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Hanna-Barbara <strong>Gerl</strong>-<strong>Falkovitz</strong><br />
„Samstagslage“.<br />
Priester in (post)säkularer Zeit<br />
Kürzestdiagnose: Europa in der Vorhölle?<br />
© Autorin<br />
Kurz vor Ostern 2012 erschien ein schmales Buch, das die gegenwärtige Lage Europas einer<br />
Kulturkritik unterzieht. Auf französisch hieß es 2006 Les limbes, deutsch Die Vorhölle 1 ;<br />
Autor ist der französische Soziologe Luc Boltanski (*1940).<br />
Die Vorhölle, der Limbus patrum, bildet nach altkirchlicher Überlieferung den Ort, wohin die<br />
Ungetauften gelangen – also weder Hölle noch Himmel noch Fegfeuer (der Ort der<br />
Reinigung). Es ist der sinnbildliche Ort des Wartens schlechthin, ohne daß deutlich bestimmt<br />
wäre, ob und wann dieses Warten ein Ende oder eine Ankunft kennt. Boltanski, Sohn<br />
osteuropäischer Juden, nimmt Vorhölle sinnbildlich als unendlichen Zwischenzustand, nicht<br />
dunkel, nicht hell. Und das Erregende daran: Er nimmt sie zur Kennzeichnung der<br />
europäischen Gegenwart: „Denn gibt es einen Begriff, der besser als eben der Begriff der<br />
Vorhölle geeignet wäre, um mindestens in metaphorischer Sprechweise die geschichtliche<br />
Lage, die heute die unsrige ist, in diesem Landstrich, diesem unserem Europa, in dem wir<br />
leben müssen, zu kennzeichnen? Es ist gewiss keine Hölle, aber doch weit entfernt davon, ein<br />
Paradies zu sein. Unsere Stimmung ist nicht die der Sehnsucht, sondern eher die einer<br />
Vergessenheit.“ Vergessen ist der Sinn, also die Ausrichtung auf etwas oder jemanden, sagen<br />
wir ruhig auf den Löser, der aus dem Bann dieser anonymen Haft führen könnte. So<br />
beschreibt ein „Wanderer“ die halb unwirtlichen, halb bürokratischen, jedenfalls nicht<br />
schmerzhaften Stätten des Aufenthalts, worin sinnlose Worte unsichtbarer Schatten, die<br />
„Stimmen“ ertönen. Sie gehören weder Lebenden auf Erden noch Toten in der Unterwelt; sie<br />
streiten sich um das Recht, zuerst abgeholt zu werden, sie bestehen auf vermeintlichen<br />
kleinen Privilegien, sie sprechen vom Listenplatz, von der Gunst des Direktors – alles<br />
Belanglosigkeiten, die als abgerissene Satzfetzen durch den Raum schwirren, aber kein<br />
Gespräch einleiten, keine Logik erkennen lassen. Die Sorge um etwas, was nicht stattfindet,<br />
beherrscht den Raum. Während der Wanderer die Trostlosigkeit der Lage erkennt und am<br />
Ende beweint, ist das endlose Palaver der „Stimmen“ um Nichtigkeiten nur nichtig: „Seien<br />
Sie so freundlich / Es mir zu erklären“. „Ich habe Einspruch erhoben“. „Ich meine, ich habe<br />
Anspruch auf...“ Überhaupt fallen viele juristische Floskeln. Nur der Wanderer erinnert sich<br />
an das verlorene Leben: „Im baufälligen Unterschlupf eines Bushäuschens / Habe ich mich zu<br />
Boden geworfen / Und meine Toten beweint / Die Lebenden auch, und die, die man vergisst“.<br />
In seinem berühmten existentialistischen Theaterstück „Die Hölle“ schrieb Sartre den<br />
markanten Satz: „Die Hölle sind die anderen.“ Bei Boltanski gibt es keine anderen in der<br />
Vorhölle nur das erbärmliche Schatten-Selbst, das in sich eingesperrt erscheint. Jede<br />
Schatten-Stimme kreist um sich, um scheinbare winzige Vorteile, um angeblich verbriefte<br />
Rechte, aber es gibt keine Verbündung untereinander, keine Beziehung. Wer sollte schon die<br />
Wesenlosen aus ihrer Unwirklichkeit lösen?<br />
Boltanski vollzieht mit diesem Stück eine beklemmende Sicht auf Europa. Die Stimmen<br />
geben die Stimmung des Kontinents wieder: weder dunkel noch hell, weder schrecklich noch<br />
schön. „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ - das erklang zwar dort einmal, kann auch in<br />
Konzerten immer noch gehört werden. Daß es aber die Wirklichkeit einer lebendigen<br />
Hoffnung ist, ist dem Flüstern der Stimmen nicht mehr zu entnehmen. Ein wahrhaft<br />
vernichtendes Urteil, obwohl es gerade nicht schwarz malt. Aber das Grau der Stimmung ist<br />
1 Luc Boltanski, Die Vorhölle. Eine Kantate für mehrere Stimmen. Aus d. Französ. v. Jean Greisch. Mit e.<br />
theologischen Essay über Luc Boltanski hg. v. Rolf Schieder, Berlin 2011.<br />
1
edrängender als eindeutiges Schwarz. Der „Anhang“ des Autors endet mit den Worten: „Das<br />
Glück, das man uns versprochen hat, ist ausgeblieben. Wir leben in der namenlosen<br />
Äußerlichkeit der Melancholie. Gerade deshalb sollten wir uns der Vorhölle erinnern, um ihr<br />
besser widerstehen zu können.“<br />
Damit gestaltet Boltanski als Kantate, was sich trockener beschreiben läßt als die Lebenswelt<br />
einer heutigen Generation, aus der die jungen Priester kommen und in die hinein sie sprechen,<br />
handeln, dasein sollen. Der kurze tour d’horizon 2 lautet:<br />
Unabweislich erscheint ein Transzendenzverlust angesichts einer säkularen Vernunft. Dies<br />
zeitigt mittelbar weitere Verluste auf anthropologischer Ebene, vielfach erst in Spätfolge 3 .<br />
Plurale Lebenswelten ermangeln der gegenseitigen Verbindlichkeit oder sogar<br />
„Übersetzbarkeit“, wenn ein transzendenter Bezug entfällt: Sie führen zur „Beliebigkeit“<br />
eines atomisierten, individualisierten „Sinns“. 4 Die Neigung zu Transzendenz-Surrogaten in<br />
Form von säkularen Ritualen (gesellschaftlich oder individuell) führt zu Vermarktungen und<br />
Vergötzungen der Immanenz 5 . Diese aber verliert ohne „Außenstandpunkt“ ihre kriteriale<br />
Beurteilungsmöglichkeit; so ist eine größere Ideologie-Anfälligkeit in säkularen<br />
Zivilgesellschaften unausweichlich. 6 Wenn „Vernunft“ selbst im Sinn einer Verfallstheorie<br />
zur uneingesehenen Ideologie werden kann, dann bedeutet Aufklärung heute nicht nur<br />
Befreiung der Vernunft aus ihren Täuschungen, sondern Befreiung von der Täuschung,<br />
welche die Vernunft selbst ist. 7<br />
Solche Überlegungen werden seit geraumer Zeit zur Vorgabe der intellektuellen<br />
Auseinandersetzung. Insofern erhält das Christentum Rückenwind von intellektuellen<br />
Vordenkern, die die Rufe aus der „Vorhölle“ thematisieren. In diesem Spannungsfeld agiert<br />
der heutige Priester: hineingehalten in Fragen. Sind sie antwortlos oder provozieren sie doch<br />
eine Antwort? Im Folgenden werden „Steilvorlagen“ thematisiert, die den Horizont der<br />
anstehenden Neuevangelisierung anzeigen und zur Antwort ermutigen. In Wortmeldungen<br />
namhafter Philosophen wird deutlich, daß das Sinnpotential von Religion, a fortiori aber der<br />
jüdisch-christlichen Herkunft und ihres großen Thesaurus, offenbar nicht einfach ablösbar ist<br />
durch die aufgeklärte Vernunft und ihre Zwecksetzungen, nicht ablösbar durch virtuelle<br />
Spiele, nicht ablösbar durch Psychohygiene. Tatsächlich scheint sich eine Wende<br />
anzubahnen: die unerwartete Wende von Intellektuellen zu Fragen eines neuen (alten?)<br />
Sinnentwurfs.<br />
So gibt es in der postmodernen Welt - in der Welt des Philosophischen, ausstrahlend auf die<br />
Welt des Politischen, des öffentlichen Raumes - auch ein postsäkulares Denken; freilich keine<br />
Stelle, an der das Heilige unmittelbar vorkäme. Aber es kommt vor in seiner verschlüsselten<br />
Spur, im Widerspruch gegen die pure Autonomie des sich selbst besitzenden, sich selbst<br />
verstehenden Subjekts. Philosophisches Denken ist zurück in einer Fassungslosigkeit, von der<br />
sich die Autonomie-Formel der Aufklärung nichts hat träumen lassen. Zahlreiche<br />
philosophische Analysen sind Sprachrohr gesamtkultureller „Erdbeben“.<br />
Antwort auf die Opfer:<br />
Fest der Freiheit vom Tod<br />
2<br />
Zu Säkularisierung vgl. den Artikel von G. Marramao in HWPh 8, Sp. 1133-1162. Zu Religion vgl. den Artikel<br />
mehrerer Autoren in 9 Abt. (!) ebd., Sp. 632-713.<br />
3<br />
Gianni Vattimo: Philosophieren - Glauben, Stuttgart 2000.<br />
4<br />
Vgl. Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung, Freiburg 2005.<br />
5<br />
Vgl. Robert Menasse: Alles über Gott und die Welt. Oder: Landnahme und die Kapitalismusreligion, in:<br />
Konrad Paul Ließmann (Hg.): „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“, Wien 2008, 236ff.<br />
6<br />
Vgl. Peter Strasser: Journal der letzten Dinge, Frankfurt 1998; ders.: Der Weg nach draußen. Skeptisches,<br />
metaphysisches und religiöses Denken, Frankfurt 2000.<br />
7<br />
Vgl. Dieter Henrich: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik,<br />
Stuttgart 1999.<br />
2
Die Suche nach einer Anthropologie „jenseits des Nihilismus“ und „jenseits der virtuellen<br />
Konstruktion“ hat besonders nach dem 11. September 2001 begonnen. Im Blick auf dieses<br />
eingekerbte Datum war bei Habermas im Oktober 2001 die Rede von der Notwendigkeit einer<br />
universalen Gerechtigkeit - für die im Vergangensein verschwundenen Opfer. Gerechtigkeit,<br />
ein Zentralthema der Philosophie seit Platon, bleibe nämlich leer, wenn sie nur auf die<br />
Zukünftigen bezogen würde. „Auferstehung“ wäre die Sinnantwort auf irdisch nicht<br />
gutzumachende Leiden: „Erst recht beunruhigt uns die Irreversibilität vergangenen Leidens -<br />
jenes Unrecht an den unschuldig Mißhandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes<br />
Maß menschlicher Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion<br />
hinterläßt eine spürbare Leere“, so - erstaunlicherweise - Habermas’ Rede zum Friedenspreis<br />
des Deutschen Buchhandels 2001. 8 Mit anderen Worten: Im Sinnlosen bedarf es einer<br />
transzendierenden Antwort auf das menschlich nicht zu Lösende und nicht Denkbare.<br />
„Auferstehung“ ist damit mehr als ein „Anliegen“ in theologischer Metasprache. Sie hat -<br />
auch wenn sie bei Habermas nur noch im Konjunktiv formuliert werden kann - eine<br />
„Systemstelle“ im menschlichen Verlangen nach Gerechtigkeit. Gerade weil sich<br />
Gerechtigkeit auf alle und nicht auf wenige erstrecken soll, geht sie über den schmalen<br />
empirischen Ausschnitt an Geschichte hinaus, den Menschen aktiv gestalten könnten; der<br />
größere „Rest“ (der Toten und jetzt Lebenden) bleibt ohne Auferstehung für immer einem<br />
solchen gerechten Ausgleich entzogen. Auch in diesem Sinn ist eine Geschichte „mit Finale“<br />
einem zyklischen Weltverlauf ohne Finale gedanklich und religiös vorzuziehen. 9<br />
Damit begann ein Gespräch (spektakulär auch mit Joseph Ratzinger 2004) 10 , in welchem<br />
Religion im Verhältnis zur Vernunft gleichsam neu kartographiert wird. Während er in den<br />
90er Jahren starken Nachdruck auf das „nachmetaphysische Denken“ legte 11 , gelangt<br />
Habermas in seiner neuesten Veröffentlichung zu einer Kritik an dessen scheinbarer<br />
Unbefragbarkeit 12 - Fenster zu einem neuen Gespräch.<br />
Als entscheidende anthropologische Hilfestellung führte Joseph Ratzinger im Jahr 2000 die<br />
Liturgie (!) an: Wie das Spiel eine „Antizipation des Lebens, als Einübung ins spätere Leben“<br />
sei, so sei Liturgie Antizipation der Zukunft, nämlich des künftigen Festes aller im<br />
himmlischen Jerusalem. Damit aber vollzieht die Liturgie in ihrer Tiefe eine Überwindung<br />
der Angst der Existenz: der Angst vor dem Tod. „Die Freiheit, um die es im christlichen Fest<br />
– der Eucharistie – geht, ist (...) die Befreiung der Welt und unserer selbst vom Tod, die allein<br />
uns freimachen kann die Wahrheit anzunehmen“ 13 .<br />
Hier zeigt Liturgie unmittelbar, wie sie aus Anthropologie aufsteigt und auf die darin<br />
andrängende Endlichkeit antwortet. Sollte das christliche Fest der Freiheit vom Tod<br />
verstummen – was bedeutet das für den Menschen? Marcel Proust hat um die vorletzte<br />
Jahrhundertwende die drohende Laisierung der Kultur Frankreichs als reale Bedrohung des<br />
Menschen wahrgenommen. In seinem Aufsatz Der Tod der Kathedralen, erschienen im<br />
„Figaro“ vom 16. August 1904, vollzieht sich dieser Tod schrittweise, von der Entleerung des<br />
Ritus über das Sterben der Symbolik bis zum Verstummen des Menschen. Die Entleerung des<br />
Ritus habe begonnen: „Ach, es ist immer noch besser, die Kirche zu verwüsten, als sie ihrem<br />
Zweck zu entfremden. Solange man in ihr noch die Messe zelebriert, bewahrt sie, so<br />
8<br />
Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt 2001.<br />
9<br />
Vgl. Hanna-Barbara <strong>Gerl</strong>-<strong>Falkovitz</strong>, Ante Christum natum – post Christum natum. Anmerkungen zum<br />
christlichen Zeitbegriff, in: dies., Eros – Glück – Tod, Gräfelfing 2003, 40 – 65; hier: 62f.<br />
10<br />
Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, Freiburg 2005.<br />
11<br />
Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt 1992; ders., Politik, Kunst, Religion, Stuttgart<br />
1992.<br />
12<br />
Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt 2005.<br />
13<br />
Joseph Ratzinger, Der Geist der Liturgie, Freiburg 2000, 142.<br />
3
verstümmelt sie auch sein mag, wenigstens noch ein bißchen Leben. Am Tag ihrer<br />
Zweckentfremdung ist sie tot; selbst wenn man sie als ein historisches Denkmal vor<br />
anstößigen Zwecken schützt, ist sie nichts weiter als ein Museum.“ 14<br />
Die Folge ist ein Erlöschen der Symbolik und der Fähigkeit des Menschen, sich selbst<br />
symbolisch auf ein Größeres hin zu überschreiten: „Niemals wurde ein vergleichbares<br />
Schauspiel, ein so riesiger Spiegel der Wissenschaft, der Seele und der Geschichte den<br />
Blicken und der Einsicht des Menschen geboten. Die gleiche Symbolik umfaßt sogar noch die<br />
Musik, die nun in dem großen Schiff zu hören ist und deren sieben gregorianische Töne die<br />
sieben theologischen Tugenden und die sieben Weltzeitalter vorstellen. Man kann sagen, daß<br />
eine Wagner-Aufführung in Bayreuth (...) recht wenig hermacht neben der Zelebrierung des<br />
Hochamts in der Kathedrale von Chartres.“ Und Proust zeichnet das schauerliche Bild einer<br />
Welt von Snobs, die in späteren Zeiten eine Rekonstruktion der Messe, in einer Kathedrale<br />
von Schauspielern aufgeführt, als Gesamtkunstwerk genießen.<br />
Nach einem solchen Verlust aber verstummt der Mensch in spezifischer Hinsicht, und auch<br />
sie hat mit Tod zu tun, der nicht mehr beantwortet wird, weil er gar nicht mehr vorkommen<br />
darf: „Aus ihren Fenstern in Chartres (...) werden die Küfer, Kürschner, Krämer, Pilger,<br />
Ackersleute, Waffenschmiede, Weber, Steinmetzen, Fleischer, Korbflechter, Schuhmacher,<br />
Wechsler, eine große stumme Demokratie, Gläubige mit dem festen Willen, am Gottesdienst<br />
teilzunehmen, die Messe nicht mehr hören, die sie sich gesichert hatte, als sie die glänzendste<br />
ihrer Münzen für den Kirchenbau stifteten. Die Toten leiten nicht mehr die Lebenden. Und<br />
die Lebenden, vergeßlich, erfüllen nicht mehr die Gelübde der Toten.“<br />
Antwort auf Schuld:<br />
Im Absoluten die Absolution<br />
Eine tiefgehende, philosophisch fundierte religiöse Forderung, ausgesprochen von einem<br />
Agnostiker, kommt hinzu - um so verblüffender, als der kirchliche Usus auf diesem Gebiet<br />
immer mehr ausdünnt. Genügt es nach dem ungeheuren „Jahrhundert der Wölfe“ (Nadeshda<br />
Mandelstam), daß die Enkel der Opfer den Enkeln der Täter „verzeihen“? Wer hat sie dazu<br />
autorisiert? Jacques Derrida (1930-2004) greift seinen Landsmann Vladimir Jankélévitch an,<br />
der ein Verzeihen (spezifisch für die Nazi-Täter) ausdrücklich ausgeschlossen hatte, er greift<br />
aber auch einen „Polittourismus“ an, der die Toten um einer gegenseitigen Harmonie willen<br />
für immer tot sein läßt. Stattdessen gebe es eine abrahamitische Tradition, die von einer<br />
überragenden Vergebung wisse.<br />
Die Rede ist von der notwendigen Absolution von Schuld, und zwar ausdrücklich im Blick<br />
auf die Täter. Sie müßte bis zur Verzeihung des Unverzeihlichen gehen, so Derrida in einem<br />
Interview zum Millenium: „Man muß von der Tatsache ausgehen, daß es, nun ja,<br />
Unverzeihbares gibt. Ist es nicht eigentlich das Einzige, was es zu verzeihen gibt? Das<br />
einzige, was nach Verzeihung ruft? Wenn man nur bereit wäre zu verzeihen, was verzeihbar<br />
scheint, was die Kirche ‘läßliche Sünde’ nennt, dann würde sich die Idee der Vergebung<br />
verflüchtigen. Wenn es etwas zu verzeihen gibt, dann wäre es das, was in der religiösen<br />
Sprache ‘Todsünde’ heißt, das Schlimmste, das unverzeihbare Verbrechen oder Unrecht.<br />
Daher die Aporie, die man in ihrer trockenen und unerbittlichen, gnadenlosen Formalität<br />
folgendermaßen formulieren kann: Das Vergeben verzeiht nur das Unverzeihbare. Man kann<br />
oder sollte nur dort vergeben, es gibt nur Vergebung - wenn es sie denn gibt -, wo es<br />
Unverzeihbares gibt. Was soviel bedeutet, daß das Vergeben sich als gerade Unmögliches<br />
ankündigen muß. Es kann nur möglich werden, wenn es das Un-Mögliche tut. [...] Was wäre<br />
das für eine Verzeihung, die nur dem Verzeihbaren verziehe?“ 15<br />
14<br />
Zitiert nach Anita Albus, Die gemordeten Kathedralen, in: FAZ, Bilder und Zeiten, vom 11.4.2009, Z 3. Dort<br />
auch die weiteren Proust-Zitate.<br />
15<br />
J. Derrida/M. Wieviorka, Jahrhundert der Vergebung, in: Lettre international 48 (2000), 10 - 18, hier: 11f.<br />
4
„Übersetzt“ kann dies wohl nur bedeuten, daß es Absolution nur im Absoluten gibt - nicht im<br />
Relativen menschlicher „Verrechnung“. Ähnlich wie bei Habermas drückt sich Derridas<br />
Forderung im Horizont des „Unmöglichen“ aus, der nur Erwünschten, nicht Realisierbaren;<br />
gleichwohl entspricht sie - bis in die Formulierungen hinein - dem Angebot biblischer<br />
Neuwerdung auch des Täters, nicht nur des Opfers. Wenn die Kultur diese (Un-)Möglichkeit<br />
unausdenklicher Huld nicht mehr ins Auge faßt, bleibe sie in ihren Untaten und im<br />
unwirklichen Austausch von Entschuldigungen der Nachgeborenen auf immer verfangen,<br />
verrät sie den (einmal gewußten) pardon pur.<br />
Der Priester als Zeuge:<br />
der „gegenlaufenden Wahrheit“<br />
In einigen jüngsten Texten der Philosophie wird anstelle von Beweisen auf die Notwendigkeit<br />
von Bezeugen verwiesen. Bezeugen läßt sich das, was „sich zeigt“, aber nicht von allen<br />
wahrgenommen wird.<br />
Die Skepsis ist abgedroschen und allgemein verbreitet, daß die Grenze des Ich auch die<br />
Grenze der Wahrnehmung sei und die Grenze der Sprache auch die Grenze unserer Welt.<br />
Daran heftet sich zum Beispiel der gewichtige und theologisch brisante Einwand, ob „heilige<br />
Texte“ denn als inspiriert gelten könnten, da sie doch nur von Menschen geschrieben seien,<br />
zudem in deren kulturellem Umfeld und beschränkt durch das subjektive Verstehen.<br />
Milieutheoretisch gelesen bleibt dann von der Heiligkeit der Texte wenig übrig – ein billiger<br />
Relativismus aller „heiligen“ Texte, die doch „nur von Menschen gemacht“ (feministisch<br />
nachgetreten: „von Männern gemacht“) sind, ist die unausweichliche Folge.<br />
Jean-Luc Marion (*1949) zeigt in großer Genauigkeit und im Rückgriff auf Augustinus, daß<br />
Wahrheit gerade nicht eingeschränkt im Rahmen unseres begrenzten Erkenntnisvermögens<br />
agiert – sondern daß eine veritas redarguens auf den Erkennenden zugreift, eine „Gegen-<br />
Wahrheit“ also 16 , eine „gegenlaufende Wahrheit“. Sie läuft nämlich zwingend gegen unser<br />
Vorverständnis an, bis wir es notgedrungen öffnen. Wie setzt sie sich aber gegen unsere<br />
beschränkte Erkenntnis durch? Indem sie drei Merkmale an sich trägt: Sie verweist den<br />
Zeugen zurück auf seine Begrenzung, aber nicht nur negativ, sondern weil sie zugleich diese<br />
Grenze lösend übersteigt; sie ent-täuscht ihn im Wortsinn: sie befreit ihn von Täuschung, und:<br />
sie wirkt widerständig. 17 Auch das ist nicht negativ gemeint: Es ist gerade dieser Widerstand,<br />
der das Denken hervorruft: „Stützen kann nur, was widersteht“ (Ida Friederike Görres, 1901-<br />
1971).<br />
Damit wird der Zeuge zur „Geisel“ der Wahrheit: „Ohne zu versagen oder sich selbst zu<br />
verdammen, muß die schonungslose Klarheit ertragen werden (von dem), der das Risiko<br />
eingeht, sie und die Last, die sie auferlegt, zu schauen.“ 18 Das klingt zunächst schmerzlich,<br />
und in der Tat ist Schmerz ein Kriterium von Berührung durch Wahrheit bei Marion. 19 Doch<br />
mehr noch läßt sich darin auch eine Herz und Sinn weitende Prüfung und Herausforderung<br />
lesen, und dabei empfindet der Ergriffene nicht nur eine Forderung, sondern Ehrfurcht vor<br />
dem, was (oder wer) übersteigt, anzieht und öffnend beunruhigt. 20 So deutet dieses Erleben<br />
auf ein Übermaß, eine „Sättigung“, eine Anschauungsfülle: Sie erhebt, auch wenn sie<br />
demütigt. „Indem ich sehe, was ich sehe, sehe ich auch die zwangsläufige Dunkelheit, die den<br />
zu klaren Überschuß an Licht ahndet. Diese zwangsläufige Dunkelheit fällt unvermittelt auf<br />
den zurück, der die Wahrheit sieht, weil sie die dunkle Forderung ausspricht, sich selbst nach<br />
16 Jean-Luc Marion, Sättigung als Banalität,, in: Michael Gabel/Hans Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der<br />
Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg/München 2007, 96-139; hier: 133.<br />
17 Ebd., 128-131.<br />
18 Ebd., 134.<br />
19 Ebd., 130.<br />
20 Ebd., 131.<br />
5
dem maßlosen Maß des Überschusses, der die Anschauung sättigt, wieder in den Blick zu<br />
nehmen.“ 21 So gehören zwei Züge zum Charakter des Zeugen: Demut und zugleich<br />
Erfülltsein – und er kann nur beides zugleich äußern: seine Unzulänglichkeit ebenso wie seine<br />
Sättigung.<br />
„Bezeugen wird ihm zur zweiten Natur, zu einer Beschäftigung und zu einer<br />
gesellschaftlichen Aufgabe, die ihn für andere ermüdend oder abstoßend werden läßt.“ 22<br />
Zeuge, martyr, ist man möglicherweise schon im Alltäglichen, um dafür schief angesehen zu<br />
werden. Ist die Wahrheit zumutbar? Ja, sie wird im Schmerz einer überfordernden Fülle und<br />
eines unerläßlichen eigenen Versagens zugemutet. Wir sind unnütze Knechte – aber doch im<br />
Anblick großer Seligkeit. Nochmals Ida Friederike Görres: „Wenn man einen Becher unter<br />
einen Wasserfall hält, wird er einem nicht nur aus der Hand geschlagen, er bleibt obendrein<br />
leer, weil das stürzende Wasser sofort wieder herausprallt.“ 23 Das aber nicht aus Armut,<br />
sondern aus dem Reichtum der Gabe.<br />
Der Priester in der „Samstagslage“ der Kultur<br />
Tief unter der Schwelle des allgemeinen Bewußtseins wird die Spannung zwischen Intellekt<br />
und biblischer Offenbarung spürbar. Der schmerzlich vermißte, brennend entbehrte Fremde,<br />
der Lebendige selbst, der Gott, der die Hohlkugel und Tarnkappe des allseitig abgesicherten<br />
Bewußtseins stört – wäre diese Bedrohung nicht das wahre Glück? „Die einzige Bedingung,<br />
um jederzeit wirklich religiös zu sein, ist, stets intensiv das Wirkliche zu leben.“ 24<br />
Ein anderer Kulturkritiker, Botho Strauß (*1944) spricht selten von Gott, doch einmal bedient<br />
er sich eines Wortbildes von George Steiner (*1929): Die „Samstagslage“ der Kunst stehe<br />
„zwischen dem Freitag mit dem Kreuzestod und grausamen Schmerzen und dem Sonntag der<br />
Auferstehung und der reinen Hoffnung. Weder am Tag des Grauens noch am Tag der Freude<br />
wird große Kunst geschaffen. Wohl aber am Samstag.“ 25 Der Ruf nach Sinn, nach<br />
Anwesenheit des „großen Unbekannten“, oder im Umkehrschluß die Trauer dumpfer<br />
Abwesenheit gären heute als Unruhe im Tiefschlaf der Kultur. „Niemand spricht<br />
metaphysischer als der, dem Gott sich jäh in der Umkehrung offenbart, in Abgrund, Wunde<br />
und Leere.“ 26<br />
Gerade das Umgehen einer ausdrücklichen Aussage über Gott macht merkwürdig auf das<br />
Verhüllte aufmerksam. „Abgrund, Wunde und Leere“ lesen sich anders als die trockene – und<br />
durch Wiederholung immer trockenere - Behauptung, Gott als Projektion sei tot und um seine<br />
unauffindbare Leiche lasse sich nicht mehr streiten. Diese Wunde mag erklären, weshalb die<br />
neuen Atheismen (Dawkins, die Giordano-Bruno-Stiftung) in ihrem plumpen Positivismus<br />
selbst eigentümlich deplaziert und meilenweit vom Kern der gegenwärtigen<br />
Auseinandersetzung entfernt wirken. Vielmehr brechen Symptome eines unterschwelligen<br />
religiösen Dramas mitten in der Gegenwart auf.<br />
Möglicherweise ist das postsäkulare Reden von Religion jener Umweg, der zum erneuten<br />
Sehen des früher fraglos Geglaubten, Gelernten, dennoch nicht Gesehenen und dann aus<br />
Überdruß Verworfenen notwendig ist. Das nie Gesehene, nicht Sichtbare wird in seinem<br />
unauflöslichen, sich dem Besitzen und Besessensein entziehenden „Rest“ ernstgenommen.<br />
Umkehrung also: An dem entsorgten, scheinbar überflüssigen Sakralen, das vor der<br />
Säkularität nicht „bestand“, scheint sich ein fruchtbares Aufbrechen zu entzünden.<br />
21 Ebd., 132.<br />
22 Ebd., 136.<br />
23 Ida Friederike Görres, Zwischen den Zeiten. Aus meinen Tagebüchern 1951-1959, Olten/Freiburg 1960, 118.<br />
24 Luigi Giussani, Der religiöse Sinn, Paderborn 2004.<br />
25 Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, München 1999, 51.<br />
26 Ebd., 31.<br />
6
Die Samstagslage des Denkens weiß und spricht (wieder) von den Testamenten, die<br />
bezeugen. Der Samstag weiß (wieder) vom vorangegangenen Tod Gottes; (noch) nicht<br />
bezeugt er seine Auferstehung. Mitten im Triduum vibriert der Tag des Übergangs; mitten im<br />
Triduum steht der Priester.<br />
Christus ist „den Menschen auf den Leib gerückt“, sagte bereits Erik Peterson gegen alle<br />
dialektischen Verflüchtigungen des Gottesgedankens ins Ungefähre 27 . Bérulle sekundiert ihm<br />
300 Jahre früher: „Der Menschgewordene Gott ist nicht im Himmel, er ist auf der Erde. Erde,<br />
ach, die einen solchen Schatz birgt, ohne ihn zu kennen.“ 28 Damit ist nicht geleugnet oder<br />
illusionistisch überflogen, daß der Mensch nach wie vor „in Adams alter Not“ steht. Es ist<br />
vielmehr umgekehrt, daß einige postmoderne Autoren, und nicht die schlechtesten, Adams<br />
alte Not an der Fleischwerdung des Wortes und an der eigenen Fleischwerdung wider alle<br />
Absenzen neu buchstabieren. Das ist nicht nichts - gesehen im Horizont der<br />
Religionsmüdigkeit und Erkenntnisskepsis, ja Wirklichkeitsskepsis Europas.<br />
Ein polnischer Dichter und Priester, Jan Twardowski, verleiht dem Samstag eine Stimme 29 :<br />
„Nicht darum, weil Du aus dem Grabe auferstanden,<br />
nicht darum, weil du in den Himmel aufgefahren,<br />
sondern darum,<br />
weil man Dir ein Bein gestellt,<br />
Dich ins Gesicht geschlagen hat,<br />
weil Du am Kreuz vor Schmerz<br />
den Kopf eingezogen hast<br />
wie ein Reiher den Hals,<br />
darum, weil Du gestorben bist, wie ein Gott,<br />
der kein Gott zu sein scheint,<br />
ohne schmerzstillende Mittel<br />
und ohne ein feuchtes Handtuch um den Kopf,<br />
(...)<br />
darum, weil Dein Gesicht von Tränen verschmiert ist,<br />
erhebe ich Dich täglich in der Messe<br />
wie ein Lamm, das man an den Ohren<br />
hervorzieht.“<br />
27<br />
Erik Peterson, Was ist Theologie? (1925), in: Peterson, Theologische Traktate I, 1 - 22, hier: 13f.<br />
28<br />
Pierre de Bérulle (1575-1625), Leben im Mysterium Jesu, übers. v. Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1984,<br />
55.<br />
29 2<br />
Jan Twardowski, Ich bitte um Prosa. Langzeilen, Einsiedeln 1974, 29.<br />
7