nachdem es aus jenen Praktiken hervorgegangen<br />
ist, neuen Auffassungen und pädagogischen Bedürfnissen angepasst<br />
worden ist. Ja, in den Selbstdarstellungen des Museums,<br />
zu denen auch der Guide gehört, wird sein Nutzen für Forschung<br />
und Bildung herausgestrichen. Somit beginnt das »Ich« auf sich<br />
selbst zu zeigen.<br />
Es kann leicht passieren, dass die Kritik am Sammelgedanken<br />
des neunzehnten Jahrhunderts ihren Zweck verfehlt, wenn es ihr<br />
misslingt, die weit zurückliegende Vergangenheit – die viktorianische<br />
Zeit als schlechtes Gewissen des ausgehenden zwanzigsten<br />
Jahrhunderts – mit der Gegenwart zu konfrontieren, deren Bindungen<br />
an das, was sie der Kritik unterzieht, ebenfalls einer Bewertung<br />
bedürfen. Das ist das Missliche an der Vorsilbe »post-«<br />
wie an den Fächern, denen es um eine Archäologie des Sinns geht.<br />
Einerseits suggeriert die Vorsilbe eine gewisse Ablösung, ein Durchschneiden<br />
der Nabelschnur, die unsere Zeit mit der Geschichte verbindet,<br />
andererseits erinnert sie uns an das, was sie hinter sich lässt,<br />
und pocht darauf, dass wir mit dem »post-« in uns selbst ins reine<br />
kommen. <strong>12</strong><br />
Hier werde ich also den metamusealen Status der Schaustücke<br />
im AMNH betrachten, wie ich sie dort vorfand, wo der Gestus<br />
des Ausstellens auf den Inhalt des Satzes stösst; wo das Museum<br />
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319<br />
denkbar<br />
als expositorischer Akteur seine Karten aufdeckt, indem es das<br />
Andere zeigt. Die Analyse lässt sich auf den jetzigen Museumsdiskurs<br />
ein und sondiert, was er heute zu leisten vermag. Im Brennpunkt<br />
steht nicht das koloniale Projekt des neunzehnten Jahrhunderts,<br />
sondern das pädagogische Unterfangen des zwanzigsten.<br />
Und während Donna Haraway die Art und Weise beschrieben<br />
und kritisiert hat, in der die Sammlung früher zusammengestellt<br />
wurde, werde ich die Rhetorik betrachten, deren sich das Museum<br />
bedient, wenn es das Erbe jener einstigen Ambitionen rechtfertigt<br />
oder in verkleideter Form weitergibt, also seine Formen der<br />
Anrede in der Gegenwart: Dort, wo das »Ich« dem »Du« sagt,<br />
was es mit »ihnen« auf sich hat.<br />
Der Museumsraum setzt einen Spazierweg voraus, eine Reihenfolge,<br />
in der die Schaukästen, Exponate und Tafeln angeschaut<br />
und gelesen werden. Damit redet es einen impliziten Fokalisator<br />
an, dessen Weg die Geschichte des aufgenommenen und<br />
nach Hause mitgenommenen Wissens hervorbringt. Ich für mein<br />
Teil konzentriere mich auf die Ausstellung als in dem Bereich<br />
zwischen Visuellem und Verbalem sowie zwischen Information<br />
und Überredung fungierendes Zeichensystem, das dabei den lernenden<br />
Spaziergänger erzeugt. Meine Analyse beschränkt sich im<br />
wesentlichen auf einen kleinen Teil des zweiten Stockwerks.<br />
Das offensichtliche Problem des AMNH ist die in seinem expositorischen<br />
Diskurs vollzogene Zusammenstellung von Tieren und<br />
fremden Völkern als den beiden Anderen der vorherrschenden<br />
Kultur. Die visuellen Exponate sprechen den Besucher in einer<br />
Weise an, die über das bloss Infomierende hinausgeht, und auf<br />
diesen Überschussdiskurs möchte ich mich hier konzentrieren.<br />
Ebenso ist eine »Zusammenstellung« mehr als ein bloßes visuelles<br />
Nebeneinander. Indem die Schaustücke im gleichen Zusammenhang<br />
über Tiere und fremde Völker reden, übermitteln sie eine<br />
Unterscheidungsideologie, der diese Verschmelzung als Zeichensystem<br />
dient. 13 Nach meiner These verlangt die doppelte Funktion<br />
des Museums als Ausstellung seines eigenen Status und der<br />
eigenen Geschichte (Metafunktion) sowie als Ausstellung seiner<br />
bleibenden kognitiven, pädagogischen Berufung (Objektfunkti-<br />
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on), dass dieses kritische und historische Bewusstsein absorbiert<br />
wird und in die Ausstellung eindringt.<br />
Dieser doppelte Auftrag zieht einen besonderen Austausch<br />
zwischen verbalem und visuellem Diskurs nach sich. Man könnte<br />
folgendes erwarten: Während die visuellen Exponate – die Schaukästen,<br />
die den Grossteil der »Schätze« des Museums ausmachen<br />
– als Objekte der Metafunktion des Museums erhalten bleiben<br />
müssen, würden die leichter anpassbaren und offenbar tatsächlich<br />
angepassten Tafeln mit ihren verbalen Erklärungen und Informationen<br />
sowie der offizielle Museumsführer die ausgestellten<br />
Stücke kritisch vorstellen. Gerade im Zeichensystem der Texttafeln<br />
liegt das Glück des Museums: Es bietet genügend Spielraum<br />
für Veränderungen.<br />
Wenn man das »Ich« – den expositorischen Akteur, der diesen<br />
Text »spricht« – offenkundig macht, so bedeutet das, dass man<br />
die Wechselwirkung zwischen visueller und sprachlicher Darstellung<br />
so umgestaltet, dass man die eine mit einem Kommentar über<br />
die andere ausstattet. Durch eine solche Veränderung können die<br />
Ausstellungsstücke auf ihren eigenen Diskurs als etwas nicht Natürliches<br />
– als ein von einem Subjekt vorgeführtes Zeichensystem<br />
– verweisen. Und während die Texttafeln tatsächlich ein Bewusstsein<br />
von den brennenden Fragen der Gegenwartsgesellschaft erkennen<br />
lassen, möchte ich im Rahmen dieser Analyse nicht nur<br />
den Erfolg zur Kenntnis nehmen, sondern auch das Misslingen<br />
– das Fehlen der Einbeziehung einer schärferen und expliziteren<br />
Selbstkritik und das statt dessen gegebene Vorhandensein eines<br />
apologetischen Diskurses. Bei der Lektüre der Ausstellung werden<br />
so wichtige, aber aus semiotischer Perspektive Kontingente<br />
Aspekte wie personelle, materielle und finanzielle Zwänge, Forderungen<br />
der Aufsichtsgremien und der Sponsoren sowie der Zustand<br />
des Gebäudes vorsätzlich ausgeklammert. Die Frage »Wer<br />
spricht« wird nicht zu einem Namen, einem Sündenbock oder<br />
einem moralischen Urteil hinführen, sondern hoffentlich zur Einsicht<br />
in kulturelle Prozesse.<br />
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denkbar<br />
Asiatische Säugetiere. Die Politik des Übergangs<br />
Wendet sich die Besucherin auf der Central-Park-West-Seite in der<br />
Nähe des Roosevelt-Ehrenmals nach links, betritt sie den Saal der<br />
asiatischen Säugetiere (siehe Abbildung 1).<br />
Abbildung 1:<br />
Plan des zweiten Stocks, American<br />
Museum of Natural History, New York<br />
(Informationsbroschüre, hg. 1991).<br />
Hier ist sie umgeben von Vitrinen mit Tieren, deren Fremdheit<br />
schon längst von jenem noch »natürlicheren« Museum – dem<br />
Zoo – in den Schatten gestellt wurde. Dort stehen die Tiere vor<br />
einem gemalten Hintergrund, wie man ihn von Postkarten her<br />
und aus Geographiebüchern kennt. Der Realismus der Vitrinen ist<br />
beeindruckend. Unterstützt wird die realistische Rhetorik durch<br />
die relative Dunkelheit des Saals, die die Besucher füreinander<br />
unsichtbar macht, während die Schaukästen von innen beleuchtet<br />
sind. Offensichtlich ist die Dunkelheit aus konservatorischen<br />
Gründen notwendig. Zur gleichen Zeit trägt sie die Wirkung eines<br />
Berichts in der »dritten Person« und rückt das Objekt buchstäblich<br />
ins Licht, während das Subjekt in Dunkel gehüllt wird. Hier<br />
gibt es eine Spannung zwischen Normalität und Fremdheit, vielleicht<br />
eine Paradoxie, die dem Museum als Ganzem innewohnt.<br />
Die Ausstellung schwankt zwischen dem Versuch, die Realität<br />
vermittels einer Ästhetik des Realismus als natürlich hinzustellen,<br />
und dem Versuch, die Wunder der Natur vermittels einer Ästhetik<br />
des Exotischen vorzuführen. <strong>14</strong><br />
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322<br />
Ebenso wie in den anderen Sälen spürt man auch hier ganz<br />
deutlich die Zweischneidigkeit im Expositionsdiskurs des<br />
AMNH: Die nach Vollendung strebende Nachahmung der Natur<br />
(»Sieh her! Genauso ist es!«) rückt sich durch ebendiese Zielsetzung<br />
(»Das zeige ich dir!«) in den Vordergrund. Andere und weniger<br />
auffällige Elemente, potentielle Sprechakte, stehen in einem<br />
Spannungsverhältnis zu dieser Hauptsache. Die geschickte, aber<br />
rigoros künstliche Malerei, das Schutzglas, die säuberliche Trennung<br />
der Arten und die im Vergleich mit den Tieren beschränkte<br />
Grösse der Umgebung machen einem ständig bewusst, dass es sich<br />
bei dieser »Natur« um eine Darstellung handelt.<br />
Aber der Effekt des Realen versöhnt die beiden Diskurse miteinander.<br />
Das ist eine Form der »Wahrheitsrede«, jenes Diskurses,<br />
der die Wahrheit, der sich der Betrachter unterwerfen soll, in Anspruch<br />
nimmt, indem er die bereitwillige Ausserkraftsetzung des<br />
Zweifels, welche die Macht der Fiktion regiert, gutheisst. Für den<br />
Besucher, der durch diesen Saal eintritt, legt der Diskurs des Realismus<br />
die Bedingungen fest, unter denen der Vertrag zwischen Betrachter<br />
oder Leser und Museum oder Geschichtenerzähler gilt.<br />
Am anderen Ende dieses Raums öffnet sich die Tür zum Saal<br />
der asiatischen Völker. Im Rahmen des im Saal der asiatischen<br />
Säugetiere erzielten mimetischen Erfolgs des Realismus wirkt der<br />
Übergang von dieser kulturell aufbereiteten »Natur« zur Kultur<br />
als Natur – von den Säugetieren zu den Völkern – natürlich zuinnerst<br />
problematisch. Das offenkundigste Problem ist das Nebeneinander<br />
von Tieren und fremden menschlichen Kulturen. Die<br />
Zugangstür zwischen den beiden Sälen ist als Schwelle semiotisch<br />
aufgeladen. An dieser Schwelle macht der Unterschied zwischen<br />
kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart verschiedene<br />
Sinnstiftungen möglich.<br />
Im Fall dieser beiden asiatischen Abteilungen gibt es ein Zeichen<br />
für ein Bewusstsein von der Notwendigkeit eines Übergangs.<br />
Die Ebene der Signale erreicht es aber nicht, sondern es bleibt auf<br />
der Ebene der Symptome. Registriert wird dieser Übergang von<br />
einem kleinen Schaustück, das sich im Saal der asiatischen Säugetiere<br />
am äussersten rechten Ende – zwischen dem indischen Rhi-<br />
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denkbar<br />
Abbildung 2:<br />
Königin Maya, Buddha aus ihrer Seite<br />
gebärend, nepalesische Bronze, 19.<br />
Jahrhundert, Saal der Asiatischen Säugetiere,<br />
American Museum of Natural<br />
History. Photo: Mieke Bal.<br />
nozeros auf der Linken und dem Wasserbüffel auf der Rechten –<br />
befindet. Im Gegensatz zu den grossen Schaukästen enthält diese<br />
kleine Vitrine nur ein einziges Stück. Schwarz vor orangefarbigem<br />
Hintergrund steht hier eine nepalesische Statue aus dem neunzehnten<br />
Jahrhundert. Sie trägt den Titel »Königin Maya gebärt<br />
den Buddha aus der Seite ihres Körpers« (Abbildung 2). Sie stellt<br />
eine elegant geformte, von schmückenden Ornamenten umgebene<br />
Frau dar. Irgendwie passt sie nicht zu den übrigen Ausstellungsstücken<br />
dieses Saals.<br />
Die Texttafel unter der Vitrine enthält Schlüsselbegriffe, die<br />
den Übergangsstatus der ausgestellten Statue weiter ausformulieren:<br />
Königin Maya gebärt den Buddha aus der Seite ihres Körpers,<br />
Bronzestatue aus Nepal, 19. Jahrhundert Nach volkstümlicher<br />
Überlieferung wurde Gautama, der historische Buddha, von der<br />
Königin Maya von Kapilavastu geboren, nachdem sie von einem<br />
weißen Elefanten besucht wurde, der dreimal um ihr Bett lief und<br />
dann zum Himmelsgebirge zurückkehrte. Der Buddhismus, eine der<br />
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324<br />
Hauptreligionen Asiens, kennt viele Geschichten über frühere Leben<br />
Buddhas als mitleidvoller Seele im Körper von Tieren. Infolgedessen<br />
sind die Angehörigen vieler buddhistischer Sekten Vegetarier.<br />
Die verbale Präsentation ist durchgängig anthropologisch. Der<br />
Zweck dieser Ausstellung bleibt klar unterschieden von den Darbietungen<br />
des auf der anderen Seite des Parks gelegenen Museums<br />
für hohe Kunst. Die Schauvitrine enthält ein Artefakt, das sich<br />
von einem »niedrigen« Zeitpunkt in der Geschichte der buddhistischen<br />
Kunst herschreibt. Niedrig ist er, weil sich die Zeit der<br />
Verfertigung mit der Zeit des Erwerbs deckt: Die Figur stammt<br />
aus dem neunzehnten Jahrhundert. Dieses zeitliche Zusammenfallen<br />
nimmt dem Artefakt jene historische Patina und Seltenheit, die<br />
Voraussetzungen sind für den Status der hohen Kunst. Typischerweise<br />
gibt es keinen Hinweis auf den Stil, wie er sich im Met fände.<br />
Ausserdem wird die Figur wohlüberlegt als ein in der »volkstümlichen<br />
Überlieferung« – dem namenlosen Anderen der elitären<br />
Individualkunst – verankerter Gegenstand präsentiert. Aus Kunst<br />
wird so ein anthropologisches Zeugnis einer zeitlosen Kultur. 15<br />
Der die Statue begleitende sprachliche Text rahmt sie gründlich<br />
in ihre spezifische Übergangsfunktion ein. Durch eine textnahe<br />
Lektüre wird das klar. Die Erwähnung des weissen Elefanten<br />
bringt das tierische Element ins Spiel und rechtfertigt so die absonderliche<br />
Zusammenstellung dieses Artefakts mit der »Natur«,<br />
mit den in ihre Umgebung eingefügten Tieren im Saal. Blickt der<br />
Besucher zurück, bemerkt er, dass der Statue gegenüber das Zentralstück<br />
des Saals steht: zwei lebensgrosse graue Elefanten mit<br />
weissen Stosszähnen. Die historische Information bezüglich der<br />
buddhistischen Mythologie betont den Unterschied gegenüber dem<br />
Christentum hinsichtlich der polytheistischen Tendenz (»viele Geschichten«)<br />
der Seelenwanderungslehre und dient der Erklärungsfunktion,<br />
die im Rahmen der wissenschaftlich-pädagogischen<br />
Berufung des Museums eine überaus wichtige Rolle spielt. Aus<br />
der Dichte der Sprache ergibt sich jedoch, dass hier mehr geboten<br />
wird als eine blosse Erklärung. Polytheismus ist im Abendland ein<br />
vielsagender Begriff. Der Buddhismus mag zwar »eine der Hauptreligionen<br />
Asiens« sein, aber das im folgenden Satz gebrauchte<br />
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325<br />
denkbar<br />
Wort »Sekten« gilt in einer Kultur, deren vorherrschende Ideologie<br />
monotheistisch geprägt ist, als pejorativ. Diese pejorative<br />
Konnotation wird durch den Plural des Worts akzentuiert. Das<br />
zu der kunterbunten Geschichte hinzukommende Wort »Sekten«<br />
entfremdet die buddhistische Kultur dem westlichen Betrachter<br />
noch mehr. Doch das offizielle Explanandum dieser Aussage ist<br />
der buddhistische Vegetarismus, und da mag man sich wirklich<br />
fragen, welche Relevanz dieses anthropologische Merkmal im Zusammenhang<br />
mit dem Saal der asiatischen Säugetiere hat.<br />
Wie sich herausstellt, ist dieses Merkmal höchst relevant – allerdings<br />
nicht im Hinblick auf die asiatischen Säugetiere, sondern<br />
im Hinblick auf die amerikanischen Pädagogen und die Funktion<br />
der Anthropologie. Anthropologie ist überall im AMNH als unbezweifelte<br />
Ergänzung der Biologie präsent. Der Saal der Völker<br />
des pazifischen Raums ist nach Margaret Mead benannt. Im Fach<br />
Anthropologie hat man viel über die Ursprünge und Bedeutungen<br />
von Nahrungstabus spekuliert (Douglas), und eine Erklärung, die<br />
weithin Anklang gefunden hat, hängt mit der Erziehung zusammen<br />
(Oosten und Moyer). Nahrungstabus dienen zusammen mit<br />
Sexualtabus dem Zweck, Unterscheidungen zu lehren. Durch das<br />
Verbot bestimmter Verbindungen oder Einverleibungen – und im<br />
Kontext dieser Analyse könnte man noch Zusammenstellungen<br />
und Metonymien hinzufügen – lernen die Menschen den Unterschied<br />
zwischen Selbst und Anderem zu respektieren. Die Tabuisierung<br />
des Kannibalismus z.B. lehrt die »Wilden«, wer sie sind:<br />
nicht Tiere, sondern Menschen. Dieser Lernvorgang ist für das<br />
Überleben der Art notwendig.<br />
Im Saal der asiatischen Säugetiere kann die Bezugnahme auf den<br />
Vegetarismus auf eine vorgängige Form von Wildheit hindeuten.<br />
Das Tabu hinsichtlich des Verzehrs von Fleisch bestätigt die Unterscheidung,<br />
die hier nicht zwischen Menschen und Tieren, sondern<br />
zwischen den Tieren einschliesslich der Menschen und den<br />
Pflanzen besteht. Mit anderen Worten, der Unterschied der Menschen<br />
ist diesen buddhistischen Sekten zufolge im Verhältnis zum<br />
Bereich der Pflanzen, die man essen darf, deutlicher gekennzeich-<br />
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net als im Verhältnis zum Bereich der Tiere, denen diese Leute<br />
zuviel Sympathie entgegenbringen, als dass sie ihren Gebrauch als<br />
Nahrung gestatten würden. Das soll die Geschichte vom Buddha,<br />
wie sie auf dieser Tafel erzählt wird, beweisen. Sein Vater war ein<br />
Elefant. Und plötzlich stehen die Elefanten hinten im Zentrum des<br />
Saals als Zeugen ihres mythologischen Bruders da.<br />
Die Zusammenstellung von menschlichem Artefakt und Tieren<br />
wird also von der Texttafel neben der gezeigten Statue nicht als<br />
etwas Überholtes in Zweifel gezogen und kritisiert, sondern sie<br />
wird, ganz im Gegenteil, davon gestützt. Selbstreflexion wird geschwächt<br />
und Naturalisierung begünstigt. Das »Ich« verschwindet<br />
hinter »ihnen«, die keine Widerworte geben können, obwohl »sie«<br />
als Kultur gesund und munter sind. Die Worte lesen sich als Erklärung<br />
der Relevanz menschlicher Präsenz im Tierreich, doch das<br />
geschieht, indem die betreffenden Menschen als solche eingestuft<br />
werden, die den Tieren nahestehen, näher als »wir«. Diese Präsenz<br />
des Menschlichen wird nur als Objekt der Darstellung betont. Das<br />
in den Vitrinen des Saals – besonders in der gemalten Szenerie – offenkundige<br />
menschliche Tun wird in den unauffälligen Bereich des<br />
Realismus verwiesen. Realismus ist die Wahrheitsrede, von der die<br />
Hand, die sie schrieb, ebenso getilgt wird wie die spezifisch westliche<br />
menschliche Sicht, die sie prägte. Die Statue hingegen repräsentiert<br />
die Menschheit, und dies sogar im Hinblick auf einen ihrer<br />
Wesenszüge, nämlich die Geburt, und zugleich ist sie ein Indikator<br />
des Menschen, wie er im nächsten Raum dargestellt wird: fremd,<br />
exotisch. Da stellt sich die Frage: Welches ist der spezifischere Sinn<br />
der visuellen Schaustellung, aufgrund dessen sie so nachdrücklich<br />
von Worten gestützt werden muss<br />
Die Statue stellt eine Frau dar – Frauen stehen den Tieren ja<br />
»von Natur aus« besonders nahe –, und sie zeigt die Frau in der<br />
»natürlichsten« aller Posen, nämlich beim Gebären. Dies ist allerdings<br />
keine gewöhnliche Geburt, deren Darstellung die Toleranz<br />
der pädagogischen Prüderie strapazieren würde, sondern eine<br />
mythische Geburt, die aus der Seite des weiblichen Körpers erfolgt.<br />
Damit ist kein Beispiel kultureller Verschiedenheit gegeben,<br />
sondern ein Beispiel kultureller Ähnlichkeit. Im Alten Testament<br />
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327<br />
denkbar<br />
(Genesis, z) wird berichtet, wie die erste Frau aus der Seite des ersten,<br />
androgynen Geschöpfs zur Welt kam – eine Geburt, die das<br />
Ergebnis einer ebenso unorthodoxen Zeugung war. 16 Der Hinweis<br />
darauf wäre ein Akt der »Anthropologisierung« abendländischer<br />
Traditionen im Sinne einer leistungsfähigen Strategie, die zeigen<br />
könnte, wie problematisch die anthropologische Darstellung der<br />
anderen ist. Aber stattdessen wird die Sonderbarkeit dieser Natur-Frau<br />
herausgestrichen.<br />
Durch die Auswahl einer Darstellung des Weiblichen, welche<br />
die Naturnähe der Frau vermittels einer als fremdartig präsentierten,<br />
völlig unnatürlichen Fiktion bestätigt, hat das Subjekt des<br />
Mixed-Media-Subjekts der Ausstellung eine semiotische Leistung<br />
vollbracht: Dem expositorischen Akteur ist es gelungen, die ideologische<br />
Hauptseltsamkeit des Museums insgesamt an dieser<br />
lokalen Übergangsstelle abzumildern. Die in der von diesem Museum<br />
bezeugten – und dieses Museum umgebenden – Kultur ganz<br />
vertraute metaphorische Gleichsetzung von »Frau« und »Natur«<br />
vermittelt zwischen Säugetieren und fremden Völkern, indem sie<br />
jene Andersheit betont, welche die Relegation solcher Völker auf<br />
diese Seite des Central Park rechtfertigt.<br />
So wird die Gender-Politik in verwickelter Form mit ethnischer<br />
Stereotypisierung verflochten. Denn hinter diesem visuellen Ideologem<br />
steckt mehr, als auf den ersten Blick zu sehen ist: Der<br />
Buddha selbst wird trotz seiner Männlichkeit der Erzweiblichkeit<br />
des Gebärens an die Seite gestellt. Mit dieser doppelten Natürlichkeit<br />
gebärender Weiblichkeit und mythischer Ferne ist er als<br />
die angemessene Autorität ausgewiesen, die den Vegetarismus als<br />
Grundzug des Animalischen vorschreiben darf. Und es ist dieser<br />
Überschuss an ideologischer Information, zu dessen »Erklärung«<br />
die Tafel mit der sprachlichen Darstellung herangezogen wird.<br />
Jetzt ist der Besucher darauf vorbereitet, die ambivalente Schau<br />
im nächsten Saal – die Ausstellung von Völkern als Natur – zu<br />
akzeptieren. Was sich vor dem Lernenden ausbreitet, ist eine in<br />
sinniger Doppelstruktur erstarrte Kultur, die der Tafel am Eingang<br />
zufolge entweder als räumlich entfaltete oder als zeitlich entwickelte<br />
gelesen werden kann.<br />
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328<br />
Abbildung 3:<br />
(Oben) Zugang zur Halle der asiatischen<br />
Völker, American Museum of Natural<br />
History.<br />
(Unten) Hundeopfer, Halle der asiatischen<br />
Völker, American Museum of<br />
Natural History. Photos: Mieke Bal.<br />
Der Wettstreit zwischen Zeit und Raum.<br />
Evolutionsgedanke und Taxonomie<br />
Der Saal der asiatischen Völker nimmt eine doppelte Darstellung<br />
vor und offeriert eine Auswahl zwischen zwei möglichen Rahmen:<br />
Man kann entweder durch die Zeit oder durch den Raum<br />
voranschreiten (siehe Abbildung 3 oben). Die räumliche Präsentation<br />
teilt Asien in Regionen ein und verläuft »von Japan ausgehend<br />
nach Westen bis hin zu den Gestaden des Mittelmeers«.<br />
Entscheidet man sich für die räumliche Route, so ergibt sich, dass<br />
man wahrscheinlich die in der Ecke versteckte zeitliche auslässt,<br />
während die Entscheidung für die zeitliche Alternative am Ende<br />
unweigerlich zur räumlichen Abteilung hinführt. Demnach liegt<br />
es eher auf der Hand, dass man sich nach links wendet.<br />
Hat man sich für diese Route durch die Zeit entschieden, findet<br />
sich die den Besuch leitende Fragestellung auf der Eingangstafel<br />
und dann noch einmal als Überschrift aller Abteilungen formuliert:<br />
»Der Aufstieg des Menschen zur Zivilisation.« Sowohl die<br />
Fragestellung als auch das Programm, das sich daraus ergibt, sind<br />
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329<br />
denkbar<br />
klar artikuliert: Wie hat es der Mensch zur Zivilisation gebracht<br />
Wir kennen keine letztgültigen Antworten, wohl aber archäologische<br />
Spuren und anthropologische Parallelen, anhand deren<br />
mögliche Modelle geschaffen werden können. (Hervorhebungen<br />
hinzugefügt)<br />
Möglich wird die Verschmelzung von Zeit und Raum durch<br />
den unausgesprochenen Begriff des Primitiven, der den Ahnherren<br />
des Museums so sehr am Herzen lag. Die Zusammenstellung von<br />
Spur und Parallele ist das spekulative Werkzeug zur Beantwortung<br />
unbeantwortbarer Fragen, deren blosse Formulierung buchstäblich<br />
mehr beinhaltet, als Worte ausdrücken können. »Der<br />
Aufstieg des Menschen zur Zivilisation« – der universale Begriff<br />
»Mensch«, der Evolutionsgedanke im Begriff »Aufstieg« und der<br />
transhistorische, generische Gebrauch von »Zivilisation«. Dies<br />
sind die drei Voraussetzungen, von denen das Andere dieses Museums,<br />
das Met, geprägt ist. Das Met zeigt, wie Douglas Crimp<br />
im Hinblick auf Malraux› »Museum ohne Wände« geschrieben<br />
hat, »Kunst als Ontologie, [die] nicht von Männern und Frauen<br />
in ihrer historischen Abhängigkeit, sondern vom Menschen durch<br />
sein blosses Sein geschaffen wird«. 17 Jene drei Begriffe, die in diesem<br />
ganzen Saal als Kolumnentitel fungieren, geben dem Inhalt<br />
des Saals einen Rahmen und stellen ihn als »Nichtkunst« hin. Einer<br />
Untersuchung der kulturellen Verschiedenheit, wie man sie<br />
sich von diesem Saal erwarten könnte, würde durch jene Begriffe<br />
zum Bewußtsein gebracht werden, dass der doppelte Zugang zu<br />
diesem Saal auf einer unhaltbaren Unterscheidung beruht. »Zeit«<br />
entpuppt sich als Frage, und »Raum« wird zur metaphorischen<br />
Tarnung ihrer Unbeantwortbarkeit.<br />
In einer kreisförmig ausgebuchteten Ecke findet sich die Abteilung,<br />
die dem »Aufstieg des Menschen zur Zivilisation im Nahen<br />
Osten« gewidmet ist. Links vom Eingang sind die Griechen, die<br />
durch unmissverständlich ihr Lob singende Tafeln ausgezeichnet<br />
werden: Die Überschrift der Tafel 10 lautet »Troja und die<br />
abendländische Zivilisation«, während Tafel 11 den Titel »Die<br />
Errungenschaft der Ionier« trägt. Homer ist der Vertreter der<br />
archaischen Griechen, die ausgewählt wurden, um die Verbinhen<br />
l<br />
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330<br />
dung zu »unserer eigenen« Kultur herzustellen. Diese Entscheidung<br />
kommt keineswegs überraschend und ist ihrerseits vielleicht<br />
zum Teil von der unwiderstehlichen Anziehungskraft ikonischen<br />
Denkens geprägt: Wir betrachten eine Kultur, in der Vortrefflichkeit<br />
ein ideologisches Kernstück ausmachte, und folglich wird<br />
die Vortrefflichkeit als ihr synekdochischer Repräsentant ausgewählt.<br />
Diese Griechen werden gepriesen, weil sie bei der Untersuchung<br />
»der Natur bis an die Grenzen des menschlichen Verstands«<br />
vorgestoßen sind, was auf das erfreuliche Ergebnis eines<br />
Entwicklungsprozesses hindeutet, der soeben vor unseren Augen<br />
nachgezeichnet wurde. Die Tafel zur ionischen Kultur bietet ein<br />
treffendes Beispiel für die Art und Weise, in der die Zeit in dieser<br />
Abteilung den Raum überholt:<br />
Asiatische Gedanken und Neuerungen wurden mit örtlichem<br />
Einfallsreichtum verbunden. Ein Jahrhundert zuvor hatten ionische<br />
Denker die Grundlage der philosophischen Theorien von<br />
Sokrates, Platon und Aristoteles geschaffen. Auf der Suche nach<br />
Lösungen zur Erkenntnis des Wesens der Welt hielten sich die lonier<br />
nicht an den Mythos, sondern an ihre eigene Erfahrung, um<br />
Grundprinzipien zu ermitteln.<br />
Plötzlich, da wir uns »unserer eigenen« – d. h. der europäischen<br />
– Kultur nähern, weicht die Anonymität grossen Namen, und das<br />
Kennzeichen der dargestellten, als repräsentativ ausgewählten<br />
Kultur entspricht genau der Definition jenes wissenschaftlichen<br />
Strebens, für die dieses Museum einsteht. Die Reise endet mit einer<br />
Verschmelzung der beiden zeitlichen Augenblicke, zwischen<br />
denen sich die Periode erstreckt, zu der der »Aufstieg zur Zivilisation«<br />
hingeführt hat.<br />
Die Griechen sind demnach keine Episode oder Raststelle auf<br />
der Reise durch die Zeit, sondern das Emblem der höchsten Ebene<br />
der Zivilisation. Dass die Griechen am Übergang zwischen den<br />
zeitlich eingegrenzten und den räumlich geordneten Stücken zur<br />
Veranschaulichung der asiatischen Völker dargestellt werden, ist<br />
eine Geste, die den Asienbegriff näher bestimmt und der Präsentation<br />
»von Japan ausgehend nach Westen bis hin zu den Gestaden<br />
des Mittelmeers« Sinn verleiht: vom völlig Fremden zum behag-<br />
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denkbar<br />
lich Vertrauten. Wichtiger ist jedoch, dass diese Platzierung den<br />
Begriff des Museums insgesamt näher bestimmt. Sie fungiert wieder<br />
als Übergang, diesmal allerdings nicht zwischen Tieren und<br />
fremden Völkern, sondern zwischen diesen und »uns«. Durch sie<br />
kommt das taxonomische Gerüst des »Wir« und »Sie« ins Spiel,<br />
indem die Griechen als Vermittler vorgeschlagen werden, genauso<br />
wie die von der buddhistischen Statue dargestellte Frau als<br />
Vermittlungsinstanz fungierte. Die Griechen, die der abendländischen<br />
Kultur näher kommen als die übrigen in diesem Museum<br />
vertretenen Völker, stehen für die höchste Form der Zivilisation<br />
und sind sowohl Ausgangspunkt »unserer« Kultur als auch Endpunkt<br />
der asiatischen Kulturen.<br />
Der von Anfang an vorgegebene Zeitrahmen ist also nicht der<br />
einer ungezwungenen Reise durch die Zeit. Durch Verwandlung<br />
des Zeittourismus in Wissensproduktion entspricht dieser Zeitrahmen<br />
dem Rahmen eines im Einverständnis mit der Taxonomie<br />
operierenden Evolutionsgedankens und teilt die menschlichen<br />
Kulturen in höhere und niedrigere ein, wobei die der »unseren«<br />
am nächsten stehenden als die höchsten gelten. Es wäre durchführbar,<br />
wenn auch nicht unkompliziert, rückwärts zu gehen und<br />
die Erzählung dieser eurozentrischen Geschichte zurückzunehmen,<br />
doch das Museum hat keine Tafeln bereitgestellt, die eine<br />
solche umgekehrte Geschichte lesbar machen. Tatsächlich wird<br />
der Übergang durch die zwischen der räumlich entfalteten Präsentation<br />
und diesem zeitlichen Höhepunkt angesiedelten besonders<br />
marginalen Stücke abgemildert: »Die Annäherung beginnt<br />
mit einem kurzen Überblick über Urkulturen, die in isolierten Gebieten<br />
existiert haben«, um dann ernstlich bei Japan anzusetzen.<br />
Nachdem man den Saal auf dem Weg über die Griechen betreten<br />
hat, können alle darin dargestellten Völker nur weniger entwickelt<br />
und fremder erscheinen.<br />
Semiotisch gesprochen fungiert dieser Übergang von der Zeit<br />
zum Raum als Umschaltinstanz. Hier werden die Gesamtimplikationen<br />
der von Benveniste getroffenen Unterscheidung zwischen<br />
der persönlichen Sprechsituation des Ich-du-Austauschs und<br />
der von »ihm«, »ihr« oder »ihnen« handelnden unpersönlichen<br />
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332<br />
Darstellung relevant. Die beiden Achsen sind nicht symmetrisch:<br />
Während die »Ich«-»du«-Positionen im normalen Gespräch umkehrbar<br />
sind, ist die »dritte Person« ohnmächtig, ausgeschlossen.<br />
Aber im Fall der Exposition kann das »Du« nicht die Stellung<br />
des »Ich« einnehmen. Während »Ich« und »Du« der »dritten Person«<br />
übergeordnet sind, vollzieht das »Ich« die Darstellung, die<br />
Geste des Zeigens, in Verbindung mit einem »Du«, das zwar real<br />
sein mag, aber ausserdem imaginär, vorweggenommen und zum<br />
Teil von dieser Konstruktion geformt ist. Die im AMNH repräsentierten<br />
Völker gehören, genauso wie die Tiere, unabänderlich<br />
zu »ihnen«: dem im Zuge der Darstellung von einem »Ich«, dem<br />
expositorischen Akteur, konstruierten Anderen. Das »Du«, dessen<br />
Interesse die Darstellung der »dritten Person« – hier der asiatischen<br />
Völker – dient, wird implizit im Sinne der Rolle geeigneter<br />
Leser dieser Vorführung konstruiert. Diese Konstruktion wird im<br />
Anfangskapitel über die Griechen in den Vordergrund gerückt:<br />
Durch Betonung des griechischen Einflusses auf die Kultur, in deren<br />
Rahmen das Museum seine Aufgabe erfüllt, wird der Adressat<br />
als jemand gekennzeichnet, der selbst der abendländischen Hegemonialkultur<br />
der Weissen angehört. Die Verschiedenheit des darund<br />
ausgestellten Anderen wird dadurch gesteigert: So wird diese<br />
Verschiedenheit absolut und unabänderlich.<br />
Das Ausmass, in dem das »Ich«, das Subjekt der Darstellung, in<br />
der Ausstellung selbst lesbar wird, eröffnet die Möglichkeit einer<br />
kritischen Dimension. Denn jede Selbstdarstellung des Subjekts<br />
impliziert eine Aussage über die Subjektivität der Darstellung als<br />
einer potentiell fiktionalen. Aber anstatt das »Ich« zu deklarieren<br />
und in den Vordergrund zu rücken, wird hier eine Identifikation<br />
mit den Griechen, einer anscheinend »dritten Person«, vorgeschlagen.<br />
Diese Privilegierung der Griechen appelliert an ideologische<br />
Gefolgschaft, ohne die Subjektivität des appellierenden Akteurs<br />
aufzudecken. Die Konstruktion einer solchen radikalen Trennung<br />
zwischen Selbst und Anderem trägt dazu bei, das Trennende der<br />
heutigen Gesellschaft, in der kulturelle Verschiedenheit durchaus<br />
präsent ist, zu bestreiten – und zwar in solchem Grade, dass<br />
die Konstruktion einer einheitlichen »Sie«-Kategorie nicht mehr<br />
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333<br />
denkbar<br />
möglich ist.<br />
Daher rührt das Bedürfnis, die »Ich«-»du«-Achse durch die Metaphorisierung<br />
der Griechen als »unserer« Stellvertreter zu verbergen.<br />
Aber schön der Akt der Hervorhebung, der sich an der Geste<br />
des Verbergens dieser »Ich«-»du«-Interaktion ablesen lässt – mit<br />
anderen Worten: die Konstruktion der Subjektivität im Rahmen<br />
der Darstellung – bleibt unsichtbar. Er verbirgt sich in der mehrdeutigen<br />
Beschwörung des zwischen Asien und Europa – zwischen<br />
dem Archaischen und dem Neuzeitlichen, zwischen »ihnen« und<br />
»uns«-stehenden Volkes. Der Evolutionsgedanke dient dazu, die<br />
von der Taxonomie errichteten Grenzen verschwimmen zu lassen.<br />
Was hier für den Adressaten, der darauf besteht, »Widerworte<br />
zu geben«, wirklich ausgestellt ist, ist diese rhetorische Strategie,<br />
bei der Wörter benutzt werden, um Bildern Bedeutungen zu verleihen,<br />
die sie sonst nicht hätten. Anstelle der Tafeln, auf denen<br />
Worte der Ordnung der Dinge Sinn geben, könnten Spiegel mehr<br />
Wirkung erzielen. Strategisch angebrachte Spiegel könnten es nicht<br />
nur gestatten, dass das koloniale Museum zur gleichen Zeit gesehen<br />
wird wie seine postkoloniale Selbstkritik, sondern ausserdem<br />
könnten sie Selbstreflexion im doppelten Sinne des Wortes verkörpern.<br />
Sie könnten die umhergehende Person irreführen, sie verwirren<br />
und durcheinanderbringen, so dass sie den Weg durch die Evolution<br />
verliert und, während sie vielleicht ein wenig in Panik gerät,<br />
in lehrreicher Weise durch die Vielfalt spazieren würde. 18<br />
Zirkuläre Epistemologie<br />
Der derzeitige expositorische Akteur des Museums hat die Möglichkeiten<br />
visueller und verbaler Informationskanäle wirksam<br />
eingesetzt, um Mitteilungen über ganz andere Positionen zu machen<br />
und Spannungen abzubauen. Das, worauf es hier ankommt,<br />
ist die letztere Funktion: das Bemühen, Spannungen nicht zu verstärken,<br />
sondern dadurch auszusöhnen, dass verbales Licht auf<br />
visuelle Objekte geworfen wird sowie auf eine bestimmte, semiotisch<br />
aufgeladene Ordnung dessen, was besser Chaos bleiben<br />
sollte. In den Vordergrund gerückt wird diese Art des Gebrauchs<br />
des expositorischen Diskurses nicht nur in der doppelten Präsen-<br />
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tation des Saals der asiatischen Völker, der einmal – vermittels<br />
Geschichten erzählung und Geschichtsschreibung – durch die Zeit<br />
führt und ein andermal – vermittels Taxonomie und Geographie<br />
– durch den Raum. Im Rahmen jeder dieser Präsentationen wird<br />
auch über die spezifischen semiotischen Potentiale des jeweiligen<br />
Mediums reflektiert. In der durch die Zeit führenden Präsentation<br />
gibt es eine Tafel, die den rätselhaften und möglicherweise ironischen<br />
Titel »Prähistorisches Erzählen von Geschichten« trägt.<br />
Diese Tafel ist ein vollkommenes Beispiel für die Verschmelzung<br />
»archäologischer Spuren« und »anthropologischer Parallelen«,<br />
um »mögliche Modelle zu schaffen«, die den »Aufstieg des Menschen<br />
zur Zivilisation« veranschaulichen.<br />
Grammatisch gesprochen, wird mit der Formulierung des Titels<br />
auf narrative Selbstreflexion abgehoben. Der Ausdruck »prähistorisch«<br />
dient der näheren Bestimmung des Geschichtenerzählens,<br />
und daher können wir erwarten, dass es eine der Prähistorie<br />
vorbehaltene Theorie des Erzählens von Geschichten gibt. Die<br />
Erklärung macht deutlich, welche Art von epistemologischem Gebrauch<br />
durch visuelles Geschichtenerzählen zugelassen wird:<br />
Die hier gezeigten Tafeln wurden im neunzehnten Jahrhundert<br />
von Sibiriern angefertigt und erzählen Geschichten aus dem täglichen<br />
Leben. Während die meisten Geschichten über die Jagd auf<br />
im Meer und auf dem Land lebende Säugetiere berichten, gehören<br />
auch Szenen aus dem Bereich der Siedlungstätigkeit dazu. Diese<br />
zeigen, welche Behausungen, Schlitten und sonstigen Gegenstände<br />
üblicherweise von diesen Leuten benutzt wurden. Die Tafeln<br />
oben links und oben rechts geben sogar das Hundeopfer wieder,<br />
das auch rechts auf dem korjakischen Exponat zu sehen ist. Für<br />
den sibirischen Betrachter ist jede Tafel eine vollständige erläuternde<br />
Darstellung und spiegelt deutlich die wohlbekannten Erfordernisse<br />
des täglichen Lebens.<br />
Über Tausende von Jahren hinweg haben die Völker solche<br />
Geschichten in mündlicher wie in graphischer Form erzählt. Die<br />
Malerei an der Rückwand zeigt eine aus der Zeit um 6500 v. Chr.<br />
stammende Jagdszene aus dem türkischen Ort Catal Huyuk.<br />
Dieser Text ist ein gutes Beispiel für die in diesem Museum be-<br />
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335<br />
denkbar<br />
triebene Art von Wissensproduktion und folglich auch für die dort<br />
geübte Art der epistemologischen Verführung. Zunächst einmal<br />
wird hier das Visuelle als massgebliche Form der Rezeption in den<br />
Vordergrund gerückt. Der ideale Betrachter wird als vorbildlicher<br />
Adressat gekennzeichnet. Aber gewiss gibt es so jemanden wie<br />
den sibirischen Betrachter dieser Tafeln gar nicht, jedenfalls nicht,<br />
wenn mit dieser Bezeichnung nicht der gelegentliche Besucher aus<br />
dem Osten Russlands gemeint ist, sondern der prähistorische Sibirier.<br />
Der sibirische Verfertiger dieser Bilder kann nicht gefragt<br />
werden. Er hatte auch keine direkte Beziehung zu den prähistorischen<br />
Menschen, die für diese Episode in der Geschichte des<br />
»Aufstiegs des Menschen zur Zivilisation« stehen. Die Tafeln, die<br />
dieser Besucher ohne weiteres verständlich finden soll, gehören<br />
unabänderlich einer anderen Zeit und einem anderen Ort an, und<br />
sie wenden sich – wie schon das Vorhandensein der hier gezeigten<br />
Texttafeln andeutet – an einen lesekundigen Betrachter, während<br />
die Prähistorie (fragwürdigerweise) durch Leseunkundigkeit definiert<br />
ist.<br />
Doch das ist vielleicht gerade der springende Punkt; der Text<br />
legt nahe, diese Information solle im Modus der prähistorischen<br />
Menschen – nämlich visuell – aufgenommen werden. Warum ist<br />
das so wichtig Das zweite auffällige Element der Tafel deutet auf<br />
eine Beantwortung dieser Frage hin. Dieser vorbildliche Adressat<br />
liest die Tafeln als etwas Vollständiges und als erläuternde Darstellungen.<br />
Die Verbindung dieser beiden Merkmale kennzeichnet<br />
die Ästhetik, um die es hier geht: Es geht um Realismus, um eine<br />
Beschreibung der Welt, die so lebensecht ist, dass Auslassungen<br />
unbemerkt bleiben, Lücken mitgetragen werden und unterdrücktes<br />
Material dem Bemerktwerden entgeht. Die von dieser verbalen<br />
Rhetorik gegebene Anweisung läuft darauf hinaus, dass<br />
die Tafeln im doppelten Sinn realistisch gelesen werden sollen:<br />
als erläuternde Darstellungen, die einem zeitgenössischen Angehörigen<br />
der dargestellten Kultur vollständig vorkommen. Weiter<br />
gestärkt wird diese Art des Lesens durch eine unglaubliche Dichte<br />
der metarepräsentationalen Zeichen, die allesamt symptomatisch<br />
sind für den Wunsch, die Darstellung möge sich mit ihrem Objekt<br />
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decken: »deutlich« lässt dem Zweifel keinen Raum; »spiegelt« ist<br />
geradezu eine Entlehnung aus der Terminologie des Realismus;<br />
»wohlbekannten« disqualifiziert den überraschten Betrachter, der<br />
zögert, den Zweifel bereitwillig ausser Kraft zu setzen, als Ignoranten;<br />
»täglichen« betont das Normale, Anonyme, das Gegenteil<br />
der individuellen Vortrefflichkeit oder der bemerkenswerten Ereignisse<br />
und hat ebenfalls den Effekt des Realen. Wer würde es,<br />
nachdem er dieser Pädagogik ausgesetzt wurde, wagen, die Wahrheit<br />
der Darstellung zu bezweifeln Das »Ich« hat die Unumkehrbarkeit<br />
der »Ich«-»du«-Achse narrensicher gemacht.<br />
Im Anschluss an diese Betonung des Realismus wird die Spur<br />
mit der Parallele verknüpft. Der zweite Absatz der Tafel stellt die<br />
Epistemologie heraus, um die es hier geht. Der Sibirier des neunzehnten<br />
Jahrhunderts wird mit Tausenden von Jahren seinesgleichen<br />
verschmolzen. Die betreffenden Völker haben ebenso wenig<br />
eine Geschichte wie die in den Schaukästen abgebildete »Natur«.<br />
Sie sind in diesem Sinne prähistorisch und erweisen sich dadurch<br />
als geeignet für dieses Museum der natürlichen Nichtgeschichte.<br />
Das gemalte Hintergrundbild ist, obwohl es in punkto Stil und<br />
Medium davon abweicht, so platziert, dass es einen sachgetreuvisuellen<br />
Hintergrund der modernen Tafeln bildet. (Abbildung 4)<br />
Sie stellen Jagdszenen dar und steuern das Idiom bei, im Sinne<br />
dessen die Tafeln im Vordergrund gelesen werden sollten.<br />
Die Frage wird zwar nicht ausdrücklich angesprochen, aber<br />
der angedeutete Konflikt ist innerhalb der Epistemologie, für die<br />
diese Tafeln eingesetzt werden, präsent. Im Rahmen dieser völlig<br />
realistischen Ausstellung sollen die Bilder symbolisch sein. Denn<br />
das Kennzeichen der Zivilisation ist der Gebrauch von Symbolen,<br />
wie es auf der benachbarten Tafel heisst, auf der das Vertrauen<br />
in archäologische Spuren und anthropologische Parallelen als<br />
episte mologisches Verfahren nahegelegt wurde. Da ist zu lesen:<br />
Der Ursprung des neuzeitlichen Menschen liegt vielleicht beinahe<br />
500000 Jahre zurück. Doch erst in den letzten 5ooo Jahren ist der<br />
Mensch zur Zivilisation gelangt, die ihrerseits durch die vorherrschende<br />
Rolle von Symbolen charakterisiert ist.<br />
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337<br />
denkbar<br />
Abbildung 4:<br />
(Oben) Tafel mit Wandzeichnungen,<br />
Saal der asiatischen Völker, American<br />
Museum of Natural History<br />
(Courtesy American Museum of<br />
Natural History).<br />
(Unten) Detail aus Tafel mit Wandzeichnungen.<br />
Diese Berufung auf das Symbolische ist schon in Anbetracht des<br />
von der Eingangstafel in Anspruch genommenen kristallklaren<br />
Realismus ein Problem. Aber die zu dieser Konklusion führende<br />
Argumentation ist zirkulär und verdient eine eingehende Analyse.<br />
Die Erläuterungstafel ist nicht das einzige Mittel, das der Vorbereitung<br />
auf die Betrachtung der visuellen Objekte dient. Unmittelbar<br />
vor dieser Vitrine zur Veranschaulichung des prähistorischen<br />
Geschichtenerzählens findet sich ein Exponat, das ein<br />
Modell einer korjakischen Gruppe zeigt und zusätzlich zu den<br />
»wohlbekannten Erfordernissen des täglichen Lebens« eine rudimentäre<br />
Darstellung eines Hundeopfers repräsentiert. So scheint<br />
es jedenfalls, visuell betrachtet (siehe Abbildung 3 unten). Durch<br />
Imitation – eine realistische Darstellung – eines kleinen Ausschnitts<br />
aus einem der aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden<br />
Artefakte (Abbildung 4) repräsentiert dieses Schaustück<br />
ein »wirkliches« Hundeopfer und zeigt kleine Puppen, die einen<br />
mit Stricken gefesselten Hund aufspiessen. »Was tun sie mit dem<br />
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338<br />
armen Hund« rief eines der vielen Kinder, die daran vorbeigingen.<br />
»Keine Ahnung«, erwiderte die Lehrerin wenig überzeugend.<br />
»Das ist gemein!« versetzte das Kind.<br />
Der epistemologische Zusammenhang zwischen diesem<br />
Schaustück und den sibirischen Tafeln beruht auf einer Verschmelzung<br />
von Spur und Parallele. Offensichtlich ist das Exponat<br />
eine Nachahmung des Artefakts, doch zunächst ist das<br />
Artefakt realistisch interpretiert worden. Das im Artefakt<br />
symbolisch dargestellte Hundeopfer wird als »Symbol« für das<br />
von ihm aufgezeigte »wirkliche Leben« verstanden. (Daher die<br />
Angemessenheit des kindlichen Ausrufs »Das ist gemein!«.) Im<br />
Rahmen der durch den Spazierweg gesteuerten narrativen Darstellung<br />
kommt das realistische Modell jedoch vor dem von ihm<br />
nachgeahmten historischen Objekt und steigert so den Glauben<br />
an die anthropologische Wahrheit des modernen Ausstellungsstücks<br />
wie des alten Bildes. Diese visuelle Argumentation lässt<br />
sich mit der Vorstellung vergleichen, jemand versuche eine anthropologische<br />
Darstellung der abendländischen Kultur, indem<br />
er auf die Kreuzigung von mit Dornenkronen geschmückten<br />
Menschen, auf von Pfeilen durchbohrte gefesselte Leiber oder<br />
sonstige Spielarten des Martyriums zurückgreift. Da würden<br />
Fremde ausrufen: »Das ist gemein!« Unsere Kinder tun das<br />
nicht. Sie sind zivilisiert und erkennen ein Symbol, sobald sie<br />
seiner ansichtig werden.<br />
Der Zusammenhang zwischen dem Artefakt aus dem neunzehnten<br />
Jahrhundert und dem Exponat des zwanzigsten Jahrhunderts<br />
beruht auf der eindringlichen rhetorischen Figur der Metonymie.<br />
Das spätere Schaustück kommt zuerst, die ältere sibirische<br />
Tafel folgt darauf. Diese Sequenz gestattet eine Umkehrung von<br />
»Modell« und »Kopie« – eine Umkehrung zweier verschiedener<br />
Ebenen (der Darstellung) des Wirklichen. Visuell betrachtet hat<br />
es den Anschein, als zeige das korjakische Exponat die Wahrheit<br />
der sibirischen Tafel. Der Verweis auf die Kopie einer »wirklich<br />
alten« Malerei – nämlich des türkischen Fundes aus der Zeit um<br />
6500 v. Chr. – liefert eine Echtheitserklärung und bestätigt so diese<br />
Verschmelzung des Zeitlichen ins Räumliche. Das Missliche<br />
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denkbar<br />
ist jedoch, dass diese Malerei Jagdszenen darstellt und keine Spur<br />
von einem Hundeopfer enthält.<br />
Die der Vermittlung dieser Epistemologie des Nebeneinanders<br />
dienende Texttafel macht den gleitenden Übergang, wie üblich, explizit.<br />
Es handelt sich um einen gleitenden Übergang vom Raum zur<br />
Zeit und von der Gegenwart zur Vergangenheit: Die Korjaken leben<br />
im nordöstlichen Sibirien, an einem Ort, wo äußerste Kälte herrscht.<br />
... Unsere Kenntnis der in der Eiszeit gebräuchlichen Schutzvorrichtungen<br />
und Kleidungsstücke ist zwar begrenzt, aber wir können sicher<br />
sein, dass sich der prähistorische Mensch dem Klima genauso<br />
angepasst hat wie die Korjaken. ... Wie links gezeigt wird, haben<br />
diese Menschen den Geistern der Jagd und ihrer Siedlung rituelle<br />
Hundeopfer dargebracht. (Hervorhebungen hinzugefügt)<br />
Die Verbindung zwischen gegenwärtigen, aber geographisch weit<br />
entfernten Kulturen und der prähistorischen Vergangenheit wird<br />
als sicherer Zusammenhang hingestellt, und das im Schaukasten<br />
des zwanzigsten Jahrhunderts dargestellte Hundeopfer zeigt, wie<br />
die Menschen der Vergangenheit wirklich verfahren sind. Der<br />
Diskurs des Zeigens ist praktisch unwiderstehlich. Die realistische<br />
Darstellung eines fiktiven Überbleibsels einer längst vergangenen<br />
Kultur wird als Quelle eines älteren Artefakts aufgefasst, das jetzt<br />
vermittels dieser Rhetorik realistisch gelesen werden muss. Der –<br />
hier visuelle – Realismus ist eine der primären Formen der »Wahrheitsrede«,<br />
deren sich das Museum bedient.<br />
Dieses Schaustück ist, wie ich annehme, älter als das derzeitige<br />
Bewusstsein von den Problemen der Wissensproduktion, die<br />
sich aus solchen Darstellungen ergeben. Wie gelingt es dem Museumsdiskurs<br />
mit seinen Mixed-Media-Verfahren, dieser Rhetorik<br />
auch heute noch unter die Arme zu greifen Freilich, wenn es<br />
sich um eine sprachlich abgefasste historische Analyse handelte,<br />
würde diese zirkuläre Argumentation nicht so weithin unbemerkt<br />
durchgehen. Der Punkt, auf den ich hier hinaus will, ist folgender:<br />
Die visuellen Schautafeln bleiben unangefochten, weil die Reihenfolge,<br />
in der sie gezeigt werden, die Syntax konstituiert, die dem<br />
so gebildeten, wohlgeformten »Satz« diesen Sinn verleiht. Das<br />
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340<br />
gelingt dem Verbund der Schaustücke aber nur deshalb, weil die<br />
verbale Ausrichtung, die rhetorische Fixierung der semiotischen<br />
Einstellung des Adressaten den Zirkel stützt. Dieses spezifische<br />
Zusammenwirken zwischen visuellen und verbalen Zeichensystemen<br />
zehrt von einer Epistemologie, die in unserer heutigen Kultur<br />
fest verankert ist. Der ganze Aufwand zur Artikulierung des<br />
Realismus dieser speziellen Abteilung wird deshalb getrieben, um<br />
so jene zirkuläre Epistemologie zu begründen und zu stützen. Der<br />
Ausdruck »prähistorisches Geschichtenerzählen« erhält somit eine<br />
unbeabsichtigte Nebenbedeutung: Dies ist eine vorwissenschaftliche,<br />
mythische Form des Erzählens der Geschichte von Kulturen,<br />
die wir gar nicht kennen können – eine in den 1990er Jahren praktizierte<br />
Form von prähistorischer Geschichtsschreibung.<br />
Im Anfang war das Wort<br />
Nach dem Saal der asiatischen Völker führt unsere Reise durch<br />
die Semiotik des Ausstellens auf dem Weg über die Abteilung »Vögel<br />
der Welt« hin zu einem rechts gelegenen Saal, dem Saal der<br />
afrikanischen Völker. Hier sind die Tafeln ein Beleg dafür, dass<br />
ein ernsthafter Versuch gemacht wurde, mit den Widersprüchen<br />
einer heutigen Gesellschaft, die sich der Rassenproblematik bewusst<br />
ist, zurechtzukommen. Diese Texttafeln stammen offenbar<br />
aus neuerer Zeit und könnten jene kritische Note beisteuern, die<br />
für ein Museum wie dieses unentbehrlich ist, um in den 1990ern<br />
etwas zu leisten. In beträchtlichem Masse gelingt das auch.<br />
Die Eingangstafel auf der linken Wand formuliert die aktuelle<br />
pädagogische Zielsetzung dieses Saals 19 : Mit dem raschen Übergang<br />
vom Stamm zum Nationalstaat ist ein großer Teil der Vergangenheit<br />
Afrikas im Verschwinden begriffen. Das Erbe bleibt<br />
jedoch. Es beeinflusst den Charakter der neuen Nationen und verhilft<br />
den Afro-Amerikanern in der Neuen Welt zu einer eigenen<br />
Individualität. In diesem Saal geht es zwar hauptsächlich um die<br />
Vergangenheit, aber vielleicht kann sie dennoch zu einem besseren<br />
Verständnis der Gegenwart beitragen.<br />
Diese den pädagogischen Zweck des Raums formulierende Tafel<br />
hängt an einer Wand ausserhalb des eigentlichen Saals, und diese<br />
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341<br />
denkbar<br />
Position bezeichnet mit räumlichen Mitteln die Distanz, die die<br />
heutigen Kuratoren gegenüber dem vor etwa fünfzig Jahren entworfenen<br />
Saal wahren. Damit beginnt eine semantische Anreicherung<br />
des deiktischen, schwer zu greifenden »Ich« durch räumliche<br />
Entfernung. Durch Abstandnahme wird Differenz geschrieben. 20<br />
Der Sinn der Abstandnahme beruht allerdings auf der Syntax des<br />
Museums. Die Tafel als solche deutet auf ein kritisches Vorhaben<br />
hin: auf eine Erklärung der Probleme der vielrassigen Gesellschaft<br />
von heute durch Hinweis auf ihre Wurzeln im Kolonialismus. Diese<br />
Kritik könnte funktionieren, wenn sie im Gesamtbereich der<br />
Exponate durchgehalten würde. Wird diese Selbstkritik im inneren<br />
des Saals allerdings nicht fortgesetzt, bleibt sie ein Vorwort, dessen<br />
räumliche Position ausserhalb des Saals seine ideologische Position<br />
als Einrahmung des Geschehens im Saal mittels einer Entschuldigung<br />
widerspiegelt. Das Problem lässt sich mit dem des Zitats – des<br />
indirekten Diskurses innerhalb einer Erzählung – vergleichen. Der<br />
Erzähler, hier die gegenwärtige Inkarnation des expositorischen<br />
Akteurs, »zitiert« den deskriptiven Diskurs im Inneren des Saals:<br />
die Schaukästen. Zitate werden in narrativen Texten durch den<br />
sogenannten »zuschreibenden Diskurs« (Prince) eingeführt oder<br />
abgeschwächt. Der zuschreibende Diskurs erfüllt eine doppelte<br />
Funktion: Er schreibt das Zitat einem Sprecher zu und schränkt<br />
den Inhalt des Zitats ein. Wäre diese Tafel die einzige Einführung,<br />
würde sein Abstand im Verhältnis zum Saal dazu beitragen, diese<br />
Zuschreibung zu neutralisieren.<br />
Diese Tafel ist aber nur ein erster Schritt innerhalb einer verwickelten<br />
Gruppierung von Rahmen. Die Einrahmung ist hier so<br />
nachdrücklich und so vertrackt, dass das Dilemma des Subjekts<br />
durchscheint. Eingerahmt wird der Eingang darüber hinaus durch<br />
zwei helle Vitrinen, deren Rhetorik sich die zweite der vom Museum<br />
benutzten Formen der Wahrheitsrede – den wissenschaftlichen<br />
Diskurs – zu eigen macht. Weit hinten im dunklen Saal erblickt<br />
man schon eines der realistisch gestalteten Schaustücke, und<br />
der Gegensatz ist frappierend (als Beispiel siehe Abbildung 5). 21<br />
Die einführenden Exponate am Eingang – »Familie« rechts und<br />
»Gesellschaft« links – präsentieren dreidimensionale graphische<br />
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342<br />
Abbildung 5:<br />
(Oben) Diorama, »Bauern aus dem<br />
Grasland« (Courtesy American Museum<br />
of Natural History).<br />
(Unten) Eingang des Saales der afrikanischen<br />
Völker, American Museum<br />
of Natural History. Aus der Halle der<br />
Vögel der Welt: Texttafel und zwei<br />
Schaukästen. Photos: Mieke Bal.<br />
Modelle jenes Wesens Afrikas, über das nur die wissenschaftliche<br />
Analyse Auskunft zu geben vermag. Die Konnotation dieser Modelle<br />
ist »Wissenschaftlichkeit« mit dem Hauptmerkmal Zuverlässigkeit,<br />
und so wird visuell geltend gemacht, dass das, was wir<br />
gleich sehen werden, die Wahrheit über Afrika ist, nicht jene im<br />
Laufe der Geschichte hervorgebrachte Mischung aus »Wissenschaft«<br />
und »Fiktion«, welche die Grundlage der heutigen Sicht<br />
ausmacht und deren kritische Analyse ich aufgrund der verbalen<br />
Einführungstafel erwartete. Damit wird das von der als äusserer<br />
Rahmen dienenden Tafel angekündigte kritische Projekt von dem<br />
wissenschaftlichen Projekt des Rahmens zweiter Stufe überschrieben<br />
(Abbildung 5 unten).<br />
Die ersten Ausstellungsstücke nach dieser doppelten, widersprüchlichen<br />
Einführung befinden sich zwar im Saal, aber noch<br />
nicht in dessen Hauptteil. Sie sind den »fremden Einflüssen« und<br />
«Afrika heute« gewidmet . 22 In Einklang mit der Einführungstafel<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 342<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:07 <strong>Uhr</strong>
343<br />
denkbar<br />
handeln beide eher von dem, was der Kolonialismus aus Afrika<br />
gemacht hat, als von seiner »Naturgeschichte«. Diese wird aber<br />
dennoch das Thema der folgenden Exponate sein. Infolgedessen<br />
fungieren diese beiden Ausstellungsteile als eine dritte – auf die<br />
kritische und die wissenschaftliche folgende – Ebene der einführenden<br />
Einrahmung und präsentieren jetzt die doppelte Stimme<br />
der heutigen, durch Afrika selbst vermittelten Afrika-Sicht des<br />
Museums.<br />
Die Abteilung »Fremde Einflüsse« ist in ökonomische, politische<br />
und religiöse Einflüsse gegliedert. Die politische Situation<br />
wird wie folgt dargestellt: Die aufgezwungene Fremdherrschaft<br />
schuf politische Gebilde, die sehr viel umfassender waren als die<br />
früher existierenden, und das hätte von Vorteil sein können, doch<br />
denselben Mächten, von denen diese Einheiten aufgebaut worden<br />
waren, misslang es im Regelfall, diese Einheiten zu konsolidieren.<br />
Großenteils existierten sie nur auf dem Papier. Das Gemeinschaftsgefühl,<br />
das jedem wahrhaft geeinten Staat zugrunde liegen<br />
muss, fehlte, und sobald die fremden Militärkräfte außer Landes<br />
waren, brach die aufgezwungene Einheit leicht zusammen. (Hervorhebung<br />
hinzugefügt).<br />
Diese Schilderung ist durchaus kritisch: Die Fremdherrschaft –<br />
der Kolonialismus – zwang eine Ordnung auf, deren Aufrechterhaltung<br />
misslang. Ja, der wiederholte Gebrauch des Begriffs<br />
»Zwang« ist ein Beleg für das kritische Projekt, und Wörter wie<br />
»misslang« gehen in die gleiche Richtung. Andererseits verhüllt<br />
die Kritik kaum neuerliche Bekräftigungen ebender Werte, die<br />
überhaupt erst die koloniale Situation hervorgebracht hatten.<br />
So bleibt die Vorstellung, umfassendere politische Einheiten<br />
wären besser als kleiner angelegte Organisationen, ebenso unbegründet<br />
wie die Legitimität irgendeiner Form von Zwang. Die<br />
Grundlage des wünschenswerten Grossstaats sei ein Gemeinschaftsgefühl,<br />
das die Afrikaner nicht aufzubieten vermochten.<br />
Die Unentbehrlichkeit dieses Gefühls wird durch verallgemeinernde<br />
Phrasen wie »jeder wahrhaft geeinte Staat« artikuliert.<br />
Zum Schluss belegen die misslichen Folgen des Abrückens der<br />
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344<br />
Militärkräfte folgende widersprüchliche Botschaft: einerseits Kritik<br />
durch das die Einheit einschränkende Wort »aufgezwungen«;<br />
andererseits jedoch Mangel an Kritik durch die Worte »brach<br />
leicht zusammen« zur Kennzeichnung der inneren Schwäche der<br />
Afrikaner, die ausserstande waren, sich die Vorteile zu erhalten.<br />
Daher bleibt Raum für die Meinung, der Kolonialismus sei deshalb<br />
für Afrika von Nachteil gewesen, weil er nicht entschieden<br />
und nachhaltig genug gewesen sei: Wenn es den ausländischen<br />
Herrschern nur gelungen wäre, ihr fremdes System dauerhafter<br />
aufzuzwingen, dann wäre heute alles in Ordnung. 23 Kein Wort<br />
über die sozialen Systeme, die durch die oktroyierten Grossstaaten<br />
verdrängt wurden.<br />
Die verbale Botschaft mit ihrem doppelten Blick auf das, was<br />
mit Afrika passierte, ist hier widersprüchlich. Die diesen doppelten<br />
Blick veranschaulichenden visuellen Exponate üben allesamt<br />
Kritik an den Ergebnissen der politischen Organisation<br />
Afrikas. Aber anstatt die Gewalt aufzuzeigen, die Afrika angetan<br />
wurde, sind die Exponate zumeist Karikaturen und werden als<br />
solche vorgeführt. Die visuellen Ausstellungsstücke illustrieren<br />
die verbal ausgedrückte Meinung. Die konstative Aussage wird<br />
hier von der »dritten Person« selbst getragen. Das Bild von Afrika<br />
ist durch das Bild seiner Proteste gegen Entfremdung verdrängt<br />
worden, doch diese Proteste richten sich nicht gegen die fremden<br />
Kolonisatoren, sondern werden in doppeldeutiger Form als Selbstkritik<br />
präsentiert. Infolgedessen dreht die Verbindung von Worten<br />
und Bildern den Spiess um und kehrt ihn gegen das kritische Vorhaben:<br />
Afrika ist lächerlich, und das sagt es selbst (siehe Abbildung<br />
6 oben). Die Beziehung zwischen den sprachlichen und den<br />
visuellen Botschaften wird in dem der Religion gewidmeten Teil<br />
dieser Ausstellungsabteilung zum eklatanten Widerspruch. Der<br />
sprachli che Text stellt fest, der Islam sei bei seinem Versuch, sich<br />
durchzusetzen, weit erfolgreicher gewesen als das Christentum,<br />
denn: Das Christentum ist sehr viel weniger geeint und steht viel<br />
stärker in Widerspruch zu den traditionellen afrikanischen Werten.<br />
Daher hat es in sozialer und politischer Hinsicht vor allem<br />
zersetzend gewirkt. lm Gegenzug hat der Afrikaner aus diesen<br />
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denkbar<br />
Abbildung 6:<br />
(Oben) Politische Karikaturen aus<br />
dem Schaukasten »Politische Einflüsse«,<br />
mittlerer Teil der »Ausländischen<br />
Einflüsse«.<br />
(Unten) »Religiöse Einflüsse«, rechter<br />
Teil der »Ausländischen Einflüsse«<br />
(Spiegelbild des Schaukastens).<br />
Beide im Eingangsbereich des<br />
Saales der afrikanischen Völker,<br />
American Museum of Natural History.<br />
Beide Photos: Courtesy American<br />
Museum of Natural History.<br />
neuen Religionen etwas Eigenes gemacht, und seine Begabung für<br />
selektive Anpassung lässt jetzt in Afrika charakteristische, neue<br />
und lebendige Glaubensformen entstehen.<br />
Auch dieser Text kritisiert den Kolonialismus, brandmarkt den<br />
destruktiven Einfluss des Christentums und projiziert ein positives<br />
Bild der Afrikaner (»Begabung«). In visueller Hinsicht jedoch<br />
werden diese Worte ausgeschaltet, da ein Rosenkranz als unerkennbares<br />
Zeichen für den Islam stehen soll, so dass der Gesamteindruck<br />
dieses Exponats, für mich jedenfalls, ein christlicher ist<br />
(siehe Abbildung 6 unten) . 24 Das einheitstiftende Moment dieses<br />
Exponats ist eine Figur der Jungfrau Maria im Mittelpunkt neben<br />
einem Weisen, der ein Ritualgefäss mit aufgesetztem afrikanischem<br />
Symbolvogel hält. Das erstere Element wird der westliche<br />
Besucher als christlich erkennen; das letztere ist afrikanisch, lässt<br />
sich aber leicht mit einem der drei Weisen aus der christlichen<br />
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Weihnachtsszene verwechseln. Da diese Figur ein wenig hinter der<br />
Jungfrau steht und so platziert ist, dass sie auf eine ergebene Opfergabe<br />
hindeutet, verweist die visuelle Syntax keineswegs auf die<br />
religiöse Begabung der Afrikaner.<br />
Das ist ein Effekt der visuellen Syntax. Die Botschaft dieser<br />
Verknüpfung bezieht sich eher auf die Unterwerfung unter das<br />
Christentum als auf die Begabung zur Anpassung. Die Madonna<br />
steht im Mittelpunkt, und das Ensemble ist das größte visuelle<br />
Element in dieser Vitrine. Außerdem ist es als einziges unmittelbar<br />
figurativ und folglich das einzige erkennbare visuelle Element,<br />
dessen unverkennbare Botschaft daher »Primat des Christentums«<br />
lautet. Das afrikanische Element wird zwar gezeigt, mit<br />
syntaktischen Mitteln aber unsichtbar gemacht.<br />
Bei der negativsten Lesart dieser Sequenz – die keineswegs die<br />
einzig mögliche darstellt – wird der Besucher auf Solidarität mit<br />
der moralischen Richtigkeit und Rechtschaffenheit eingestimmt,<br />
die in der einrahmenden Aussentafel zum Ausdruck gebracht werden,<br />
nur um dann in eine narzisstische Reflexion über das von<br />
»uns« gestaltete Afrika verstrickt zu werden, bei der es mehr um<br />
die westliche Expansion geht als um das, was durch sie geopfert<br />
wurde. Da es unterlassen wird, diese Spiegelung eindringlich zum<br />
Bewusstsein zu bringen – indem z. B. darauf verzichtet wird, Spiegel<br />
anzubringen, um den Betrachter visuell einzubeziehen und es<br />
»dir« damit zu ermöglichen, zeitweilig zum »Ich« zu werden –,<br />
könnte der Inhalt des konstativen Sprechakts dazu führen, dass<br />
die kritische Botschaft völlig negiert wird.<br />
Diese dreifache Einleitung rahmt den Hauptteil des Saals ein,<br />
in dem die verschiedenen Völker in der traditionellen Manier der<br />
frühen anthropologischen Forschung dargestellt werden. Die Verbindung<br />
der als realistische Details präsentierten echten Artefakte<br />
mit lebensgrossen Puppen, die in erstarrter Haltung Andersheit<br />
repräsentieren, gehört offenbar mit zu dem, was das Museum in<br />
seiner metamusealen Funktion bewahren muss. Hier fügen die<br />
Tafeln mit ihrem sachlichen Text keine andere Dimension hinzu,<br />
keine Kritik und kein Selbstbewusstsein. Die semiotische<br />
Einstellung des Besuchers bleibt daher in der Schwebe. Freilich,<br />
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denkbar<br />
das »Du« wird hier stärker als sonst wo nach kultureller und rassischer<br />
Zugehörigkeit differenziert. Durch den Anfang beruhigt<br />
und auf sich selbst konzentriert, ist der weisse Betrachter aus dem<br />
Westen darauf vorbereitet, staunend über die Andersheit visuelle<br />
und sprachliche Informationen in sich aufzunehmen. Was der<br />
Besucherin afrikanischer Herkunft widerfährt, weiss ich nicht;<br />
vermutlich wird der beruhigende Effekt der Einleitung auch sie<br />
nicht unberührt lassen. Dem Rahmen gelingt es nicht, den Besucher<br />
dieser oder jener Herkunft mit dem dauerhaften Spiegel<br />
auszustatten, den er braucht, um die afrikanischen Völker in ihrer<br />
geschichtlichen Situation zu sehen.<br />
Bisher habe ich mich bei der Erörterung des Übergangs an den<br />
ersten Weg gehalten, der zu dem besonders betont ausgestalteten<br />
Eingang hinführt. Die Wiedergabe des oben beschriebenen Effekts<br />
wird durch einen sei’s noch so oberflächlichen Blick auf<br />
den ande ren Zugang zu diesem Saal bestätigt. Während der eben<br />
beschriebene Eingang die Beziehung zwischen Darstellung der<br />
Vergangenheit und Verständnis der Gegenwart thematisierte, ist<br />
dieser fest auf eine Suche nach den Ursprüngen ausgerichtet.<br />
Von dieser Seite aus gesehen trägt der Saal die Überschrift »Der<br />
Mensch in Afrika« und proponiert damit einen Universalismus,<br />
der die Spezifizität der afrikanischen Völker, denen der Saal gewidmet<br />
ist, durchstreicht. Die Geschichte tritt in den Schatten der<br />
Vorgeschichte, der Archäologie der menschlichen Gesellschaft,<br />
deren primärer Index der Homo Africanus ist. Links ist eine Tafel<br />
mit der Überschrift »Frühzeitliche Menschen in Afrika«, und<br />
rechts findet sich ein Exponat mit dem Titel »Die Anfänge der<br />
Gesellschaft«.<br />
Links wird eine Aufnahme der vermutlich frühesten menschlichen<br />
Fussstapfen gezeigt, jener herausragenden Indizes der wirklichen<br />
Existenz und Anwesenheit des Menschen. Das Exponat auf<br />
der Rechten zeigt die frühesten ökonomischen Aktivitäten: Viehhaltung,<br />
Feldanbau, Jagen und Sammeln sowie Werkzeugherstellung.<br />
Dieser Eingang huldigt dem Kontinent als der Wiege der<br />
Menschheit, ja der Zivilisation. Doch während auf der anderen<br />
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Seite »unser« Einfluss auf »sie« die Informationen über Afrika<br />
einrahmt, wird der »Homo Africanus« hier zum »Menschen«<br />
überhaupt, der nicht im gleichen Masse wie die Griechen als Vorläufer<br />
dasteht. Daher ist er auch keine Herausforderung für die<br />
übliche Auffassung der Geschichte als einer mit Schrift, Staat und<br />
Militär verknüpften Entwicklung. Vielmehr verschwimmen die<br />
Konturen der historischen Stellung afrikanischer Gesellschaften<br />
gerade wegen ihres hohen Alters. Die Abteilung »Anfänge der<br />
Gesellschaft« spricht von einer allgemeinen Menschheit, deren<br />
primitives Stadium mit Afrika in Verbindung gebracht wird. Das<br />
wissenschaftliche Faktum der weit zurück reichenden Geschichte<br />
Afrikas trägt hier die Kennzeichnung eines Primitivismus, der<br />
ausserhalb der Geschichte steht und dessen erstarrte Bilder im<br />
Saalinneren gezeigt werden. 25<br />
Wieder ist der Rahmen raffinierter, als er bisher geschildert<br />
wurde. Nähert sich der Besucher dem Hauptteil des Saals aus<br />
dieser Richtung, betritt er durch eine enge Pforte das eigentliche<br />
«Afrika», wobei Äthiopien vor der geologisch orientierten Einteilung<br />
in »Landschaftsgebiete« – Flusstal, Savanne, Wüste, Wald –<br />
in Erscheinung tritt. Der Grund, weshalb Äthiopien diese Sonderstellung<br />
einnimmt, lässt sich an den Exponaten ablesen. Es könnte<br />
daran liegen, dass in Äthiopien die ältesten Zeichen menschlichen<br />
Lebens gefunden wurden. Aber es gibt, zumindest auf der Ebene<br />
der Konnotationen, noch einen weiteren Grund.<br />
Die ersten beiden Exponate sind dem »Christentum« zur Rechten<br />
und dem »Krieg« auf der Linken gewidmet. Die Ausstellung<br />
«Christentum» beginnt im vierten Jahrhundert v. Chr. sowie im<br />
dritten Jahrhundert n. Chr. mit der damals herrschenden salomonidischen<br />
Dynastie, die sich ihrerseits auf Salomon und Bathseba<br />
berief. Durch das Wort »Christentum« im Titel dieses Teils der<br />
Ausstellung wird die ganze Präsentation so ausgerichtet, dass wir<br />
das älteste Exponat als Vorgeschichte des späteren Christentums<br />
betrachten. 26 Die Vorstellung von einer jüdischen Kultur kommt<br />
gar nicht zum Vorschein; dennoch kann Salomon kaum als christliche<br />
Figur betrachtet werden. Die wichtigsten visuellen Exponate<br />
in dieser Vitrine sind eine auf Leinwand gemalte visuelle Schil-<br />
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denkbar<br />
derung der Geschichte von Salomon und Bathseba sowie eine<br />
schriftliche Darstellung mit einer Illustration.<br />
Dürfen wir einen Teil des nahegelegten Spaziergangs im Museum<br />
als Text auffassen, als narrativen Bericht mit einer Geschichte,<br />
die erzählt werden soll Die Konsequenz, die sich aus einer<br />
solchen Sicht ergibt, erscheint unausweichlich. Einerlei, welchen<br />
Eingang man wählt, der Saal der afrikanischen Völker kann dann<br />
nur durch das Christentum hindurch betreten werden. Darunter<br />
könnte man sich zwar eine relevante Form der Einführung in die<br />
afrikanische Geschichte vorstellen, aber es ist eben keine angemessene<br />
Einführung in »Afrika« als jener ethnographisch mit sich<br />
selbst identische, erstarrte Kontinent, als der es in diesem Saal<br />
hingestellt wird. Vielmehr fungieren die durchs Christentum hindurchführenden<br />
Eingänge als eine an den Betrachter gerichtete<br />
Anweisung, er solle sich einem Übergangsritus unterziehen: Durch<br />
eine Umkehrung der Prioritäten und eine Außerkraftsetzung der<br />
Logik (die widersprüchlichen Botschaften) wird der Besucher<br />
darauf vorbereitet, die afrikanischen Völker durch die Optik<br />
des abendländischen Christentums zu sehen. Die verschiedenen<br />
Exponate, von denen Afrika potentiell mit gebührender Vielfalt<br />
und innerer Verschiedenartigkeit vorgeführt wird, werden daher<br />
neutralisiert, indem der angepeilte Besucher von vornherein als<br />
Angehöriger der Kultur, die dieses Museum hervorgebracht hat,<br />
identifiziert wird.<br />
Für andere – insbesondere für den Besucher afrikanischer Abstammung<br />
– wirft der Eingang vermutlich ein Problem der Entfremdung<br />
auf. Mit christlicher Identität gewappnet oder belastet,<br />
steht der Besucher einem »Afrika« gegenüber, das bereits eine Fiktion<br />
ist: eine in bestimmter Weise fokalisierte Geschichte, bei der<br />
das Wissen durch Vorurteil ergänzt und die Fremdheit durch metaphorische<br />
Übersetzung neutralisiert wird – also eine bestimmte<br />
Sicht. Das Gesamtkonzept dieses Saals sowie der übrigen anthropologischen<br />
Säle lässt die Kulturen in einer auf dem Begriff des<br />
Typischen basierenden statischen Darstellung erstarren. Menschliche<br />
Körper werden als Muster ethnischer Einheit vorgeführt.<br />
Kulturen werden ausserhalb der Geschichte gezeigt.<br />
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Fazit<br />
Eine Möglichkeit, für visuelle Darbietungen narrative Unschuld<br />
in Anspruch zu nehmen, besteht darin, dass man die Fähigkeit<br />
des Bilds zum Erzählen von Geschichten bestreitet. Die Geschichte,<br />
die das Museum erzählen könnte und deren Erzählung seine<br />
derzeitige Funktion soviel überzeugender machen würde, ist die<br />
Geschichte der in diesem Museum – ja eigentlich in den meisten<br />
Museen dieser Art – geübten Darstellungspraxis: die Geschichte<br />
des sich verändernden, aber immer noch lebendigen Einverständnisses<br />
zwischen Privileg und Wissen, Besitz und Ausstellungskapazität,<br />
Stereotypisierung und Realismus, Zurschaustellung und<br />
Unterdrückung von Geschichte. Es gibt Hinweise darauf, dass<br />
der expositorische Akteur daran interessiert ist, dieses schwierige<br />
Projekt zu verfolgen.<br />
Nach wie vor gilt, dass eine Darstellung, bei der die afrikanischen<br />
Völker als etwas visuell Erfassbares gezeigt werden, diese<br />
Völker in einer Weise, die keineswegs radikal mit dem kolonialen<br />
Zwang der »fremden Einflüsse« bricht, aktiv ihrer Geschichte beraubt.<br />
Die Darstellung ausserhalb der Geschichte geht Hand in<br />
Hand mit der Darstellung des Typischen. Und beim Typischen<br />
bleibt ebenjene Individualität ausser Betracht, die dem Begriff der<br />
Hochkunst, der dem Met zugrunde liegt, als Basis dient. Dort sind<br />
den Artefakten ein Name und ein Zeitpunkt angeheftet, aber kein<br />
gesellschaftlicher Kontext. Hier dagegen erzählen die Exponate<br />
gerade beim Versuch, fremde Kulturen zu zeigen, eine Geschichte.<br />
Aber das ist weder die Geschichte der dargestellten Völker noch<br />
die Geschichte der Natur, sondern die Geschichte des Wissens,<br />
der Macht und der Kolonisierung, die Geschichte von Macht/<br />
Wissen. 27 Aber diese Geschichte legt ihre Karten nicht so offen<br />
auf den Tisch, wie sie es könnte; sie erzählt nicht »in der ersten<br />
Person«. Wenn dieser Akt des Geschichtenerzählens und dessen<br />
Subjekt nur stärker in den Vordergrund gerückt würden, wäre das<br />
Museum besser dafür gerüstet, auf die Erwartungen einer postmodernen<br />
Kritik zu antworten. Es liegt eine gewisse Ironie darin,<br />
dass Naturgeschichte Geschichte ausschliesst; und durch diese<br />
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denkbar<br />
Ausschliessung wird die Natur selbst ausgeschlossen.<br />
Diese Interpretation einiger Probleme des AMNH beweist die<br />
Spannung, die solchen Bildungseinrichtungen und, wenn man weiterdenkt,<br />
auch Einrichtungen der Ausstellung als eines Akts des<br />
konstativen Zeigens oder Exponierens innewohnt, selbst wenn das<br />
expositorische Handeln in der Hand besonders wohlmeinender<br />
und bewanderter Leute liegt. Ich für mein Teil habe Probleme in<br />
den Vordergrund gerückt und überlasse es den üblichen Einführungen<br />
von der Art des offiziellen Museumsführers, eine andere<br />
Anschauung zu vertreten, und zwar weniger weil es weder etwas<br />
gäbe, womit man zufrieden sein könnte, noch weil niemandem<br />
im besonderen Vorwürfe zu machen wären, sondern weil die Probleme<br />
offenbar sowohl unvermeidlich als auch gravierend sind.<br />
Die beiden Hauptformen der Wahrheitsrede – Realismus und<br />
wissenschaftlicher Diskurs – sind im Zusammenwirken mit der<br />
gelehrten Wahrheitsrede vom Typ des Quellenzitats, indes sie um<br />
die Eroberung der konstativen Autorität und der demonstrativen<br />
Überzeugungskraft konkurrieren, in jenen »Kapiteln« verkörpert,<br />
die von Schaustücken in natürlicher Umgebung und von artikulierten<br />
Systemen – Schaukästen und Diagrammen – gebildet<br />
werden. Jede dieser Formen beinhaltet eine andere Dynamik zwischen<br />
visuellen und verbalen Zeichen. Allein Anschein nach kontrastieren<br />
sie in punkto Verfahren, konvergieren aber im Hinblick<br />
auf die Resultate. Diese Konvergenz deutet darauf hin, dass der<br />
Realismus – bei dem sich das Wirken des Urhebers verbirgt und<br />
die das visuelle Bild prägenden Worte ihre Sprecher unsichtbar<br />
machen – im gleichen hohen Masse diskursiv ist wie die wissenschaftliche<br />
Akzentuierung der Diskursivität durch Diagramme,<br />
Zahlen und Erklärungen.<br />
Freilich, der expositorische Akteur hat sich offenbar sehr bemüht,<br />
seine alten Schätze mit kritischem Biss auszustatten. Bei<br />
den Anstrengungen, den Besucher auf ideologische Probleme hinzuweisen,<br />
werden drei verschiedene Haltungen eingenommen. Die<br />
erste besteht darin, dass man explizite und wiederholte Vergleiche<br />
zwischen den gezeigten Kulturen und der »abendländischen Kultur«<br />
anstellt. Das könnte dazu beitragen, einer übertriebenen «Al-<br />
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terisierung» 28 abzuhelfen, obwohl die Nichtbeteiligung »unserer«<br />
Kultur an der Ausstellung eine Absonderlichkeit bleibt, die den<br />
Effekt der Vergleiche zu neutralisieren droht.<br />
Eine weitere gut repräsentierte Strategie für kritische Einführungen<br />
ist die Betonung der Kontinuität von Traditionen. Die dritte<br />
Strategie ist die der expliziten Selbstreflexion. Nirgends sind<br />
die Tafeln und Exponate ironisch – d. h. ironisch im Hinblick auf<br />
das Museum und dessen eigene Herkunft. Ein raffinierter Einsatz<br />
von Spiegeln hätte, wie oben bereits angedeutet, dazu beitragen<br />
können, in dem Saal der asiatischen Völker zu einer Umkehrung<br />
der Gehrichtung zu ermutigen, und könnte den Betrachter in entscheidenden<br />
Augenblicken in die dargestellte fremde Welt einbeziehen.<br />
So würde die Andersheit mit der Einsicht vermischt, dass<br />
die Welt, die aus diesem kolonialen Bestreben hervorging, dieselbe<br />
ist wie die, an der jeder Besucher heute teilhat. Unverzichtbar ist<br />
meines Erachtens, dass in ausschlaggebenden Momenten – etwa<br />
am Eingang zum Saal der afrikanischen Völker – auch die koloniale<br />
Gewalt dargestellt wird. Aber visuelle und verbale Massnahmen<br />
zur Enttypisierung können dabei mitwirken, dass man von<br />
der holistischen Darstellung – von dem diesen Ausstellungssälen<br />
zugrunde liegenden synekdochischen Tropus – abkommt.<br />
Einigen Ausstellungsteilen gelingt es besser als den oben erörterten,<br />
einen anderen Zugang zum Metamuseum nahezulegen,<br />
nämlich einen Zugang, der die Vermittlung der Kenntnis des Objekts<br />
mit der Konstruktion dieses Objekts durch Subjekte vereinigt.<br />
Tatsächlich gibt es Exponate, bei denen die Texttafeln nicht<br />
den visuellen Schaustücken widersprechen. Es gibt Exponate, deren<br />
visuelle Überzeugungskraft so stark ist, dass keine Tafel ihrer<br />
Rhetorik etwas entgegensetzen kann. Ausserdem gibt es Exponate,<br />
wo die ausgestellten Stücke wirklich von dem durch die Begleittexte<br />
ins Spiel gebrachten kritischen Biss profitieren.<br />
Die in diesem gemischten Diskurs aus Bildern, Worten und<br />
räumlicher Verteilung enthaltenen Bruchstellen, die ich aufzuzeigen<br />
versucht habe, sind repräsentativ für ähnliche Bruchstellen<br />
innerhalb der sozialen Wirklichkeit von New York City, dem Zentrum<br />
einer Welt, der es schwerfällt, mit ihrem kolonialistischen<br />
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denkbar<br />
Erbe zurechtzukommen. Und Ähnlichkeit ist eine prekäre Sache:<br />
Sie kann naturalisieren, was eigentlich als etwas historisch Spezifisches<br />
und daher als etwas Veränderliches herausgestellt werden<br />
sollte. Die in New York City wohnhaften Völker sind Angehörige<br />
einer Welt, der es nicht sonderlich leicht fällt, die Vorsilbe »post-«<br />
der Postkolonialität zu bejahen. So gesehen verweisen die Konflikte<br />
im Museum auf Probleme und Brüche in der Einheit eines<br />
Gesamtdiskurses der Herrschaft. Doch es gibt, wie ich ebenfalls<br />
nachzuweisen versucht habe, ein Vorherrschen eines bestimmten<br />
Elements, ein Konvergieren eines ohnehin schon sehr starken anziehenden<br />
Moments, nämlich der Tendenz, an die Wahrheit des<br />
durch Fiktion dargestellten Wissens zu glauben.<br />
Verschiedene Museen äussern unterschiedliche Fiktionen,<br />
doch die Gemeinsamkeit dieser Fiktionen besteht darin, dass sie<br />
weder die Karten auf den Tisch legen noch ihre eigene Stimme<br />
offenbaren, sondern ihre Objekte zeigen. Das »Zeigen« der Naturgeschichte<br />
bedient sich einer Überredungsrhetorik, die nachgerade<br />
unweigerlich von der Überlegenheit der angelsächsischen,<br />
weitgehend christlich geprägten Kultur überzeugt. Am Ende der<br />
evolutionären Leiter ist ein durchgängig sprechendes »Ich« selbst<br />
abwesend im Inhalt der Schaustellungen, abwesend in den »Zeigungen«,<br />
welche die Schaukästen des Museums sind. Das Zeigen<br />
wird, wenn es auf das Erzählen der eigenen Geschichte verzichtet,<br />
zur zur Schau stellenden Prahlerei.<br />
Mieke Bal: www.miekebal.org<br />
1977 promovierte sie in Französischer und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht.<br />
Von 1987 bis 1991 war Mieke Bal als Vergleichende Literatur-wissenschaftlerin und Direktorin des<br />
Graduiertenprogramms am Institut für Fremde Sprachen, Literaturen und Linguistik der Universität von<br />
Rochester (New York) tätig. Von 1991 bis 1996 arbeitete sie als dort Gastprofessorin für Visuelle und Kulturelle<br />
Studien, seit 1991 aber hauptsächlich als Professorin für Literaturtheorie an der Universität von<br />
Amsterdam. Ihre Studiengebiete umfassen Literaturtheorie, Semiotik, visuelle Künste, Cultural studies,<br />
postkolonialistische und feministische Theorie, Untersuchungen französischer Literatur und Kultur, des<br />
Alten Testaments, der gegenwärtigen Kultur sowie derjenigen des 17. Jahrhunderts. Bals Arbeiten sind<br />
unter anderem beeinflusst von Judith Butler, Julia Kristeva, Gayatri Chakravorty Spivak, Gilles Deleuze,<br />
Jacques Derrida und Homi Bhabha.<br />
Zwischen 2004 und 2005 hat Mieke Bal in Zusammenarbeit mit dem Künstler Shahram Entekhabi eine<br />
Serie von Videos zum Thema Migration produziert: Glub, Road Movie, Lost in Space, eye contact.<br />
2003 war Mieke Bal auch an der Produktion eines Films über arabische Migranten in Frankreich beteiligt.<br />
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354<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Michael Ann Holly danke ich für ihre überaus sachdienlichen Anmerkungen zu einer<br />
früheren Fassung dieses Kapitels. Hier dürfte auch der Ort sein, um die Widmung dieses Kapitels<br />
zu erklären. Als ich eine frühere Fassung dieses Texts zum erstenmal veröffentlichte, trug<br />
sie eine Widmung für Alexander Holly. Alexander hatte mir gesagt, ich solle ins American<br />
Museum of Natural History gehen, um mir den Wal anzuschauen, anstatt immer das Metropolitan<br />
Museum of Art zu besuchen. In kindlicher Weisheit redete er mir zu: Tiere zeigen<br />
sei eigentlich das gleiche wie Kunst zeigen. Ich blieb an der buddhistischen Statue hängen<br />
und habe es nicht geschafft, mir Alexanders Lieblingsstück anzuschauen. Alexander starb in<br />
derselben Woche, in der dieser Artikel erschien, und hat nie von der Überraschung erfahren,<br />
die ich ihm zugedacht hatte. Von ihm stammt die Anregung, die Zusammenhänge, die ich hier<br />
herzustellen versuche, zu sehen. Deshalb und weil er stets der vierzehnjährige Knabe bleiben<br />
wird, der er damals war, widme ich dieses Kapitel jetzt seinem Angedenken. Angesichts der<br />
weiter unten erwähnten Darstellung des Hundeopfers hätte er vielleicht ausgerufen: »Das ist<br />
gemein!« Außerdem hätte er - er war auf dem besten Wege dahin - einer der fähigsten Kritiker<br />
ebendieser Art von epistemologischen und pädagogischen Tricks werden können.<br />
2<br />
Siehe Jonathan Cullers Structuralist Poetics (1975). In diesem Buch wird die Naturalisierung<br />
in der Literatur aufschlussreich erörtert. Für ein ähnliches Phänomen - nämlich für rhetorische<br />
Mittel, mit deren Hilfe sich Beschreibungen so geben können, als gehörten sie »natürlich«<br />
in die in Wirklichkeit von ihnen unterbrochene Erzählung - benutzt Hamon den Ausdruck<br />
»Motivation«. Siehe Philippe Hamon, Introduction ä l›analyse du discours deseriptif. Wenn<br />
ich hier von »Naturalisierung« spreche, soll das die rhetorische Natur der Erfahrung der<br />
Stadtgestalt verdeutlichen.<br />
3<br />
Zappler, Official Guide (1990), S.3.<br />
4<br />
Der Ausdruck »Symptom« ist hier in seinem spezifischen, Peirceschen Sinn gemeint und bedeutet<br />
ein unabsichtlich geäußertes Zeichen. Ob der Ausdruck außerdem etwas Medizinisches<br />
oder Freudianisches konnotiert und so Krank heit oder Unbehagen bezeichnet, bleibe dem<br />
Leser überlassen. Siehe Sebeok, Signs (1994), S.24-28.<br />
5<br />
James Clifford präsentiert eine erhellende und geistreiche Fassung des von Frederic Jameson<br />
wiedergegebenen und von Greimas ersonnenen semiotischen Quadrats. Ebenso wie Jameson<br />
benutzt auch Clifford die semiotische Analyse, um die Strukturen der Ideologie zu kartographieren,<br />
nicht um - wie es bei Greimas geschähe - geltend zu machen, daß die Sinnstiftung in<br />
dieser Weise begrenzt sein müsse. Siehe James Clifford, The Predicament of Culture (1988),<br />
S. 224; A. J. Greimas und Francois Rastier, »The Interaction of Semiotic Constraints« (1968);<br />
Fredric Jameson, The Political Unconscious (1981).<br />
6<br />
Siehe Fabians klassische Kritik des ausweichenden Umgangs mit der Zeit in der Ethnographie:<br />
Johannes Fabian, Time and the Other (1983).<br />
7<br />
Der Ausdruck »Effekt des Realen« (effet de réel) wurde 1968 mit Erfolg von Roland Barthes<br />
eingeführt. Siehe Barthes, »L’effet de réel«. Dieser Terminus ist problematisch und zugleich<br />
attraktiv. Siehe meine Kritik in: On Story-Telling (1991), S. 109-<strong>14</strong>5. Kurz gesagt: Dieser Ausdruck<br />
bezieht sich auf literarische Phänomene, etwa auf Beschreibungen, deren Nebenbedeutung<br />
»Dies ist Realität« größere Wichtigkeit erlangt als die Hauptbedeutung dessen, was da im<br />
besonderen beschrieben wird.<br />
8<br />
Zur Unterscheidung zwischen Artefakt und ästhetischem Objekt siehe Roman Ingarden, Das<br />
literarische Kunstwerk. Diese Unterscheidung hat Wolfgang Iser im Rahmen seiner Darstellung<br />
der Rezeptionsästhetik (Der Akt des Lesens [1976]) wieder aufgegriffen. Die Begriffe<br />
Ikon, Index und Symbol werden hier im Sinne von Peirce verwendet. Ein kurzer Text, in dem<br />
alle wichtigen Termini enthalten sind, wurde von Robert E. Innis in: Semiotics (1984), S.1-z3,<br />
veröffentlicht. Zur Einführung siehe Umberto Eco und Thomas Sebeok (Hg.), The Sign of the<br />
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355<br />
denkbar<br />
Three (1983), und die Einleitung zu meinem Buch On Meaning Making (1994)<br />
9<br />
Den Zusammenhang zwischen Herrschaft (im Bereich der Feldforschung) und Sammeln (für<br />
das Museum) legt Donna Haraway in ihrem Buch Primate Vision (1989) dar. Zur Problematik<br />
des Sammelns siehe Susan Stewart, On Longing (1994); Phyllis Mauch Messenger, The<br />
Ethics of Collecting Cultural Property (1989); Michael Ames, Museums, the Public, and<br />
Anthropology (1986). Allgemeiner ist die Thematik des von John Elsner und Roger Cardinal<br />
herausgegebenen Sammelbands The Cultures of Collecting (1994)<br />
1o<br />
Zur Kritik der zuletzt genannten Art siehe Michael Fischer, »Ethnicity and the Postmodern<br />
Art of Memory« (1986).<br />
11<br />
Analysiert wird die metamuseale Funktion von Museen wie dem American Museum of<br />
Natural History in dem genannten Buch von Ames.<br />
<strong>12</strong><br />
Oder mit dem »Wilden in uns selbst«, dessen Existenz, wie ich in Kapitel 6 von Double Exposures<br />
(1996), S. 21 off., zeige, von Corbey vehement bestritten wird. Siehe zur hier auf dem<br />
Spiel stehenden Logik der »hinweisenden Selbst definition durch Negation« Hayden White,<br />
»The Forms of Wildness. Archeo logy of an Idea«, in: Tropics of Discourse (1978). Zur Kritik<br />
des (Neo-)Kolo nialismus innerhalb der Postkolonialität siehe Gayatri Chakravorty Spivak,<br />
Outside in the Teaching Machine (1993)<br />
13<br />
Von »Unterschieden« ist hier in der spezifischen Bedeutung des Wortes die Rede, die ihm<br />
von Pierre Bourdieu in seiner Studie Die feinen Unterschiede (1987) gegeben wird.<br />
<strong>14</strong><br />
In anderen Räumen des Museums kommt eine dritte Darstellungsstrategie zum Einsatz:<br />
die Ästhetik der Wissenschaftlichkeit durch Projektion ästhe tisch angenehmer und kognitiv<br />
überzeugender dreidimensionaler Diagramme. Diese Strategie kommt in den Tiersälen, die ich<br />
hier nicht analysiere, eindringlicher zum Zuge.<br />
15<br />
Zum semiotischen Status solcher Zeugnisse siehe Umberto Eco und Thomas Sebeok (Hg.),<br />
The Sign of the Three (1983). Zur »Stammeskunst« als kulturelles Zeugnis siehe Clifford,<br />
The Predicament of Culture (1988), S. 187-252. Mit Cliffords Deutung des Museums bin ich<br />
weitgehend einverstanden. Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, dass seine von Ames<br />
übernommene Unterscheidung zwischen »formalistischen« und » kontextualistischen« Protokollen<br />
die im Met bzw. im American Museum of Natural History eingesetzten semiotischen<br />
Strategien vollständig erklärt. »Ästhetik« ist ebenfalls ein Kontext, und darum ist das Etikett<br />
»Formalismus« notwendig zum Scheitern verurteilt. In beiden Fällen werden die Werke als<br />
Indizes verwendet, insbesondere als Synekdochen; doch das »Ganze«, für das sie als »Teil«<br />
stehen, ist jeweils ein anderes. Die Zeit ist der ausschlaggebende Faktor - der Grund, dessen<br />
Fehlen (in diesem Museum) oder dessen Vorhandensein (im Met) den Sinn des repräsentativen<br />
Objekts stiftet.<br />
16<br />
Siehe Oosten und Moyer, von denen Genesis 2 und 3 in diesem Sinne analy siert werden.<br />
Siehe ferner Bal, Lethal Love (1987), S. 1o4-130.<br />
17<br />
Crimp, Über die Ruinen des Museums (1996), S.76.<br />
18<br />
Diese Anmerkung sollte nicht im Sinne einer Befürwortung des pauschalen und unkritischen<br />
Gebrauchs von Spiegeln aufgefasst werden. In der neuen, 1994 eröffneten Ausstellung im<br />
National Museum of the American Indian ist am Ende des Rundgangs ein Spiegel aufgestellt.<br />
Dieser Spiegel steht in der Nähe des Ausgangs und zeigt den Besucher beim Hinausgehen, aber<br />
nichts von den ausgestellten Stücken. Infolgedessen steht die Wirkung im Gegensatz zu dem,<br />
was ich hier vorschlagen möchte. Sie isoliert die Besucher von den eben gesehenen Objekten<br />
der Ureinwohner, und sofern überhaupt ein Gefühl ausgelöst wird, dürfte es eher ein Gefühl<br />
der Erleichterung als eines der Solidarität oder der hybriden Identität sein. Siehe Hill und HilI,<br />
Creation’s Journey (1994) Im Gegensatz dazu vgl. Edwin Janssen, Narcissus (1994), sowie den<br />
Schluß von Bal, Double Exposures (1996).<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 355<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>08</strong> <strong>Uhr</strong>
356<br />
19<br />
Bei einem neuerlichen Besuch im Dezember 1994 stellte ich fest, dass diese spezielle Tafel<br />
wegen des Aufbaus einer Wechselausstellung («The First <strong>12</strong>5 Years«) abgehängt worden war.<br />
Ich weiß nicht, ob, wie und wo sie wieder auftauchen wird.<br />
20<br />
Liest man diese räumliche Abstandnahme als Schrift einer moralischen Distanzierung von<br />
einem zeitlich entfernten Standpunkt, wird sie zu einem Emblem von Derridas Theorie der<br />
différance. Siehe Die Schrift und die Differenz (1972).<br />
21<br />
Dabei handelt es sich nicht um den Schaukasten, den man als ersten erblickt - er handelt von<br />
Wüstenbewohnern -, sondern um einen vergleichbaren. Ein Photo des ersten stand nicht zur<br />
Verfügung.<br />
22<br />
Der Saal selbst liegt in einem dem Schutz der empfindlichen Schaukästen dienenden Dunkel.<br />
Der Eingang, der auf beiden Seiten die eben genannten Exponate enthält, ähnelt einem kurzen<br />
Korridor. »Afrika« trägt deutlich die Gestalt eines weiblichen Körpers.<br />
23<br />
Dieser Gedanke drängt sich noch schmerzlicher auf, sobald aufgrund der Ähnlichkeiten klar<br />
wird, dass dies genau die Art und Weise ist, in der es dem Staat, in dem dieses Museum steht,<br />
gelungen ist, seine bleibenden »Vorteile« in dem von ihm eroberten Raum zu belassen. Könnte<br />
es sein, dass diese mögliche Ähnlichkeit-im-Gegensatz das »Unbewusste« des expositorischen<br />
Akteurs angesprochen hat<br />
24<br />
Als Westeuropäerin mit (weit zurückliegender) katholischer Erziehung habe ich dieses<br />
Exponat vermutlich anders gelesen als jemand, der sich in der religiösen Kultur Afrikas<br />
auskennt. Das ist aber gerade der Witz: Das Museum beansprucht, »uns« über die »anderen«<br />
zu informieren; sein Hauptzweck ist ein epistemisch-pädagogischer.<br />
25<br />
Zum Primitivismus in der Literatur siehe Marianna Torgovnick, Gone Primitive (1990);<br />
zum Primitivismus in der Kunst siehe Susan Hiller (Hg.), The Myth of Primitivism (1991).<br />
26<br />
Die Konstruktion der Chronologie als ideologisches Werkzeug ist ein bekanntes Problem<br />
der Forschung. Ausführlich erörtere ich es in: Death and Dyssymmetry (1988). David Carrier<br />
(S.16 f.) erinnert an die Doppelstruktur der Chronologie in Gombrichs Art and Illusion<br />
(1966). Carrier unterscheidet zwischen Annalen (einem schlichten Verzeichnis der Ereignisse<br />
in der Reihenfolge ihres Vorkommens) und narrativem Bericht. Meines Erachtens ist Carriet<br />
naiv, wenn er annimmt, eine Liste wie Gombrichs Aufzählung - ägyptischer Vornaturalismus,<br />
griechischer Naturalismus, byzantinischer Antinaturalismus, Wiederbelebung des<br />
Naturalismus in der Renaissance, Entwicklung des Naturalismus und Ende des Naturalismus<br />
im neunzehnten Jahrhundert - sei ein »schlichtes Verzeichnis der Ereignisse« und nicht ein<br />
(fokalisierter) narrativer Bericht. Gombrichs Betonung des Naturalismus als Ordnungsprinzip<br />
der Kunstgeschichte ist ebenso von Vorurteilen geprägt wie die in diesem Museum waltende<br />
Akzentuierung des Christentums als »Anfang« im Saal der afrikanischen Völker. Ich kenne<br />
keine treffendere Kritik an Gombrichs Naturalismusbegriff als Brysons Buch Vision and<br />
Painting (1983).<br />
27<br />
Siehe Spivaks brillante Kritik der dogmatischen Philosophie in: »More an Power/Knowledge«,<br />
in: Outside in the Teaching Machine (1993), S.25-52. Dort geht die Autorin erneut auf<br />
den Foucaultschen Begriff »Macht/Wissen« ein.<br />
28<br />
[Siehe Anm. d. Hg. (Fußnote 28) auf S.250.1<br />
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357<br />
denkbar<br />
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359<br />
denkbar<br />
8<br />
Beate Florenz<br />
Potentiale und Grenzen<br />
verbaler Artikulationen in<br />
der Kunstvermittlung<br />
Zunächst<br />
Die Kunstvermittlung hat es mit diversen Artikulationsformen zu<br />
tun. 1 Da ist zunächst die künstlerische Arbeit, die sich als Artikulation<br />
beschreiben lässt: eine Sprachform, die nicht lediglich<br />
ausspricht, was bereits vorhanden war, sondern als künstlerische<br />
Artikulation ein eigenes Potential eröffnet. Sei es als eine spezifische<br />
Erkenntnisform, als Darstellung oder/und als Konstruktion<br />
von Welt.<br />
Der künstlerischen Arbeit, dem Werk, steht in der Kunstvermittlung<br />
die Artikulation derjenigen Personen gegenüber, die das<br />
Werk mit ihren Sinnen wahrnehmen. Also sowohl den KunstvermittlerInnen<br />
als auch den Ausstellungs- oder MuseumsbesucherInnen,<br />
seien es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. Der Artikulation<br />
dieser Wahrnehmenden 2 offenen Raum anzubieten, ist<br />
ein zentrales Anliegen der zeitgenössischen Kunstvermittlung.<br />
Ob und wie sich die Teilnehmenden – seien es Kinder, Jugendliche<br />
oder Erwachsene – artikulieren, definiert sich in jeder Vermittlungssituation<br />
neu. Von der intensiven Verweigerung über<br />
eine passive Rezeptionshaltung bis zur aktiven Auseinandersetzung<br />
mit Werk und Vermittlungssituation reicht ein breites Spektrum.<br />
Entsprechend vielfältig sind die Weisen der Artikulation,<br />
die sich in einer Vermittlungssituation zeigen.<br />
So kommt die verbale Sprache in der Vermittlungssituation<br />
ebenso zum Einsatz wie der Körper der Teilnehmenden, ihre Mimik<br />
und Gestik. Nicht nur die spontane Reaktion auf Werke,<br />
Ausstellung und Ort der Vermittlung artikuliert sich so auch über<br />
den Körper, auch eine länger anhaltende Auseinandersetzung<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 359<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:09 <strong>Uhr</strong>
360<br />
kann diese physischen Artikulationen einbeziehen. Vertraut sind<br />
solche Arbeitsweisen mit verschiedenen Artikulationsformen im<br />
Rahmen von Workshops. Sie schaffen einen eigenen Rahmen, ein<br />
Format der Vermittlung, das insbesondere die Selbsttätigkeit der<br />
Teilnehmenden akzentuiert und zu eigener Artikulation anregt.<br />
Die künstlerische Arbeit bildet hier den Anlass oder Ansatzpunkt<br />
für die eigene und zumeist auch materialisierte Artikulation. Sei<br />
es als plastische Form, Video, Zeichnung, Malerei, Fotografie<br />
(und selbstverständlich ist diese Reihe erweiterbar) oder auch als<br />
Text oder Aufführung.<br />
Anders als in einem solchen schon fast klassisch zu nennenden<br />
Workshop können Vermittlung und Werk in einem partizipatorischen<br />
Kunstprojekt eine symbiosehafte Beziehung eingehen.<br />
Was sich hier durch die Teilnehmenden artikuliert, bildet einen<br />
integralen Bestandteil solcher künstlerischer Arbeit. Wenn etwa<br />
die Künstlerin Almut Linde NichtkünstlerInnen als AkteurInnen<br />
in ihre Projekte involviert, öffnet sie den Werkprozess auf deren<br />
Artikulation hin: 2005 wurde Almut Linde eingeladen, in der<br />
Künstlerstätte des Schlosses Plüschow ein Kunstprojekt zu realisieren,<br />
das Personen des Dorfes Plüschow einbeziehen sollte.<br />
Linde schildert den Projektverlauf in einer Publikation 2006, aus<br />
der hier ein längeres Zitat folgt: «Ich entwickelte ein Projekt im<br />
Stall des Milchproduktionsbetriebes Plüschow. Die Agrargenossenschaft<br />
produziert dort mit einem Viertel der ehemaligen Belegschaft<br />
täglich 3000 Liter Kuhmilch und stellt einen wirtschaftlich<br />
autarken Betrieb dar. Die Milchkühe werden in diesem Stall geboren<br />
und verbringen ihr ganzes Leben dort.<br />
Die Aktion sah vor, den im Stall arbeitenden Personen die<br />
paradoxe Handlungsanweisung zu geben, ihre Lieblingskuh zu<br />
zeigen. Mir [Linde] schwebte der entfremdete Arbeiter in der entfremdeten<br />
Umgebung der Massentierhaltung vor, der unsicher auf<br />
irgendein Tier in der Ferne zeigt oder nicht weiss, was er tun soll.<br />
In der Realität gestaltet sich das Projekt jedoch anders als erwartet.<br />
Die Angestellten hatten eindeutige Lieblingskühe, und<br />
präsentierten sich selbstverständlich mit ihnen innerhalb des<br />
Pferches. Dazu erzählten sie von ihrer Arbeit. […] Die Fotos der<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 360<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:09 <strong>Uhr</strong>
361<br />
denkbar<br />
Mitarbeiter ergeben schliesslich ein differenziertes Portrait der<br />
Ambivalenzen von Massentierhaltung und der persönlichen Integrität<br />
der Personen, die dort arbeiten». 3<br />
Die dem Projekt zugrunde liegende Intention der Künstlerin<br />
wurde hier durch die Artikulationen der Teilnehmenden nicht<br />
unterlaufen, wie eine ergebnisorientierte Perspektive der künstlerischen<br />
Arbeit formulieren könnte. Vielmehr nutzt Linde die<br />
Artikulationen der Teilnehmenden in Wort und Präsentation (ihrer<br />
Lieblingskühe) zu einer Revision der eigenen Intention. Die<br />
Veränderung mittels der Artikulation der Teilnehmenden ist einer<br />
solchen partizipatorischen Arbeit integral. Auch wenn Linde<br />
den Modus der Artikulationen determiniert – so entstehen jeweils<br />
Fotografien, die die Angestellten mit ihrer Lieblingskuh im Stall<br />
zeigen -, was hier artikuliert wird, findet eine direkte Umsetzung<br />
in der künstlerischen Arbeit. 4<br />
Perspektive: Verbale Artikulationen<br />
Die diversen Artikulationsformen, mit denen es die Kunstvermittlung<br />
zu tun hat, lassen sich in der jeweiligen Situation kaum<br />
voneinander trennen. Neben der künstlerischen Arbeit rufen auch<br />
nonverbale Artikulationen der Teilnehmenden durchaus verbale<br />
hervor, verbale andererseits ebenso nonverbale. Materiale Artikulationen<br />
gliedern sich je nach Situation in dieses Vermittlungsgeflecht<br />
ein. Das zeigt schon ein Blick auf eine eher klassische<br />
Vermittlungssituation in einer Ausstellung: Zunächst einmal<br />
kommen die BesucherInnen in die Ausstellungsinstitution hinein,<br />
legen vielleicht ihre Mäntel ab, werden auf die Taschengrösse<br />
hin kontrolliert, sammeln sich als Gruppe für eine Vermittlungseinheit<br />
an einem bestimmten oder auch variablen Treffpunkt.<br />
Schon diese einfachsten vorbereitenden Aktionen rufen Reaktionen<br />
hervor, abwartende, neugierige oder auch abwehrende. Ein<br />
mehr oder weniger stark sozialisiertes Besucherverhalten wird<br />
eingenommen – eine durchaus nicht nur positive Bedingung für<br />
die Vermittlungssituation. Die Begrüssung der Gruppe agiert mit<br />
unterschiedlichen Ebenen der Artikulation: Die Körpersprache<br />
der Vermittelnden spielt eine ebensolche Rolle wie ihre verbale<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 361<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:09 <strong>Uhr</strong>
362<br />
Kommunikation. Entsprechendes gilt für die Reaktionen der Teilnehmenden.<br />
Wie und welche Formen der Artikulation weiter genutzt werden,<br />
hängt von unterschiedlichsten Faktoren ab. Hierzu gehören<br />
auch die durch das System Kunst vorgegebenen Bedingungen<br />
wie die Institution und ihre Mechanismen, die Inszenierung der<br />
Werke, Ort und Räume, die Akzeptanz oder die Bekanntheit der<br />
künstlerischen Arbeiten. Ebenso relevant sind die Elemente, die<br />
jede(r) Teilnehmende in die Situation einbringt, seien es kulturelle,<br />
subjektive oder auch situative Verfasstheiten – ob ich müde,<br />
fit oder angespannt mit Kunstwerken umgehe, macht sich durchaus<br />
bemerkbar. Und selbstverständlich formuliert sich in einem<br />
workshop, einer Führung oder anderen Formaten der Kunstvermittlung<br />
auch immer eine soziale Situation, die zu berücksichtigen<br />
ist. Die Kunstvermittlung muss sich im Geflecht dieser Faktoren<br />
bewegen und damit reale und/oder mentale Räume schaffen, in<br />
denen eine Annäherung von Teilnehmenden und künstlerischer<br />
Arbeit möglich wird. 5<br />
Die verbale Sprache ist, wie angesprochen, durchaus nicht<br />
das einzige Instrument, das für eine solche Annäherung in der<br />
Kunstvermittlung genutzt wird. Sie nimmt jedoch, auch in der<br />
zeitgenössischen Kunstvermittlung, die vielfältige Formen der<br />
Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit künstlerischer<br />
Arbeit entwickelt hat, eine wichtige Position ein. Als einführendes<br />
Instrument, Dialog- , Reflektions- und Dokumentationstool<br />
(in Audio- oder Schriftform) kommt der verbalen Sprache eine<br />
enorme Relevanz zu. 6<br />
Verbale Sprache wird intensiv genutzt, um sich mit Kunst auseinanderzusetzen.<br />
Auch in der Kunstgeschichte. Wobei auch hier<br />
die verbale Sprache weit über ihre Funktion als ein systematisierendes<br />
Mittel hinausgeht. Besondere Bedeutung kommt der Sprache<br />
in der Arbeit des Kunsthistorikers Max Imdahl (1925–1988)<br />
zu. 7 In seinem Text «Autobiographie» pointiert Imdahl sein Arbeiten<br />
mit der verbalen Sprache: «Hat man überhaupt etwas wirklich<br />
gesehen, noch bevor man versucht hat, es – mühsam genug<br />
– sprachlich zu artikulieren, und bevor man sich dessen bewusst<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 362<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:09 <strong>Uhr</strong>
363<br />
denkbar<br />
geworden ist, dass sprachliche Annäherungen die Anschauung<br />
zu intensivieren und sie gewiss auf die Ebene der Reflexion zu<br />
bringen, das Angeschaute selbst aber nicht zu ersetzen vermögen<br />
Wie gross ist also die Differenz, als wie gross ist sie mittels der<br />
interpretierenden Sprache – und nur mittels dieser – zu erweisen,<br />
um derart die Nichtsubstituierbarkeit einer Bildevidenz selbst zu<br />
beweisen» 8<br />
Sowohl in seinen Texten als auch in Vermittlungssituationen<br />
hat Imdahl diesen mühsamen Prozess, sich sprachlich zu artikulieren,<br />
um sich dem Werk anzunähern, immer wieder aufgenommen.<br />
Eindrücklich nachvollziehbar ist diese Arbeit an und mit der<br />
Sprache in einem zunächst 1974 erschienen Text zu Werken von<br />
Cézanne, Braque und Picasso. 9 Die Logik der Begriffssprache wird<br />
hier in eine ständige Bewegung überführt, deren Bezugspunkt die<br />
Anschauung der Werke ist. Artikulation wird so zu einem performativen<br />
Akt.<br />
Die Aufzeichnung der Seminare Imdahls im Bayerwerk Leverkusen<br />
– als Vermittlungssituation – verdeutlicht dieses Potential<br />
der verbalen Sprache im Prozess des Artikulierens.<br />
In der ersten Sitzung dieses Seminars vom 06.<strong>02</strong>.1979 ging es<br />
um Werke von Josef Albers, Max Bill und Pablo Picasso. Imdahl<br />
eröffnet die Seminarsitzung mit den folgenden Sätzen: «Ich darf<br />
mich Ihnen kurz vorstellen, mein Name ist Max Imdahl. Ich bin<br />
Professor für Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum,<br />
ich bedanke mich sehr für die Einladung, hier ein Experiment zu<br />
machen, denn es ist ein Experiment […] Zunächst, das Risiko liegt<br />
wirklich auf meiner Seite, denn ich möchte Ihnen keinen Vortrag<br />
halten, ich möchte mit Ihnen gerne vier oder fünf moderne Werke<br />
diskutieren, hin und her fragen, mit Ihrem gleichzeitigen Einverständnis,<br />
alles auf Band aufzunehmen, um zu sehen, wie unser<br />
Gespräch läuft.» 10<br />
Mit diesen Worten stellt Imdahl nicht nur einen Kontakt zu<br />
den Teilnehmenden her. Er benennt hier Determinanten der Vermittlungssituation:<br />
Werk, fachwissenschaftliche Autorität, Experiment<br />
und Risiko, Gespräch bzw. das Hin- und Her- Fragen der<br />
Beteiligten. Eben dieses Hin- und Her-Fragen gilt dem Prozess<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 363<br />
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364<br />
der Artikulation in der Vermittlungssituation. Gesprächspartner<br />
dieses Hin und Hers sind alle Beteiligten: Personen und Werke.<br />
Die Autorität des Wissens verschiebt sich in diesem Hin und Her:<br />
das Zusammenspiel von wiedererkennendem, sehendem und erkennenden<br />
Sehen formuliert sich als Prozess, der in dieser Vermittlungssituation<br />
mit Laien nicht in der Einzelbegegnung mit<br />
dem Werk, sondern als gemeinsames Gespräch durchlaufen wird.<br />
Schluss<br />
Es kann und sollte hier nicht darum gehen, die verbale Sprache<br />
als zentrale Artikulationsform für die Kunstvermittlung zu behaupten.<br />
Das wäre unangemessen und blind. Das Potential der<br />
verbalen Artikulation jedoch zu unterbieten, scheint ebenso unangemessen.<br />
Und in dieser Perspektive sollte der Blick auf die<br />
kunsthistorische Position Max Imdahls den Verhandlungsraum<br />
öffnen und nicht sein Arbeiten absolut setzen: Kunstvermittlung<br />
als Raum der Artikulation, prozessorientiert und ergebnisoffen.<br />
lic.phil. Beate Florenz<br />
Seit 2003 Leitung der Kunstvermittlung im Schaulager, Münchenstein/Basel. Studium der Kunstgeschichte,<br />
Pädagogik und Philosophie in Münster, Giessen, Bochum und Basel. Gastdozentin ILGK/<br />
FHNW, Basel. Arbeitsschwerpunkte: Stadt und Land in der künstlerischen Arbeit; Niederländische<br />
Landschaftsmalerei; Gegenwartskunst; Praxis und Forschungsfeld der Kunstvermittlung<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 364<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:09 <strong>Uhr</strong>
365<br />
denkbar<br />
Fussnoten<br />
1<br />
Der Begriff «Artikulation» wird hier bedeutungsoffen verwendet. Eine disziplinär gebundene<br />
Verengung des Begriffes wird vermieden. Vielmehr fassen die vorliegenden Überlegungen<br />
«Artikulation» als ein basales Geschehen einer Situation auf, in der sich verschiedene Teilnehmende<br />
mit künstlerischen Arbeiten beschäftigen.<br />
2<br />
Statt «BetrachterIn» sage ich hier «Wahrnehmende», um nicht die Wahrnehmung der bildenden<br />
Kunst, insbesondere der zeitgenössischen, auf den optischen Sinn zu verkürzen.<br />
3<br />
Almut Linde, Der Künstler als Lehrer. Der Künstler initiiert Kunstprozesse mit Arbeitsgruppen<br />
aus seiner Erfahrung der künstlerischen Arbeit, in: Wo laufen S(s)ie denn hin! Neue<br />
Formen der Kunstvermittlung fördern, hrsg. von der Bundesakademie für kulturelle Bildung<br />
Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 2006, S 131-<strong>14</strong>0, ebd. S. 135.<br />
4<br />
Almut Linde, Dirty Minimal #34.1 — Lieblingsmilchproduktionseinheiten, Farbfotographien<br />
und Text, 8 Teile, jeweils <strong>12</strong>8 x 88 cm, 2005-20<strong>08</strong>, Milchproduktion APG, Plüschow<br />
(D); Abbildung siehe: http://www.almutlinde.com (eingesehen am 30.<strong>12</strong>.20<strong>08</strong>)<br />
5<br />
Zu «Annäherung» siehe auch: Das Palmenbuch, hrsg. von Christoph Eiböck, Heiderose<br />
Hildebrand und Eva Sturm, Zürich 2007 sowie: Max Imdahl, Autobiographie, S. 619, in:<br />
Max Imdahl. Reflexion, Theorie, Methode, Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. von Gottfried<br />
Boehm, Frankfurt am Main 1996<br />
6<br />
Zu Funktionen der verbalen Sprache in partizipatorischen Projekten siehe auch die Dokumentation<br />
des Projektes «KunstKur», hrsg. von der GfAH mbH, Dortmund (www.gfah.de)<br />
7<br />
Max Imdahl, dessen Ikonik das Erkenntnispotential von Kunst freilegt, wurde bisher in der<br />
Diskussion zur Kunstvermittlung nur wenig rezipiert, obwohl seine Arbeitsweise weitreichende<br />
Implikationen für die zeitgenössische Kunstvermittlung hat. Auch aus diesem Grund<br />
wird hier explizit auf Max Imdahl verwiesen.<br />
8<br />
Max Imdahl, Autobiographie, S. 619, in: Max Imdahl. Reflexion, Theorie, Methode, Gesammelte<br />
Schriften, Bd. 3, hrsg. von Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996<br />
9<br />
Max Imdahl, Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis von Bildautonomie und Gegenstandssehen<br />
(1974), wiederabgedruckt in: Max Imdahl. Reflexion, Theorie, Methode, Gesammelte<br />
Schriften, Bd. 3, hrsg. von Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996, S. 303 - 380<br />
10<br />
Arbeiter diskutieren moderne Kunst. Seminare im Bayerwerk Leverkusen, hrsg. Von Max<br />
Imdahl, Berlin 1982, S. 11; für die Gespräche im Bayerwerk siehe den gesamten Band<br />
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367<br />
Stand der Dinge<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 367<br />
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368<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 368<br />
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369<br />
Stand der Dinge<br />
1<br />
Mario Leimbacher, 29.<strong>12</strong>.20<strong>08</strong><br />
Notizen zu HSGYM<br />
Diese Vorbemerkungen sind ein persönlicher Rückblick auf die<br />
über zwei Jahre dauernden Gespräche, die zur Situationsanalyse<br />
und den Empfehlungen in unserem Fachbereich (BG-HSGYM)<br />
geführt haben. Sie geben nicht die Ansicht der Arbeitsgruppe<br />
wieder. Ich gehe üblicherweise mit sehr viel Optimismus (oder<br />
Naivität) an solche Arbeiten heran, dazu zähle ich die verschiedenen<br />
Kommissionsarbeiten an der eigenen Schule, die Verbandstätigkeiten<br />
und weitere schulpolitische Initiativen. Der Optimismus<br />
leidet selten an den Reibungsflächen, jedoch die Naivität und<br />
Euphorie, was vermutlich auch berechtigt ist. Als Initiative und<br />
Anstoss ist HSGYM wichtig und hat uns motiviert, am Thema zu<br />
bleiben und die Diskussion weiterzuführen. Ein Beispiel ist dieses<br />
<strong>Heft</strong>, das in ihren Händen liegt.<br />
Konsens und Kompromisse<br />
Das Austauschen des negativ gewerteten Begriffs «schwierig»<br />
mit dem positiv meinenden Begriff «herausfordernd» steht exemplarisch<br />
für ein zentrales Merkmal der HSGYM-Diskussion in<br />
unserem Fachbereich (0.1, vierter Satz). Das Ersetzen, Streichen<br />
oder Ergänzen einzelner Begriffe oder Aussagen und die damit<br />
verbundene Diskussion um Details und Formulierungen wurde zu<br />
einer wichtigen Tätigkeit unserer Gruppe. Wer aber um Formulierungen<br />
diskutiert, die nicht als einzelne Aussagen substantielle<br />
Konsequenzen bedeuten, dem verschwimmen irgendwann die<br />
Worte vor den Augen und man gerät in die Versuchung, die Sätze<br />
zu einem einzigen zusammenzustreichen. So wurden in einer Zwischenphase<br />
die Kernaussagen relativiert und abgeschwächt, dass<br />
es teils heftige Reaktionen aus dem Vernehmlassungskreis gab. In<br />
der zweiten Phase mussten einzelne zur Unkenntlichkeit gekürzte<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 369<br />
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370<br />
Aussagen im Text wieder integriert werden. In den aus meiner<br />
Sicht immer noch abgeschliffenen Sätzen und Texten der vorliegenden<br />
Variante verstecken sich die Kanten und Spitzen unter der<br />
Oberfläche und müssen herausgelesen, also wieder hervorgebrochen<br />
werden, was nun über weite Strecken der Leserin und dem<br />
Leser überlassen wird.<br />
Positionierung<br />
Ich bin mit drei Thesen in dieses Projekt gestiegen, von denen ich<br />
auch heute noch überzeugt bin, und ich bin davon ausgegangen,<br />
dass diese nicht nur für mich, sondern auch für die anderen Beteiligten<br />
Gültigkeit haben.<br />
>> Ich bin überzeugt von der zentralen Wichtigkeit unseres Faches<br />
als Teil der Allgemeinbildung von der Unterstufe bis zur Lehre<br />
und dem Studium. Diese Wichtigkeit sehe ich als vergleichbar<br />
und auf derselben Ebene mit der Bedeutung der Muttersprache<br />
als Kommunikations-, Forschungs- und Artikulationswerkzeug<br />
(Iconic Turn, siehe Literaturliste am Schluss).<br />
>> Ich meine, dass weder an den Unter-, Mittel- und Oberstufen<br />
noch an den Gymnasien und Hochschulen sowie von den<br />
schulpolitischen Institutionen diese Bedeutung im vollen Umfang<br />
erkannt wird, sondern mehrheitlich ein diffuses und antiquiertes<br />
Bild eines Faches herrscht, das ein wenig Ausgleich und Dekor<br />
in den trockenen und rationalen Alltag bringen soll. Selbst die<br />
ursprüngliche und einst begründete Rolle unseres Faches an den<br />
Gymnasien, nämlich den Mediziner zu befähigen, visuelle und<br />
räumliche Situationen über Wahrnehmungsschulung und Studien<br />
zu erfassen, hat sich verflüchtigt.<br />
>> Aus den ersten zwei Feststellungen kann die dritte nur folgern,<br />
dass sich unser Unterricht, soweit das in der jetzigen Form<br />
möglich ist, dieser Erkenntnis stellen und diese verbindlich in<br />
der Praxis vermitteln muss. Dies sind die kleinen Schritte. Im<br />
Grossen kommt aber die Gemeinschaft (Fachschaften, Verband,<br />
Gestalterhochschulen) nicht darum herum, gemeinsam ein neues<br />
Selbstverständnis zu erarbeiten, das der Wichtigkeit Rechnung<br />
trägt, und dieses radikal im gesellschaftlichen und politischen<br />
Kontext zu artikulieren und zu positionieren.<br />
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371<br />
Stand der Dinge<br />
HSGYM-BG<br />
Situationsanalyse und<br />
Empfehlungen<br />
1 Bildnerische Gestaltung<br />
Monika Bazzigher-Weder, Ursula Bosshard, Hans Diethelm,<br />
Annelies Diggelmann, Sibylle Hausammann, Mario Leimbacher,<br />
Roland Schaub, Ruedi Seiler, Verena Widmaier, Johanna Wirth<br />
Calvo, Ruedi Wyss<br />
1.1 Situationsanalyse Bildnerische Gestaltung<br />
Die Situation generell<br />
Die Schnittstelle zwischen Mittelschulen und Hochschulen ist geprägt<br />
von heterogenen Rahmenbedingungen. Die verschiedenen<br />
Abnehmer – UZH, ZHdK, ETHZ, PHZH – sprechen unterschiedliche<br />
Mittelschulprofile an, stellen andere Anforderungen,<br />
selektionieren unterschiedlich und bewegen sich aktuell in Reformprozessen.<br />
Entsprechend lassen sich die Anforderungen an<br />
das Fach Bildnerische Gestaltung schwer vereinheitlichen.<br />
Unser Auftrag, Handlungsbedarf festzustellen und Empfehlungen<br />
zu formulieren, erweist sich als herausfordernd, da z.B.<br />
offene Lehrpläne aus der einen Perspektive als Stärke und aus<br />
einer anderen als Schwäche betrachtet werden. Unterschiedliche<br />
Konventionen, Traditionen und Sprachen der Hochschulen, Fachhochschulen<br />
aber auch individuell geprägte Ansprüche an das<br />
Fach äussern sich in einem differierenden Vokabular und erfordern<br />
Grundsatzdiskussionen.<br />
Die Frage der Studiertauglichkeit im Spannungsfeld zwischen<br />
Fachlichkeit und Überfachlichkeit als Grundthema der HSGYM-<br />
Diskussion spielt im Fach Bildnerische Gestaltung eine grosse Rolle.<br />
Überfachliche Kompetenzen wie Eigeninitiative, Selbstständigkeit<br />
und prozess orientiertes Vorgehen haben im Verhältnis zu den<br />
fachspezifischen, den visuellen und ästhetischen Kompetenzen,<br />
deutlich an Gewicht gewonnen.<br />
Es ist zu begrüssen, dass die Inhalte und Vorgehensweisen im<br />
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Fach Bildnerische Gestaltung im Hinblick auf die Studiertauglichkeit<br />
diskutiert werden, damit das Fach auch in Zukunft seinen<br />
spezifischen Auftrag im Kanon der gymnasialen Allgemeinbildung<br />
wahrnimmt und stärkt.<br />
Situation des Faches Bildnerische Gestaltung an den Gymnasien<br />
Die Lehrpläne in Bildnerischer Gestaltung an den Gymnasien<br />
sind offen und lassen eine unterschiedliche Unterrichtspraxis<br />
zu. Es gibt keinen differenziert formulierten Konsens bezüglich<br />
eines fachlichen oder überfachlichen Leistungsausweises für die<br />
Maturität. Die einzelnen Fachschaften und Schulen entwickeln<br />
möglicherweise hervorragenden Unterricht und formulieren differenzierte<br />
und stufenbezogene Standards (Schattenlehrpläne).<br />
Autonomie und individuell gesetzte Schwerpunkte, etwa bei der<br />
Maturität, erschweren jedoch eine Differenzierung, nicht nur zwischen<br />
den Schulen, sondern auch innerhalb der Fachschaften. Zudem<br />
arbeiten Fachlehrerinnen und Fachlehrer der Bildnerischen<br />
Gestaltung vielfach in Teilpensen, sind durch ihre eigene künstlerische<br />
Tätigkeit gefordert und zeigen oft wenig Interesse an<br />
schulpolitischem Engagement. Was sich für den übergeordneten<br />
Diskurs als Nachteil erweist, zeigt sich dafür im Unterricht als<br />
individuell vitales Interesse für die Sache.<br />
Je nach Gymnasialprofil und wegen der Wahlpflicht zwischen<br />
Musik und Bildnerischer Gestaltung im musischen Profil erlangen<br />
die Maturandinnen und Maturanden ein unterschiedliches Niveau;<br />
die Kompetenzen bei Studienbeginn sind daher heterogen.<br />
Diese Voraussetzungen erschweren den abnehmenden Institutionen<br />
das Erstellen eines allgemeingültigen Anforderungskatalogs.<br />
Aufnahmeverfahren und Selektion der verschiedenen Hochschulen<br />
richten sich nach den Kriterien ihrer Institution und nicht nach<br />
den Vorgaben der gymnasialen Lehrpläne.<br />
Die hauptsächlich auf einzelnen Lektionen basierenden Schulstrukturen<br />
der Gymnasien sind besonders für das Fach Bildnerische<br />
Gestaltung wenig geeignet und erschweren Reformen, die Projektunterricht<br />
und interdisziplinären Unterricht ermöglichen würden.<br />
Aus fachlicher Sicht bedeuten die strukturellen Rahmenbedingen<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:10 <strong>Uhr</strong>
373<br />
Stand der Dinge<br />
für die Bildnerische Gestaltung eine Einschränkung, die auch ein<br />
qualitativ hochstehender Unterricht substanziell nur zu einem<br />
kleinen Teil auszugleichen vermag.<br />
Einzelne Hochschulen stellen denn auch ungenügendes fachliches<br />
wie überfachliches Können fest. Dies lässt sich zum Teil<br />
durch fehlende oder mangelhafte Vermittlung der fachlichen<br />
Grundlagen an der Primar- und Sekundarstufe erklären. Dies erschwert<br />
den Aufbau eines weiterführenden Unterrichts und unterstreicht<br />
die Notwendigkeit verbindlicher Zusammenarbeit mit<br />
den Ausbildungsinstitutionen für Lehrpersonen.<br />
Situation und Erwartungen der Hochschulen/Fachhochschulen:<br />
Abnehmer, welche auf künstlerische und gestalterische Voraussetzungen<br />
Bezug nehmen und erweiterte Grundlagen vermitteln.<br />
Situation und Erwartungen der ETH (Architektur):<br />
Die ETH (Architektur) stellt grosse Wissens- und Erfahrungsunterschiede<br />
bei den Studierenden fest. Da auch Maturandinnen und<br />
Maturanden mit Musikwahl, also fehlender Erfahrung in Bildnerischer<br />
Gestaltung zum Studium zugelassen sind, können keine<br />
spezifischen Anforderungen gestellt werden. Deshalb vertieft die<br />
Abteilung Architektur im Basisjahr selber die Grundlagen. Die Erfolgschancen<br />
für Studierende mit mangelnden gestalterischen Vorkenntnissen<br />
sind bei der starken Selektion im ersten Jahr geringer.<br />
>> Fertigkeiten für das Architekturstudium:<br />
··skizzieren, entwerfen und räumliches Zeichnen<br />
·· räumlich-konstruktives Vorstellungs- und Darstellungsvermögen<br />
·· geschulter Sinn für Farben und Materialien, konstruktive und<br />
funktionale Kenntnisse im Arbeiten mit verschiedenen Materialien<br />
··Raumerfahrung und Körpersinn, Raum als Medium<br />
··Interesse an Kunst, Design und Kultur<br />
Situation und Erwartungen der ZHdK: Gestalterisch/künstlerische<br />
Bereiche aus der Sicht des gestalterischen Propädeutikums:<br />
Die Bildnerische Gestaltung hat in der schulischen Allgemeinbildung<br />
einen marginalen Stellenwert und das fachliche Niveau ist<br />
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im Hinblick auf eine gestalterisch/künstlerische Ausbildung meist<br />
ungenügend. Bereits der Vorkurs, der im Kanton Zürich von 1878<br />
bis zu seiner Abschaffung im Jahre 2005 bestand, war ein Angebot,<br />
das auf dieses Manko reagierte. Anwärter/innen für eine<br />
Ausbildung an einer Schule für Gestaltung absolvierten in der<br />
Regel dieses gestalterische Grundlagenjahr. Der Erfolg und das<br />
langjährige Bestehen des Vorkurses begünstigten ein in sich abgeschlossenes<br />
Profil, das kaum auf die Veränderungen im Bildungswesen<br />
zu reagieren vermochte. Das Nachfolgeangebot ‚«Propädeutikum»<br />
ist nun gezielt als Schnittstelle zwischen Gymnasien<br />
und Hochschulen der Gestaltung und Kunst konzipiert und hat<br />
das Profil eines ersten Studienjahrs. Auch Maturandinnen und<br />
Maturanden haben erfahrungsgemäss aus Gründen der fachlichen<br />
Prioritätensetzung der Gymnasien eine ungenügende Vorbildung<br />
im gestalterisch/künstlerischen Bereich. Das Propädeutikum<br />
ermöglicht den Anwärter/innen für ein Studium an einer<br />
HGK eine professionelle Grundausbildung und gibt ihnen die<br />
Möglichkeit, ihre Studienwünsche zu präzisieren und ihre persönliche<br />
Eignung zu überprüfen. Das erste Semester dient der breiten<br />
Grundlagenausbildung und der Orientierung, das zweite Semester<br />
der gezielten fachlichen Vertiefung hinsichtlich der angestrebten<br />
Studienrichtung. Diese Unterscheidung berücksichtigt das individuelle<br />
Niveau der Vorbildung, so dass Maturandinnen und Maturanden<br />
mit musischem Profil mit Schwerpunktfach BG die Möglichkeit<br />
haben, das einsemestrige Propädeutikum zu absolvieren.<br />
Die meisten Bachelor-Studiengänge setzen ein jähriges gestalterisches<br />
Praktikum voraus. Entsprechende Praktikumsplätze gibt<br />
es aber nur sehr wenige. Das Propädeutikum ist als Praktikum<br />
anerkannt und bildet mit seinem Profil zudem die geeignete<br />
Schnittstelle zwischen Gymnasium und Hochschule. Für die Studiengänge,<br />
die kein Praktikum voraussetzen, erhöht es die Chancen,<br />
die konkurrenzstarken Aufnahmeverfahren zu bestehen.<br />
Um das Propädeutikum ab 2005 überhaupt durchführen zu können,<br />
wurden vom Kanton Zürich starke finanzielle Auflagen<br />
gemacht, was gegenüber dem ehemaligen Vorkurs eine massive<br />
Erhöhung der Studiengebühren auf 5000.-/Semester zu Folge hat-<br />
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Stand der Dinge<br />
te. Dadurch ist die Chancengleichheit für Maturandinnen und<br />
Maturanden aus dem Kanton Zürich gegenüber Anwärter/innen<br />
aus andern Kantonen mit eigenen Vorkursen nicht mehr gegeben.<br />
Die hohen Studiengebühren benachteiligen Anwärter/innen aus<br />
finanzschwachen Verhältnissen. Dies dürfte in einem Bildungssystem,<br />
das der Chancengleichheit verpflichtet sein sollte, nicht der<br />
Fall sein. Es ist daher unverständlich, dass aufgrund gesetzlicher<br />
und kantonaler Auflagen das Propädeutikumsjahr privat finanziert<br />
werden muss, um nachher im subventionierten Hochschulbereich<br />
weiterstudieren zu können.<br />
Erwartungen an den BG-Unterricht in den Gymnasien:<br />
>> Theoretische Fähigkeiten:<br />
··Die Schüler/innen kennen unterschiedliche visuelle Ausdrucksund<br />
Darstellungsmittel und können diese unterscheiden.<br />
·· Die Schüler/innen bekamen exemplarische Einblicke in Kunstund<br />
Designgeschichte. Dadurch kennen sie Kriterien, welche die<br />
künstlerisch-gestalterische Arbeit in den Kontext ihrer Zeit stellen.<br />
··Die Schüler/innen kennen formale und medienspezifische Qualitäten<br />
und Ausdrucksformen und können diese unterscheiden.<br />
··Die Schüler/innen kennen exemplarische Aspekte der gesellschaftlichen<br />
und kommunikativen Funktion von Kunst und<br />
Gestaltung und können sich mit entsprechenden Fragestellungen<br />
auseinanderzusetzen.<br />
··Die Schüler/innen sind in der Lage, sich mit ethischen Fragen<br />
im Zusammenhang mit bildlicher Darstellung und gestalterisch-künstlerischer<br />
Arbeit auseinanderzusetzen.<br />
>> Praktische Fähigkeiten:<br />
··Die Schüler/innen sind in der Lage, sich gestalterisch mit<br />
unterschiedlichsten Bildmedien und deren Möglichkeiten und<br />
Eigenschaften auseinanderzusetzen.<br />
·· Die Schüler/innen sind in der Lage, sich gestalterisch im räumlichen<br />
und plastisch-objekthaften Bereich und mit verschiedenen<br />
Materialien und deren Eigenschaften auseinanderzusetzen.<br />
··Die Schüler/innen haben eine Vorstellung, was es heisst,<br />
selbstständig gestalterische Entscheidungen zu treffen und eine<br />
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gestalterische Arbeit zu entwickeln.<br />
··Die Schüler/innen sind in der Lage, Themen von eigenem<br />
Interesse zu bestimmen. Sie können gestalterische Ansätze von<br />
nicht gestalterischen unterscheiden und sind in der Lage, eine<br />
angemessene Medienwahl zu treffen.<br />
··Die Schüler/innen können ihr Vorgehen reflektieren und sich<br />
mündlich sowie schriftlich dazu äussern.<br />
>> Technische Fähigkeiten:<br />
··Die Schüler/innen kennen ein Spektrum unterschiedlicher Techniken<br />
der Bild- und Objektgestaltung und sind in der Lage,<br />
diese experimentierend und vertiefend auf ihre Möglichkeiten<br />
hin auszuloten.<br />
Situation und Erwartungen der Hochschulen/Fachhochschulen: Abnehmer,<br />
welche auf eine allgemeine Studiertauglichkeit Bezug nehmen<br />
Kompetenzbereiche:<br />
In der Bildnerischen Gestaltung erwerben sich die Schülerinnen<br />
und Schüler Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen. Bezüglich<br />
der Frage, welche Kompetenzen für das Studium an Hochschulen<br />
relevant sind, könnte man folgende Bereiche unterscheiden:<br />
>> Fachkompetenz (Learning in Arts): Fachkompetenzen der<br />
Bildnerischen Gestaltung wie die Produktion und Rezeption<br />
von künstlerisch-gestalterischen Werken sind nur für wenige<br />
Studienrichtungen von wesentlicher Bedeutung.<br />
>> Überfachliche Kompetenzen (Learning Through the Arts, Arts<br />
in Learning): Sind grundsätzlich für alle Studienrichtungen von<br />
Bedeutung, also auch für die nichtkünstlerischen.<br />
>> Zum einen bedeutet Arts in Learning, dass das Lernen in anderen<br />
Fächern durch künstlerische, ästhetische Arbeitsweisen unterstützt<br />
und verbessert werden kann (Es gibt Forschungsresultate, welche<br />
diese These unterstützen).<br />
>> Zum anderen bildet das Fach Bildnerische Gestaltung sogenannte<br />
Schlüsselkompetenzen aus, welche gemäss PISA Menschen<br />
helfen, die Anforderungen, die ihnen das Leben stellt, erfüllen zu<br />
können, also auch Anforderungen, welche ein Studium stellt (z.B.<br />
Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Personalkompetenz).<br />
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Stand der Dinge<br />
>> Als eine Schlüsselkompetenz, welche in Bildnerischer Gestaltung<br />
in besonderem Mass ausgebildet wird, kann die visuelle Literalität<br />
(«visual literacy») bezeichnet werden, die Kompetenz, visuelle<br />
Erscheinungen unserer Umwelt lesen zu können und diese auch<br />
selbst zu erzeugen. Visuelle Literalität weist in der Art und der<br />
Bedeutung viele Parallelen zur sprachlichen Literalität auf und ist<br />
wie diese eine wichtige Kompetenz für alle Studien.<br />
Situation und Erwartungen der PHZH:<br />
Die PHZH stellt fest, dass die Maturandinnen und Maturanden<br />
sehr unterschiedliche Kompetenzen in Bildnerischer Gestaltung<br />
mitbringen. Dies stellt für die Ausbildungsgänge für Vorschul- und<br />
Primarschullehrperson ein grosses Problem dar, da die Studienzeit<br />
nicht ausreicht, um fehlende Fähigkeiten noch auszubilden.<br />
Für diese Generalist/innenausbildungen ist es fatal, dass die<br />
Studierenden entweder nur in Musik oder nur in Bildnerischer Gestaltung<br />
einen Abschluss auf Maturitätsniveau machen können, da<br />
an der PHZH häufig beide Fächer belegt werden (müssen). Um den<br />
Kompetenzstand der Studierenden einschätzen zu können, werden<br />
ab 2009 Assessments geplant. Hilfreich wäre es aus der Sicht<br />
der PHZH, wenn im Gymnasium übergreifend definiert werden<br />
könnte, welche Ausbildungsprofile mit welchen Basiskompetenzen<br />
in Bildnerischer Gestaltung abgeschlossen werden.<br />
>> Grundlagen für eine Lehrer/innenlaufbahn und die breite<br />
Allgemeinausbildung:<br />
··Materialkenntnisse, Artikulationsformen, Fertigkeiten und<br />
Kenntnisse verschiedener Techniken und Vorgehensweisen,<br />
Prozesserfahrungen<br />
··Interesse an Kunst, Design und Kultur<br />
>> Kunstwissenschaften:<br />
··Überblick über die Kunstgeschichte<br />
··Kenntnisse zentraler Epochen und Strömungen<br />
··Kenntnisse aktueller Tendenzen der zeitgenössischen Kunst<br />
Situation und Erwartungen der Universität/Kunstgeschichte: Anforderungen<br />
und überfachliche Kompetenzen für die Studienfächer der<br />
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378<br />
Bildwissenschaften: Kunstgeschichte<br />
>> Situation des Fachs Kunstgeschichte an den Gymnasien des<br />
Kantons Zürich: Kunstgeschichte ist kein obligatorisches<br />
Unterrichtsfach an den Gymnasien und wird nur noch an<br />
vereinzelten Schulen und meist nur als Freifach unterrichtet.<br />
Dennoch lassen sich Kernkompetenzen formulieren, welche als<br />
Anforderungen an Mittelschülerinnen und Mittelschüler für ein<br />
Studium der Kunstwissenschaft, der Filmwissenschaften und<br />
allgemein in den Bildwissenschaften gelten können.<br />
>> Kernkompetenzen an die zukünftigen Studierenden der<br />
Kunstwissenschaften: Grundsätzlich wird mit sprachlichen<br />
Mitteln über Kunst und ihre künstlerischen Ausdrucksformen<br />
nachgedacht. Somit ist in der Kunstgeschichte eine differenzierte<br />
sprachliche Ausdrucksfähigkeit gefordert.<br />
>> Zu den überfachlichen Kompetenzen gehören die<br />
Informationsbeschaffung, das Textverstehen und die Textanalyse<br />
sowie die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung und Haltung<br />
zu entwickeln und zu hinterfragen. Die Studierende der<br />
Kunstwissenschaft bringen eine grosse Sensibilität für visuelle<br />
Gestaltungsformen und ihre materielle Eigenheit mit. Die<br />
Studierenden kennen verschiedene Mittel und Techniken der<br />
Bildnerischen Gestaltung und können diese nachvollziehen.<br />
>> Sie bringen auch eine breite Kenntnis in den<br />
naturwissenschaftlichen Fächer wie Chemie, Biologie und<br />
Physik mit. Die technisch immer anspruchsvoller werdenden<br />
Untersuchungsmöglichkeiten von Kulturdenkmälern müssen<br />
von den Studierenden nachvollzogen werden können.<br />
Technische Neugierde und der Umgang mit den Techniken der<br />
Bildbearbeitung gehören ebenfalls zu den Voraussetzungen für ein<br />
Studium der Kunstwissenschaften.<br />
>> Zu den Kernkompetenzen gehören sowohl das eigenständige<br />
Erarbeiten eines Forschungsgegenstandes, als auch die Teamarbeit<br />
und die Fähigkeit, die eigenen Kompetenzen einzuschätzen. Sie<br />
sind für das weite Berufsfeld im Bereich der Bildwissenschaften<br />
zum Beispiel im Zusammenhang mit der Kunstinventarisierung<br />
Erhaltung, der Analyse der Restaurierung und dem Kunsthandel<br />
von grosser Bedeutung.<br />
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379<br />
Stand der Dinge<br />
1.2 Empfehlungen Bildnerische Gestaltung<br />
Allgemeine Empfehlungen<br />
1.2.1 Zusammenarbeit institutionalisieren<br />
Die Kontakte an den Schnittstellen, die durch das Projekt HS-<br />
GYM entstanden sind, werden von allen Beteiligten als positiv<br />
und fruchtbar erlebt. Sie bestätigen die Notwendigkeit eines kontinuierlichen<br />
Austauschs zwischen Vertreterinnen und Vertretern<br />
der Gymnasien und der Hochschulen.<br />
Umsetzung: Es sollen Strukturen, Anlässe und Projekte geschaffen<br />
werden, die die Zusammenarbeit sichern. Eine gemeinsam getragene<br />
Publikation informiert über den Stand der Zusammenarbeit.<br />
1.2.1 Gestalterische Bildung auf allen Stufen fordern<br />
Gestalterische Bildung soll als grundlegender Teil der Bildung<br />
verstanden und etabliert werden. Die Qualität des Gestaltungsunterrichts<br />
muss durch fachlich ausgewiesene Lehrkräfte auf der<br />
Primarstufe und den Sekundarstufen gewährleistet werden. Ob<br />
sich im Gymnasium die Wahlpflicht zwischen Musik und Bildnerischer<br />
Gestaltung aufrechterhalten lässt, ist im Zusammenhang<br />
mit der Klärung der Schnittstellen gründlich zu überdenken.<br />
Umsetzung: Initiativen und Aufklärungsarbeit, die diesen zentralen<br />
Forderungen dienen, werden von Gremien und Fachverbänden,<br />
Fachlehrpersonen in Volkschule sowie Mittel- und Hochschule<br />
unterstützt.<br />
Empfehlungen an die Mittelschulen<br />
1.2.3 Bildnerische Gestaltung im Fächerkanon der Gymnasien klären<br />
Im Hinblick auf eine im Wandel begriffene Bildungssituation diskutieren<br />
und formulieren Berufsverband und Fachschaften ihr<br />
Verständnis des Faches und eine verbindliche Positionierung der<br />
Bildnerischen Gestaltung im Fächerkanon.<br />
Umsetzung: Die zu vermittelnden fachlichen wie überfachlichen<br />
Kompetenzen werden für die unterschiedlichen Stufen und Schnittstellen<br />
formuliert und Kriterien immer wieder neu diskutiert.<br />
1.2.4 Bildnerische Gestaltung hinsichtlich gestalterisch-künstle-<br />
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rischer Studiengänge positionieren<br />
Der Fachunterricht an den Gymnasien, insbesondere mit den<br />
musischen Profilen, schafft die fachlichen Voraussetzungen für<br />
Studiengänge im Bereich der Gestaltung, Kunst, Architektur und<br />
Lehrberufe.<br />
Es gehört zum Aufgabenbereich der Fachlehrpersonen, mit Unterstützung<br />
der entsprechenden Hochschulen, ihr Wissen über die<br />
Studienrichtungen und Berufsfelder laufend zu aktualisieren und<br />
den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln.<br />
1.2.5 Bildnerische Gestaltung hinsichtlich allgemeinbildender<br />
Aspekte positionieren<br />
Der Grundlagenunterricht in Bildnerischer Gestaltung an den<br />
Gymnasien schafft fachliche und überfachliche Voraussetzungen<br />
für gestalterische Praxis und für das Verständnis der visuellen<br />
Kultur. Er fördert die visuelle und ästhetische Kompetenz (Visual<br />
Literacy). Die Fachlehrpersonen entwickeln ihren Unterricht auf<br />
dieses Ziel hin.<br />
Empfehlungen an die Hochschulen<br />
1.2.6 Forschung initiieren<br />
Die Hochschulen initiieren und fördern Forschungsarbeiten und<br />
Projekte, welche die Relevanz der ästhetischen, gestalterischen und<br />
visuellen Bildung und deren Vermittlungsstrategien thematisieren.<br />
Erklärung: Die Klärung der Bedeutung von Wissenschaftlichkeit<br />
für das Berufsfeld ist dabei ein zentrales Anliegen. Explizit<br />
soll darauf hingewiesen werden, dass die Relevanz von anschaulichem<br />
Denken und gestalterischer Tätigkeit für alle Studiengänge<br />
untersucht wird.<br />
1.2.7 Kreislauf der Kompetenzvermittlung diskutieren<br />
Die Ausbildung der Lehrpersonen aller Stufen im gestalterischkünstlerischen<br />
Bereich wird verbindlich in die Schnittstellensdiskussion<br />
mit einbezogen. Die Ausbildungsinstitutionen kümmern<br />
sich darum, dass die fachlichen wie überfachlichen Ziele auf den<br />
jeweiligen Stufen wahrgenommen und umgesetzt werden.<br />
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Stand der Dinge<br />
1.2.8 Zusammenarbeit mit fachfremden Disziplinen initiieren<br />
Im Bereich des Gestaltungsunterrichts sind Erkenntnisse auf den<br />
Gebieten der Entwicklungspsychologie, der Neurophysiologie<br />
und weiterer Disziplinen ausserordentlich wichtig und interessant.<br />
Neue Erkenntnisse sind in die Diskussion um Anforderungen, Unterrichtsformen,<br />
Interdisziplinarität, stufengerechtes Unterrichten,<br />
Kreativitätsforschung und Prozessgestaltung einzubringen<br />
und in der Anpassung unseres Curriculums von grossem Wert.<br />
Auch in dieser Hinsicht ist eine Zusammenarbeit von Fachlehrpersonen<br />
der Bildnerischen Gestaltung und den Hochschulen sehr<br />
erwünscht.<br />
Kerngruppe<br />
Mario Leimbacher (Leitung, Kantonsschule Enge, Kontakt: lem@ken.ch)<br />
Monika Bazzgher-Weder (Pädagogische Hochschule Zürich, PHZH)<br />
Ursula Bosshard (Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK)<br />
Hans Diethelm (Pädagogische Hochschule Zürich, PHZH)<br />
Annelies Diggelmann (KZOE)<br />
Roland Schaub (KSRy LBG)<br />
Ruedi Seiler (ETH Architektur)<br />
Sibylle Hausammann (Koordinationsschulung und Selbstregulationstraining, KSST)<br />
Verena Widmaier (Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK)<br />
Johanna Wirth Calvo (Universität Zürich Kunsthistorisches Institut, UKHIS)<br />
Ruedi Wyss (Zürcher Hochschule der Künste, ZHdK)<br />
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Stand der Dinge<br />
2<br />
Verena Widmaier<br />
Bildung für alle: Kultur<br />
von allen!<br />
Wie tragen die Ausbildungen der Kunst- und<br />
Kulturvermittlung dieser Forderung Rechnung<br />
Kultur und Bildung gehören zusammen wie die Vorder- und<br />
Rückseite einer Medaille. Welche Gegenwart und nahe Zukunft<br />
spiegeln sie uns<br />
Was tragen die Ausbildungen und im speziellen die Lehrerinnen<br />
und Lehrer für Bildnerisches Gestalten zu diesem Auftrag bei<br />
Zurzeit scheint alles möglich, denn was gegenwärtig in den<br />
Ausbildungen passiert, ist aus meiner jüngsten Erfahrung rein zufällig.<br />
Ob nun Personen mit unterschiedlichen Ordnungssystemen<br />
und Verständnissen einander in die Haare geraten und produktiv<br />
streiten, sinnvoll handeln oder auch nicht: Es spielt überhaupt keine<br />
Rolle. Das Schiff ist auf Sand gelaufen. Die Inhalte werden erst<br />
recht dort ignoriert, wo entschieden wird. Wie kann das nur gut<br />
kommen<br />
Aus diesem Grund führe ich heute Inhalte vor, nur Inhalte und<br />
nochmals Inhalte. Sie beschäftigen mich an den schulischen Institutionen<br />
seit 25 Jahren. Es geht in der Vermittlung der Künste um<br />
ein Gut, das existenziell, gegenwärtig und vielschichtig ist.<br />
Ich orte darin Verständnisse, die zu ganz unterschiedlichen<br />
Umsetzungen führen. Wie schon gesagt, alle Umsetzungen sind<br />
existenziell. Die verschiedenen Verständnisse, die ich in der Arbeit<br />
und in den Diskussionen wahrnehme, gebe ich in vier Kategorien<br />
wieder. Ich beschreibe, was ich beobachte, sage, was ich denke<br />
und frage.<br />
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384<br />
Erstens: Die gestalterische Tat schult das Wahrnehmen.<br />
Viele der Kolleginnen und Kollegen stehen ganz hinter diesem<br />
Gedanken, weil sie wissen, dass mit Gestalten und Wahrnehmen<br />
gleichzeitig das Bilden von Zellen und Nervenverbindungen im<br />
Hirn angeregt wird. Zum Beispiel baut ein Kind mit Klötzen einen<br />
Turm. Hält er, hält er nicht Die Funktion der Hände wird zum<br />
Instrument für Formung von Intelligenz. Ohne die Erfahrung des<br />
Materials, der physikalischen Kräfte, der Phänomene ginge gar<br />
nichts. Das ist Lernen pur. Daher fordern viele Kolleginnen und<br />
Kollegen den sinnlichen Zugang zu Phänomenen, das Arbeiten mit<br />
Materialien und Medien: Sie stellen das ästhetische Erlebnis ins<br />
Zentrum ihre Vermittlungsarbeit. In dieser Art der Vermittlung<br />
geht es um das Lernen durch Wahrnehmen und daher um das<br />
Schaffen von Situationen, die zur gestalterischen Tat auffordern.<br />
Zweitens: Alles ist Bild, Zeichen, Symbol, was hergestellt und entschlüsselt<br />
werden kann.<br />
Diese Kolleginnen und Kollegen sagen: Symbole, Zeichen und Bilder<br />
dienen der Artikulation und Verständigung. Diese sollen bildhaft<br />
hergestellt und anschaulich entschlüsselt werden können. Es<br />
geht um das Herstellen, Erkennen sowie Deuten von bildhaften<br />
Botschaften und Informationen. Dabei argumentieren Sie: «Es ist<br />
von zentraler Bedeutung, dass die Schülerinnen und Schüler an<br />
dieser Form der Kommunikation teilhaben, um zu verstehen, um<br />
selber zu verändern und um mitzuspielen.» Und sie begründen:<br />
«90% aller Botschaften erreichen uns nonverbal, das heisst über<br />
das Auge, also müssen wir die bildhaften Informationen herstellen<br />
und entschlüsseln lernen, um zu verstehen.»<br />
Dieses Wissen soll gebildet werden. Es wird aus der Anschauung<br />
und der Herstellung von Bildern und Objekten gewonnen.<br />
Wie entsteht ein Piktogramm Was ist ein Label, welche Botschaften<br />
transportieren die Werbungen Warum weisst du, dass<br />
der abgebildete Mann auf dem Fresko Petrus ist<br />
Die Lehrinhalte bauen auf Ikonographie und Ikonologie. Sie<br />
bauen auf Analysen der Darstellungsweisen und des Zugriffs auf<br />
Darstellbares. Es geht um den Bildaufbau und die inhaltliche Ab-<br />
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385<br />
Stand der Dinge<br />
sicht des Herstellers und wie wir dann das Produkt nutzen und<br />
geniessen.<br />
Durch das Herstellen eigener Bilder und Artefakte kann die<br />
«Verschlüsselung» von Gefühlen, Gedanken, Empfindungen zum<br />
Nachvollzug «des Nutzens» dieser Art, sich mitzuteilen und Mitteilungen<br />
dieser Art zu verstehen, anregen. Wenn es nicht um<br />
Kommunikation gehen würde, um was ginge es dann sonst<br />
Drittens: Die Kunst bildet.<br />
Wer diese Aussage ins Zentrum seines Vermittlungskonzeptes<br />
stellt, nimmt das künstlerische Arbeiten als Vorbild und Modell<br />
für die Produktionsweisen und Arbeitsabläufe und empfindet das<br />
als bildend. Die assoziative Art des Produzierens, das Spazieren<br />
durch unzusammenhängende Welten, die Form der Kommunikation<br />
und die Suche nach Ausdrucksmitteln und Formen stehen im<br />
Zentrum. Die Arbeit wird über die Phasen eines Prozesses erzeugt<br />
und das geht im Ablauf etwa so: Idee, Inhalt, Problem, Suche,<br />
Entwurf, Entscheidung, Medienwahl, Sinn, Suche, Änderung,<br />
Darstellung, gültige Form, Auflösung von Struktur und Form. Sie<br />
sagen: «Das an der Kunst orientierte Lehrprogramm ist geeignet<br />
zum Nachvollziehen der künstlerischen Arbeitsweisen und Strategien.<br />
Es bietet sich an zum Entwickeln des eigenen Ausdrucks.»<br />
Es geht um das Lernen eigener Ausdrucksmöglichkeiten und<br />
eigener Formen der Artikulation, gleichzeitig um das Festigen<br />
eines Freiheitsverständnisses und einer Kritikfähigkeit sowie um<br />
das Bilden eines Interesses an Kunst.<br />
Viertens: «Auf das kulturelle Verständnis kommt es an.»<br />
Das Bilden des kulturellen Verständnisses dient nicht nur der Sozialisation<br />
von Einzelnen in Gesellschaften, sondern verschafft<br />
ihnen auch Grundlagen zur kritischen Diskussion der Zusammenhänge<br />
in der Gesellschaft und ihrer Politik. Soziale Anliegen<br />
treten in den Vordergrund. Verantwortung und Wertschätzung<br />
gegenüber Dingen, anderen Menschen und sich selbst müssen gelernt<br />
werden. Es geht darum, ein kulturelles Verständnis zu bilden.<br />
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386<br />
Sie denken: Es geht um das Wissen, zum Beispiel, seit wann es<br />
das Bild gibt und welches seine Funktion ist. Sie untersuchen, was<br />
die verschiedenen Kulturtechniken wie Bauen, Formen, Gestalten,<br />
Malen, Zeichnen, Tanzen, Singen und Sprechen heute bedeuten.<br />
Sie wollen wissen, warum Werkzeuge und Instrumente auch<br />
heute nicht nur als Waffen gebraucht werden...<br />
Sie fragen: Was unterscheidet den Faustkeil vom Computer<br />
Was ist die Funktion von Kunst Welche alltäglichen Abläufe und<br />
Dinge können wir in einen kulturellen Kontext stellen Sie möchten<br />
weg vom egozentrischen Blick auf sich selbst und die Welt<br />
hin zu einem intersubjektiven Verständnis von Werten. Sie wollen<br />
Distanz schaffen, um die Dinge frisch bewerten zu können.<br />
Die Ausbildungen stecken in strukturellen Veränderungen.<br />
Sie sind trotzdem verpflichtet, darüber zu verhandeln oder wenigstens<br />
zu informieren, wie sie sich ihren Bildungsauftrag in den<br />
Schulen der Zukunft vorstellen, wohin sie steuern und wen sie<br />
wozu ausbilden.<br />
Wie können das die Ausbildungen zur Zeit erfüllen, wenn die<br />
Personen im Schiff einem Kapitän gehören, der von ihren Fähigkeiten<br />
keine Ahnung hat oder die Gefolgschaft eine Mannschaft<br />
ist, die sich selbst genügt. Sie scheinen zurzeit mit den Lehrprogrammen<br />
nicht über die Sachzwänge hinauszukommen. Daher<br />
braucht es einige kleine Schlepper, um das Schiff wieder auf Kurs<br />
zu bringen.<br />
Worum geht es Eben um nicht weniger als um «Bildung für<br />
alle», damit Kultur von allen gestaltet und als Lebensqualität erfasst<br />
wird. Es geht um die Kulturvermittlung.<br />
Besinnen wir uns auf die Inhalte:<br />
Welche Schwerpunkte werden in den Ausbildungen gesetzt und in<br />
den Schulen bevorzugt Wie kommen wir zusammen weiter<br />
Ich finde es wichtig, dass die vier Kategorien untersucht und<br />
umgesetzt werden. Bilden wir in Lehrprogrammen diesbezüglich<br />
Schwerpunkte Die Handlungsbefähigungen der Studierenden<br />
müssen in allen vier Kategorien unterstützt werden. Auch soll dis-<br />
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387<br />
Stand der Dinge<br />
kutiert werden, was das Wichtigste ist und in welche Reihenfolge<br />
wir die vier Kategorien setzen. Sollen wir zum Beispiel das Lernen<br />
mit der Schulung der Wahrnehmung zusammen entwickeln und<br />
an den Anfang aller Grundlagen stellen<br />
Wie weit können wir uns an der Diskussion um die kulturelle<br />
Bildung beteiligen Wer beteiligt sich<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 387<br />
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389<br />
Notizen<br />
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390<br />
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391<br />
Notizen<br />
Rezensionen<br />
Frühes Schmieren und erste Kritzel –<br />
Anfänge der Kinderzeichnung<br />
Uschi Stritzker / Georg Peez /<br />
Constanze Kirchner<br />
Frühes Schmieren und erste Kritzel –<br />
Anfänge der Kinderzeichnung<br />
Norderstedt: Books on Demand Gmbh, 20<strong>08</strong><br />
183 Seiten. ISBN: 978-3-8334-0072-8<br />
Die vorliegende Publikation widmet<br />
sich einem in der Kinderzeichnungsforschung<br />
bislang wenig beachteten<br />
Thema: dem Schmieren<br />
und Salben. Damit öffnet sie den<br />
Blick auf jene, wie Hans-Günther<br />
Richter (2001) noch formulierte,<br />
vernachlässigte «Vorgeschichte<br />
des Zeichnens».<br />
Während ein auf Produkte ausgerichtetes<br />
Interesse sich schwer tut, in diesen polysensuellen Handlungen<br />
organisierte Formen zu sehen, zeigen Stritzker, Peez und<br />
Kirchner, wie über die konzise Arbeit mit visuellen Medien wesentliche<br />
Strukturen dieser Aktivitäten kenntlich werden. Die Dokumentation<br />
des Entstehungsprozesses lässt uns das bis anhin aus<br />
vorwiegend psychoanalytischer Sicht betrachtete «Schmieren» als<br />
selbstgesteuerte, sinnlich fundierte Art und Weise der Wirklichkeitsaneignung<br />
und Welterkenntnis verstehen.<br />
Anhand fotografischer Bildreihen zu den Schmieraktivitäten von<br />
Laura, Merle und Mila können wir die performative Dynamik<br />
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392<br />
körperbezogener Bewegungsabläufe nachvollziehen und Spuren<br />
in ihrem Auftauchen und Verschwinden wahrnehmen. Bereichert<br />
durch die Erfahrung teilnehmender Beobachtung beschreibt Georg<br />
Peez atmosphärisch dicht, was in den Momenten zwischen<br />
zwei Aufnahmen geschieht. Von Foto zu Foto belebt sich der Prozess<br />
neu und will vom Betrachter imaginiert werden.<br />
Anders als im Gegenüber dieser Fotoreihen, wo gerade die<br />
nicht abbildbaren Momente nach Versprachlichung drängen,<br />
verlangt die Transformation einer Videosequenz eine Form der<br />
Beschreibung, die jene im Medium gegebene Besonderheit – das<br />
Gleiten von einer Handlung zur nächsten – an den Lesenden vermittelt.<br />
Uschi Stritzker sucht darum nach einem innovativen methodischen<br />
Ansatz, uns vor Augen zu führen, wie wir in verstrichener<br />
Materie auch Zeit verstreichen sehen. Indem sie aus dem<br />
vorhandenen Videomaterial Abfolgen von stills extrahiert, macht<br />
sie Zustände sichtbar, die im performativen Fortgang leicht übersehen<br />
werden. Diese Einzelbilder, wiederum zu Reihen gefügt,<br />
lassen das singuläre Moment in einem grösseren Zusammenhang<br />
erscheinen: Die Ergebnisse ihrer Arbeit werden mit den Ergebnissen<br />
der fotografischen Erhebungen vergleichbar.<br />
In Anlehnung an Balint (1970), der die Manipulation mit Material<br />
als eine der wichtigsten Erfahrungen des Kleinkindes bezeichnet,<br />
gehen die AutorInnen von der Annahme aus, dass im Umgang mit<br />
dem Pastosen: mit Brei und Farbe, erste regelhafte Beziehungen<br />
zwischen visuell, haptisch oder auditiv wahrnehmbaren Eigenschaften<br />
entdeckt werden und die Erfahrung des Kindes in eine<br />
Wechselbeziehung zu seinem Wahrnehmungsvermögen tritt.<br />
Alle vier Fallstudien gehen der Frage nach, ob in sensomotorischer<br />
Exploration bereits eine Aufmerksamkeit für das als Spur<br />
Hervorgebrachte aufscheint. Wiewohl es sich um Beobachtungseinheiten<br />
von wenigen Minuten handelt, weisen sie eine Phasierung<br />
auf, die sich als Materialerkundung, Hervorbringen der<br />
Spur, Interessensverlust beschreiben lässt.<br />
Für die Initiationshandlung charakteristisch ist, wie das Kind,<br />
von der Kontaktaufnahme mit dem Stofflichen absorbiert, eine<br />
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393<br />
Notizen<br />
mehr oder weniger lange Linie zum Körper hin zieht und diese<br />
Bewegung eins ums andere Mal wiederholt. Das auch im spätern<br />
Kritzelgeschehen als vertical arc (Matthews 2003) beschriebene<br />
Moment transponiert sich ins Horizontale und wird zum Hin und<br />
Her. Von den AutorInnen als «Wischen» bezeichnet, verstärkt es<br />
die taktilen Reize. Ausgreifend und immer schneller werdend,<br />
intensivieren die Bewegungen das glitschige Gefühl: Motorische<br />
und sensuelle Erfahrung schaukeln sich gegenseitig hoch und erfassen<br />
nach und nach die ganze Handfläche. Ihrer Tendenz nach<br />
sind es Bewegungen, die vom Körper weg führen und das Material<br />
vertreiben – unbestreitbar scheint darin die bekannte Pendelbewegung<br />
der frühen Kinderzeichnung vorweggenommen.<br />
Pausen sind nicht minder bedeutend als die beobachtbare<br />
Handlung. Sie lassen vermuten, dass das Kind seine Tätigkeit im<br />
Geiste vorbeiziehen lässt und die Folgen seines Handelns an den<br />
Veränderungen des Materials zu erkennen vermag. Was liegt also<br />
näher als diese bis dahin skeptisch beurteilte Tätigkeit aufgrund<br />
der neu gewonnenen Erkenntnisse als frühe Form ästhetischen<br />
Verhaltens zu begreifen Denn in eben jenem Augenblick, wo der<br />
Schmierprozess um des Spurenmachens willen für das Kind interessant<br />
wird, Intention und formales Bewirkenwollen ins Spiel<br />
kommen, lässt er sich als Basis allen gestalterischen Handelns –<br />
des zeichnerischen, malerischen und plastischen – neu verstehen.<br />
Das Buch eignet sich ausgezeichnet als Lehrmittel. Nicht nur lassen<br />
sich Texte (Beschreibung/Interpretation) beispielgebend für<br />
die Vermittlung von Forschungspraxis nutzen – Eingangskapitel<br />
wie «Grundsätzliches zum Schmieren von Kindern» sind so anregend<br />
geschrieben, dass man sie Dozierenden und Studierenden<br />
gerne zur Lektüre empfiehlt.<br />
Ruth Kunz<br />
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394<br />
CULTURAL TURNS, Neuorientierungen in den<br />
Kulturwissenschaften<br />
Bachmann-Medick Doris (2007)<br />
CULTURAL TURNS. Neuorientierung in den<br />
Kulturwissenschaften<br />
2. Auflage, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek<br />
bei Hamburg<br />
Doris Bachmann-Medick stellt dar,<br />
wie sich die Kulturwissenschaften<br />
in «turns» oder «Richtungsänderungen»<br />
entwickeln. Sie zeigt auf<br />
wie, die Kulturwissenschaften<br />
zum Dialog anregen. Durch den<br />
Dialog können verschiedene Personengruppen<br />
quer zu den Disziplinen Forschungsansätze verfolgen<br />
und neue Erkenntnisse gewinnen.<br />
Die Autorin schafft einen verständlichen Überblick über die<br />
Diskussionen rund um die verschiedenen turns.<br />
>> interpretative turn: Er wird in der Ethnologie mit der Metapher<br />
«Kultur als Text» verwendet. Die Kategorie ‚Text‘ erfährt eine<br />
starke Ausweitung und interpretatorische Modelle geraten ins<br />
Zentrum der Diskussion.<br />
>> performative turn: Der (non)verbale Handlungsbereich wird ins<br />
Zentrum gerückt.<br />
>> reflexiv/literary turn: Es geraten kritisch wissenschaftliche<br />
Arbeiten in den Blick. Er entlarvt wirkungsbezogene Darstellungsund<br />
Erzählstrategien gerade auch in nichtfiktionalen Texten (Krise<br />
der Repräsentation).<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 394<br />
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395<br />
Notizen<br />
>> postcolonial turn: Er untersucht die komplexen Machtbeziehungen<br />
zwischen verschiedenen Kulturen im Gefolge des Kolonialismus.<br />
>> translational turn: Die Hauptanalysekategorie ‚Übersetzung‘<br />
erfährt eine interkulturelle und -disziplinäre Ausweitung.<br />
>> spatial turn: Er entfernt sich von der kulturwissenschaftlichen<br />
Privilegierung der Zeitkategorie und erklärt ‚Raum‘ zum<br />
epistemologischen Konzept.<br />
>> iconic turn: Er untersucht den Erkenntniswert von Bildern, was<br />
sich in der Forschungsöffnung von der ‚traditionellen‘ Ikonografie<br />
zur Medien- und Bildwissenschaft niederschlägt.<br />
Bachmann-Medick stellt diese sieben «turns» in ihren systematischen<br />
Fragestellungen, Erkenntnisumbrüchen sowie Wechselbeziehungen<br />
vor und zeigt Anwendungen in konkreten Forschungsfeldern.<br />
Das Buch liefert für den Fachbereich Bildnerische Gestaltung<br />
Grundlagen für Entscheidungen, die in der kulturellen Bildung<br />
immer wieder getroffen werden müssen. Es bietet eine interessante<br />
Orientierung für das Fachliche und Argumente für die gewählten<br />
Inhalte. Daher findet sich aus dem beschriebenen Theoriewandel<br />
durch «turns» ein indirekter Nutzen für die Ziele im Gestaltungsund<br />
Kunstunterricht.<br />
Verena Widmaier<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 395<br />
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396<br />
Vorschau auf <strong>Heft</strong> 03<br />
«Bildmerkmale»:<br />
Einladung zum gemeinsamen Fokus auf das Bild<br />
«Nicht eine Gesellschaft von Göttern, sondern eine von Spielern<br />
ist nämlich zu besprechen.»<br />
Vilém Flusser (siehe Literaturliste)<br />
1. Bildtheorien<br />
Wir laden alle Spieler* ein, ihren Weg zum und mit dem Bild zu<br />
protokollieren und von diesem Abenteuer zu berichten. Was bedeutet<br />
uns das Bild und welche Rolle übernimmt es in unserem<br />
Alltag und in unserer Arbeit Welches sind die Merkmale des<br />
Bildes Gibt es eine Systematik des Bildes, der Bilder Gibt es eine<br />
Bildgrammatik Die Erkenntnis, dass das Bild für uns alle an Gewicht<br />
gewinnt, ist ein Konsens, die weiteren Positionen sind nicht<br />
einheitlich. Empfehlenswert und wichtig zur Diskussion sind alle<br />
Beiträge. Die untenstehende Literaturliste gibt einen kleinen Einblick<br />
in die Diskussion seit etwas 1990.<br />
Wir stochern in einem unübersichtlichen, grossen Haufen<br />
Asche, einer alten Feuerstelle voller verkohlter Holz- und Kohlestücke<br />
und schauen, wo es noch glüht, woran sich wieder ein<br />
Feuer entfachen lässt. Vielleicht gelingt es neue Scheite in Brand<br />
zu setzen. Vielleicht erhaschen wir einen Blick aus der Höhle.<br />
Wir verbrennen uns die Hände an alten Theorien und Tabus,<br />
z.B., dass in unserem Fach – im Gegensatz zur untenstehenden<br />
*Unter Spieler verstehen wir alle Gestalterinnen und Gestalter, Theoretikerinnen und Theoretiker und<br />
alle, die sich intensiv mit den oben beschriebenen Fragen befassen.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 396<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:11 <strong>Uhr</strong>
397<br />
Notizen<br />
Literaturliste – kaum darüber gesprochen wird, was unsere<br />
Sache ist, nämlich das Bild und ob es Bildung im Bildnerischen<br />
überhaupt braucht, denn Bilder ansehen und Verstehen scheinen<br />
alle zu können.<br />
Wer will denn Maler werden Wo ist hier der Profit<br />
Wir laden einzelne der Fackelträgerinnen und -träger ein, mit<br />
ihrem Licht unsere dunklen Kammern zu erhellen, im Bewusstsein,<br />
dass tagsüber die Fackeln bedeutungslos werden.<br />
Wir betrachten die Diskussion rund um das Bild als ein Spiel,<br />
ein Tanz der Worte um den heissen Brei. Wer es zu ernst nimmt<br />
und das Ziel schon greifbar vor sich sieht, verbrennt sich die<br />
Zunge oder lässt den Pinsel ins Korn fallen. Wer Neugierig ist<br />
und Geduld hat, kann hin und wieder die Einfälle geniessen und<br />
die Weisheiten mit dem Löffel fressen…<br />
Wir laden sie ein, am Spiel um das Bild mit Bildern und Worten<br />
teilzunehmen. Eine Voraussetzung dazu ist die Einsicht, dass alles<br />
menschliche Sein Sprache ist, und damit in einem Fluss von Gesten,<br />
Bildern und Worten, also Artikulationen. Eine der Spielregel<br />
besteht darin, sich mit Zeichen und Worten dem Bild zu nähern.<br />
Ganz ungefährlich ist das Spiel nicht. Wer sich zu tief hineinwagt<br />
in die Bildtheorien, in die Sprach- und Verhaltensforschung,<br />
in die Neurologie, verliert gerne den Boden unter den Füssen.<br />
Auch Theorien haben ihre Grenzen. Das wird man sich auch bewusst,<br />
wenn man gestalterisch tätig ist, und man begibt sich in die<br />
Gefahr, von den Theorien wie von Albträumen überrannt zu werden.<br />
Ein Heilmittel vor den Albträumen ist, am Spiel und dessen<br />
Regeln mitzugestalten, also gemeinsam an den Bildmerkmalen<br />
und einer Bildgrammatik zu arbeiten.<br />
2. Vermittlung<br />
Wie erklären wir unseren Schülern das Bild<br />
Wer greift welche Theorien auf und wie werden sie in den Unterricht<br />
transferiert. Im Text von Verena Widmaier (Bildung für alle:<br />
Kultur von allen!, S. 383–387) werden 4 Hauptkategorien unseres<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 397<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:11 <strong>Uhr</strong>
398<br />
Faches ausgebreitet. Wir laden Autorinnen und Autoren und im<br />
Speziellen die Hochschulen dazu ein, ihre Konzepte und Vermittlungsstrategien<br />
im Fokus auf das Bild auszubreiten.<br />
Empfehlenswerte Bücher zum Thema Bild,<br />
Sprache und Bildsprache<br />
Autorinnen und Autoren<br />
Marion G. Müller, Grundlagen der visuellen Kommunikation (UTB 2003):<br />
Theorieansätze und Analysemethoden, fundierte Untersuchungen in der Tradition der Medienkritik.<br />
Fernande Saint-Martin, Semiotics of Visual Language (Indiana University Press 1990):<br />
Wichtige Arbeit einer Autorin aus dem englischsprachigen Raum.<br />
W.J.T. Mitchell, Bildtheorie (Suhrkamp 20<strong>08</strong>):<br />
Grundlagetext zur Frage, was das Bild vom Satz unterscheidet.<br />
Gottfried Böhm, Wie Bilder Sinn erzeugen (Berlin University Press 2007):<br />
Grundlagetext zur Frage, was ein Bild ist (Die Macht des Zeigens).<br />
Karlheinz Lüdeking, Grenzen des Sichbaren (BildundText 2006):<br />
Über das Problem, auch beim Bild «zwischen den Zeilen lesen» zu können<br />
Klaus Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium (Herbert von Halem Verlag 2006):<br />
Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Fundierte Fragen und Gedanken zu den Möglichkeiten einer<br />
Bildwissenschaft und den nötigen Bedingungen und Konsequenzen.<br />
Beat Wyss, Die Welt als T-Shirt (DUMONT 1997):<br />
Zur Ästhetik und Geschichte der Medien<br />
Manfred Fassler, Bildlichkeit (UTB, Böhlau 20<strong>02</strong>):<br />
Navigation durch das Repertoire der Sichtbarkeit: Sammlung von Untersuchungen zum Thema Bild, Sprache,<br />
Kommunikation<br />
Bernd Roeck, Mörder, Maler und Mäzene (C.H. Beck 2006):<br />
Zur Abwechslung ein spannender Krimi über das bekannte Gemälde «Die Geisselung Christi» von P. della<br />
Francesca.<br />
Christian Doelker, Ein Bild ist mehr als ein Bild (Klett-Cotta 1999):<br />
Visuelle Kompetenz in der Multimedia-Gesellschaft, umfassend bebilderter und einfach zu lesender Text<br />
Richhard David Precht: Wer bin ich und wenn ja, wie viele (Goldmann 2007):<br />
Hier geht es nicht ums Bild, aber um die Grundlagen des Denkens, Verhaltens und Wahrnehmens, sehr gut<br />
lesbar und empfehlenswert auch für Gestalter.<br />
Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder (European Photography 1985):<br />
«Was um uns herum und in uns geschieht, ist fantastisch, und alle vorangegangenen Utopien, seien sie positiv<br />
oder negativ gewesen, verblassen angesichts dessen, was da emportaucht.»<br />
Herausgeber<br />
Johannes Kirschenmann, Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung (Kopäd, 2006):<br />
Umfassender Sammelband zu Fragen der Vermittlung mit vielen bekannten Autorinnen und Autoren.<br />
Gottfried Boehm, Was ist ein Bild (BildundText, 1994):<br />
Grundlegende Texte zum Thema Bild unterschiedlicher, teilweise bekannter Autoren wie Lacan, Gadamer,<br />
Imdahl u.a.).<br />
Gerhard Braun, Umwelt, Wahrnehmung, Bild, Kommunikation (Georg Ohlms Verlag 1989):<br />
Studien zur Semiotik, Kommunikation und Wahrnehmungsphänomenen.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 398<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:11 <strong>Uhr</strong>
399<br />
Notizen<br />
John Berger, Sehen (rororo, 1972/2005), Das Bild der Welt in der Bilderwelt:<br />
Sehr gut lesbarer kurzer Text zum Thema Bild und Bilderwelt, mit vielen Beispielen.<br />
Hans Belting, Der zweite Blick (Wilhelm Fink Verlag 1993), Bildgeschichte und Bildreflexion:<br />
Bildtheorie und Untersuchungen an Beispielen mit bekannten Autoren wie Mitchell, Kamper, Böhme, Reck,<br />
Baudrillard u.a.<br />
Klaus Sachs-Hombach, Bildgrammatik (Scripum 1999):<br />
Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen mit einer umfassenden Liste von Autorinnen<br />
und Autoren, Untersuchungen zur Bildsprache mit den Mitteln der Sprachanalyse.<br />
Klaus Sachs-Hombach, Bildwissenschaft (Suhrkamp Wissenschaft 1751, 2005):<br />
Es ist der Anspruch der interdisziplinären Bildwissenschaft, die verschiedenen Bildphänomene und die verschiedenen<br />
bildwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen, wie die Philosophie, die Kognitionswissenschaft, die<br />
Medienwissenschaft oder die Kunstwissenschaft, in systematischer und produktiver Weise zu verbinden, ohne<br />
deren Eigenständigkeit zu gefährden (Klappentext).<br />
Hans Belting, Bilderfragen (BildundText 2007), Die Bildwissenschaften im Aufbruch:<br />
Aktuelle Texte zum Thema Bildwissenschaft mit bekannten Autoren wie Mitchell, Wyss, Boehm, Greimer u.a.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 399<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>12</strong> <strong>Uhr</strong>
400<br />
Hochschule der Künste Bern<br />
Haute école des arts de Berne<br />
Berner Fachhochschule<br />
Haute école spécialisée bernoise<br />
Maturaarbeitspreis 2010<br />
für Bildnerisches Gestalten<br />
Der Maturaarbeitspreis der Hochschule der<br />
Künste Bern zeichnet die drei besten<br />
gestalterisch-künstlerischen Maturaarbeiten<br />
der Schweiz im Fach BG aus<br />
Einreichefrist: 6.2.2010<br />
Weitere Informationen:<br />
www.hkb.bfh.ch<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 400<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>12</strong> <strong>Uhr</strong>
401<br />
Notizen<br />
Hochschule der Künste Bern, HKB, Katja Büchli<br />
Die Hochschule der Künste<br />
Bern dockt an:<br />
Maturaarbeitspreis für Bildnerisches<br />
Gestalten<br />
Mit dem erstmals ausgeschriebenen Maturaarbeitspreis für drei<br />
herausragende gestalterisch-künstlerische Arbeiten schafft die<br />
Hochschule der Künste in Bern eine attraktive Andockstelle für<br />
Maturandinnen und Maturanden mit vertieftem Interesse an Gestaltung<br />
und Kunst.<br />
Der Preis wurde für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten geschaffen,<br />
die sich in ihrer Maturaarbeit im Fach Bildnerisches Gestalten<br />
schwerpunktmässig mit der eigenen gestalterisch-künstlerischen<br />
Praxis auseinandergesetzt haben. Vor ihrem Entscheid für<br />
eine weiterführende Schule können die Schülerinnen und Schüler<br />
ihre Maturaarbeit einer weiteren Jury vorführen und dadurch erste<br />
persönliche Kontakte zur Hochschule der Künste knüpfen. Mit<br />
diesem schweizweiten Novum eröffnet sich für Abgängerinnen<br />
und Abgängern von Gymnasien ein ideales Trainingsfeld für die<br />
Vorbereitung auf das Aufnahmeverfahren an einer Hochschule.<br />
Auswahlverfahren<br />
Das Verfahren ist wie bei der Bewerbung auf einen Studienplatz<br />
an der HKB in zwei Stufen gegliedert: Die Bewerbungsdossiers<br />
zu den Maturaarbeiten – mit der schriftlichen Arbeit, einer bildlichen<br />
Dokumentation mit Kurzzusammenfassung und einer<br />
Empfehlung durch die betreuende Lehrperson – werden durch die<br />
Jury der HKB in Zusammenarbeit mit Lehrpersonen der Sek. II<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 401<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>12</strong> <strong>Uhr</strong>
4<strong>02</strong><br />
gesichtet. Nach einer Erstauswahl werden die besten Bewerberinnen<br />
und Bewerber eingeladen, ihre Arbeit persönlich vor der<br />
Jury zu präsentieren. Beurteilt werden die gestalterisch-künstlerische<br />
Qualität der Maturaarbeit, der konzeptuelle Ansatz und<br />
die Recherche, die Eigenständigkeit, die Qualität der Dokumentation<br />
sowie die Präsentation vor der Jury.<br />
Preise<br />
Alle eingeladenen Maturandinnen und Maturanden profitieren<br />
nebst dem Erstkontakt mit einer HKB-Jury und der Gelegenheit,<br />
Erfahrung in der Präsentation und Diskussion der eigenen gestalterisch-künstlerischen<br />
Arbeit zu sammeln auch von einem professionellen<br />
Feedback zur eigenen Arbeit, Dokumentation und Präsentation.<br />
Die drei Preisträgerinnen und Preisträger erhalten eine<br />
Urkunde und Boesner-Gutscheine für Künstlermaterialien im Wert<br />
von 500.–, 400.– oder 300.– Franken. Zudem werden die Preisträger<br />
als besondere Gäste der HKB exklusiv an einen HKB-internen<br />
Anlass in einem Studiengang ihrer Wahl (Vermittlung in Kunst<br />
und Design, Visuelle Kommunikation oder Kunst) eingeladen.<br />
Die Preisverleihung von 2009 findet anlässlich der Bachelor-<br />
Thesis-Vernissage des Studienganges Vermittlung in Kunst und<br />
Design am 17. Juni 2009 statt.<br />
Informationen<br />
Die erstmalige Verleihung des Preises 2009 wird ausschliesslich Maturaarbeiten<br />
aus dem Kanton Bern berücksichtigen, ab 2010 wird<br />
der Preis für alle schweizerischen Gymnasien geöffnet werden.<br />
Der Einsendeschluss für die Durchführung des Maturaarbeitspreises<br />
von 2010 ist am 6.2.2010. Eingereicht werden dürfen Arbeiten,<br />
die zu diesem Zeitpunkt nicht älter als <strong>12</strong> Monate sind.<br />
Die vollständigen Richtlinien und Formulare finden Sie auf der<br />
Webseite www.hkb.bfh.ch unter «Maturaarbeitspreis BG» in der<br />
rechten Spalte.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 4<strong>02</strong><br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>12</strong> <strong>Uhr</strong>
403<br />
Notizen<br />
Bilderserie mit Schneedachfotografien vom 11.<strong>12</strong>.<strong>08</strong> an der HKB, Fe11<br />
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an Katja Büchli (Assistenz Studiengang<br />
Vermittlung in Kunst und Design), katja.buechli@hkb.<br />
bfh.ch. Die HKB erhofft sich durch diesen Preis spannende Begegnungen<br />
und freut sich auf alle Andockerinnen und Andocker.<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 403<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:13 <strong>Uhr</strong>
404<br />
künstlerbedarf & rahmenatelier<br />
Kanzleistrasse 111 CH-8<strong>02</strong>8 Zürich<br />
Telefon 044 241 24 11<br />
Dienstag - Freitag <strong>08</strong>.30 - 19.30 / Samstag <strong>08</strong>.30 - 15.45<br />
info@kunstmalershop.ch<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 404<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:13 <strong>Uhr</strong>
405<br />
Notizen<br />
künstlerbedarf & rahmenatelier<br />
Kanzleistrasse 111 CH-8<strong>02</strong>8 Zürich<br />
Telefon 044 241 24 11<br />
Dienstag - Freitag <strong>08</strong>.30 - 19.30 / Samstag <strong>08</strong>.30 - 15.45<br />
info@rahmenatelier-kanzlei.ch<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 405<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
406<br />
in der Edition Moderne<br />
Eglistrasse 8 | 8004 Zürich | 044 491 96 82 | post@strapazin.ch<br />
mehr Comics auf<br />
www.editionmoderne.ch<br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 406<br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
407<br />
Weitere Informationen zum «<strong>Heft</strong>»:<br />
www.meinheft.ch<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
4<strong>08</strong><br />
<strong>Heft</strong>_<strong>02</strong>_<strong>2009.indb</strong> 4<strong>08</strong><br />
<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
409<br />
Notizen<br />
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410<br />
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411<br />
Notizen<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
4<strong>12</strong><br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
413<br />
Notizen<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
4<strong>14</strong><br />
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Notizen<br />
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<strong>16.2.2009</strong> <strong>12</strong>:15:<strong>14</strong> <strong>Uhr</strong>
416<br />
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