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Hrsg - Forum Politische Bildung

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WIEDER<br />

GUT<br />

MACHEN?<br />

ENTEIGNUNG ZWANGSARBEIT<br />

ÖSTERREICH 1938-1945/1945-1999<br />

ENTSCHÄDIGUNG RESTITUTION


WIEDER<br />

GUT<br />

MACHEN?<br />

ENTEIGNUNG ZWANGSARBEIT<br />

ÖSTERREICH 1938-1945/1945-1999<br />

ENTSCHÄDIGUNG RESTITUTION<br />

Herausgeber: <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong><br />

Konzeption und Textauswahl: Heidrun Schulze und Gudrun Wolfgruber<br />

Redaktion: Gertraud Diendorfer


Sonderband<br />

der Schriftenreihe Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong><br />

Herausgegeben vom <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong><br />

A-1050 Wien,<br />

Rechte Wienzeile 97<br />

Tel.: 0043/1/545 75 35-39<br />

Fax: 0043/1/548 06 66<br />

e-mail: dien@polbild.vienna.at<br />

Bestelladresse<br />

StudienVerlag<br />

Postfach 104,<br />

A-6010 Innsbruck<br />

Fax: 0512/39 50 45-15<br />

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme<br />

Wieder gut machen?<br />

Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution<br />

[hrsg. vom <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong>]. –<br />

Innsbruck; Wien: Studien-Verl., 1999<br />

(Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>; Sonderb.)<br />

ISBN 3-7065-1404-4<br />

Umschlag und grafisches Konzept: Thomas Kussin<br />

Grafische Ausführung: Rosmarie Ladner<br />

Lektorat: Helga Gibs<br />

Druck: Remaprint<br />

Printed in Austria 1999<br />

Trotz intensiver Bemühungen konnten bis jetzt nicht alle Inhaber von Text- und<br />

Bildrechten ausfindig gemacht werden. Für entsprechende Hinweise ist der Verlag<br />

dankbar. Sollten Urheberrechte verletzt worden sein, wird der Verlag nach Anmeldung<br />

berechtigter Ansprüche dies entgelten.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Inhalt<br />

4 Einleitung<br />

7 Enteignung<br />

8 Hans Witek: „Arisierungen“ in Wien.<br />

Aspekte nationalsozialistischer Enteignungspolitik<br />

1938–1940<br />

21 Jonny Moser: Die Zentralstelle für jüdische<br />

Auswanderung in Wien<br />

27 Georg Scheuer: Delogiert, deportiert, ermordet<br />

31 Abbildung: Ansuchen um eine<br />

Geschäftsübernahme<br />

33 Zwangsarbeit<br />

34 Ulrich Herbert: Zwangsarbeiter im<br />

„Dritten Reich“ – ein Überblick<br />

46 Interview mit Florian Freund:<br />

„Die Kriegswirtschaft wäre ohne<br />

ZwangsarbeiterInnen zusammengebrochen“<br />

55 Die vergessenen Opfer<br />

56 Brigitte Bailer-Galanda:<br />

Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti<br />

63 Brigitte Bailer-Galanda: Vertrieben und<br />

nicht zurückgekehrt<br />

65 Wolfgang Neugebauer: Zum Umgang mit<br />

den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945<br />

71 Jana Müller: Kinder und Jugendliche als<br />

Opfer der NS-Verfolgung<br />

75 Martina Scheitenberger, Martina Jung:<br />

Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der<br />

Betty Voss<br />

81 Brigitte Bailer-Galanda: Die sogenannten<br />

„U-Boote“ – überlebt im Verborgenen<br />

85 Frauen im Widerstand<br />

86 Die Verfolgung der Zeugen und Zeuginnen<br />

Jehovas<br />

87 Die Verfolgung Homosexueller während des<br />

Nationalsozialismus<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

89 Rückstellung und Entschädigung<br />

90 Brigitte Bailer-Galanda: Die Opfergruppen und<br />

deren Entschädigung<br />

97 Erste Anlaufstellen/Maßnahmen für Opfer des<br />

Nationalsozialismus nach 1945<br />

98 Helga Embacher: Der Kampf um die rechtliche<br />

Anerkennung jüdischer Überlebender<br />

103 Brigitte Bailer-Galanda: „Ohne den Staat weiter<br />

damit zu belasten …“ Bemerkungen zur<br />

österreichischen Rückstellungsgesetzgebung<br />

113 Frank Stern: Rehabilitierung der Juden oder<br />

materielle Wiedergutmachung – ein Vergleich<br />

124 Interview mit Georg Graf: „Lücken in der<br />

Gesetzgebung“<br />

131 Der NS-Kunstraub<br />

132 Interview mit Hannah Lessing: „<br />

Bei uns werden alle berücksichtigt“<br />

134 Nationalfonds der Republik Österreich für<br />

Opfer des Nationalsozialismus<br />

139 Robert Knight: „Ich bin dafür, die Sache in<br />

die Länge zu ziehen“<br />

141 Historikerkommission<br />

Interviews mit:<br />

142 Clemens Jabloner:<br />

„Wir liefern historische Fakten“<br />

146 Karl Stuhlpfarrer: „Wir müssen tun, was schon<br />

vor 30 Jahren hätte geschehen sollen“<br />

151 Bertrand Perz: „Was jetzt passiert, wäre vor<br />

15 Jahren noch undenkbar gewesen“<br />

160 Die Archive öffnen sich: Die Erforschung der<br />

Firmen- und Bankengeschichte während<br />

der NS-Zeit<br />

161 Glossar<br />

178 Zeittafel<br />

180 Literatur zum Thema<br />

182 Internet-Adressen zum Thema


Einleitung<br />

„Wieder gut machen?“ – Der Titel der vorliegenden Publikation verweist auf die Problematik<br />

des Begriffs der „Wiedergutmachung“, also auf die prinzipielle Infragestellung der Möglichkeit,<br />

das während des Nationalsozialismus erlittene Leid, den Terror und die Verluste sowie<br />

psychische, physische und materielle Folgeschäden überhaupt „wiedergutmachen“ zu<br />

können. Wenn in den Jahrzehnten nach Ende der NS-Herrschaft und auch in der aktuellen<br />

Debatte von „Wiedergutmachung“ die Rede ist, so wird sie zudem meist eingeschränkt als<br />

finanzielle bzw. materielle Leistungen für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung verstanden.<br />

Die Notwendigkeit eines Bemühens um die moralische Rehabilitierung der Opfer,<br />

ihre Reintegration in und Unterstützung durch die österreichische Nachkriegsgesellschaft<br />

wurde und wird demgegenüber weitgehend in den Hintergrund auch der aktuellen Debatte<br />

über noch ausstehende Rückstellungen und Entschädigungen gerückt.<br />

Ursachen für die aktuelle Debatte gibt es mehrere. Zum einen gibt es bei den jüngeren<br />

Generationen eine größere Bereitschaft, sich mit dem Thema bzw. mit der eigenen Geschichte<br />

auseinanderzusetzen, was auch mit der Distanz der Generationen zum Nationalsozialismus<br />

zusammenhängt. Zum anderen gibt es in Europa und weltweit aufgrund der<br />

geänderten geopolitischen Situation seit längerem eine Diskussion über den Umgang mit<br />

dem Nationalsozialismus. Beschleunigt wurde die Diskussion durch die rechtliche Möglichkeit,<br />

in den USA Sammelklagen gegenüber Firmen oder Banken einzureichen. Voraussetzung<br />

ist eine Geschäftsverbindung mit den USA, ein Umstand, der angesichts der zunehmenden<br />

Globalisierung immer mehr gegeben ist und den Opfern eine Möglichkeit eröffnet,<br />

zu ihrem Recht zu kommen. Internationale Konferenzen wie die Londoner „Raubgoldkonferenz“<br />

(1997) und die Washingtoner Konferenz über „Vermögenswerte aus der Ära des<br />

Holocaust“ (1988) sowie die Einrichtung von Kommissionen wie der Bergier-Kommission in<br />

der Schweiz zeigten Wege auf, sich dem Erbe der eigenen Geschichte zu stellen. Im September<br />

1998 kam es auch in Österreich zum Beschluss, eine Historikerkommission einzurichten,<br />

die den Vermögensentzug und Vermögensvorenthalt auf dem Gebiet der Republik<br />

Österreich zwischen 1938 und 1945 und die Rückstellungs- und Entschädigungspraxis der<br />

Zweiten Republik untersuchen soll. Intention des vorliegenden Sonderbandes ist es nun, mit<br />

den ausgewählten Texten, mit Interviews mit Mitgliedern der Historikerkommission und Hintergrundinformationen<br />

eine Möglichkeit zu bieten, sich über die aktuellen Debatten hinaus<br />

eingehend mit den zur Diskussion gestellten Fragen auseinandersetzen, nachlesen und<br />

informieren zu können. Vor allem aber auch, um zu vermitteln, warum diese Debatte und<br />

warum konkrete Schritte notwendig und wichtig sind.<br />

Notwendig nicht nur, weil die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung mehr als fünfzig<br />

Jahre lang in ihrem Bemühen um Entschädigung und Rehabilitation überwiegend als BittstellerInnen<br />

behandelt oder überhaupt ignoriert wurden. So erhielten trotz zahlreicher Novellierungen<br />

des Opferfürsorgegesetzes sowie der Rückstellungsgesetze seit 1945 viele Opfergruppen<br />

bis zur Einrichtung des Nationalfonds der Republik Österreich im Jahr 1995 keine<br />

oder nur eine unzureichende materielle Entschädigung, manche sind bis heute von der<br />

Opferfürsorge nicht anerkannt. Diese Debatte ist aber auch wichtig für das gesellschaftliche<br />

Bewusstsein Österreichs, weil die verzögerte Rückstellungspraxis und die lückenhafte Opfer-<br />

4 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


fürsorgegesetzgebung nach 1945 ein eindrückliches Beispiel sind für den Umgang Österreichs<br />

mit seiner Vergangenheit während des Nationalsozialismus. Viele Bereiche der NS-<br />

Herrschaft, die gegenwärtig diskutiert und die auch in diesem Band thematisiert werden,<br />

wurden zudem jahrzehntelang verdrängt.<br />

Unser Themenschwerpunkt – Enteignung und Zwangsarbeit, rassistische, politische, religiöse<br />

Verfolgung während des Nationalsozialismus und die (nicht)erfolgte Rückstellung entzogenen<br />

Vermögens und Entschädigung der Opfer in Österreich nach 1945 – hat daher<br />

das Anliegen, nicht nur das Ausmaß der nationalsozialistischen Beraubung und Verfolgung,<br />

sondern auch Kontinuitäten von Denkmustern im Umgang mit den Opfern in der<br />

Zweiten Republik aufzuzeigen. So untersuchen einige der ausgewählten wissenschaftlichen<br />

Texte, Interviews und ZeitzeugInnenberichte die nationalsozialistische Praxis und die verschiedenen<br />

Aspekte von Zwangsenteignungen, die unterschiedlichen Dimensionen von<br />

Zwangsarbeit sowie die Erfahrungen der bislang „vergessenen Opfergruppen“, andere<br />

thematisieren die Haltung der Republik Österreich gegenüber den Betroffenen im Bereich<br />

der Opferfürsorge sowie in der Rückstellungspraxis. Ergänzt werden diese Texte durch<br />

Interviews mit ExpertInnen, die im Bereich der Wissenschaft bzw. in ihrer Berufspraxis mit<br />

diesen Fragestellungen konfrontiert sind.<br />

Zentrale Aspekte der gegenwärtigen Diskussion und des Forschungsstandes werden in Interviews<br />

mit Mitgliedern der Historikerkommission thematisiert. Dadurch soll der Hintergrund<br />

über das Wie und Warum der aktuellen Entwicklungen in Österreich, wie etwa die Einsetzung<br />

und die Arbeitsweise der von der Regierung beauftragten Historikerkommission<br />

nachvollziehbar werden. Ein Anhang in Form eines umfangreichen Glossars, einer Zeittafel,<br />

weiterführender Literaturhinweise und Internetadressen sollen den Charakter des Bandes als<br />

Nachschlagewerk unterstreichen.<br />

Wir haben uns für eine Zusammenstellung bereits publizierter Texte unter anderem deshalb<br />

entschieden, weil damit auch der bisherige Forschungsstand zu diesen Themen reflektiert<br />

werden soll; neue Forschungserkenntnisse sind allerdings in den nächsten Monaten und<br />

Jahren zu erwarten (siehe auch die Literaturhinweise auf demnächst erscheinende Publikationen<br />

im Anhang). Eine solche Zusammenstellung bringt allerdings auch editorische Probleme<br />

mit sich. Die ausgewählten Texte wurden vielfach durch Einleitungen oder Informationskästen<br />

bzw. Kommentare ergänzt, teilweise auch aktualisiert; so ist zum Beispiel der Beitrag von<br />

Wolfgang Neugebauer zum Opferfürsorgegesetz und den Sterilisationsopfern in Österreich<br />

fast zur Gänze neu geschrieben worden. Notwendige Erläuterungen und Anmerkungen wurden<br />

im Glossar dargestellt, daher ist in den Texten, wenn der jeweilige Begriff zum ersten<br />

Mal verwendet wird ein entsprechendes Verweiszeichen ➤ angebracht. Die alte Rechtschreibung<br />

wurde in den wieder abgedruckten Beiträgen beibehalten, ansonsten verwenden wir<br />

die neue Schreibweise; dies entspricht somit der gegenwärtigen Übergangsphase, in der sowohl<br />

die alte als auch die neue Rechtschreibung nebeneinander verwendet werden. Die<br />

Berücksichtigung der weiblichen und der männlichen Schreibweise konnte ebenfalls nicht<br />

bei allen Textstellen und in einer einheitlichen Form umgesetzt werden.<br />

Für die Unterstützung bei der Auswahl der Texte danken wir Mag. Elisabeth Morawek,<br />

Leiterin der Gruppe <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> des Bundesministeriums für Unterricht, und Mag.<br />

Sigrid Steininger, Gruppe <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> des Bundesministeriums für Unterricht. Besonderer<br />

Dank gilt weiters unseren InterviewpartnerInnen Dr. Florian Freund, Dr. Georg Graf,<br />

Mag. Hannah Lessing, Dr. Clemens Jabloner, Dr. Bertrand Perz und Dr. Karl Stuhlpfarrer für<br />

ihre Gesprächsbereitschaft, für Information und Beratung. Ferner danken wir für wertvolle<br />

Unterstützung und Informationen Mag. Gerlinde Affenzeller, Dr. Brigitte Bailer-Galanda vom<br />

Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Mag. Eva Blimlinger, Forschungskoordinatorin<br />

der Historikerkommission, Staatsanwalt Mag. Peter Hadler vom Bundesministerium<br />

für Justiz, Stefan A. Lütgenau, DDr. Oliver Rathkolb und Theo Venus von der Stiftung<br />

Bruno Kreisky Archiv sowie Mag. Peter Schwarz von der Grünen <strong>Bildung</strong>swerkstatt.<br />

Gertraud Diendorfer, Heidrun Schulze, Gudrun Wolfgruber August 1999<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

5


„Arisierungen“<br />

Delogierungen<br />

Flucht und<br />

Vertreibung<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Enteignung<br />

Bereits in den ersten Tagen nationalsozialistischer Herrschaft in Österreich wurde mit umfangreichen<br />

Plünderungen, sog. „wilden ➤ Arisierungen“ von Besitz und Vermögen der<br />

jüdischen Bevölkerung durch selbsternannte ➤ „Ariseure“ begonnen. Mit der Schaffung der<br />

➤ „Vermögensverkehrsstelle“ als Kontroll- und Verwaltungsinstanz sollten die bereits durchgeführten<br />

Enteignungen im Nachhinein legalisiert sowie auch für weitere Vermögensentziehungen<br />

eine gesetzlich geregelte Basis geschaffen werden.<br />

Der einheitliche Gebrauch des nationalsozialistischen (deshalb wird er in dem vorliegenden<br />

Band unter Anführungszeichen gesetzt) Terminus „Arisierung“ für den gesamten Komplex der<br />

Zwangsenteignungen von jüdischem Eigentum und Vermögen suggeriert, es habe sich um eine<br />

einheitliche wirtschaftliche und gesetzlich geregelte Praxis gehandelt. Die vorliegenden<br />

Texte verweisen jedoch auf sehr unterschiedliche Praktiken, Intentionen, Interessen und Konsequenzen<br />

dieser systematischen Übernahme von jüdischem Eigentum. Dienten vor allem die<br />

„wilden Arisierungen“ der Bereicherung von Privatpersonen, so ist insgesamt das österreichische<br />

Modell nationalsozialistischer Enteignungspolitik als Verbindung von Antisemitismus und<br />

Wirtschaftspolitik zu begreifen. Neben der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen von<br />

Großindustrie, Banken, Gewerbetreibenden und NS-Wirtschaftsplanern verfolgte die nationalsozialistische<br />

Enteignungspolitik auch die systematische Verdrängung der jüdischen Bevölkerung<br />

aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens und in letzter Konsequenz aus Österreich<br />

überhaupt. Der Erinnerungsbericht Georg Scheuers gibt ein drastisches Beispiel dafür, welche<br />

Folgen etwa die „Arisierung“ von Wohnungen durch die Außerkraftsetzung des Mieterschutzes<br />

für die jüdische Bevölkerung darstellte. Auf Wohnungskündigung folgte Zwangsumsiedlung,<br />

Delogierung und schließlich Flucht oder Deportation. Dass die Praxis der materiellen<br />

Bereicherung auch Hand in Hand ging mit Auswanderung und Deportation wird am Beispiel<br />

der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ deutlich. Diese sollte die lückenlose Erfassung<br />

des gesamten jüdischen Vermögens sicherstellen. Über die Verschaffung von Einreisemöglichkeiten<br />

in überseeische Staaten unter totalem Vermögensentzug wohlhabender Juden und Jüdinnen<br />

wurde zu Beginn des NS-Regimes in Österreich die „erwünschte“ Auswanderung mittelloser<br />

Juden und Jüdinnen ermöglicht. Über das entzogene Vermögen wurden auch spätere<br />

Deportationen in Konzentrationslager und damit die „Endlösung der Judenfrage“ mitfinanziert.<br />

Wieviel Vermögen tatsächlich geraubt und entzogen wurde, lässt sich vor allem aufgrund<br />

der in den ersten Monaten nach dem Anschluss in großem Ausmass durchgeführten<br />

„wilden Arisierungen“ nachträglich nur in Ansätzen erfassen und ist daher bislang kaum erforscht.<br />

Auch über den Umfang der Rückstellungen geraubten jüdischen Vermögens oder des<br />

Vermögens anderer während des Nationalsozialismus verfolgter Gruppen liegen noch keine<br />

genauen Zahlen vor. Die Erforschung des gesamten Komplexes des Vermögensentzugs in<br />

Österreich zwischen 1938 bis 1945 durch die eigens dafür eingesetzte Historikerkommission<br />

(s. Kapitel „Historikerkommission“) wird jedoch in den nächsten Jahren zu neuen Ergebnissen<br />

führen. Die folgenden Texte konzentrieren sich überwiegend auf die Darstellung von Zwangsenteignungen<br />

in Wien. Dies erklärt sich einerseits aus der Tatsache, dass der Großteil der<br />

österreichischen Juden und Jüdinnen in Wien wohnhaft war, und zum anderen aus dem Modellcharakter,<br />

den die rasche Durchführung von „Arisierungen“ in Wien insgesamt erlangte.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

7


„ARISIERUNGEN” IN WIEN. ASPEKTE NATIONALSOZIALISTISCHER ENTEIGNUNGSPOLITIK 1938-40<br />

HANS WITEK<br />

„Seit dem ‚Anschluß‘ herrscht offener Straßenterror. Rufe: ‚Juda verrecke!‘ und ‚Juden heraus!‘<br />

hallten vom ersten Tage an durch die Straßen. Bald begannen die Demolierungen und<br />

‚Requirierungen‘, d.h. Plünderungen jüdischer Geschäfte, die Erpressungen bei jüdischen<br />

Geschäfts- und Privatleuten. In den Läden erschienen vierzehn- bis fünfzehnjährige Burschen,<br />

von etwa 20- bis 25jährigen SS-Männern angeführt, und ‚requirierten‘ Lebensmittel,<br />

Schuhe, Anzüge, Stoffe usw. Häufig wurde die Beute mit Lastkraftwagen abtransportiert.<br />

Auf diese Weise wurden z.B. fast sämtliche jüdischen Geschäfte der Innenstadt (Kärntner<br />

Straße, Rotenturmstraße, Mariahilfer Straße, Am Graben usw.) heimgesucht. ‚Requiriert‘<br />

wurden u.a. bis auf geringfügige Reste die großen Lager der Firmen Krupnik, Kleiderhaus<br />

Gerstel, Teppichhaus Schein, Juwelengeschäft Scherr, Herrenkleidergeschäft Katz. Die Ausräumung<br />

des Warenhauses Schiffmann in der Taborstraße dauerte drei Tage. Arbeiter mit<br />

Hakenkreuzbinden leerten die Lager, Männer im Braunhemd hielten die neugierige Menge<br />

fern. Vor den jüdischen Läden, die trotz dieser Vorfälle offenzuhalten versuchten, brachte<br />

man Plakate an, schmierte Inschriften auf das Pflaster, überpinselte die Schaufensterscheiben<br />

mit gröbsten Beschimpfungen. Die Polizei versagte jeden Schutz.“ 1<br />

Mit diesen Worten beschreibt ein zeitgenössischer Bericht – „Der Terror gegen die Juden.<br />

Das Schreckensregiment in Österreich“ – die Wiener Judenverfolgungen in den ersten<br />

Monaten nationalsozialistischer Herrschaft 1938. Neben den Hinweisen, daß sich „kommissarische<br />

Verwalter“ Geschäfte und Betriebe jüdischer Eigentümer angeeignet hatten und<br />

eine staatliche ➤ „Arisierungszentrale“ errichtet wurde, heißt es im Bericht weiter:<br />

„Unter diesen Umständen zogen es natürlich viele jüdische Kaufleute vor, ihre Geschäfte<br />

so rasch als möglich und unter großen Verlusten zu verschleudern. Die ‚Arisierung‘ macht<br />

rasche Fortschritte. Von den in den ersten Wochen arisierten Unternehmen seien genannt:<br />

Wiens größtes Warenhaus ‚Gerngroß‘, Kaufhaus Herzmansky, die Strumpfwarenfirma<br />

Bernhard Schön, die 80 Läden in Wien unterhält, die Anker-Brotfabrik, die Glühbirnenfabriken<br />

Johann Kremenetzky und Albert Pregan. Seither sind Hunderte von jüdischen Geschäften<br />

‚in arische Hände‘ übergegangen.“ 2<br />

Diese Schilderungen verdeutlichen die politische und sozialökonomische Dynamik, den lokalen<br />

Kontext der wirtschaftlichen Enteignung des jüdischen Klein- und Großbürgertums in<br />

der Wiener Privatwirtschaft, 3 welche unmittelbar mit dem „Anschluß“ im März 1938 begann<br />

und innerhalb eines Jahres von den zuständigen lokalen Staats-, Partei- und Wirtschaftsstellen<br />

organisiert und durchgeführt wurde. Alle Einzelfirmen, Personen- und Kapitalgesellschaften<br />

der gewerblichen Wirtschaft, deren Eigentümer oder Anteilseigner Juden waren, wurden<br />

„zwangsarisiert“ oder liquidiert. Den betroffenen Industriellen, Unternehmern, Kaufleuten<br />

und Handwerkern raubten diese Zwangsverkäufe und -liquidierungen ihre Unternehmen. Die<br />

damit verbundene finanzielle Ausplünderung entzog ihnen die wirtschaftliche und soziale<br />

Basis und zwang viele – meist unter totalem Vermögensverlust – zur Auswanderung.<br />

Der Prozeß der „Entjudung der Wirtschaft“ umfaßte die Enteignung von gewerblichen Unternehmen,<br />

land- und forstwirtschaftlichen Betrieben, Privatbanken, Haus- und Grundbesitz. 4<br />

Die antisemitische Personalpolitik im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft führte<br />

zur Entlassung von Beamten, Angestellten und Arbeitern; die rassistische Säuberung des industriellen<br />

Managementbereiches erzwang das berufliche Ende für Direktoren, Prokuristen,<br />

Aufsichts- und Verwaltungsratsmitglieder in den Industrieunternehmen.<br />

„Auch aus den freien Berufen der Sparten Presse, Literatur, Theater, Film, Musik, bildende<br />

Künste, ebenso aus den Berufsorganisationen der Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte und Notare<br />

wurden alle Juden und ‚Mischlinge‘ bis Ende November 1938 restlos ausgeschieden<br />

und verloren damit ihre Approbationen zur Berufsausübung an ihre arischen Konkurrenten.“ 5<br />

In Wien lebte der größte Teil der österreichischen Juden – 170.000 Personen, 6 was 1938<br />

einem Anteil von zehn Prozent an der städtischen Gesamtbevölkerung entsprach; die<br />

jüdische Gemeinde Wiens war die größte des „Großdeutschen Reiches“. Früher als im<br />

8 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


sogenannten „Altreich“, bereits Anfang 1939, war die ökonomische Entrechtung und Enteignung<br />

der Wiener Juden praktisch beendet. Wiener „Spezialisten“ konnten weniger erfahrenen<br />

„reichsdeutschen Kollegen“ Hinweise für die praktische Durchführung dieses<br />

Raubzuges geben, Wien hatte in dieser Hinsicht Modellcharakter.<br />

Es stellt sich die Frage, wer die „Arisierungen“ in Wien durchführte, welche unterschiedlichen<br />

Interessen dabei im Spiel waren. Grundsätzlich können vier Interessensgruppen differenziert<br />

werden: Zum einen die „kleinen Ariseure“, die sofort persönliche Vorteile realisieren<br />

wollten; zweitens mittelständische Interessen, die auf Ausschaltung von Konkurrenten<br />

und Übernahme der besten Geschäfte und Betriebe zielten. Industrie und Banken, als dritte<br />

Interessensgruppe, verfolgten Besitzerweiterungsstrategien. Diese waren verbunden mit der<br />

von NS- und Wirtschaftsplanern angestrebten sozial- und wirtschaftspolitischen Strukturveränderung.<br />

Zwischen diesen Interessensgruppen bestand zwar der Minimalkonsens, daß<br />

die Juden aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen werden müssen, über die Frage der<br />

Durchführung der Enteignung kam es zu Konflikten.<br />

Gerhard Botz hat in seinen Forschungen zur NS-Sozialpolitik und Judenverfolgung in<br />

Wien 1938 7 unter anderem darauf hingewiesen, daß der Wiener Antisemitismus neben<br />

einer rassenideologischen auch eine ausgeprägte soziale und ökonomische Komponente<br />

hatte und die antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen konkret mit materiellen Interessen der<br />

Täter verknüpft waren.<br />

„Die Aggressivität gegen ‚den‘ Juden bedurfte hier keiner besonderen ‚theoretischen‘ Überhöhung,<br />

versprach sie doch eine Erfüllung ganz konkreter Interessen: die Beseitigung des<br />

jüdischen Konkurrenten als Händler oder Warenhausbesitzer, als Rechtsanwalt oder Arzt,<br />

die Erlangung einer Wohnung oder eines wertvollen Möbelstückes etc. Diese Art von Antisemitismus<br />

verstand jeder, der sich von der ‚Judenhatz‘ einen materiellen Vorteil erhoffte.“ 8<br />

In Wien konnte das nationalsozialistische Regime an die politische Tradition des „Volksantisemitismus“<br />

anknüpfen, jenes virulenten, ökonomisch, kulturell und religiös begründeten<br />

Antisemitismus der Monarchie, der Ersten Republik und der austrofaschistischen Diktatur. 9<br />

Die in Wien für breite Teile der Bevölkerung vorhandenen sozialen und ökonomischen Probleme<br />

(Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, unrentable Handels- und Gewerbebetriebe etc.) versuchte<br />

das nationalsozialistische Regime durch ein Konzept der Enteignung und Vertreibung<br />

einer stigmatisierten Gruppe zu lösen. Aus der Strategie der Ausgrenzung folgten,<br />

nachdem die Auswanderung ab Herbst 1939 kaum mehr möglich war, Konzentration, Deportation<br />

und als letzter Schritt der industriell betriebene Massenmord an den Juden.<br />

Neben den unmittelbaren Interessen der „Ariseure“ läßt sich aus den überlieferten Akten<br />

auch die von NS- und Wirtschaftsplanern angestrebte sozial- und wirtschaftspolitische<br />

Strukturveränderung rekonstruieren. Staatliche Institutionen strebten an, daß „jüdisches Vermögen<br />

nicht einfach geraubt und übereignet“ wird, sondern daß „die Arisierung mit einem<br />

Modernisierungs- und Konzentrationsschub der rückständigen ‚ostmärkischen‘ Wirtschaft<br />

verknüpft“ 10 würde.<br />

Es gibt bis heute keine wissenschaftliche Gesamtdarstellung über die Zerstörung der wirtschaftlichen<br />

Existenz der Wiener Juden in den Jahren 1938 bis 1940 und deren vielfältige<br />

Hintergründe. Bisher wurde diese Thematik nur partiell zum Gegenstand der Forschung gemacht.<br />

11 Firmengeschichtliche Darstellungen oder Branchenmonographien zur „Arisierungspolitik“<br />

liegen nur vereinzelt vor. 12<br />

Ausgehend von diesem Forschungsstand können im vorliegenden Beitrag nur die wichtigsten<br />

Aspekte der Interdependenz von Nationalsozialismus, Ökonomie und Judenverfolgung<br />

am Beispiel der antijüdischen Enteignungspolitik in der Wiener Privatwirtschaft 1938/39<br />

skizziert werden. Ziel dieses Beitrages ist es, die staatliche Organisierung der NS-Enteignungspolitik<br />

und ihre spezifisch österreichische Entwicklung zu zeigen (I); einen kurzen<br />

Überblick über die Methoden der Betriebsverwaltung und die Soziographie des „Kommissarsystems“<br />

zu geben (II); typische Merkmale parteipolitischer „NS-Wiedergutmachung“<br />

und protektionistischer Mittelstandspolitik herauszustellen (III); die Expansionsstrategien von<br />

Banken und Industrieunternehmen und deren Realisierungen im Prozeß der Enteignung der<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

9<br />

Hans Witek<br />

„Lösung“<br />

ökonomischer<br />

und sozialer<br />

Probleme durch<br />

Enteignung und<br />

Vertreibung


„Arisierungen“ in Wien<br />

Juden zu skizzieren (IV); strukturpolitische Folgen, Zweck und Praxis der Betriebsliquidierungen<br />

zu beschreiben (V). Die folgende deskriptiv-analytische Darstellung ist eine Vorarbeit<br />

zu einer größeren Studie zur nationalsozialistischen „Arisierungspolitik“ in Wien 1938 bis<br />

1945.<br />

I. Modell Wien: Organisierung der NS-Enteignungspolitik<br />

Die nationalsozialistische Politik der „Arisierung“ im Bereich der Privatwirtschaft bedeutete<br />

die Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse nach „rassischen“ Prinzipien. Industrie-, Handels-<br />

und Gewerbebetriebe, deren Eigentümer Juden waren oder an denen diese als Gesellschafter<br />

oder Aktionäre kapitalsmäßig beteiligt waren, wurden zwangsweise an „arische“<br />

Einzelpersonen, Firmen, Banken etc. übertragen. Die Verträge über Eigentumsübertragungen<br />

erfolgten häufig unter Druck bzw. unter Umständen, „die nur als direkte Nötigung bezeichnet<br />

werden können“. Eine freiwillige Übereinstimmung der Vertragspartner war unter diesen<br />

Voraussetzungen nicht gegeben. „Die Eigentumsübertragungen waren nichts anderes als ein<br />

Mittel der Enteignung zugunsten des Reiches oder der neuen Besitzer.“ 13<br />

Bei Industrie- und Großhandelsfirmen, größeren Gewerbe- und Einzelhandelsbetrieben<br />

wurden deren „Sach-“ und „Verkehrswert“ durch Wirtschaftsprüfungen, bei Kleinbetrieben<br />

durch Schätzgutachten festgestellt. Dem ursprünglichen Eigentümer wurde ein Kaufpreis<br />

zugestanden, „der erheblich unter dem Verkehrswert lag und zudem mit einer hohen<br />

Ausgleichsabgabe an den Staat verbunden war, so daß in der Regel weniger als die Hälfte<br />

des Betriebsvermögens vergütet wurde, der Staat aber von der Ausgleichsabgabe und der<br />

Käufer von der erheblichen Differenz zwischen Verkehrswert und Kaufpreis profitierten.“ 14<br />

Jedoch wurde der Kaufpreis nicht an die ehemaligen Besitzer ausbezahlt, sondern auf<br />

➤ Sperrkonten überwiesen. Aus diesen Sperrguthaben entnahm die Finanzverwaltung Abgaben<br />

für die ➤ „Reichsfluchtsteuer“, ➤ „Judenvermögensabgabe“ etc. „Für eine bescheidene<br />

Lebensführung und für die Ausreise“ 15 wurden den Enteigneten Beträge freigegeben.<br />

Zahlreiche staatliche Gesetze, Verordnungen und Erlässe – von der Ministerialbürokratie<br />

des Reichswirtschafts- und -innenministeriums und der ➤ Vierjahresplanbehörde konzipiert<br />

und erlassen – gaben der antijüdischen Enteignungspolitik ihre spezifische NS-Legalität und<br />

stellten eine Verletzung des bürgerlichen Eigentumsbegriffs dar. 16<br />

Von der im April 1938 verordneten Vermögensanmeldung 17 für Juden über die am 12.<br />

November 1938 erlassene ➤ „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen<br />

Wirtschaftsleben“ 18 bis zur ➤ „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom<br />

3. Dezember 1938 19 regelte die NS-Bürokratie die Enteignungspolitik. Dieses NS-Gesetzeswerk<br />

auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Vermögensrechtes war letztlich nichts<br />

anderes als eine Politik staatlich legalisierter Beraubung. 20 Neben der Privatwirtschaft und<br />

der NSDAP war es der NS-Staat, der aus der Enteignung der Klein- und Großunternehmen<br />

finanziellen Gewinn zog. 21<br />

Das „ostmärkische Modell“ der Enteignungspolitik war dieser reichsgesetzlichen Regelung<br />

1938 in vielen Bereichen vorausgeeilt und wurde zum Vorbild für „reichsdeutsche“<br />

Stellen. Die Zentralisierung der Enteignung und ihre verwaltungstechnische Organisation,<br />

die „kommissarische Verwaltung“ der Unternehmen, die finanzpolitische Durchführung der<br />

„Arisierung“, die Zwangsliquidierung der Geschäfte waren in der „Ostmark“ bereits die<br />

übliche Praxis der Enteignungspolitik, die erst Anfang Dezember 1938 für das gesamte<br />

Deutsche Reich vereinheitlicht wurde. 22<br />

„In dieser Entwicklung eines halben Jahres ist vieles komprimiert, was sich in Deutschland<br />

auf Jahre verteilte. Man verfuhr in Österreich 1938 so ‚großzügig‘, wie man es vielleicht in<br />

Deutschland 1933 getan hätte, wenn nicht die Rücksichtnahme auf das Ausland und das<br />

nationale Bürgertum nötig gewesen und andere Probleme vordringlicher erschienen wären.<br />

Insofern zeigt das österreichische Beispiel die Methoden nationalsozialistischer Machtergreifung<br />

– mindestens für den wirtschaftlichen Bereich – in ‚reinerer‘ Form als das deutsche.<br />

Im Verlauf weniger Monate hatte Österreich das Altreich in der praktischen Verdrängung<br />

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der Juden aus der Wirtschaft mindestens eingeholt und in der Vorbereitung einer Zwangsarisierung<br />

überholt, was sich nach der ‚Kristallnacht‘ bestätigen sollte.“ 23<br />

Als staatliche Zentralinstanz der Enteignungspolitik wurde am 18. Mai 1938 im österreichischen<br />

Ministerium für Wirtschaft und Arbeit (ehemals Ministerium für Handel und Verkehr)<br />

die ➤ Vermögensverkehrsstelle (VVST) mit Hauptabteilungen für Wirtschaftssektoren, Finanzen<br />

und Planung gegründet. 24 Ihr oblag die Kontrolle und Gesamtorganisation der „Entjudung<br />

der Wirtschaft“. Sie bestellte die „Kommissare“, „Treuhänder“ und „Abwickler“ für<br />

die Unternehmen, koordinierte die gesamtwirtschaftliche Planungsarbeit der Enteignungen<br />

im Rahmen der strukturpolitischen Vorgaben, genehmigte die „Kaufverträge“, setzte die<br />

Kaufpreise für die zu „arisierenden“ Unternehmen nach Wirtschaftsprüfungs- und Schätzungsgutachten<br />

fest oder verordnete die Betriebsauflösung.<br />

Als Leiter wurde der „Staatskommissar in der Privatwirtschaft“, ➤ Dipl. Ing. Walter Rafelsberger,<br />

Gauwirtschaftsberater der Wiener NSDAP, bestellt. Auf dem Gebiet der Planung<br />

kooperierte die VVST mit der Abteilung III „Staat und Wirtschaft“ des Reichskommissars<br />

➤ Bürckel und den Abteilungen und Referaten des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit<br />

unter Leitung von ➤ Dr. Hans Fischböck.<br />

Von seiten der Organisationen der gewerblichen Wirtschaft waren die zahlreichen „Arisierungskommissionen“<br />

der Fachverbände und -gruppen, Innungen, Zünfte und Gilden als<br />

Planungs-, Vorschlags- und Durchführungsstellen involviert; auf Parteiebene waren es die<br />

Gau- und Kreiswirtschaftsämter, die neben der politischen Beurteilung der „Ariseure“ auch<br />

lokale Aufsichts- und Organisationsarbeit leisteten.<br />

Koordinations- und Genehmigungsstelle war ausschließlich die VVST, die ab November<br />

1939 als „Abwicklungsstelle“ und später als „Referat III Entjudung“ bei der Reichsstatthalterei<br />

Wien bis zum Kriegsende 1945 weiterbestand. 25 Zahlreiche Beamte, Funktionäre der<br />

Partei und Wirtschaft, Vertreter der Innungen etc. bildeten jenen institutionellen Apparat,<br />

der sich im Zuge der Enteignungspolitik als Normen und Verfahrensweisen setzende Instanz<br />

in der Enteignung von Juden 1938/39 herauskristallisiert und gefestigt hatte. Innerhalb<br />

dieses Apparates war man sich zwar in der Zielvorstellung der totalen „Entjudung der<br />

Wiener Wirtschaft“ einig; über Ausmaß, Tempo und Methoden der Umverteilung kam es<br />

zwischen Staat, Partei und Privatwirtschaft zu Konflikten. Der Streit der Interessensgruppen<br />

hatte nicht nur einen machtpolitischen Charakter, sondern war auch untrennbar mit dem<br />

Kampf um den „Anteil an der Beute“ verbunden: Einem an strukturellen und volkswirtschaftlichen<br />

Kriterien orientierten Konzept der Bürckel-Behörde standen die von den lokalen NS-<br />

Führern vertretenen Versorgungsinteressen der ➤ „Alten Kämpfer“ und anderer NS-Anhänger<br />

gegenüber.<br />

Den hegemonialen Anspruch in der Enteignung hatten sich lokale Parteiorganisationen<br />

und Privatpersonen schon unmittelbar nach dem „Anschluß“ gesichert: Der exzessive Drang<br />

nach individueller Bereicherung bei der Vertreibung der Juden aus der Wirtschaft zwang<br />

Staatsstellen, durch nachträgliche Legalisierung die Dynamik zu kanalisieren. Die „Verstaatlichung“<br />

der Enteignung und jenes spezifische „ostmärkische“ Gesetzes- und Verordnungswerk<br />

für die Legitimierung der antijüdischen Wirtschaftspolitik war wesentlich durch diese<br />

„einheimische Anfangsoffensive“ determiniert.<br />

II. Methoden der Betriebsverwaltung und Soziographie der „Kommissare“<br />

„Jedenfalls, als ich meine Aufgabe hier übernahm, waren die Kommissare eingesetzt bzw.<br />

hatten sich zum großen Teil eingesetzt. Ich stand von vornherein dieser ganzen Situation<br />

mit einigem Mißtrauen gegenüber. (...) Es geht nicht an, daß hier eine neue Berufsgruppe<br />

entsteht, für die es in einem geordneten Wirtschaftsleben auf die Dauer keine Beschäftigung<br />

geben kann. Der eine oder andere dieser Kommissare hat bereits ‚Mein‘ und ‚Dein‘<br />

verwechselt. Dem Teil der Kommissare, der selbstlos und gewissenhaft seine Pflicht tat, spreche<br />

ich den Dank aus. (...) Wer versagte, hat seine Prüfung für Partei und Staat (...) nicht<br />

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11<br />

Hans Witek<br />

Die Vermögensverkehrsstelle<br />

–<br />

„Verstaatlichung“<br />

der Enteignung


„Wilde<br />

Arisierungen“<br />

„Arisierungen“ in Wien<br />

bestanden, und es wird jeden einzelnen dann die Maßnahme treffen, die es ihm verständlich<br />

macht, daß man Revolution in einem anständigen Staat nicht mit Rucksackspartakisten<br />

durchführt.“ 26<br />

Mit diesen Drohungen versuchte der „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs<br />

mit dem Deutschen Reich“, Joseph Bürckel, Anfang Juli 1938 die unkontrollierte, individuelle<br />

Bereicherung am Eigentum von Juden zu beenden.<br />

Die Politik der Enteignung hatte in Wien mit der spontanen Aneignung von Geschäften<br />

und gewerblichen Betrieben durch sogenannte „wilde Kommissare“, deren Gesamtzahl anfänglich<br />

laut Fischböck rund 25.000 betragen haben soll, 27 begonnen. Angehörige lokaler<br />

Parteistellen, SA-Leute, Mitglieder der nationalsozialistischen Betriebsorganisationszellen,<br />

Kaufleute und Gewerbetreibende, die der NS-Handels- und Gewerbeorganisation angehörten,<br />

Angestellte und „Konjunkturritter“ hatten die Unternehmen besetzt, die Besitzer vertrieben<br />

oder deren geschäftlichen Einfluß beschränkt, ihre eigene politische und wirtschaftliche<br />

Macht gesichert und ihre materiellen Interessen befriedigt. Die jüdischen Eigentümer hatten<br />

somit keine Verfügungsgewalt über ihre Firmen. Im laufenden Prozeß der „Arisierung und<br />

Liquidierung“ war auch ihr geschäftlicher Verhandlungsspielraum eingeschränkt worden<br />

oder überhaupt nicht vorhanden.<br />

Staatlicherseits war man gezwungen, nachträglich dieses System der „kommissarischen<br />

Verwalter“ zu legalisieren. Durch Gesetze, Verordnungen und Erlässe versuchte man seit<br />

Ende März 1938 die „Kommissarswirtschaft“ zu kontrollieren. 28 Der ordnungsstaatlichen<br />

Politik mit gesamtwirtschaftlicher Ausrichtung gelang es nur langsam, der Selbstherrlichkeit<br />

der „Kommissare“ Grenzen zu ziehen, ein legales Bestellungsverfahren durchzusetzen,<br />

Kontrollinstanzen zu errichten und die Zahl der „wilden Kommissare“ durch Entlassung<br />

oder offizielle Weiterbestellung durch die VVST zu verringern.<br />

Aber auch die von der VVST bestellten „Betriebs- und Geschäftsführer“ waren in den<br />

ihnen anvertrauten Unternehmen kaum zu kontrollieren. Die gesetzlichen Richtlinien definierten<br />

zwar ihre Tätigkeit – Vorbereitung der „Arisierung“ oder Durchführung der<br />

Firmenauflösung –, aber ihre Sonderstellung ermöglichte nur zu oft eine Verknüpfung ihres<br />

Auftrages mit eigenen materiellen und sozialen Interessen.<br />

Viele der „kommissarischen Verwalter“ betrachteten ihre Stellung als reinen Versorgungsposten,<br />

als Möglichkeit, ihre ökonomische Situation rasch zu verbessern. Als „Alte Kämpfer“<br />

und „Illegale“ wurden sie von den diversen Parteistellen protegiert und für „kommissarische<br />

Verwaltungen“ bestimmt, wobei ihre fachliche Qualifikation nebensächlich war.<br />

Der Sozialtypus des „Kommissars“ in Wien läßt sich annäherungsweise folgendermaßen<br />

charakterisieren: Seine politische Zuverlässigkeit war durch die langjährige Zugehörigkeit<br />

zur Partei oder einer ihrer Organisationen unter Beweis gestellt; seiner sozialen Herkunft<br />

nach war er meist Angestellter oder kleiner Selbständiger, manchmal arbeitslos; fachlich<br />

war er größtenteils unqualifiziert und branchenfremd. Vorwiegend wurde er als „Kommissar“<br />

in Klein- und Mittelbetrieben, in Einzelhandelsgeschäften, seltener in Großunternehmen<br />

der Industrie und des Handels tätig. 29 Eine kleinere Gruppe von „Kommissaren“ rekrutierte<br />

sich aus Wirtschaftsfachmännern: Rechtsanwälte, Bankangestellte, Gewerbetreibende oder<br />

Kaufleute. Bei dieser Gruppe war die notwendige Qualifikation gegeben, politische Zuverlässigkeit<br />

verlangt, die Parteizugehörigkeit jedoch nicht unbedingt erforderlich.<br />

Vor allem ab Herbst 1938 versuchte die VVST das Kriterium der fachlichen Qualifikation<br />

bei der Kommissarsbestellung verstärkt zu berücksichtigen, nachdem den Organisationen<br />

der gewerblichen Wirtschaft (vor allem den Zünften und Innungen) ein Vorschlags- und<br />

Beurteilungsrecht bei der Bestellung durch die VVST eingeräumt wurde. Trotzdem blieb der<br />

kaufmännisch unfähige „Kommissar“ weiterhin der dominierende Verwalter.<br />

Das Spektrum seiner „Geschäftspraktiken“ reichte von Bestechlichkeit, Veruntreuung bis<br />

zur maßlosen persönlichen Bereicherung. Die nur gegen eine verschwindend kleine<br />

Gruppe dieser „neuen Wirtschaftsführer“ 1938/39 durchgeführten Verhaftungen und<br />

Gerichtsverfahren beweisen, daß die Kritik an korrupten „Kommissaren“ vor allem deklamatorischen<br />

Charakter hatte. 30<br />

12 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

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Die hohe Fluktuation der „Kommissare“ – oft hatten Geschäfte und Betriebe innerhalb<br />

weniger Monate mehrere verschiedene Verwalter – verweist auch auf Versuche staatlicher<br />

Stellen, unfähige und korrupte „Kommissare“ auszutauschen. Für die betroffenen Unternehmen<br />

bedeutete die Abfolge verschiedener „Kommissare“ meist einen beschleunigten<br />

Verbrauch der betrieblichen Ressourcen. In vielen Branchen verwaltete eine Person mehrere<br />

Betriebe. Dadurch war eine „ordentliche“ Geschäftsführung eher zufällig und führte tendenziell<br />

zu Geschäfts- und Betriebsauflösungen. Manche „Kommissare“ konnten sich, unterstützt<br />

von örtlichen Parteistellen, durch gleichzeitige Verwaltung mehrerer Betriebe zeitweise<br />

eine gewisse Branchen- und Lokalhegemonie sichern. 31<br />

Im Februar 1939 begann die VVST für die noch bestehenden industriellen Unternehmen<br />

und Großhandelsfirmen sogenannte „Treuhänder“ zu bestellen, welche deren „Arisierung“<br />

oder Auflösung vorbereiteten oder durchführten. Sowohl fachliche Qualifikation als auch<br />

politische Zuverlässigkeit versuchten die staatlichen Stellen dadurch zu erreichen, daß man<br />

die beruflichen Erfahrungen stärker als bei den „Kommissaren“ berücksichtigte. So wurden<br />

vor allem Rechtsanwälte, Bücherrevisoren, Wirtschaftsprüfer, Prokuristen und leitende Angestellte<br />

aus der Wirtschaft als „Treuhänder“ bestellt. Nur eine geringe Anzahl ehemaliger<br />

„kommissarischer Verwalter“ befand sich unter den ausgewählten „Treuhändern“.<br />

Für die Masse der zu bewältigenden Stillegungen im Handels- und Gewerbebereich<br />

berief man „Abwickler“ mit ähnlichem beruflichen Hintergrund. Die Kontinuität der<br />

„Mißwirtschaft“ zeigte sich aber auch bei den „Abwicklern“. Gerade die Tätigkeit der<br />

Betriebsliquidierung bot ausreichend Möglichkeiten, eigene Interessen zu verfolgen. Die<br />

Eigenmächtigkeiten der „Abwickler“ widersprachen der vorgesehenen staatlichen Konzeption<br />

der „bestmöglichen“ Verwertung der Warenlager und Betriebseinrichtungen.<br />

III. „Alte Kämpfer“ und „alter Mittelstand“<br />

Die Arisierungspraxis der VVST der ersten Monate war weniger gesamtwirtschaftlichen<br />

Intentionen verpflichtet als vielmehr parteipolitischem Protektionismus: Mittelständischen<br />

NSDAP-Mitgliedern, „besonders verdienten Parteigenossen“, „Alten Kämpfern“, meistens<br />

ohne finanzielle Mittel und fachliche Kompetenz, wurden im Sinne einer „Wiedergutmachung“<br />

(für „während der Systemzeit im Dienste der Bewegung erlittene Schäden“) Kleinbetriebe<br />

und Handelsgeschäfte zugewiesen.<br />

„Die alten Parteigenossen haben selbstverständlich meist kein Geld. Der Kaufpreis wird<br />

demnach kreditiert. Die Abtragung der Kaufschuld oder des in ihrer Höhe gewährten Kredits<br />

sowie etwaiger Zinsen geschieht in Raten aus den Betriebsmitteln (...) Weil nur schwer<br />

die künftige Entwicklung eines Unternehmens vorauszusehen ist, wird der Kaufpreis wohl<br />

regelmäßig möglichst niedrig bemessen. Der Unterschied gegenüber dem wirklichen Verkehrswert<br />

ist Schenkung, aber auch der Kaufpreis selbst trägt mehr oder minder den Charakter<br />

der Schenkung.“ 32<br />

Weiters finanzierten Kreditaktionen kapitalschwachen Gewerbe- und Handelstreibenden,<br />

vermögenslosen „Alten Kämpfern“ der NSDAP die „Arisierungen“. Im Zuge der Reichswirtschaftshilfe<br />

wurden „Arisierungskredite“ 33 gewährt; bis Ende 1938 wurden aus dem ➤ „Arisierungsfonds“<br />

der VVST, 1939 aus jenem der Kontrollbank finanzielle Zuschüsse für minderbemittelte<br />

Parteigenossen geleistet, 34 quasi nach dem Prinzip, „wonach also der Enteignete<br />

den Enteigner finanzieren half“. 35 Eine weitere Möglichkeit, „Kaufpreis“ und ➤ „Auflage“<br />

zu bezahlen, waren die von den Banken gewährten Privatkredite.<br />

Im folgenden sollen am Beispiel der „Arisierungen“ von Wiener Kinos einige politische<br />

und soziale Implikationen der NS-Enteignungspolitik, deren organisatorische und ökonomische<br />

Durchführung beschrieben werden.<br />

„Die Arisierungskommission im Kinotheaterfach“, die von der VVST, Bürckel-Behörde, NS-<br />

Betreuungsstelle und Reichsfilmkammer, Außenstelle Wien, gebildet wurde, vertrat „die Ansicht,<br />

daß das Abwandern jüdischer Kinotheaterbesitzer benützt werden muß, um einer<br />

Vielzahl von schwerstens geschädigten Parteigenossen eine Lebensmöglichkeit zu bieten“,<br />

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13<br />

Hans Witek<br />

„Wiedergutmachung“<br />

für<br />

„Alte Kämpfer“


Mittelständische<br />

Interessen<br />

„Arisierungen“ in Wien<br />

und faßte daher „die Arisierung als eine Sozialaktion auf“, wie es in einem Kommunique<br />

Anfang Sommer 1938 hieß. 36 Mit dieser an die Wiener Staats- und Parteistellen abgegebenen<br />

Erklärung wurde gegen die Absichten des „Reichstreuhänders für das Filmwesen“<br />

Stellung genommen. Er wollte mit der neu gegründeten „Ostmärkischen Filmtheater GmbH,<br />

Wien“ (vormals „KIBA GmbH“) ursprünglich sämtliche Kinobetriebe, die Juden gehört<br />

hatten, übernehmen; das wurde aber von der VVST verhindert. 37<br />

Bis Ende 1938 wurden von der „Arisierungskommission“ Eigentumsübertragungen bei<br />

ca. 90 Kinobetrieben mehrheitlich an Wiener NSDAP-Mitglieder bewilligt, von denen viele<br />

bereits als „kommissarische Verwalter“ der Filmtheater von der Reichsfilmkammer-Außenstelle<br />

Wien seit März 1938 eingesetzt worden waren.<br />

Die neuen Kinobesitzer waren in der Mehrzahl „Alte Kämpfer“, viele davon Teilnehmer<br />

am NS-Putsch 1934, „32 Anwärter auf den ➤ Blutorden und 17 Ehrenzeichenträger“, 38 denen<br />

im Rahmen der „NS-Wiedergutmachung“ 1938 materielle Existenzsicherung und sozialer<br />

Aufstieg gesichert wurde. Ihre Biographien waren geprägt von ökonomischen Krisen,<br />

Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung, unter anderem auch als Folge ihrer NS-Parteiaktivitäten<br />

und deren gerichtlicher Verfolgung vor 1938. Ihre politische Laufbahn fand „Abschluß<br />

und Erfüllung in der durch Einfluß und Protektion der Partei erworbenen individuellen<br />

Reproduktionsbasis“. 39<br />

Jenen NS-Parteigenossen, „die über wenig oder gar kein Kapital und keinerlei fachliche<br />

Vorkenntnis“ 40 verfügten, wurden die Kaufpreise nach Schätzwerten des Betriebsinventars<br />

berechnet, die „Arisierungsauflage“ erlassen, den meisten „Juliputschisten“ wurde durch eine<br />

Kreditaktion aus dem „Arisierungsfonds“ der Kontrollbank die Übernahme und Weiterführung<br />

der Kinos ermöglicht. 41<br />

Ähnliche „Sozialprogramme“ im Sinne „nationalsozialistischer Wiedergutmachung“<br />

verwirklichten die lokalen Staats- und Parteistellen bei der „Arisierung“ der Trafiken und<br />

Lottokollekturen. Diese wurden an „Veteranen des Krieges der Arbeit und der Partei“ 42<br />

vergeben.<br />

Die Praxis der „Arisierung“ unter dem Vorzeichen der „Wiedergutmachung“ brachte den<br />

Nepotismus am deutlichsten zum Vorschein, „denn die Arisierung war ihrer Natur nach eine<br />

Quelle der Korruption“. 43 Bei der übergroßen Anzahl der NSDAP-Mitglieder und „Alten<br />

Kämpfer“, die ein gewerbliches Unternehmen „erwerben“ wollten, brauchte der einzelne<br />

Protektion und Bestechung zur Ausschaltung der „arischen“ Mitkonkurrenten. Das „Prinzip<br />

der politischen Klientel und Cliquen“ 44 war bei diesen „Arisierungstransaktionen“ dominierend.<br />

Nicht nur kleine Parteigenossen, sondern auch höchste Funktionäre bedienten sich<br />

dieses Prinzips. „Was sich jedoch ansonsten auf diesem Gebiet durch kleinere und größere<br />

Schiebungen und die bekannte ‚Wiener Freunderl- oder Vetternwirtschaft‘ getan hat, wird<br />

derzeit kaum durch SS-gerichtliche Untersuchung feststellbar sein“, befürchteten hohe Parteistellen.<br />

45 Auch in Berlin wußte man über die „Wiener Zustände“ Bescheid. Himmler schrieb<br />

im Herbst 1939 an ➤ Heydrich: „Außerdem müßten in Wien – am besten durch eine Kommission<br />

unter Führung eines höheren SS-Führers – die ganzen Arisierungsgeschäfte überholt<br />

und durchgesehen werden. Wir müssen nach Kriegsschluß – wenn der Krieg nicht zu lange<br />

dauert – ganz energisch durchgreifen.“ 46<br />

Eine äußerst effizient praktizierte Enteignungsmethode mit mittelständischer Konzeption<br />

war die Ausschaltung der Juden aus der Wiener Uhren- und Juwelenbranche. Planung und<br />

Durchführung der „Arisierung“, der Auflösung und der „kommissarischen Verwaltung“ der<br />

Gewerbebetriebe und Handelsgeschäfte dieses Wirtschaftszweiges wurden in engster Zusammenarbeit<br />

zwischen den zuständigen Fachorganisationen und der VVST organisiert.<br />

Schon unmittelbar nach dem „Anschluß“ war es durch Initiative der Innung zur Einsetzung<br />

von „wilden Kommissaren“ in vielen Geschäften gekommen. 47<br />

Zentrale Instanz der Enteignungspolitik war die „Arisierungsstelle der Wiener Zunft der Juweliere<br />

und Uhrmacher und der Gilde des Uhren- und Juwelenfaches“. Die VVST genehmigte<br />

als zuständige staatliche Behörde weitgehend die wirtschaftspolitischen Entscheidungen<br />

dieses Gremiums nachträglich. Von den ca. 700 bestehenden Einzelhandelsgeschäften und<br />

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Handwerksbetrieben wurde der Großteil aufgelöst. Zwecks Steuerung der Verwertung ihrer<br />

Liquidationsmassen wurde im Sommer 1938 die „Einkaufs- und Treuhandgenossenschaft für<br />

die Uhren- und Juwelenbranche“ gegründet, eine „im ganzen Deutschen Reich einzigartige<br />

Institution“. 48 Dem Vorstand und Aufsichtsrat dieser Genossenschaft gehörten mit Ausnahme<br />

eines Vertreters der VVST nur leitende Zunft- und Innungsfunktionäre an.<br />

„Die Genossenschaft setzt sich zusammen aus den Mitgliedern der Fachgruppen Juweliere<br />

und Uhrenhändler, von denen nur diejenigen aufgenommen werden, die politisch und<br />

charakterlich zuverlässig sind. An diese kann nach den Satzungen der Genossenschaft nur<br />

der Verkauf von Juwelen und Uhren aus jüdischem Besitz erfolgen.“ 49<br />

Im Frühjahr 1939 betrug der Mitgliederstand der Genossenschaft ca. 350 Juweliere und<br />

Uhrmacher, die sich durch Bezahlung einer Genossenschaftseinlage von 50 RM am Abverkauf<br />

der sichergestellten Warenlager etc. beteiligen konnten. 50<br />

Bei der „Arisierung“ der größten Unternehmen wurde eine Methode angewandt, die sich<br />

von der üblichen Praxis der VVST unterschied. Bei Geschäftsübernahme wurde „der Schätzwert<br />

des Unternehmens am Übernahmstag“ 51 als Kaufpreis festgesetzt. Als Schätzwert galt<br />

der Wert des Warenlagers und der Betriebseinrichtungen. So stellte der „Generalabwickler“<br />

für die Uhren- und Juwelenbranche im nachhinein folgendes fest: „Die Schätzungen der<br />

Waren wurden zum Liquidationswerte vorgenommen. Diese lagen mitunter sogar unter<br />

dem Materialwerte, was gerade in dieser Branche mit Hinblick auf die im Altreich<br />

bestehenden Preise als unrichtig bezeichnet werden muß.“ 52 War in anderen Branchen in<br />

der Regel zumindest der „Sachwert“ als „Kaufpreis“ vorgeschrieben, so zeigt diese Vorgangsweise,<br />

zu welchen Rahmenbedingungen in dieser Wirtschaftssparte „Geschäftsübernahmen“<br />

vorgenommen wurden.<br />

IV. Industrie und Banken<br />

Die ersten nach dem „Anschluß“ eingeleiteten „Arisierungen“ im großindustriellen Bereich<br />

wurden vom „Keppler-Büro“ getätigt. ➤ Göring bestellte Wilhelm Keppler am 19.3.1938<br />

zum „Reichsbeauftragten für Österreich“. Die Arisierungspolitik des „Keppler-Büros“ zwischen<br />

März und Juni 1938, das sich im Rahmen des ➤ Vierjahresplanes „nur mit der Arisierung<br />

von Großunternehmen“ 53 beschäftigte, diente der Befriedigung der Expansionsinteressen<br />

reichsdeutscher Industrieunternehmen. Die bedeutendsten Transaktionen dieses Büros<br />

waren die „Arisierung“ der „Hirtenberger Patronen- und Waffenfabrik“ durch Eingliederung<br />

in den Konzern der „Wilhelm Gustloff-Stiftung“ und die Ausgliederung der „Lenzinger<br />

Zellstoff und Papierfabrik AG“ aus dem „Bunzl und Biach-Konzern“ und deren „Arisierung“<br />

durch die „Thüringische Zellwolle AG“. 54<br />

Auch die Creditanstalt-Wiener Bankverein, um nur ein Beispiel aus dem Bereich der<br />

Großbanken zu nennen, führte „Arisierungen“ von Industrieunternehmen durch. So stellt ein<br />

Amtsvermerk der VVST fest: „Von den Aktien (der Schuhfabrik, d. V.) Del-Ka besitzen<br />

24,6 % Creditanstalt-Wr.Bankverein, 66,7 % hat Creditanstalt-Wr.Bankverein aus dem Besitz<br />

der jüdischen Familie Klausner treuhändig erworben.“ 55<br />

Die „Arisierungstätigkeit“ von Großbanken bestand aus Erwerbungen auf eigene Rechnung,<br />

der treuhändigen Verwaltung von Aktien, der Finanzierung von Käufen durch Gewährleistung<br />

von Krediten für ihre Kunden, der Bewertung von „Arisierungsobjekten“ sowie<br />

der Suche und Vermittlung von Partnern, die an Käufen interessiert waren.<br />

Auch private österreichische Firmen und Industrielle versuchten, am „Arisierungsmarkt“ ihre<br />

Geschäftsinteressen zu verwirklichen. Beispielhaft sei die „Arisierung“ der „Kuffnerschen<br />

Brauerei, Preßhefe- und Spiritusfabrik“ im April 1938 durch die „Harmersche Gutsinhabung<br />

und Spiritusfabrik-KG“ erwähnt, welche der Firma den auch heute noch bekannten<br />

Namen „Ottakringer Brauerei“ gab. 56<br />

Eine wichtige Rolle bei den „Arisierungen“ von Industriebetrieben nahm die seit 1941 bestehende<br />

„Österreichische Kontrollbank für Industrie und Handel“ ein. Im Oktober 1938<br />

wurde per Erlaß Fischböcks eine eigene „Arisierungsabteilung“ eingerichtet. 57 ➤ Walther<br />

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15<br />

Hans Witek


„Legalisierung“<br />

der Arisierungen<br />

„Arisierungen“ in Wien<br />

Kastner, österreichischer Beamter der Reichsstatthalterei, Beauftragter Fischböcks in der<br />

Kontrollbank und Leiter der „Arisierungsabteilung“, beschrieb rückblickend den Zweck dieser<br />

Maßnahmen:<br />

„Das Ziel war eindeutig: Der rein parteipolitisch ausgerichteten Arisierung durch die Vermögensverkehrsstelle,<br />

die Parteimitgliedern Unternehmungen zum Liquidationswert günstig<br />

zuschanzen wollte, sollte die Veräußerung von Großunternehmen entzogen werden. Für<br />

die Arisierung im Wege der Kontrollbank wurde der Grundsatz aufgestellt, daß zwar die<br />

jüdischen Veräußerer nur den Liquidationswert erhalten dürfen, da ihnen ja der weitere Betrieb<br />

ihres Unternehmens untersagt sei, die Erwerber jedoch den Verkehrswert zu zahlen<br />

haben. Die Differenz zwischen diesen Werten nach Abzug der Bankaufwendungen war an<br />

das Reich abzuführen.“ 58<br />

Bis Ende 1942 wurden 102 industrielle Großunternehmen und Großhandelsfirmen, die<br />

von der Abteilung treuhändig übernommen worden waren, an Einzelunternehmer, Firmen<br />

und Banken weiterverkauft, 59 darunter so bekannte Unternehmen wie die „Bunzl & Biach<br />

AG“ und die „Montana AG für Bergbau, Industrie und Handel“. Als das „Arisierungsgeschäft“<br />

beendet war, wurde die Kontrollbank Anfang 1943 von ihren Gesellschaftern (CA,<br />

Länderbank, E.v. Nicolai & Co.) aufgelöst. „Ich hatte Zweifel“, schreibt Kastner, „ob der Nationalsozialismus<br />

den Weltkrieg gewinnen werde, für den Fall seines schlechten Ausganges<br />

schien es aber zweckmäßig, die Kontrollbank nicht mehr als die für Arisierungen verantwortliche<br />

Rechtsperson aufrechtzuerhalten; ehemalige Gesellschafter konnten hierfür nicht in Anspruch<br />

genommen werden. (...) Die Abwicklung ergab einen Erlös, der das Grundkapital<br />

überstieg. Der Arisierungsauftrag hatte sich als Regieträger günstig ausgewirkt.“ 60<br />

Eine ähnliche „Sonderaufgabe“ hatte der „Wiener Giro- und Cassenverein“ 1938 von<br />

Bürckel, Fischböck und der VVST übertragen bekommen: die kollektive „kommissarische<br />

Verwaltung“ und die Auflösung von 77 kleinen und mittleren Privatbanken von insgesamt<br />

85 Firmen jüdischer Eigentümer. 61<br />

Die „Flurbereinigung bei den Privatbankhäusern“, 62 wie Fischböck die Liquidierung von 77<br />

Firmen und die damit verbundene Konzentration in diesem Sektor nannte, war Ende 1938<br />

abgeschlossen. „Arisiert“ wurden die finanz- und industriepolitisch wichtigsten Privatbankhäuser,<br />

darunter das „Bankhaus S.M. Rothschild“, das die Münchner Bank „Merck, Finck &<br />

Co.“ kommissarisch verwaltet und 1940 an die Firma „E.v.Nicolai & Co.“ weitergegeben<br />

hatte, 63 weiters das Wiener Privatbankhaus „Ephrussi & Co.“, das vom langjährigen Mitgesellschafter<br />

und Prokuristen der Firma, C.A. Steinhäusser, „arisiert“ wurde. 64<br />

V. Modernisierung durch Firmenauflösungen<br />

Bürckels ökonomischen und politischen Richtlinien in der Enteignungspolitik lagen verschiedene<br />

Motive zugrunde. In bürokratischer Hinsicht sollte die Ausschaltung der Juden aus der<br />

Privatwirtschaft nach staatlich verordneten Prinzipien erfolgen und die parteipolitischen und<br />

privaten „Einzelaktionen“ verboten, in volkswirtschaftlicher Hinsicht eine Modernisierung<br />

der Wiener Wirtschaftsstruktur im Zuge der Enteignung erreicht werden. Deswegen bestand<br />

die Planung, nur die „wertvollen“ Betriebe zu einem „angemessenen Kaufpreis“ in<br />

„arische“ Hände überzuleiten; zudem sollten die staatlichen Finanzbedürfnisse im Zuge der<br />

„Entjudung“ befriedigt und private „Arisierungsgewinne“ durch Auflagenzahlungen gemindert<br />

werden. Weiters sollte eine genaue Auswahl der Käufer nach fachlicher und politischer<br />

Qualifikation und nach Kreditbedürfnissen vorgenommen werden. 65<br />

Ein Ergebnis dieses Konzeptes resümierte Rafelsberger Anfang Februar 1939:<br />

„Die Strukturwandlungen in der gewerblichen Wirtschaft durch die Entjudung bedeuten<br />

einen Umschichtungsprozeß von ungeheurem Ausmaße … Der große Liquidationssatz und<br />

die Umlagerungen (Standortverlegungen im Zuge der Arisierung) beseitigen in vielen Sparten<br />

die Übersetzung restlos und schaffen in den übrigen bessere Bedingungen. Eine restlose<br />

Berufsbereinigung konnte nicht durchgeführt werden, da diese Planung den arischen Sektor<br />

in der Wirtschaft nicht erfassen konnte.<br />

16 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Für die Zukunft wurden durch die Planung zur Entjudung der gewerblichen Wirtschaft in<br />

der Ostmark Voraussetzungen geschaffen, die nach Überwindung der durch diese ungeheuere<br />

Umschichtung aufgetretenen Hemmnisse sicherlich auch wesentlich zur Stärkung der<br />

ostmärkischen Wirtschaft beitragen und somit der wirtschaftlichen Eingliederung der Ostmark<br />

in den großdeutschen Raum förderlich sind.“ 66<br />

Der Hinweis Rafelsbergers, daß eine restlose „Berufsbereinigung“ nicht durchgeführt werden<br />

konnte, da der „arische“ Sektor der Wirtschaft 1938/39 nicht miteinbezogen wurde,<br />

weist auf das übergeordnete Konzept der Modernisierung der Wiener Wirtschaftstruktur<br />

hin. Die Wiener Juden konnten aufgrund ihrer Stigmatisierung und Entrechtung am leichtesten<br />

aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet werden. Das war jedoch nur der erste<br />

Schritt. 67<br />

Die nationalsozialistische Enteignungspolitik war daher im wesentlichen durch den Primat<br />

der Betriebsauflösung bestimmt. Die Stillegung der Klein- und Kleinstbetriebe in Handwerk<br />

und Einzelhandel 1938/39 konnte „einen Konzentrationsschub und eine Strukturverbesserung<br />

in der ohnehin gegenüber dem ‚Altreich‘ nachhinkenden Wirtschaft Wiens bewirken.“<br />

68<br />

Das Orientierungsmuster der staatlichen Enteignungsplanung war der mittlere, der „gesunde“,<br />

lebensfähige und „arisierungswürdige“ Betrieb, eine Vorstellung, die den Kleinbetrieb<br />

weitgehend ausschloß. Bis zu einem gewissen Grad entsprach diese Konzeption einer allgemeinen<br />

Mittelstandspolitik, welcher der Gedanke der Branchenbereinigung inhärent war. 69<br />

Die an der Gesamtplanung der Enteignung beteiligten Fachverbände und Organisationen<br />

der gewerblichen Wirtschaft drängten auf Ausschaltung der „jüdischen Konkurrenz“:<br />

„Das Bestreben der Innungen, Zünfte usw., aus Gründen der Beseitigung lästiger Konkurrenz<br />

die Auflösung jüdischer Geschäfte herbeizuführen, ist unverkennbar. Hier fehlt es<br />

BETRIEBSAUFLÖSUNGEN IN WIEN<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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17<br />

Hans Witek<br />

Gesamtstand davon Betriebe aufgelöst arisiert<br />

Betriebe 1938 von Juden<br />

Handwerk in Wien<br />

Glaser 549 58 51 7<br />

Schlosser 1.787 98 85 13<br />

Tischler 3.963 102 87 15<br />

Tapezierer 1.063 259 251 8<br />

Kleidermacher 13.434 1.797 1.681 116<br />

Schuhmacher 5.112 391 368 23<br />

Modewaren 3.413 1.093 938 155<br />

Bäcker 806 30 14 16<br />

Fotografen 822 182 143 39<br />

Baugewerbe 1.647 160 149 11<br />

Gast- und Schankgewerbe 7.970 1.119 852 267<br />

Mieder- und Wäscheerzeuger 4.769 1.571 1.449 122<br />

Einzelhandel in Wien<br />

Nahrungs- und Genußmittel 15.163 2.609 2.419 190<br />

Textil 3.642 2.630 2.163 467<br />

Möbel 313 159 107 52<br />

Eisenwaren 863 304 251 53<br />

Drogeriewaren 1.849 713 557 156<br />

Maschinen 187 68 54 14<br />

Papier- und Galanteriewaren 1.494 458 419 39<br />

Die folgende Statistik wurde zusammengestellt aus: AVA, Handelsministerium, Präs. Auskünfte 1938,<br />

Karton 710; und: Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die Entjudung der Ostmark,<br />

Wien 1.2.1939, s. 48f. (Die Statistik stellt eine Auswahl verschiedener Handwerks- und Einzelhandelsbranchen dar.)<br />

Oberstes Zíel:<br />

Betriebsauflösungen


Verbesserung der<br />

Wettbewerbschancen<br />

des<br />

„arischen“<br />

Kaufmanns<br />

„Arisierungen“ in Wien<br />

„ENTJUDUNG“ DER OSTMARK<br />

Handwerk Handel Industrie Privatbanken<br />

Betriebe jüdischer<br />

Eigentümer und Anteilseigner: 13.046 10.992 966 85<br />

„arisiert“ 1.689 1.870 719 8<br />

liquidiert 11.357 9.112 247 77<br />

an der Sachlichkeit des Urteils. Selbstverständlich sind manche Gewerbezweige weit<br />

überbesetzt, so daß Liquidierungen erheblichen Umfangs zwingend notwendig sind. Dieser<br />

Zustand darf aber nicht zur wahllosen Geschäftsauflösung führen.“ 70<br />

So schrieb Wagner, Generalreferent Bürckels bei der VVST, in einem Rechenschaftsbericht<br />

im Herbst 1938. „Jedenfalls treibt der Konkurrenzneid üble Blüten.“ 71<br />

Die Liquidierungspolitik der VVST kam den spezifischen mittelständischen Interessen entgegen.<br />

Die forcierte Verdrängung der Konkurrenten sollte die Wettbewerbschancen des<br />

„arischen“ Kaufmanns und Gewerbetreibenden, dessen eigene ökonomische Basis durch<br />

die Krise der dreißiger Jahre relativ instabil war, verbessern. Wenn ein Großteil der Gewerbetreibenden<br />

infolge Kapitalmangels selbst nicht mehr imstande war, seine wirtschaftliche<br />

Situation zu verbessern, so wollte man wenigstens die Konkurrenz beseitigt wissen.<br />

Der zeitliche und organisatorische Ablauf der Betriebsauflösungen variierte in seinem Umfang<br />

und seiner Intensität. Bedingt durch die Geschäftsplünderungen und „wilde Kommissarswirtschaft“<br />

fand die erste große Schließungsaktion im Frühjahr 1938 statt, von der ca.<br />

7000 Geschäfte betroffen waren. 72 Durch behördlichen Konzessionsentzug wurden im<br />

Spätsommer 1938 zahlreiche weitere Betriebe geschlossen. Die Anzahl der durch „kommissarische<br />

Verwalter“ durchgeführten Firmenliquidierungen bis zum November 1938 war<br />

relativ gering, ungefähr ein Fünftel von ca. 26.000 Betrieben. 73<br />

Die Geschäftsplünderungen während des ➤ Novemberpogroms 1938, des „Tages und<br />

der Nacht der langen Finger“, 74 waren der Auftakt zur massenweisen Schließung von Betrieben.<br />

Bis Kriegsausbruch im September 1939 war der Prozeß der Firmenstillegungen<br />

mehr oder weniger beendet.<br />

In Wien wurden über 80 % der Betriebe und Geschäfte, die Juden gehört hatten, liquidiert;<br />

den geringsten Teil an Auflösungen gab es im Bereich der Industrie (26 %), während<br />

der Handels- und der Handwerkssektor mit 83 % bzw. 87 % extrem hohe Schließungsraten<br />

aufwiesen. Im Privatbankbereich wurden 91 % der Firmen aufgelöst. 75 Differenziert man<br />

nach Branchen im Handwerk und Einzelhandel, so wird nach offiziellen NS-Statistiken das<br />

Ausmaß der Betriebsauflösungen deutlich sichtbar.<br />

An der Verwertung der Warenlager, Betriebseinrichtungen und freiwerdenden Geschäftsräume<br />

meldete die Privatwirtschaft nachdrückliches Interesse an. In der Regel wurden vom<br />

„Abwickler“ die Warenlager und sonstigen Vermögenswerte nach erfolgter Schätzung den<br />

einzelnen Fachgruppen der gewerblichen Wirtschaft angeboten, welche sie zu niedrigen<br />

Preisen an ihre Mitglieder weiterverkauften. 76 Eine andere Verwertungsart ermöglichte<br />

Kaufleuten und Unternehmen, bei günstigster Preislage direkt aus den Liquiditätsmassen<br />

Einkäufe für ihre Geschäfte und Betriebe zu tätigen. 77<br />

Schlußbemerkung<br />

Zusammengestellt nach: Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft,<br />

Bericht über die Entjudung der Ostmark, Wien 1. 2. 1939, S. 10.<br />

Anläßlich einer Ausstellung der VVST im Sommer 1939 über die „Entjudung der ostmärkischen<br />

Wirtschaft“ präsentierte Rafelsberger die Ergebnisse des brutalen Vorgehens<br />

gegen die österreichischen Juden. Von ca. 26.000 Unternehmen waren rund 5000<br />

„arisiert“, über 21.000 zwangsweise aufgelöst worden. Die Interessensgruppen, die von<br />

18 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


1 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />

(SOPADE), 5. Jg. 1938, Nr. 7 (Juli 1938), Reprintausgabe, Salzhausen-Frankfurt/M.<br />

1980, S. 732 ff.; eine ähnliche Beschreibung<br />

der Plünderung der Textilfirma „Gebrüder Schiffmann“ findet sich<br />

bei G.E.R. Gedye, Die Bastionen fielen, Wien 1947, S. 291 f.; auch<br />

die anderen im Zitat erwähnten Geschäftsplünderungen lassen<br />

sich durch Akten belegen, vgl. Allgemeines Verwaltungsarchiv,<br />

Wien (in Hinkunft: AVA), Bestand Vermögensverkehrsstelle (in<br />

Hinkunft: VVST).<br />

2 Ebenda, S. 738.<br />

3 Zur Sozial- und Berufsstruktur der Wiener Juden gibt es bis heute<br />

keine Untersuchungen.<br />

4 Von insgesamt 56.000 Liegenschaften in Wien sollen ca. 8000 Juden<br />

gehört haben; wertmäßig sollen es 30 % gewesen sein. Vgl.<br />

Karl Schubert, Die Entjudung der ostmärkischen Wirtschaft und<br />

die Bemessung des Kaufpreises im Entjudungsverfahren, Welth.<br />

Diss., Wien 1940, S. 72 ff.<br />

5 Gerhard Botz, Stufen der Ausgliederung aus der Gesellschaft. Die<br />

österreichischen Juden vom „Anschluß“ zum „Holocaust“. In: Zeitgeschichte,<br />

14, H.9/10 (Juni/Juli 1987), S. 363.<br />

6 Vgl. Gerhard Botz, Stufen der Ausgliederung, a.a.O., S. 360<br />

7 Vgl. Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation in<br />

Wien 1938-1945: Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer<br />

Sozialpolitik, Wien 1975; G. Botz, Wien vom<br />

„Anschluß“ zum Krieg: Nationalsozialistische Machtübernahme<br />

und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien<br />

1938/39, 2. Aufl., Wien 1980; vgl. Anm. 5.<br />

8 Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation, S. 124.<br />

9 Zur Tradition und Kontinuität des Wiener Antisemitismus vgl. Peter<br />

G. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in<br />

Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966; Karl<br />

Stuhlpfarrer, Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung<br />

in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. In: Das österreichische<br />

Judentum: Voraussetzungen und Geschichte, Wien 1974, S. 141-<br />

164; Sylvia Maderegger, Die Juden im österreichischen Ständestaat<br />

1934-1938, Wien 1973.<br />

10 Susanne Heim, Götz Aly, Die Ökonomie der „Endlösung“. In:<br />

Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik,<br />

Bd. 5, Berlin 1987, S. 21.<br />

11 Zum Forschungsstand: Vgl. Gerhard Botz, „Arisierungen“ und nationalsozialistische<br />

Mittelstandspolitik in Wien 1938-1940. In: Wiener<br />

Geschichtsblätter, 29, 1 (1974), S. 122-136; G. Botz, Wien vom<br />

„Anschluß“ zum Krieg, a.a.O., S. 328-342; Georg Weis, Arisierungen<br />

in Wien. In: Wien 1938. Forschungen und Beiträge zur Wiener<br />

Stadtgeschichte, Wien 1978, Bd. 2, S. 183-190; Herbert Rosenkranz,<br />

Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich<br />

1938-1945, Wien 1978, S. 60-71, und S. 126 ff., S. 165 ff.; Lieselotte<br />

Wittek-Saltzberg, Die wirtschaftspolitischen Auswirkungen der<br />

Okkupation Österreichs, phil. Diss. Wien 1970, S. 205-229; Helmut<br />

Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten<br />

Reich, Göttingen 1966, S. 160-166; zeitgenössische antisemitische<br />

Darstellung: Karl Schubert, Die Entjudung der ostmärkischen<br />

Wirtschaft und die Bemessung des Kaufpreises im Entjudungsverfahren,<br />

Welth. Diss. Wien 1940.<br />

12 Zur Liquidierung der Fa. „Grande Distillerie Damase Hobe &<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

19<br />

Hans Witek<br />

den „Arisierungen“ und Stillegungen der Unternehmen profitierten, hatten ihre jeweiligen<br />

Ziele zumindest zum Teil erreicht: Die „kleinen Ariseure“ hatten sich bereichert, die mittelständischen<br />

Betriebe waren lästige Konkurrenz losgeworden und konnten ihre Warenlager<br />

billig aufstocken, Banken und Industrie ihre Expansionsbedürfnisse befriedigen und die NSund<br />

Wirtschaftsplaner ihr Konzept der Modernisierung durchführen.<br />

Aus: Emmerich Tálos u.a. (<strong>Hrsg</strong>.):<br />

NS-Herrschaft in Österreich, 1938-1945.<br />

Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1988, S. 199-216.<br />

Cie.A.G.“, Wien; vgl. die Fallstudie: Michael Margules, Aufstieg<br />

und Fall eines jüdischen Unternehmers in Wien, Diplomarbeit WU<br />

Wien 1984; zur „Arisierung“ im Verlagswesen und im Buchhandel<br />

vgl. Murray G. Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938,<br />

Bd. 1: Geschichte des österreichischen Verlagswesens, Wien 1985,<br />

S. 353-428.<br />

13 OMGUS. Ermittlungen gegen die Deutsche Bank 1946/47, übersetzt<br />

u. bearbeitet von der Dokumentationsstelle zur NS-Politik<br />

Hamburg, Nördlingen 1985, S. 165.<br />

14 Karl Stuhlpfarrer, Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung<br />

in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. In: Das österreichische<br />

Judentum, <strong>Hrsg</strong>. Anna Drabek u. a., Wien-München 1974, S. 155.<br />

15 VVST, Karton 907, Rechtsakt 2231, Schreiben des Rechtsamts der<br />

VVST an die Kreisleitung der NSDAP Baden, 2.9.1938.<br />

16 Eine andere Position vertritt Jörg Friedrich: „Das Verbrechen des<br />

Raubes wird in einer Form abgewickelt, die den Eigentumsbegriff<br />

nicht beschädigt. Beschädigt werden sollen ja nur die jüdischen Eigentümer.“<br />

Jörg Friedrich, Normierung und Legalisierung staatlicher<br />

Kriminalität. Zu den Aufgaben der Justiz im Dritten Reich. In:<br />

Licht in den Schatten der Vergangenheit. Zur Enttabuisierung der<br />

Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, hrsg. v. Jörg Friedrich, Jörg<br />

Wollenberg, Frankfurt/M., Berlin 1987, S. 58.<br />

17 „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“<br />

vom 26. 4. 1938, RGBL. I, 1938, S. 414 f.; jeder Jude mußte sein gesamtes<br />

Vermögen über 5000 RM anmelden und bewerten; weiters<br />

war jede Veräußerung und Verpachtung eines gewerblichen,<br />

land- und forstwirtschaftlichen Betriebes genehmigungspflichtig,<br />

wenn ein Jude als Vertragsschließender beteiligt war. In Österreich<br />

war die VVST die Anmelde- und Genehmigungsbehörde.<br />

18 „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Deutschen<br />

Wirtschaftsleben“ vom 12.11.1938, RGBL I, 1938, S. 1580.<br />

19 „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3.<br />

12. 1938, RGBL. I, 1938, S. 1709.<br />

20 Vgl. A.J. van der Leeuw, Der Griff des Reiches nach dem Judenvermögen.<br />

In: Studies over Nederland in oorlogstijd, I, Gravenhage<br />

1972, S. 211-237.<br />

21 Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die<br />

Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1980, S. 97.<br />

22 Vgl. Verordnung v. 3.12.1938.<br />

23 Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden, S. 166.<br />

24 Vgl. Gesetzblatt f.d. Land Österreich, 1938, S. 406; Kundmachung<br />

des Reichsstatthalters über die Errichtung einer Vermögensverkehrsstelle,<br />

18. 5. 1938; AVA, Reichskommissar für die Wiedervereinigung<br />

Österreichs mit dem Deutschen Reich (in Hinkunft: Rk),<br />

Karton 73, Ordner 144, (2160/00, Bd. 2), Geschäftsverteilungsplan<br />

der VVST 1938.<br />

25 Vgl. AVA, VVST, Karton 1379, Ministerium f. Wirtschaft und Arbeit,<br />

Zl. I- 15.545-1939, Internes Schreiben vom 14.11.1939, Übertragung<br />

der Zuständigkeiten im Entjudungsverfahren; VVST, Karton<br />

1423, Schreiben von Dr. Kramer, Reichsstatthalterei Wien, an<br />

Reichswirtschaftsminister vom 19.6.1940.<br />

26 Wiener Zeitung, 3.6.1938, Nr. 181, S. 2.<br />

27 Vgl. Institut für Zeitgeschichte München, Dok. PS 1449, Protokoll<br />

einer Besprechung unter Görings Leitung im Reichsluftfahrtministerium,<br />

14.10.1938.


„Arisierungen“ in Wien<br />

28 Vgl. Jonny Moser, Das Unwesen der kommissarischen Leiter. Ein<br />

Teilaspekt der Arisierungsgeschichte in Wien und im Burgenland.<br />

In: Arbeiterbewegung, Faschismus, Nationalsozialismus, hrsg. v.<br />

Helmut Konrad u.a., Wien 1983, S. 90.<br />

29 Die zusammenfassende Charakterisierung des Sozialtypus der<br />

„Kommissare“ geht aus einer Unzahl von Akten der VVST hervor.<br />

30 Zu den wenigen Verhaftungen vgl. z.B. Bundesarchiv Koblenz, R<br />

58/1080, Tagesrapporte Gestapo Wien, Oktober 1938-Jänner 1939.<br />

31 Vgl. AVA, VVST, Karton 813, Bericht über die Tätigkeit des kommissarischen<br />

Verwalters L. Krabath, 6.2.1939; er verwaltete vier<br />

Textilfirmen in Wien I., Rudolfsplatz und Umgebung.<br />

32 AVA, VVST, Kt. 1408, Korrespondenz S-V, Aug. 1938-Juni 1940; Bericht<br />

über die Tätigkeit in der Ostmark von Reg. Rat. Wagner, 7. 9.<br />

1938, S. 7 f.<br />

33 Zur Reichswirtschaftshilfe vgl. Hans Kehrl, Krisenmanager im Dritten<br />

Reich, Düsseldorf 1973, S. 125 f.<br />

34 Vgl. AVA, Rk, Karton 74, Ordner 145, (2160/00/1) Beschlußprotokolle<br />

über die Beiratsitzungen der VVST vom 28.9.1938 und vom<br />

26.1.1939.<br />

35 Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, a.a.O., S. 130.<br />

36 AVA, Rk, Kt. 74, Ordner 146, (2160/14/2), Kommunique der Arisierungskommission,<br />

7. Juli 1938.<br />

37 Vgl. allgemein zu diesen Eigentumsveränderungen in der österreichischen<br />

Filmwirtschaft: Bundesarchiv Koblenz, R 55/785, „Ostmärkische<br />

Filmtheater-Betriebsges.m.b.H.“: Übernahme von jüdischen<br />

Filmtheatern in der Ostmark.<br />

38 AVA, Rk, Kt. 74, Ordner 146, (2160/14/2), Schreiben der Reichsfilmkammer,<br />

Außenstelle Wien an Bürckel, 23.1.1939.<br />

39 Christoph Schmidt, Zu den Motiven „Alter Kämpfer“ in der<br />

NSDAP. In: Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte<br />

des Alltags unterm Nationalsozialismus, hrsg. von Detlev Peukert,<br />

Jürgen Reulecke, Wuppertal 1981, S. 42.<br />

40 Bundesarchiv Koblenz, R 55/785 fol. 23, Schreiben von Winkler an<br />

das Reichsministerium f. Volksaufklärung und Propaganda,<br />

23.8.1938.<br />

41 Vgl. AVA, VVST, Karton 1374, Zl. D 6, Schreiben der VVST (Abwicklungsstelle)<br />

an Reichsstatthalterei Wien, 1. 10. 1940: „Im Laufe<br />

des Jahres 1939 wurden von der Österreichischen Kontrollbank<br />

17 verdienten Parteigenossen (Angehörige der SS-Standarte 89)<br />

zum Zweck der Erwerbung von Lichtspieltheatern Kredite gewährt.“<br />

42 AVA, Rk, Karton 85, Ordner 167, (2205/15), Schreiben von Bürckel<br />

an Göring, 7.12.1938.<br />

43 Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden, a.a.O., S. 248.<br />

44 Hans Mommsen, Ausnahmezustand als Herrschaftstechnik des NS-<br />

Regimes. In: Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur<br />

Außenpolitik des Dritten Reiches, hrsg. v. Manfred Funke, Düsseldorf<br />

1977, S. 37.<br />

45 Berlin Document Center, Personalakt Josef Fitzthum; Schreiben<br />

von SS-Oberführer Kammerhofer an das SS-Gericht, 20.4.1940; Bericht<br />

von Tondock über die „Untersuchung sämtlicher in Wien von<br />

SS-Angehörigen durchgeführten Arisierungen“, 8.3.1940; etc.; zit.<br />

nach Radomir Luza, Österreich und die großdeutsche Idee in der<br />

NS-Zeit, Wien, Köln, Graz 1977, S. 143 (Anm. 16.).<br />

46 Bundesarchiv Koblenz, NS 19/807, Schreiben Himmlers an Heydrich,<br />

20.9.1939.<br />

47 Vgl. AVA, VVST, Karton 774, Zl. 3614-Abw/40, Aktenvermerk vom<br />

Beauftragten der VVST (Abwicklungsstelle), Arbeitsgruppe Abwicklung,<br />

24.6.1940.<br />

48 AVA, VVST, Karton 918, RA 8973, Geschäftsbericht der Einkaufsund<br />

Treuhandgenossenschaft für die Uhren- und Juwelenbranche,<br />

Wien I, über das Geschäftsjahr 1938, o. D.<br />

49 AVA, Rk, Karton 105, Ordner 207 (2237/13), Aktenvermerk Ass.<br />

Ernst vom 23.3.1939, betr. Tätigkeit der Einkaufs- und Treuhandgenossenschaft<br />

für die Uhren- und Juwelenbranche.<br />

50 AVA, VVST, Karton 918, RA 8973, Geschäftsbericht der Einkaufsund<br />

Treuhandgenossenschaft für die Uhren- und Juwelenbranche,<br />

Wien I, über das Geschäftsjahr 1938, o. D.<br />

51 AVA, VVST, Karton 918, RA 8973, Anweisung betreffend die Rege-<br />

lung von Kaufpreis und Auflage der Betriebe der Juweliere und<br />

Uhrmacher, von Rafelsberger, 15.3.1939.<br />

52 AVA, VVST, Karton 771, Zl. 52-Abw./1939, Bericht des Abwicklers<br />

für die jüdischen Einzelhandelsfirmen des Uhren- und Juwelenfaches<br />

an die VVST, 18.11.1939.<br />

53 AVA, VVST, Karton 768, WS 1182, Schreiben von Staatsrat Eberhardt<br />

(Mitarbeiter Kepplers) an W. Schwarz, 6.4.1938.<br />

54 Zur „Arisierung“ der Lenzinger Zellstoff- und Papierfabrik AG, vgl.<br />

Der Kampf um Lenzing. Arisierung – Konkurs – Sanierung, hrsg.<br />

von der Österreichischen Länderbank AG, Wien 1953, S. 3 f.; zur<br />

„Arisierung“ der Hirtenberger Patronen- und Waffenfabrik vgl.<br />

Franz Mathis, Big Business in Österreich. Österreichische Großunternehmungen<br />

in Kurzdarstellungen, Wien 1987, S. 148; Georg W.<br />

F. Hallgarten, Joachim Radkau, Deutsche Industrie und Politik von<br />

Bismarck bis in die Gegenwart, Frankfurt/M. 1986, S. 360.<br />

55 AVA, VVST, Karton 1365/ Mappe Entjudungsfälle A-Z, Amtsvermerk<br />

vom 27.11.1939.<br />

56 Vgl. AVA, VVST, Karton 648, St. 5092/ Band 2, Bericht der Deutschen<br />

Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft, Zweigniederlassung<br />

Wien über die bei der Aktiengesellschaft Ignaz Kuffner &<br />

Jakob Kuffner für Brauerei, Spiritus- und Preßhefe-Fabrikation<br />

Ottakring-Döbling, Wien XVI, vorgenommene Sonderprüfung,<br />

28.11.1938.<br />

57 Vgl. AVA, Rk, Karton 75, Ordner 148, (2165/2/9), Erlaß des<br />

Min.f.Wirt.u.Arb. an die Österreichische Kontrollbank für Industrie<br />

und Handel, 30.9.1938.<br />

58 Walther Kastner, Mein Leben kein Traum, Wien 1982, S. 108.<br />

59 Ebenda, S. 109.<br />

60 Ebenda, S. 116 f.<br />

61 Vgl. AVA, Rk, Karton 75, Ordner 148, (2165/2/5), Schreiben von<br />

Bürckel an Reichswirtschaftsminister Funk, 8.7.1939.<br />

62 Hans Fischböck, Das Bankwesen der Ostmark. In: Die Deutsche<br />

Volkswirtschaft, Jg. 1940, Nr. 12, S. 384.<br />

63 Neue Bankfirma übernimmt Rothschild Wien. In: Die Bank, 33. Jg.,<br />

3.4.1940, Heft 14, S. 223.<br />

64 Vgl. AVA, VVST, Karton 300, H. 5034, Schreiben Dr. Philippovich an<br />

Finanzamt Innere Stadt West, 12.2.1942.<br />

65 Vgl. Gerhard Botz, Wien vom „Anschluß“ zum Krieg, S. 331 ff.<br />

66 Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die Entjudung<br />

der Ostmark, Wien 1. 2. 1939, S. 21.<br />

67 Vgl. Heim/Aly, Die Ökonomie der „Endlösung“, a.a.O., S. 28 ff. Der<br />

Zugriff auf „arische“ Klein- und Mittelbetriebe war erst im Rahmen<br />

des kriegswirtschaftlichen Konzentrationsprozesses gegeben,<br />

als zahlreiche Betriebe geschlossen wurden, um Arbeitskräfte für<br />

Großunternehmen freizumachen.<br />

68 Gerhard Botz, Stufen der Ausgliederung der Juden, a.a.O., S. 365.<br />

69 Vgl. Ludolf Herbst, Der totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft.<br />

Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie<br />

und Propaganda 1939-1945, Stuttgart 1982, S. 157.<br />

70 AVA, VVST, Karton 1408, Korrespondenz S-V (August 1938-Juni<br />

1940), Bericht über die Tätigkeit in der Ostmark ab 4. Juli 1938<br />

von Reg. Rat. Wagner, 7.9.1938, S. 13.<br />

71 Ebenda, S. 13.<br />

72 Vgl. AVA, VVST, Karton 1370, Mappe Mörixbauer, Anlage zu<br />

Schreiben des Stellvertretenden Gauleiters Scharizer an den Regierungspräsidenten<br />

Dr. Dellbrügge vom 25.4.1941.<br />

73 Vgl. AVA, Handelsministerium, Nachlaß Fischböck, Karton 734,<br />

Statistischer Bericht über die Tätigkeit der Vermögensverkehrsstelle<br />

vom 19.11.1938.<br />

74 Institut für Zeitgeschichte München, Nürnberger Dokument PS<br />

2237, Schreiben Bürckel an Göring vom 18.11.1938.<br />

75 Vgl. Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die<br />

Entjudung der Ostmark, Wien 1. 2. 1939, S. 10.<br />

76 Vgl. AVA, VVST, Karton 771, Abw./79/1939, Schreiben der Wirtschaftskammer<br />

Wien, Unterabteilung Einzelhandel an die Vermögensverkehrsstelle<br />

vom 17.5.1939; vgl. auch Beschwerde der Wirtschaftsgruppe<br />

Einzelhandel über die Tätigkeit der Abwickler vom<br />

9.5.1939.<br />

77 Vgl. AVA, VVST, Karton 911, R.A. 3319, Sammelakt.<br />

20 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


DIE ZENTRALSTELLE FÜR JÜDISCHE AUSWANDERUNG IN WIEN<br />

JONNY MOSER<br />

Die ➤ Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien wurde im August 1938 errichtet, 1<br />

sie sollte eine rationellere Enteignung der auswanderungswilligen Juden erbringen und deren<br />

Ausreiseabfertigung verkürzen. Die Zentralstelle besorgte und verschaffte keine Einreisegenehmigungen<br />

in andere Länder, wie sie auch keine Schiffskarten verkaufte; sie war<br />

realiter ein Paßamt, das sich mittels Abgaben von Juden selbst finanzierte. Die Zentralstelle<br />

für jüdische Auswanderung war im Rothschild-Palais, Wien IV, Prinz Eugen-Straße 22, heute<br />

Sitz der Arbeiterkammer für Wien, untergebracht.<br />

Der Gedanke zur Gründung eines solchen Amtes war ➤ Eichmann, dem Gründer und ersten<br />

Leiter der Zentralstelle, sogleich nach dem „Anschluß“ gekommen. Er war ein sehr ambitiöser<br />

SS-Führer und aufmerksamer Beobachter, der rasch erkannte, wie man mit brutaler<br />

Gewalt die Juden einschüchtern und andererseits durch schöne Versprechungen leicht erpressen<br />

konnte. Daneben hatte er die großen Möglichkeiten für eine schnellere Arisierung<br />

wahrgenommen, die sich aus der Finanzierungsmethode der ➤ Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion<br />

ergaben. Und Eichmann bemerkte die administrativen Schwierigkeiten bei<br />

der Paßbeschaffung der Juden, die sich einerseits für die Wiener Polizei ergaben, weil man<br />

den Juden ein separates Paßamt in Wien V, Wehrgasse, geschaffen hatte, das mit zu wenig<br />

Beamten bestückt war. Manche auswanderungswilligen Juden waren tage-, ja wochenlang<br />

angestellt, ehe sie ihre Ausreisepapiere erhielten. Alle diese Vorgänge unter ein Dach<br />

zu bringen, schien mit der Gründung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung zu lösen<br />

zu sein.<br />

Dabei war Eichmann vom SD-Hauptamt lediglich nach Wien entsandt worden, um bei<br />

den jüdischen Organisationen Archive, Bibliotheken und anderes einschlägige Material<br />

über das Judentum und den Zionismus sicherzustellen. Eichmann war seit 1934 Referent in<br />

der Abteilung „Judenangelegenheiten“ – Kurzbezeichnung II 112 – im SD-Hauptamt in Berlin,<br />

im Range eines SS-Führers. Diese Abteilung befaßte sich zu dieser Zeit rein theoretisch<br />

mit dem Judentum und mit einer Lösung der „Judenfrage“ in Form der Auswanderung, die<br />

nach dem „Anschluß“ die Formen einer Vertreibung annahm. Als SD-Führer hatte Eichmann<br />

zur Zeit des „Anschlusses“ noch keine Exekutivgewalt bei der Vertreibung der Juden, diese<br />

lag bei den Leitern des Judenreferates der ➤ Gestapo. Allerdings fand Eichmann hier in<br />

Österreich freiere Betätigungsmöglichkeiten, zumal hier in Wien noch keine Kompetenzgrenzen<br />

fixiert worden waren und er zudem weder vom SD-Hauptamt noch vom Leiter des<br />

SD-Oberabschnitts Österreich, Franz Stahlecker, in irgendeiner Form behindert worden<br />

war.<br />

Eichmann kontaktierte fleißig seine früheren Kampfgefährten aus der illegalen Zeit, traf<br />

mit ihnen offiziell und gesellig zusammen und erhielt derart verhältnismäßig viele Informationen.<br />

Er stand in gutem Einvernehmen mit dem Judenreferat der Gestapo Wien und nahm<br />

an den Aktionen gegen die jüdischen Organisationen aktiv teil. Seine Informationen über<br />

das Judentum in Österreich, die er dem SD-Hauptamt übermittelte, erregten dort große Aufmerksamkeit,<br />

und die von ihm en masse nach Berlin gesandten Archivmaterialien gaben<br />

der Abteilung für Judenangelegenheiten nunmehr einen besseren Einblick in das Judentum<br />

und in den Zionismus. 2<br />

Bei der Hausdurchsuchung im ➤ Palästinaamt, 3 das die Agenden der ➤ Jewish Agency<br />

(politische Vertretung der Juden in Palästina) in Österreich wahrnahm und auch die Landeszentrale<br />

der zionistischen Verbände Österreichs beherbergte, ließ sich Eichmann die Vertreter<br />

der Zionisten Österreichs vorführen, um unter ihnen jenen auszuwählen, den er später<br />

mit der Leitung dieses Amtes betrauen wollte. Und am 18. März 1938 nahm Eichmann bei<br />

der Durchsuchung der Amtsräume der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde in Wien teil. Bei<br />

dieser Aktion wurden auch zwei Zahlungsbelege über eine Wahlfondsspende in der Höhe<br />

von öS 800.000.- an die ➤ Vaterländische Front gefunden. Sie waren der formale Anlaß,<br />

das Präsidium der Israelitischen Kultusgemeinde Wien festzunehmen, die Amtsräume zu<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

21<br />

Raschere<br />

„Arisierung“ durch<br />

die Gildemeester-<br />

Auswanderungs-<br />

Hilfsaktion<br />

Terror und<br />

Schikanen, um<br />

Juden zur schnellerenAuswanderung<br />

zu zwingen


Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien<br />

schließen und jede Amtstätigkeit vorläufig zu untersagen. Der wahre Grund für diese Maßnahmen<br />

war jedoch einzig und allein, die führungs- und vertretungslos gewordenen Juden<br />

Wiens zu schikanieren und zu terrorisieren, um sie für eine schnellere Auswanderung gefügig<br />

zu machen.<br />

Aber Eichmann benützte das Auffinden der beiden Spendenbelege für die Durchführung<br />

der Schuschniggschen Volksbefragung am 13. März 1938 auch, um den Juden Wiens dieselbe<br />

Summe Geldes nochmals abzuverlangen: dieses Mal für die Volksabstimmung am<br />

10. April 1938. Diese Vorgangsweise brachte Eichmann viel Ansehen beim Reichskommissar<br />

für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, ➤ Joseph Bürckel, ein,<br />

sie wurde in den Wiener NS-Führungskreisen wie auch im SD-Hauptamt respektvoll registriert.<br />

Diese Wahlfondsspende der Israelitischen Kultusgemeinde Wien war für Schuschniggs<br />

beabsichtigte Volksbefragung aus tiefster österreichischer Überzeugung zur Verfügung<br />

gestellt worden. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Staatsrat<br />

Dr. Desider Friedmann, wurde am 10. März 1938 von ➤ Schuschnigg persönlich von seinem<br />

verzweifelten Entschluß, das Volk von Österreich am 13. März entscheiden zu lassen,<br />

unterrichtet. Als Vorsitzender des Verbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs<br />

war sich Friedmann seiner Verantwortung für das Geschick der jüdischen Gemeinschaft in<br />

Österreich vollauf bewußt, zumal die angesetzte Volksbefragung den letzten Rettungsversuch<br />

für den Weiterbestand eines unabhängigen und freien Österreich darstellte. Welcher<br />

aufrechte Österreicher konnte zu diesem Zeitpunkt seine Hilfe versagen, wo zudem noch<br />

klar war, daß der Weiterbestand oder Fall Österreichs mit der Lebensfrage der Österreicher<br />

jüdischer Konfession engstens verbunden war.<br />

Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Desider Friedmann, und die<br />

Vizepräsidenten, Oberbaurat Ing. Robert Stricker wie der Rat der Stadt Wien, Dr. Jakob<br />

Ehrlich, wurden mit dem ersten Österreichertransport am 1. April 1938 in das Konzentrationslager<br />

Dachau verschickt. 4<br />

Der Amtsdirektor der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Josef Löwenherz, wurde<br />

von Eichmann zurückgehalten, er sollte nach Eichmanns Plan, wenn die Juden Wiens die<br />

strafweise verfügte Kontribution von 550.000 Reichsmark aufgebracht hatten, wieder in<br />

seine alte Position als Leiter der Kultusgemeinde eingesetzt werden.<br />

Am 8. April 1938 richteten Amtsvorstand Emil Engel und Oberrabbiner Dr. Israel Taglicht<br />

ein Schreiben an alle Kultussteuerträger der Gemeinde, worin sie auf die derzeitige prekäre<br />

finanzielle Lage der Kultusgemeinde hinwiesen und aufriefen, einen freiwilligen Zuschlag<br />

in der Höhe von mindestens 50 % der bisherigen Kultussteuer zu bezahlen, zumal die Kultusgemeinde<br />

den Betrag von RM 550.000,- aufzubringen habe, ehe die Kultusgemeinde ihre<br />

Amtstätigkeit wieder aufnehmen könne. Es sind „überaus ernste und unausweichliche<br />

Gründe“, die den Vorstand zu dieser Aufforderung an die Steuerträger zwängen, zumal<br />

„von deren Erfüllung das künftige Geschick der Gemeinde und ihrer Angehörigen entscheidend<br />

beeinflußt werden wird“. 5 Am Freitag, dem 15. April 1938, wurde von den Kanzeln<br />

aller Wiener Synagogen ein Aufruf des Oberrabbiners Dr. Taglicht verlesen, in dem er an<br />

die Gemeindemitglieder appellierte und „die Zahlung des geforderten Geldes als eine unabdingbare<br />

Notwendigkeit“, ja als eine „religiöse Pflicht“ bezeichnete. 6 Das westliche Ausland<br />

wußte ganz genau, daß diese Zahlung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an<br />

den Wahlfonds der Nationalsozialisten zu leisten war. 7 Und in einem Brief am 23. April<br />

1938 schreibt Eichmann an seinen Freund und Vorgesetzten Herbert Hagen: „Löwenherz<br />

ist enthaftet. Er und Dr. Rottenberg vom Palästinaamt bekamen von mir den Auftrag, bis<br />

zum 27. April ein genaues Aktionsprogramm betr. Kultusgemeinde und Zionistischen Landesverband<br />

für Österreich auszuarbeiten.“ Nebenbei bemerkte Eichmann: „RM 200.000,zahlten<br />

sie bereits. Engel muß weitere Eintreibungen vornehmen. ... Ende nächster Woche<br />

wird die Kultusgemeinde und darauf der zionistische Landesverband aufgemacht.“ 8<br />

Damit hatte Eichmann seiner Dienststelle vorgeführt, wie man mit Druck und Terror die<br />

„Judenfrage“ lösen sollte. Er hatte in Österreich auch allen Unterabschnitten des Sicherheitsdienstes<br />

wie auch den Referenten der Abteilung Juden einen Überblick über diese Materie<br />

22 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


gegeben. 9 Am 8. Mai 1938 meldet er seinem Freund Herbert Hagen nach Berlin: „Sämtliche<br />

jüdischen Organisationen in Österreich sind zur achttägigen Berichterstattung angehalten<br />

worden. Dieselben werden dem jeweiligen Sachbearbeiter II 112 übergeben. Am<br />

Freitag der nächsten Woche erscheint die erste Nummer der zionistischen Rundschau (…)<br />

und bin gerade bei der langweiligen Arbeit der Zensur. Die Zeitung geht Euch selbstverständlich<br />

auch zu. Es wird gewissermaßen ‚meine‘ Zeitung werden. Jedenfalls habe ich die<br />

Herrschaften auf Trab gebracht, was Du mir glauben kannst. Sie arbeiten derzeit auch<br />

schon sehr fleißig. Ich habe von der Kultusgemeinde (…) eine Auswanderungszahl von<br />

20.000 mittellosen Juden für die Zeit vom 1. April 1938 bis 1. Mai 1938 verlangt (…) Morgen<br />

kontrolliere ich wieder den Laden der Kultusgemeinde (…) Ich habe sie hier vollständig<br />

in der Hand, sie trauen sich keinen Schritt ohne vorherige Rückfrage bei mir zu machen.“ 10<br />

Über die Lage der Lösung der „Judenfrage“ in Österreich berichtete er Hagen: „Die Lage<br />

der Dinge ist jetzt folgende: Arisierung. Juden in der Wirtschaft usw. behandeln, laut Erlaß<br />

Gauleiter Bürckels. Das weitaus schwierigere Kapitel, die Juden zur Auswanderung zu<br />

bringen, ist Aufgabe des SD. Auf diese (…)“ ist alles ausgerichtet. Über seine persönliche<br />

Situation war er im unklaren. Er meinte „als Abteilungsleiter auf einen Unterabschnitt“ zu<br />

kommen, zumal die „Sache in Wien läuft“. Diese Arbeit hier zu verlassen, „täte mir ehrlich<br />

leid, zumal ich sie gerne machte“, schrieb er Hagen, „aber Du wirst ja verstehen, daß ich<br />

mit meinen 32 Jahren nicht gerne ‚zurückgehe‘.“ Und er hatte hier in Wien unter den NSund<br />

SD-Führern Fürsprecher: Er blieb also in Wien. 11<br />

In diesen Apriltagen 1938, als die Amtstätigkeit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien<br />

stillgelegt war und Eichmann seine Position im SD-Hauptamt festigte, bemühten sich verschiedene<br />

Personen jüdischer Abkunft, mit österreichischen Nationalsozialisten in Kontakt<br />

zu kommen, um ihnen einen für sie faszinierenden Plan zur Lösung der „Judenfrage“ in<br />

Österreich vorzutragen. Der Gedanke war der, die jüdische Auswanderung zu forcieren,<br />

indem man sich gleichzeitig des Vermögens der auswandernden Juden bemächtigen könne.<br />

Vermögenden Juden sollten Einreisemöglichkeiten in überseeische Staaten verschafft<br />

werden, worauf diese auf ihr gesamtes Vermögen zugunsten des Reichs verzichteten. Von<br />

diesem Vermögen sollten fünf bis zehn Prozent einem Fonds, dem Auswanderungsfonds<br />

zufließen, aus dem die Auswanderung mittelloser Juden bestritten würde. Eine Hilfsstelle<br />

unter der Leitung einer geeigneten Person sollte geschaffen werden. Und dieser Mann fand<br />

sich in der Person des Holländers Frank van Gheel Gildemeester, der sich immer schon<br />

humanitären Aufgaben gewidmet und während der Zeit des ➤ Ständestaates inhaftierte<br />

Nationalsozialisten betreut hatte. Über Mittelsmänner wurde dieser Plan dem Minister für<br />

Arbeit und Wirtschaft, ➤ Dr. Hans Fischböck, vorgelegt und von ihm gutgeheißen. Gildemeester<br />

nahm unter der Bezeichnung Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion im April<br />

1938 seine Arbeit auf. Zum Fondsführer des Auswanderungsfonds in der ➤ Vermögensverkehrsstelle<br />

des Ministeriums für Arbeit und Wirtschaft wurde SS-Obersturmführer Dkfm. Fritz<br />

Kraus bestellt. Als juristischer Berater fungierte Dr. Erich Rajakowitsch. 12<br />

Wie diese Ausreisebeschaffung und Enteignung vor sich ging, soll am Beispiel der Familie<br />

Kuffner aufgezeigt werden. Die Besitzer der Ottakringer Brauerei, Moritz und Stefan<br />

von Kuffner, waren unter dem Vorwand staatsfeindlicher Betätigung von der Gestapo festgenommen<br />

worden. Zur „Einstellung ihres Verfahrens“ kam es erst, als sie „das Einverständnis“<br />

schriftlich abgaben, 35 % ihres Vermögens, das nach den Feststellungen des „staatlichen<br />

Treuhänders“ 9 Millionen Reichsmark betrug, dem Reich zu übergeben. Ihre Bankguthaben,<br />

Anteilscheine, Gemäldegalerie und Sternwarte waren nach dem „Anschluß“ beschlagnahmt<br />

worden. Es wurde daher an Zahlungsstatt der „ganze immobile Kuffnersche<br />

Liegenschaftsbesitz“ im Werte von 2,5 Millionen Reichsmark übernommen. Als Empfänger<br />

dieses Liegenschaftsbesitzes wurde von der Gestapo der Auswanderungsfonds Wien nominiert.<br />

Nach der Bezahlung der ➤ Reichsfluchtsteuer und aller anderen Abgaben verblieb<br />

den Familienmitgliedern Kuffner lediglich ein namhafter Betrag auf einem ➤ Sperrkonto,<br />

über den sie jedoch nie verfügen konnten. Für eine Ausreisegenehmigung hatten sie auf all<br />

ihr Vermögen zu verzichten. 13<br />

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23<br />

Jonny Moser<br />

Ausreise<br />

unter<br />

Vermögensverzicht


Die Grenzen<br />

werden<br />

geschlossen<br />

Eichmanns Idee<br />

einer Zentralstelle<br />

für jüdische<br />

Auswanderung<br />

Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien<br />

Bis zum Sommer 1938 war Eichmanns Stellung in Österreich endgültig gefestigt. Er hatte<br />

die Finanzierung der Gildemeester-Hilfsaktion genau verfolgt und stand mit Dr. Rajakowitsch<br />

und Dkfm. Kraus in engem Kontakt. Er hatte die ungeheuren Anstrengungen der<br />

Israelitischen Kultusgemeinde gesehen, Einreisegenehmigungen von den amerikanischen<br />

Hilfsorganisationen zu erhalten, und erkannte die begrenzten Möglichkeiten einer Palästinaauswanderung<br />

aufgrund des englischen ➤ Weißbuches. Die Konferenz von Evian zur<br />

Lösung der Auswanderungsprobleme der jüdischen Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland<br />

war gescheitert. So mancher lateinamerikanische Staat schloß erst jetzt seine Grenzen<br />

für Juden aus Österreich, und selbst die USA waren nicht geneigt, die deutsche Einwanderungsquote<br />

zu erhöhen. Die Schweiz schloß nun völlig ihre Grenzen gegenüber<br />

österreichischen Juden. Ja, mehr noch, sie nahm Kontakt mit ➤ Himmler auf, um sich vor<br />

weiteren jüdischen Einreisenden besser schützen zu können, und verlangte eine Kennzeichnung<br />

der Reisepässe der Juden mit einem „J“. Und in Wien ergaben sich infolge der einsetzenden<br />

antijüdischen Gesetzesflut, des Kennkartenzwangs und der Annahme des<br />

Zusatzvornamens „Israel“ oder „Sara“ für die Polizeiämter viele zusätzliche Belastungen.<br />

Zur Finanzierung der erhöhten Ansprüche an die Israelitische Kultusgemeinde Wien führte<br />

Eichmann auch ein Gespräch mit verantwortlichen Leuten der Reichsbank. Von den Geldern,<br />

die die ausländischen Hilfsorganisationen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien<br />

zur Verfügung stellten, sollten Auswanderern die benötigten Devisen abgegeben werden,<br />

sie hatten jedoch dafür den doppelten Kurswert zu bezahlen. Dieses Agio kam der Kultusgemeinde<br />

zur Erfüllung ihrer vielfachen sozialen Aufgaben zugute. Die Idee einer zentralen<br />

Stelle, von der die jüdischen Auswanderer schneller abgefertigt werden könnten, beschäftigte<br />

Eichmann immer mehr. Die Finanzierung dieser Zentralstelle sollte in Form einer<br />

Auswanderungsabgabe erfolgen. Jeder auswandernde Jude hatte vor der Paßeinreichung<br />

seine Bemessungsgrundlage berechnen zu lassen, die zwischen einem und zehn Prozent<br />

des Vermögens betrug. Vermögenslose Juden hatten mindestens fünf Reichsmark zu bezahlen.<br />

Derart gelangte die Zentralstelle zu so vielen Geldern, daß sie später die Israelitische<br />

Kultusgemeinde damit subventionierte und die Kosten des Abtransportes der Juden in die<br />

Vernichtungslager bestritt. Allein 1939 gewährte die Zentralstelle für jüdische Auswanderung<br />

der Israelitischen Kultusgemeinde Wien eine Subvention von RM 977.000,-. 14 Den<br />

Gedanken der Schaffung einer Zentralstelle für jüdische Auswanderung trug Eichmann<br />

schließlich seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Chef des SD-Oberabschnittes Österreich,<br />

Dr. Franz Stahlecker, vor und fand dessen Zustimmung. Auch ➤ Heydrich war dafür,<br />

wie auch die Stadt Wien und der Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs<br />

mit dem Deutschen Reich diesem Plan zustimmten. Anfang August 1938 nahm die Zentralstelle<br />

für jüdische Auswanderung in Wien, die offiziell dem SD-Oberabschnitt Österreich<br />

unterstellt war, ihre Arbeit auf. 15<br />

Mit der Leitung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung wurde Adolf Eichmann<br />

betraut, der sofort seine Männer hierher holte. Es waren dies Theodor Dannekker, Rolf und<br />

Hans Günther, Franz Novak, im Herbst 1938 wurde Alois Brunner eingestellt, ein Jahr<br />

später folgte ihm Anton Brunner. Mit der Arbeitsaufnahme der Zentralstelle für jüdische Auswanderung<br />

wurde mittels Druck und Einschüchterung die erzwungene Auswanderung von<br />

Juden wesentlich erhöht. Waren vom „Anschluß“ bis zum Juli 1938 rund 18.000 Juden vertrieben<br />

worden, so betrug diese Zahl für die Zeit August bis Oktober 1938 32.000, und<br />

bis zum Juli 1939 flüchteten weitere 54.000 Juden aus Österreich. Ende November 1939<br />

hatten insgesamt 126.445 Juden inklusive der im Oktober 1939 nach Nisko Deportierten<br />

Österreich verlassen. In diesen eineinhalb Jahren haben amerikanische jüdische Hilfsorganisationen<br />

1,6 Millionen Dollar für Auswanderungszwecke der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

zur Verfügung gestellt. 16<br />

In einem Artikel „Die Judenfrage – ein brennendes Problem“ berichtete der „Völkische<br />

Beobachter“ (Wiener Ausgabe) am 13. Mai 1939, daß „nach zehnmonatiger Tätigkeit“<br />

die Zentralstelle für jüdische Auswanderung stolz darauf sein könne, „insgesamt 99.672<br />

Juden mosaischer Konfession“ zur Auswanderung gebracht zu haben.<br />

24 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung erregte schon sehr bald nach ihrer Gründung<br />

Aufmerksamkeit im Dritten Reich und genoß in NS-Kreisen größtes Ansehen. Bei der<br />

Sitzung im Reichsluftfahrtministerium am 12. November 1938, zwei Tage nach dem ➤ Novemberpogrom,<br />

berichte Heydrich, daß die Zentralstelle für jüdische Auswanderung aus<br />

„Österreich immerhin 50.000 Juden herausgebracht“ habe, „während im Altreich in der<br />

gleichen Zeit nur 19.000 Juden“ ausgewandert seien. Dazu meinte ➤ Göring hämisch:<br />

„Vor allen Dingen habt ihr mit den örtlichen Führern der grünen Grenze zusammengearbeitet.<br />

Das ist die Hauptsache.“ 17<br />

Und Ministerialrat Bernhard Lösener vom Reichsministerium des Inneren sprach anerkennende<br />

Worte über die Zentralstelle für jüdische Auswanderung. „Unter seiner (Eichmanns)<br />

Führung durchwanderte ich sämtliche Auswanderungseinrichtungen, die er in Wien<br />

geschaffen hatte. (…) Die Korridore vor den unterschiedlichen Büros (…) waren gedrängt<br />

voll von jüdischen Menschen (…) Frauen rissen ihre Kinder erschreckt beiseite, sobald sie<br />

Eichmann sahen, der unbekümmert wie auf leerer Straße dahinging und alles beiseite<br />

stieß, was da an menschlichem Unglück harrte (…) Im Büro der Synagogengemeinde (Kultusgemeinde)<br />

sprangen alle sofort hoch, als wir eintraten (…) Eichmann rief sie beim Namen<br />

auf, (…) gab ihre Aufgaben an,und sofort surrten sie wie dressierte Tiere ihre Angaben<br />

herunter. Der Ausdruck berechtigter Todesangst war auf jedem Gesicht zu lesen.“ 18<br />

Göring schien trotz seiner skeptischen Worte an Heydrich von der Leistung der Zentralstelle<br />

für jüdische Auswanderung in Wien überrascht und beeindruckt gewesen zu sein,<br />

denn am 24. Jänner 1939 erteilte er Heydrich den Auftrag, in Berlin eine „Reichszentrale<br />

für jüdische Auswanderung“ zu errichten. 19 Sie wurde erst im Herbst 1939 gegründet und<br />

im ➤ Reichssicherheitshauptamt eingebaut. Auch hier wurde Eichmann mit der Leitung betraut.<br />

Vorerst jedoch wurde am 26. Juli 1939 in Prag eine Zentralstelle für jüdische Auswanderung<br />

errichtet, die von Eichmann persönlich geleitet wurde. Und später, 1940, wurde<br />

nach der Besetzung der Niederlande selbst in Amsterdam eine Zentralstelle eingerichtet.<br />

Unstimmigkeiten bei der Erfassung von arbeitsfähigen Männern zwischen der Israelitischen<br />

Kultusgemeinde und der Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion führten im September<br />

1939 zu einer Registrierung aller in Österreich lebenden Juden im Sinne der ➤ Nürnberger<br />

Gesetze. Die erfaßten Personen mußten karteimäßig der Zentralstelle für jüdische<br />

Auswanderung übergeben werden und ständig à jour gehalten werden. Daneben wurde<br />

eine neuerliche Erfassung des jüdischen Vermögens bei den hier noch befindlichen Juden<br />

durchgeführt. 20 Damit war ein Weg aufgezeigt, den Eichmann und jede ihm unterstellte<br />

Stelle bei der Endlösung der „Judenfrage“ vorerst beschritt. Die Juden, einmal zahlen-,<br />

namens- und adressenmäßig erfaßt, ihre Vermögenswerte bekanntgegeben, waren leicht in<br />

Vernichtungslager abzutransportieren.<br />

In Österreich und in Mährisch-Ostrau versuchten Eichmann und Stahlecker auch die ersten<br />

Deportierungen, um Erfahrungen beim Abtransport größerer Menschenmengen zu bekommen.<br />

Während der Kämpfe in Polen, im September 1939, kamen sie auf den glorreichen<br />

Gedanken, selbst da ein Judenreservat einzurichten. Juden aus Wien und Mährisch-<br />

Ostrau wurden in je zwei Transporten dahin verschickt. Dafür wurde sogar in Mährisch-<br />

Ostrau kurzfristig eine Zentralstelle für jüdische Umsiedlung eingerichtet. Diese Art einer territorialen<br />

Lösung der „Judenfrage“ scheiterte an Hitlers Einspruch. Für ihn gab es nur eine<br />

Entfernung der Juden aus dem Dritten Reich oder deren Vernichtung.<br />

Mit der Ausweitung des Krieges verlor die Auswanderung der Juden immer mehr ihre Bedeutung.<br />

Nach dem Kommissarerlaß Hitlers im Juni 1941 21 erteilte Göring am 31. Juli<br />

1941 22 den Auftrag, die Endlösung der „Judenfrage“ in Angriff zu nehmen. Die Vernichtung<br />

der im Reich verbliebenen und der in den besetzten Gebieten befindlichen Juden war<br />

nun beschlossene Sache, die bei der berüchtigten ➤ „Wannsee-Konferenz“ 23 lediglich nur<br />

mehr die staatliche Administration in diesen Prozeß einbezog. Die Zentralstellen für jüdische<br />

Auswanderung waren ausersehen, die Deportationen in die ➤ Vernichtungslager<br />

durchzuführen. Aus den bei diesen Stellen aufliegenden Namenskarteien wurden die<br />

Deportationslisten zusammengestellt, und aus den bis 1941 eingehobenen, aber für jeden<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

25<br />

Jonny Moser<br />

Die Wiener<br />

Zentralstelle als<br />

Vorbild


Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien<br />

zur Deportation bestimmten Juden zu bezahlenden Auswanderungs- bzw. Abwanderungsabgaben<br />

wurden die Kosten für den Abtransport bestritten.<br />

Am Beispiel Wiens ersieht man, daß nach den großen Deportationsaktionen im Herbst<br />

1942 die Aufgaben der Zentralstelle erfüllt waren. Die Zentralstelle übersiedelte aus dem<br />

Rothschild-Palais in die jüdische Schule in Wien II, Castellezgasse 35, und wurde im März<br />

1943 aufgelöst. Die Agenden für die hier verbliebenen restlichen Juden wurden der Gestapo<br />

übergeben. Der letzte Leiter der Wiener Zentralstelle, Alois Brunner, wurde nach Saloniki<br />

abkommandiert, um die Deportierung der griechischen Juden zu organisieren. Die Abteilung<br />

Eichmanns im Reichssicherheitshauptamt und Eichmanns Handlanger wurden die Exekutoren<br />

des Genozids an den Juden Europas.<br />

1 Gerhard Botz: Wien vom „Anschluß“ zum Reich, Wien-München<br />

1978, S. 252f.<br />

2 Eichmann-Prozeß Jerusalem, Beweisdokument Nr. 1512; Herbert<br />

Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in<br />

Österreich 1938-1945, Wien - München 1978, S. 71.<br />

3 Jewish Telegraphic Agency: Bulletin 186 v. 14.3.1938 ; Rosenkranz<br />

(Anm. 2), S. 51.<br />

4 Rosenkranz (Anm. 2), S. 49.<br />

5 Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes: DÖW<br />

1972 Siehe auch: J. Moser: Das Schicksal der Wiener Juden in den<br />

März- und Apriltagen 1938, in: März 1938, Forschungen und<br />

Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte II, Wien 1978, S. 175.<br />

6 Widerstand und Verfolgung in Wien 1934-1945. <strong>Hrsg</strong>. Dokumentationsarchiv<br />

des Österreichischen Widerstandes, Bd. III, Wien<br />

1975, S. 229.<br />

7 J. Moser (Anm. 5), S. 176.<br />

8 Jewish Telegraphic Agency: Bd. IV, Nr. 16, 19.4.1938.<br />

9 Eichmann-Prozeß Jerusalem, Beweisdokument Nr. 1515.<br />

Aus: Kurt Schmidt/Robert Streibel (<strong>Hrsg</strong>.):<br />

Der Pogrom 1938. Judenverfolgung in Österreich und Deutschland,<br />

Picus Verlag, Wien 1990, S. 96–100<br />

10 ebenda, Beweisdokument Nr. 1169 und Nr. 1513.<br />

11 ebenda, Beweisdokument Nr. 1515.<br />

12 ebenda.<br />

13 Widerstand (Anm. 6), S. 235, Anm. 1.<br />

14 ebenda, S. 235f Allg.Verwaltungsarchiv, Rk 209 (2240/4).<br />

15 Report of the Vienna Jewish Community. <strong>Hrsg</strong>. Benjamin Murmelstein,<br />

Wien 1940, S. 140.<br />

16 Botz (Anm. 1), S. 252f.<br />

17 ebenda, S. 253f.<br />

18 Nürnberger Dokument PS 1816.<br />

19 Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte, Juli 1961, S. 292.<br />

20 Nürnberger Dokument PS 710.<br />

21 Jüdisches Nachrichtenblatt (Wien), 8. und 15.9.1939.<br />

22 H. Jacobsen, Kommissarerlaß und Massenexekution sowjetischer<br />

Kriegsgefangener, in: Anatomie des SS-Staates, dtv-Taschenbuchverlag,<br />

Nr. 463, München 1967, Bd. II, S. 143ff.<br />

23 Robert M. W. Kempner: Eichmann und Komplizen, Zürich – Stuttgart<br />

– Wien 1961, S. 126ff.<br />

26 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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DELOGIERT, DEPORTIERT, ERMORDET<br />

GEORG SCHEUER<br />

Meine Eltern Heinrich und Alice Scheuer wurden am 1. August 1938 wegen „nichtarischer“<br />

Herkunft aus ihrer Wohnung im Gemeindehaus Wien 3., Neulinggasse 39,<br />

delogiert, dann „umgesiedelt“ und schließlich 1942 deportiert und ermordet.<br />

Sie waren als junge Menschen zu Beginn des Jahrhunderts nach Wien gekommen,<br />

meine Mutter aus Temesvar und mein Vater aus Schaffa bei Znaim (Südmähren). Vor dem<br />

Ersten Weltkrieg hatten sie sich kennengelernt und geheiratet und wohnten bis 1925 im<br />

3. Bezirk, in einer „Zinskaserne“, Matthäusgasse 12 (Zimmer, Küche, Kabinett, Klo und<br />

Bassena am Gang mit anderen Wohnparteien). Hier wohnte schon meine Großmutter<br />

Rosa Scheuer mit ihren Kindern, hier kam ich 1915 zur Welt und verbrachte meine ersten<br />

zehn Lebensjahre.<br />

Mein Vater war seit 1908 Redakteur des „K. k. Telegrafenbüros“ – nach dem „Umsturz“<br />

„Amtliche Nachrichtenstelle“ – und somit Staatsangestellter. Ab 1918 waren meine Eltern<br />

Mitglieder der SDAPÖ. 1925 übersiedelten wir in den 7. Bezirk, Neustiftgasse 54. Die<br />

Wohnung war etwas größer, jedoch im obersten Stockwerk ohne Lift. 1931 bekamen wir<br />

nach längerer Wartezeit die Gemeindewohnung in der Neulinggasse, aus der wir dann<br />

1938 delogiert wurden. Zugleich wurde mein Vater nach dreißigjähriger Tätigkeit für den<br />

österreichischen Staat entschädigungslos „beurlaubt“.<br />

In der Neulinggasse wohnten wir zu viert, meine Eltern, meine Schwester und ich, sieben<br />

Jahre lang seit der Errichtung des Hauses. Es war 1930/31 unter dem Bürgermeister<br />

Karl Seitz gebaut worden. Amtsführender Stadtrat war damals ➤ Hugo Breitner für Finanzen<br />

und ➤ Anton Weber für Wohnungswesen. Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer,<br />

einem Schlafzimmer, zwei Kabinetten und einer kleinen Küche, in der wir eine<br />

Duschnische eingebaut hatten, da ein Badezimmer nicht vorgesehen war. Vom Wohnzimmer<br />

ging ein kleiner Balkon auf den Innenhof. Ich sah meine Eltern 1938 zum letztenmal.<br />

Meinen Vater am 11. März, wenige Stunden vor dem Einmarsch der Hitlertruppen („Anschluß“).<br />

Er war damals 53 Jahre alt, ich 22. Ich war einige Wochen vorher, nach der<br />

von Bundeskanzler ➤ Schuschnigg verfügten politischen Generalamnestie, aus dem Zuchthaus<br />

Stein entlassen worden und in unsere Wohnung in die Neulinggasse 39 zurückgekehrt,<br />

wo ich im November 1936 wegen „roter“ Agitation und Propaganda verhaftet worden<br />

war. Ich war zu fünf Jahren Kerker verurteilt und am 19. Februar amnestiert und freigelassen<br />

worden. Mein Vater, der sich von mir politisch distanziert hatte, verhalf mir an<br />

jenem 11. März 1938 zu einer rechtzeitigen Ausreise, Emigration. Meine Mutter, sie war<br />

49 Jahre alt, begleitete mich mit einem letzten Autobus nach Znaim, wo uns die Nachricht<br />

vom soeben begonnenen Überfall der Hitlertruppen auf Österreich überrumpelte. Trotz<br />

dieses Ereignisses kehrte meine Mutter nach Wien in die Neulinggasse zurück. Beide Eltern<br />

waren überzeugt, daß ihnen als loyalen Staatsbürgern, meinem Vater insbesondere<br />

als loyalem Staatsbeamten unter drei Regimen (Monarchie, Republik, Ständestaat), „nichts<br />

passieren“ könne.<br />

Im Juni 1938 erhielt mein Vater von einem Ferdinand Holzer, Obermagistratsrat des nun<br />

von den Nazis verwalteten Wiener Magistrats, eine „Aufkündigung“, laut welcher unsere<br />

Wohnung bis spätestens 1. August 1938, 12 Uhr mittags, „geräumt zu übergeben“ war.<br />

Verzweifelt und vergeblich wehrten sich Heinrich und Alice Scheuer gegen das Unrecht.<br />

Mein Vater erhob am 29. Juni 1938 Einspruch gegen die Kündigung in einem Schreiben<br />

an die Nazibehörden (siehe Kasten S. 28).<br />

Er erhielt daraufhin am 7. Juli 1938 von der ➤ Magistratsabteilung 21 eine „Ladung“ zu<br />

einer „Verhandlung“ am 11. Juli 1938 im Zimmer 74, Verhandlungssaal VIII, 3. Stock, und<br />

am folgenden Tag einen schriftlichen Bescheid: „Kündigung ist nunmehr rechtskräftig.“ Die<br />

Wohnung wurde nun einem Michael Gilhofer neu vermietet.<br />

Die „arischen“ Nachbarn verhielten sich, nach Aussage meiner Schwester, die noch<br />

bis September 1938 in Wien weilte, zu diesen Vorgängen passiv, zum Teil jedoch<br />

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27<br />

Delogierung<br />

aufgrund<br />

„nichtarischer“<br />

Herkunft<br />

Vom Staat<br />

entschädigungslos<br />

„beurlaubt“<br />

Vergebliche<br />

Einsprüche gegen<br />

die „Kündigung“<br />

Passives Verhalten<br />

„arischer“ Nachbarn


Delogiert, deportiert, ermordet<br />

EINSPRUCH GEGEN DIE KÜNDIGUNG VOM 29.6.1938 AN DIE NAZIBEHÖRDE<br />

„Ich habe heute die gerichtliche Verständigung erhalten, daß ich meine<br />

Wohnung, 3., Neulinggasse 39, mit Ende Juli d. Js. zu räumen habe.<br />

Ich bitte um gütige Rücknahme der Kündigung u.zw. mit folgender<br />

Begründung.<br />

Seit meiner Kindheit wohne ich in Wien bzw. sind meine Eltern, Großeltern<br />

und Urgroßeltern nachweisbar in Österreich angesiedelt.<br />

Mit meinem 18. Lebensjahr trat ich in den Staatsdienst, Amtliche Nachrichtenstelle.<br />

Während des Krieges, den ich wegen meines gelähmten Beines nicht<br />

mitmachen konnte, war ich in der Redaktion der Amtlichen Nachrichtenstelle<br />

so wie andere Kollegen bei der damals besonders verantwortungsvollen Kriegsberichterstattung<br />

mittätig.<br />

Nach dem Kriege wurde ich Lokalberichterstatter und als solcher fast zwanzig<br />

Jahre Kommunalreferent der Gemeinde Wien für die Amtliche Nachrichtenstelle,<br />

also sowohl für den Staat als auch für die Stadt amtlich tätig, meine<br />

Pflichten stets korrekt und ordentlich erledigend.“<br />

In einem zweiten Absatz fügte Heinrich Scheuer hinzu:<br />

„Wenn es erlaubt ist, meine Bitte um Zurücknahme der Wohnungskündigung<br />

auch mit privaten Gründen zu unterstützen, so wäre es u.a. der Umstand,<br />

daß ich szt. 1931, als ich hier einzog, eine Mieterschutzwohnung, VII,<br />

Neustiftgasse 54, die sehr billig war, dem Wohnungsamt zur Verfügung stellte,<br />

daß ich gegenwärtig noch immer als aktiver, allerdings beurlaubter Staatsbeamter<br />

der in Liquidation befindlichen Amtlichen Nachrichtenstelle figuriere,<br />

da mein Personalakt zur Behandlung im Bureau des Herrn Staatssekretärs<br />

Dr. Wächter erliegt, daß ich also gar nicht weiß, wie sich mein künftiges<br />

Schicksal gestalten werde, welche Höhe die Pension haben wird, also auch<br />

nicht weiß, welche Wohnung ich mir werde nehmen können, wobei ja auch<br />

nur eine Mittelwohnung wie bisher und im 1. Stockwerke wegen meines<br />

Leidens in Betracht kommen kann, und ich ja noch für zwei unversorgte<br />

Kinder sorgen muß.<br />

Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, daß ich mich niemals politisch<br />

betätigt habe und daß ich mit meinen Berufskollegen aus allen Zeitungen<br />

ebenso gut ausgekommen bin wie hier im Hause mit allen Parteien, worüber<br />

ich jederzeit in der Lage wäre, dies bestätigen zu lassen.<br />

Aus all diesen Gründen wiederhole ich die Bitte, mein Ansuchen um<br />

Rücknahme der Wohnungsaufkündigung einer geneigten Befürwortung den<br />

in Betracht kommenden Stellen zu unterbreiten.“<br />

28 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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estürzt oder jedenfalls „korrekt“. Erwähnenswert ist eine Episode mit unserem damaligen<br />

Nachbarn H. Bujak. Er war bis 1934 Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“ gewesen, stand<br />

dann den Revolutionären Sozialisten nahe, hatte aber auch Verbindung zu illegalen Nationalsozialisten.<br />

Er empfand den Sturz der ➤ Schuschnigg-Diktatur, die ihn brotlos gemacht<br />

hatte, als Befreiung, wurde vom Jubelrausch des „Anschlusses“ mitgerissen und versicherte<br />

seinem Journalistenkollegen Heinrich Scheuer, dem unter dem Schuschnigg-Regime der Titel<br />

eines „Regierungsrates“ verliehen worden war und der ihm, Bujak, in diesen vier Jahren<br />

Austrofaschismus gelegentlich Hilfe und Gelegenheitsarbeiten verschafft hatte, er,<br />

Heinrich Scheuer, habe nach dem neuen Regimewechsel 1938 nichts zu befürchten: Er,<br />

Bujak, habe Beziehungen zur illegalen NSDAP, und man könne auf seine Solidarität als<br />

Wohnnachbar und Journalistenkollege rechnen. Dies war meines Erachtens ehrlich gemeint<br />

und entsprach seinem Charakter, wie ich ihn in den vorhergehenden Jahren seit<br />

1934 kennengelernt hatte. Bujak war mutig, riskierte einiges im illegalen Untergrund gegen<br />

die Schuschnigg-Diktatur, und es zeugte auch von Mut, in den Tagen nach dem nazideutschen<br />

Einmarsch demonstrativ zum „Juden“ Scheuer rüberzukommen und diesem die<br />

Hand zu schütteln. Heinrich Scheuer war von dieser Demonstration offensichtlich einigermaßen<br />

überrascht und reagierte mit betonter Zurückhaltung. Er hatte das Ausmaß der nun<br />

hereinbrechenden Barbarei nicht vorhergesehen und war überfordert. Dies erklärt auch<br />

die Lähmung in den folgenden Monaten, in welchen nichts Wirksames unternommen wurde,<br />

um eine Ausreise zu bewerkstelligen.<br />

Meine Eltern mußten nun in eine winzige Wohnung im 5. Bezirk, Siebenbrunnengasse<br />

65, übersiedeln. Hier konnten sie nur 20 Monate bleiben, bis zum 2. Jänner 1940. Sie<br />

zogen dann in eine noch kleinere Wohnung im 3. Bezirk, Gärtnergasse 8. Hier war die<br />

Bleibe 18 Monate bis zum 30. Juni 1941. Schließlich wurden sie am 1. Juli 1941 in das<br />

Ghetto im 2. Bezirk, Czerningasse 12, gepfercht und nach zehn Monaten, am 20. Mai<br />

1942, nach Minsk deportiert und in der Nähe dieser Stadt, in Mali-Trostinetz ermordet.<br />

Ihre letzte Botschaft erreichte meine Schwester Rose Scheuer in London über das Internationale<br />

Rote Kreuz, datiert vom 24. Februar 1942, abgestempelt am 12. März.<br />

Von sechzig Mietparteien des Hauses wurden zwölf von den Nazibehörden als „nichtarisch“<br />

befunden. Alle mußten in den Monaten nach dem „Anschluß“ ihre Wohnung<br />

räumen.<br />

Als erster verließ Franz Beer (Stiege 4/Tür 15) im Mai 1938 seine Wohnung; sie wurde<br />

am 3. Juni einem Leopold Bauer neu vermietet.<br />

Der Buchsachverständige Jakob Antschel (Stg. 4/12) verwies in einem Beschwerdebrief<br />

auf seine alte, kranke Mutter und auf seinen Bruder Dr. Maximilian Antschel: „Er war Offizier,<br />

Frontkämpfer, kriegsverwundet und ausgezeichnet (Kriegsdekorationen) und ist an den<br />

Folgen des Krieges im Jahr 1931 gestorben.“ Es nützte ihm nichts. Seine Wohnung wurde<br />

am 1.10.1938 einem Kurt Marschelke übergeben.<br />

Dr. Eduard Eisler (Stg. 4/14) war Bundesbeamter, von ihm liegt kein Beschwerdebrief<br />

vor. Seine Wohnung bekam im August ein Rudolf Kosnar.<br />

Eduard Engel (Stg. 3/3) war Gewerkschaftssekretär. Er begnügte sich mit zwei Zeilen<br />

Einspruch. Seine Wohnung bekam im August ein Hubert Lusun.<br />

Dr. Hermann Gaschke (Stg. 1/6) war Rechtanwalt. Auch von ihm liegt kein Einspruch<br />

vor. Seine Wohnung bekam am 29. Juli ein Rudolf Wessely.<br />

Max Gewürz (Stg. 3/10) war Kaufmann. Er begnügte sich mit zwei Zeilen „Einwendungen“.<br />

Seine Wohnung bekam im November 1938 ein Dr. Karl Hofbauer.<br />

Olga Kleebinder (Stg. 1/3) war anscheinend ohne Beruf. Es liegt nichts Näheres vor,<br />

wer die Wohnung im Dezember bekam.<br />

Professor Oskar Kreisky (Stg. 1/7), ein Onkel des späteren Bundeskanzlers, bemühte den<br />

Rechtsanwalt Dr. Ignaz Berl und machte Einwendungen. Er mußte trotzdem im August ausziehen.<br />

Seine Wohnung bekam ein Johann Ableidinger.<br />

Der Bankbeamte Dr. Otto Mandl (Stg. 4/6) bat um „Erstreckung des Kündigungstermines<br />

auf Ende September“ und verwies auf seine beiden kleinen Kinder, vier Jahre und fünf<br />

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29<br />

Georg Scheuer<br />

Zwangsübersiedlung


Delogiert, deportiert, ermordet<br />

Wochen alt. Er hoffte, bis Ende September eine Ausreisemöglichkeit zu haben, und schrieb<br />

am 1. Juli 1938: „Mit den kleinen Kindern wäre ein Umzug für die Frist unseres hiesigen<br />

Aufenthaltes sehr schwierig und bitte ich daher um Verlängerung des Kündigungstermines.“<br />

Dennoch wurde die Kündigung am 30. Juli für den 1. August bestätigt. Die Wohnung bekam<br />

ein Hubert Lusun.<br />

Dr. Than (Stg. 4/5), ein Bankbeamter, bat, ihm die Wohnung wenigstens bis zum 30.<br />

September mit seinen Kindern zu belassen. Seine Frau, Anna Nicoletta Than, präsentiert<br />

sich als „Arierin“ und unterzeichnet „ergebenst“ mit „Heil Hitler!“<br />

„Ich bewohne mit meiner Familie die Wohnung Nr. 5 des städtischen Hauses 3. Bezirk,<br />

Neulinggasse 39, Stiege IV. Ich selbst bin Arierin, römisch-katholisch, meine Kinder, ein<br />

dreizehnjähriger Bub und ein siebenjähriges Mädchen, sind Mischlinge. Mit unserem Pensionseinkommen<br />

von Reichsmark 182,- monatlich ist es sehr schwer, bei Aufrechterhalten<br />

der Kündigung in der Zeit bis zum 31.7.38 eine andere Wohnung zu finden, und meine<br />

Lage ist dadurch noch besonders erschwert, daß ich einen Nervenzusammenbruch erlitten<br />

habe und infolge meines leidenden Zustandes (häufige Ohnmachtsanfälle) den Aufregungen<br />

einer Wohnungssuche und Übersiedlung nicht gewachsen bin.“ Sie wurde dennoch<br />

am 25. August gekündigt, die Wohnung bekam eine Katharina Schredt.<br />

Schließlich ersuchte auch Dr. Kolmann, Vertrauensarzt der Krankenkasse, vergeblich um<br />

„Aufschub“. Seine Wohnung bekam ein Alfred Lugner.<br />

Mit meinen Eltern Heinrich und Alice wurden damals ausnahmslos alle meine in Mitteleuropa<br />

verbliebenen Familienangehörigen von den Nazibehörden verhaftet, deportiert und<br />

ermordet. So Heinrichs Schwester Lina und deren Mann Hermann Hahn in Stockerau, seine<br />

Schwester Therese und deren Mann Moritz Kubin in Wien 7., Seidengasse, Heinrichs Bruder<br />

Julius Scheuer und Neffe Felix Hauser in Wien 3., Krieglergasse, Siegfried und Ernst<br />

Scheuer in Mähren. Sie alle wurden mit Millionen Schicksalsgenossen im „Holocaust“ der<br />

vierziger Jahre grausam vernichtet.<br />

Und nun die immer wiederkehrende bohrende Frage: Mußte das so ablaufen? Meine<br />

Mutter war nach dem „Anschluß“ im März 1938 mit mir bereits in der Tschechoslowakei.<br />

Sie mußte keineswegs in das Nazireich zurückkehren. Sie hätte ihren Mann nachkommen<br />

lassen können, wie ich es ihr in Znaim eindringlich riet, und mit ihm wie die beiden „Kinder“<br />

Georg und Rose den Nazischergen entrinnen können.<br />

Immer wieder hatte ich meinen Eltern damals und schon in den Jahren davor das Wesen<br />

des Faschismus und insbesondere des Nazifaschismus zu erklären versucht und ihnen<br />

prophezeit: „Sie werden euch ausrotten.“ Hitler war ja schon seit 1933 in Deutschland<br />

an der Macht und hatte seit 1924 in „Mein Kampf“ alles angekündigt. Tausendfach hatten<br />

wir die Sprechchöre gehört: „Juda verrecke!“ Meine Eltern hatten das nicht ernstgenommen.<br />

Meine Mahnungen und Warnungen wurden in den Wind geschlagen, als dummes Gerede<br />

eines 23jährigen „Weltfremden“ abgetan. Ich wurde als „Spinner“ ausgegrenzt. Meine<br />

Eltern, insbesondere mein Vater, vertrauten fest auf ihre „Bürgerrechte“, auf „Mieterschutz“,<br />

auf „Ersparnisse“ und auf „Pensionsansprüche“. Sie nahmen die offen und zynisch<br />

angekündigten Vernichtungspläne der Hitlerdiktatur nicht zur Kenntnis. Bis zur fristlosen Entlassung,<br />

Delogierung, Enteignung, Beraubung und Deportation. Es ist grausam, diesen Tatbestand<br />

auch 50 Jahre später festzuhalten. Aber es ist doch notwendig für die Nachgeborenen,<br />

einige Lehren daraus zu ziehen.<br />

Aus: Herbert Exenberger u.a.: Kündigungsgrund „Nichtarier“.<br />

Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Gemeindebauten in den Jahren 1938-1939.<br />

Picus Verlag, Wien 1996, S. 194 – 200.<br />

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ANSUCHEN UM EINE GESCHÄFTSÜBERNAHME<br />

Hoch geehrter Herr Minister!<br />

Gestatten Sie, dass ich in nachfolgender Angelegenheit an Sie herantrete<br />

und um Ihre Unterstützung bitte.<br />

Ich bewerbe mich im Arisierungsweg um die Firma Adolf Huppert,<br />

I., Opernring 13 und lauft mein Gesuch (…) seit Wochen.<br />

Es hat noch ein zweiter Bewerber eingereicht.<br />

Dieses Geschäft soll die Basis für die Lebensexistenz meines Sohnes Hartmann<br />

Decker sein (ill. Pg.). [d. h. illegaler Parteigenosse]<br />

Sie, verehrter Herr Minister, kennen meine Lauterkeit, meine selbstlose<br />

Tätigkeit durch 25 Jahre für das österreichische Bekleidungsgewerbe und<br />

würden einige Wort von Ihrer Seite meinen Bestrebungen förderlich sein.<br />

Mein betont nationaler Standpunkt während meiner Handelskammertätigkeit<br />

(deutsch-österr. Ausschuss für Anschluss, resp. Zollunion) hat es mit sich<br />

gebracht, dass ich durch Schuschnigg und besonders Bürgermeister Schmitz<br />

zurückgestellt wurde und ich jede Mitarbeit einstellte.<br />

Bin Parteimitglied seit Mai 1938.<br />

Da in wenigen Tagen die Entscheidung in dieser Arisierungssache fallen muss,<br />

wollte ich sie bitten, mich gütigst zu empfangen.<br />

Heil Hitler!<br />

Ihr ergebener Carl Decker 1<br />

1 AVA, Handelsministerium, Präs., Auskünfte 1938,<br />

Karton 707, Zl. 2417 – 1938,<br />

Schreiben Kommerzialrat Carl Decker, 19.12.1938<br />

Aus: Hans Safrian, Hans Witek: Und keiner war dabei.<br />

Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938.<br />

Picus Verlag, Wien 1988, S. 109f.<br />

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31


Zwangsarbeit im „Dritten Reich“<br />

Ein Überblick<br />

Dimensionen der Zwangsarbeit<br />

in Österreich<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Zwangsarbeit<br />

Zwangsarbeit wurde während des Nationalsozialismus in fast allen Bereichen der deutschen<br />

und der österreichischen Wirtschaft, sowohl in den großen Betrieben der Rüstungsindustrie<br />

wie auch im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, in kleineren Gewerbebetrieben, im<br />

Fremdenverkehr und in Haushalten geleistet.<br />

Obwohl die Bedeutung der Zwangsarbeit für die nationalsozialistische Wirtschafts- und<br />

Rüstungspolitik schon unmittelbar nach dem Krieg bekannt war, ist „Zwangsarbeit“ in der<br />

Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Österreich erst in jüngster Zeit zum<br />

Thema geworden.<br />

Im gesamten Deutschen Reich waren es schätzungsweise mehr als 12 Millionen Menschen<br />

(siehe der Beitrag von Ulrich Herbert im vorliegenden Band), die – hauptsächlich<br />

zwischen 1939 und 1945 – zwangsweise zur Arbeit eingesetzt wurden. Zwangsarbeit<br />

wurde sowohl von Kriegsgefangenen, von zivilen ausländischen Arbeitskräften, von KZ-<br />

Häftlingen, von Roma und Sinti, ungarischen Juden und Jüdinnen und anderen diskriminierten<br />

und verfolgten Gruppen geleistet, von Männern ebenso wie von Frauen.<br />

Die Arbeits- und Lebensbedingungen der ZwangsarbeiterInnen waren sehr unterschiedlich,<br />

sowohl hinsichtlich ihres Status und ihres Einsatzbereiches als auch hinsichtlich ihrer<br />

nationalen Herkunft. Die zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen etwa kamen aus mehr<br />

als zwanzig Ländern, darunter aus Polen, der damaligen Sowjetunion, Frankreich, Italien,<br />

Holland, Belgien, Griechenland. Die sogenannten „Westarbeiter“ und „Westarbeiterinnen“<br />

standen in der rassistischen Hierarchie der Nationalsozialisten an oberster Stelle, Polen<br />

und Polinnen, sogenannte „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“, Roma und Sinti, Juden<br />

und Jüdinnen am Ende dieser Hierarchie.<br />

Ulrich Herbert schildert in seinem Beitrag den Verlauf des Zwangsarbeitseinsatzes im<br />

Deutschen Reich im Zusammenhang mit den kriegswirtschaftlichen Überlegungen der<br />

Nationalsozialisten und geht dabei auch auf die unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen<br />

von ZwangsarbeiterInnen ein.<br />

Bis auf wenige Ausnahmen in Gestalt deutscher Firmen ist in Deutschland und Österreich<br />

bis heute keine Entschädigung für Zwangsarbeit geleistet worden, entsprechende Anträge<br />

ehemaliger ZwangsarbeiterInnen wurden auch von den Gerichten immer wieder abgelehnt.<br />

Erst in der jüngsten Vergangenheit hat das Thema eine größere Öffentlichkeit gefunden.<br />

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende zeichnet sich in beiden Ländern nun<br />

möglicherweise eine Lösung der Entschädigungsfrage ab. Diskutiert werden allerdings<br />

noch Höhe und Form der Auszahlungen und ob sich außer betroffenen Firmen auch der<br />

deutsche bzw. der österreichische Staat an der Einrichtung von Fonds beteiligt.<br />

Der Zeithistoriker Florian Freund skizziert im Interview die Dimension der Zwangsarbeit<br />

für Österreich daher sowohl in historischer Perspektive als auch hinsichtlich der aktuellen<br />

Debatte über Entschädigung für Zwangsarbeit.<br />

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33


ZWANGSARBEITER IM „DRITTEN REICH“ – EIN ÜBERBLICK<br />

ULRICH HERBERT<br />

RüstungswirtschaftlicheVorbereitungen<br />

auf den<br />

Krieg – Mangel an<br />

Arbeitskräften<br />

Die Heranziehung von Millionen von Arbeitskräften zur Zwangsarbeit während des Zweiten<br />

Weltkrieges war eines der wesentlichen Kennzeichen nationalsozialistischer Arbeitspolitik<br />

– in Deutschland selbst wie im ganzen von den Deutschen besetzten Europa. Allerdings<br />

umfaßt der Begriff „Zwangsarbeiter“ eine Vielzahl von Personengruppen mit zum Teil sehr<br />

verschiedenen Arbeitsverhältnissen. Ihnen allen war gemeinsam, daß es ihnen verwehrt<br />

wurde, Arbeitsstelle und Arbeitgeber nach eigenem Willen auszusuchen oder zu verlassen<br />

und daß sie besonderen gesetzlichen oder sonstigen behördlichen Bestimmungen unterlagen,<br />

welche sie in der Regel besonders schlechten sozialen Bedingungen unterwarfen und<br />

ihnen rechtliche Einspruchsmöglichkeiten versagten. 1 Dabei ist der Begriff „Zwangsarbeit“<br />

vernünftigerweise deutlich abzusetzen von solchen Arbeitsverhältnissen, die zwar deutschen<br />

Reichsbürgern vorübergehend oder auf Dauer zugeordnet werden konnten, aber aufgrund<br />

der Gesamtwürdigung der Lebensumstände eher als Dienstverpflichtung denn als<br />

Zwangsarbeit zu bewerten sind – der Reichsarbeitsdienst etwa, die Dienstverpflichtung zum<br />

Bau der Autobahnen oder auch das „Landjahr“ für Mädchen.<br />

Es hat sich hierbei bewährt, drei große, in bezug auf Status, Art und Weise der Rekrutierung,<br />

soziale Lage, Rechtsgrundlage der Beschäftigung, Dauer und Umstände des Arbeitsverhältnisses<br />

sehr unterschiedliche große Gruppen voneinander zu unterscheiden:<br />

1. die ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen, die zwischen<br />

1939 und 1945 zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gebracht<br />

und im Volksmund „Fremdarbeiter“ genannt wurden; 2<br />

2. die Häftlinge der Konzentrationslager im Reichsgebiet sowie –<br />

in geringerem Umfang – in den besetzten Gebieten vor allem Osteuropas; 3<br />

3. die europäischen Juden, die in ihren Heimatländern, vor allem aber<br />

nach ihrer Deportation für kürzere oder längere Zeit Zwangsarbeiten<br />

verrichten mußten – in Gettos, Zwangsarbeitslagern oder KZ-Außenlagern. 4<br />

Nicht behandelt wird hier, abgesehen von den jüdischen Zwangsarbeitern, die Heranziehung<br />

von Bewohnern der von der Wehrmacht besetzten Länder zur Zwangsarbeit in diesen<br />

Ländern außerhalb der Konzentrationslager. Hierüber ist nicht nur der Forschungsstand ausgesprochen<br />

disparat, es werden in den verschiedenen Ländern auch ganz unterschiedliche<br />

Definitionen von „Zwangsarbeit“ verwendet, die von der zwangsweisen Arbeitsleistung in<br />

KZ-ähnlichen Lagern bis zur Dienstverpflichtung von Unterstützungsempfängern durch die<br />

einheimische Arbeitsverwaltung reichen.<br />

I.<br />

Der nationalsozialistische „Ausländereinsatz“ zwischen 1939 und 1945 stellt den größten<br />

Fall der massenhaften, zwangsweisen Verwendung von ausländischen Arbeitskräften in der<br />

Geschichte seit dem Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert dar. Im Spätsommer 1944 waren<br />

auf dem Gebiet des „Großdeutschen Reichs“ 7,6 Mio. ausländische Zivilarbeiter und<br />

Kriegsgefangene offiziell als beschäftigt gemeldet, die man größtenteils zwangsweise zum<br />

Arbeitseinsatz ins Reich gebracht hatte. Sie stellten damit zu diesem Zeitpunkt etwa ein<br />

Viertel aller in der gesamten Wirtschaft des Deutschen Reiches registrierten Arbeitskräfte.<br />

Gleichwohl war der „Ausländer-Einsatz“ von der nationalsozialistischen Führung vor<br />

Kriegsbeginn weder geplant noch vorbereitet worden.<br />

Bei den rüstungswirtschaftlichen Vorbereitungen Deutschlands auf den Krieg gab es drei<br />

große Engpässe – Devisen, bestimmte Rohstoffe und Arbeitskräfte. Für Devisen und Rohstoffe<br />

gab es eine Lösung: Nach dem Konzept der „Blitzkriege“ sollten die Ressourcen des<br />

Reiches sukzessive durch die Vorräte der zu erobernden Länder erweitert werden. Dieses<br />

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Konzept hatte sich in den Fällen Österreich und Tschechoslowakei bereits bewährt und sollte<br />

sich in den Jahren 1939 bis 1945 erneut bestätigen. Die Frage der Beschaffung von Arbeitskräften<br />

war schwieriger zu bewältigen, denn hier spielten außer wirtschaftlichen auch<br />

sicherheitspolizeiliche und vor allem weltanschauliche Faktoren eine Rolle. Etwa 1,2 Mio.<br />

Arbeitskräfte fehlten im „Großdeutschen Reich“, ein weiterer Anstieg dieses Bedarfs nach<br />

Beginn des Krieges war zu erwarten.<br />

Zwei Möglichkeiten standen zur Debatte: Entweder man beschäftigte – wie im Ersten<br />

Weltkrieg – deutsche Frauen in großem Umfang in der Wirtschaft, oder man importierte<br />

aus den zu erobernden Ländern Arbeitskräfte in großer Zahl. Beides aber stieß in der Regimeführung<br />

auf Ablehnung. Die Dienstverpflichtung deutscher Frauen während des Ersten<br />

Weltkriegs hatte zu erheblicher innenpolitischer Destabilisierung und Unzufriedenheit geführt;<br />

zudem hätte sie einen eklatanten Verstoß gegen das frauen- und sozialpolitische Konzept<br />

der Nationalsozialisten dargestellt. 5 Millionen von ausländischen Arbeitern, insbesondere<br />

von Polen, ins Reich zur Arbeit zu bringen, kollidierte vehement mit den völkischen<br />

Prinzipien des Nationalsozialismus, wonach auch eine massenhafte Beschäftigung von<br />

„Fremdvölkischen“ im Reich die „Blutreinheit“ des deutschen Volkes bedroht hätte.<br />

Die Entscheidung fiel erst nach Kriegsbeginn; im Vergleich zweier Übel schien der Ausländereinsatz<br />

gegenüber der Dienstverpflichtung deutscher Frauen das geringere zu sein,<br />

weil man hier die erwarteten Gefahren leichter repressiv eindämmen zu können glaubte.<br />

Die etwa 300.000 in deutsche Hand gefallenen polnischen Kriegsgefangenen wurden<br />

nun sehr schnell vorwiegend in landwirtschaftliche Betriebe zu Arbeit gebracht. Gleichzeitig<br />

begann eine Kampagne zur Anwerbung polnischer Arbeiter, die zunächst an die<br />

langen Traditionen der Beschäftigung polnischer Landarbeiter in Deutschland anknüpfte,<br />

aber nach kurzer Zeit zu immer schärferen Rekrutierungsmaßnahmen überging und seit<br />

dem Frühjahr 1940 in eine regelrechte Menschenjagd im sogenannten ➤ „Generalgouvernement“<br />

mündete, wo mit jahrgangsweisen Dienstverpflichtungen, kollektiven Repressionen,<br />

Razzien, Umstellungen von Kinos, Schulen oder Kirchen Arbeitskräfte eingefangen wurden.<br />

Bis zum Mai 1940 war auf diese Weise mehr als eine Million polnischer Arbeiter ins Reich<br />

gebracht worden.<br />

Gleichwohl empfand man den „Poleneinsatz“ in der Regimeführung nach wie vor als Verstoß<br />

gegen die „rassischen“ Prinzipien des Nationalsozialismus; den daraus erwachsenden<br />

„volkspolitischen Gefahren“, so ➤ Himmler im Februar 1940, sei mit entsprechend scharfen<br />

Maßnahmen entgegenzuwirken. Daraufhin wurde gegenüber den Polen ein umfangreiches<br />

System von repressiven Bestimmungen entwickelt: Sie mußten in Barackenanlagen wohnen,<br />

was sich allerdings auf dem Lande in der Praxis bald als undurchführbar erwies; sie erhielten<br />

geringere Löhne, durften öffentliche Einrichtungen (vom Schnellzug bis zur Badeanstalt)<br />

nicht benutzen, den deutschen Gottesdienst nicht besuchen; sie mußten länger arbeiten als<br />

Deutsche und waren verpflichtet, an der Kleidung ein Abzeichen – das „Polen-P“ – befestigt<br />

zu tragen. Kontakt zu Deutschen außerhalb der Arbeit war verboten, geschlechtlicher Umgang<br />

mit deutschen Frauen wurde mit öffentlicher Hinrichtung des beteiligten Polen geahndet.<br />

Um „das deutsche Blut zu schützen“, war zudem bestimmt worden, daß mindestens<br />

die Hälfte der zu rekrutierenden polnischen Zivilarbeiter Frauen zu sein hatten. 6<br />

Für die deutschen Behörden war der Modellversuch „Poleneinsatz“ insgesamt ein Erfolg:<br />

Es gelang sowohl, binnen kurzer Zeit eine große Zahl von polnischen Arbeitern gegen<br />

ihren Willen nach Deutschland zu bringen, als auch im Deutschen Reich eine nach „rassischen“<br />

Kriterien hierarchisierte Zweiklassengesellschaft zu installieren.<br />

Bereits im Mai 1940 aber war unübersehbar, daß auch die Rekrutierung der Polen den<br />

Arbeitskräftebedarf der deutschen Wirtschaft nicht zu befriedigen vermochte. So wurden<br />

denn schon während und alsbald nach dem „Frankreichfeldzug“ etwas mehr als 1 Mio.<br />

französischer Kriegsgefangener als Arbeitskräfte ins Reich verbracht. Darüber hinaus begann<br />

in den verbündeten Ländern und besetzten Gebieten des Westens und Nordens eine<br />

verstärkte Arbeiter-Werbung. Auch für diese Gruppen wurden jeweils besondere, allerdings<br />

im Vergleich zu den Polen deutlich günstigere Vorschriften für Behandlung, Lohn, Unterkunft<br />

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35<br />

Ulrich Herbert<br />

Der „Poleneinsatz“<br />

als Modellfall


Vom „Blitzkrieg“<br />

zum<br />

Abnutzungskrieg<br />

Zwangsarbeitseinsatz<br />

zwischen<br />

rassistischer<br />

Ideologie und<br />

kriegswirtschaftlichen<br />

Zielen<br />

Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick<br />

etc. erlassen, so daß ein vielfach gestaffeltes System der nationalen Hierarchisierung entstand,<br />

eine Stufenleiter, auf der die damals bereits so genannten „Gastarbeitnehmer“ aus<br />

dem verbündeten Italien zusammen mit den Arbeitern aus Nord- und Westeuropa oben und<br />

die Polen unten plaziert wurden. 7<br />

Der weit überwiegende Teil der ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen der<br />

„Blitzkriegphase“ bis Sommer 1941 wurde in der Landwirtschaft beschäftigt. Bei den Industrieunternehmen<br />

spielten Ausländer zu dieser Zeit keine bedeutende Rolle; die Industrie<br />

setzte vielmehr darauf, bald nach Abschluß der „Blitzkriege“ ihre deutschen Arbeiter vom<br />

Militär zurückzuerhalten. Zugleich waren die ideologischen Vorbehalte gegen eine Ausweitung<br />

des Ausländereinsatzes bei Partei und Behörden so groß, daß festgelegt wurde, die<br />

Zahl der Ausländer auf dem Stand vom Frühjahr 1941 – knapp 3 Mio. – einzufrieren. Dieses<br />

Konzept ging so lange auf, wie die Strategie kurzer, umfassender Feldzüge eine Umstellung<br />

auf einen langen Abnutzungskrieg nicht erforderte.<br />

Seit dem Herbst 1941 aber entstand hier eine ganz neue Situation. Die deutschen Armeen<br />

hatten vor Moskau ihren ersten Rückschlag erlebt, von einem „Blitzkrieg“ konnte nicht mehr<br />

die Rede sein. Vielmehr mußte sich nun die deutsche Rüstungswirtschaft auf einen länger andauernden<br />

Abnutzungskrieg einstellen und ihre Kapazitäten erheblich vergrößern. Auch mit<br />

heimkehrenden Soldaten war nicht mehr zu rechnen – im Gegenteil: Eine massive Einberufungswelle<br />

erfaßte jetzt die Belegschaften der bis dahin geschützten Rüstungsbetriebe. Durch<br />

die nun einsetzenden intensiven Bemühungen um Arbeitskräfte aus den westeuropäischen<br />

Ländern allein waren aber diese Lücken nicht mehr zu schließen. Nur der Einsatz von Arbeitskräften<br />

aus der Sowjetunion konnte eine weitere, wirksame Entlastung bringen.<br />

Der Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener oder Zivilarbeiter im Reich aber war<br />

vor Beginn des Krieges explizit ausgeschlossen worden. Dabei hatten sich nicht nur Parteiführung,<br />

➤ Reichssicherheitshauptamt und ➤ SS aus „rassischen“ und sicherheitspolitischen<br />

Gründen gegen jede Beschäftigung von Russen in Deutschland ausgesprochen. Vielmehr<br />

war die Siegesgewißheit im überwiegenden Teil der an der Vorbereitung des Krieges beteiligten<br />

Stellen der Regimeführung und der Wirtschaft so groß, daß ein solcher Einsatz von<br />

vornherein als nicht notwendig angesehen wurde, so daß anders als bei der Beschäftigung<br />

von Polen diesmal die ideologischen Prinzipien des Regimes durchschlugen. Darüber hinaus<br />

gab es auch in der deutschen Bevölkerung starke, durch die ersten Wochenschaubilder<br />

vom Krieg in der Sowjetunion noch verschärfte Vorbehalte gegen einen „Russeneinsatz“. 8<br />

Da also keine kriegswirtschaftliche Notwendigkeit ihrer Beschäftigung im Reich zu bestehen<br />

schien, wurden die Millionen sowjetischer Kriegsgefangener in den Massenlagern im<br />

Hinterland der deutschen Ostfront ihrem Schicksal überlassen. Mehr als die Hälfte der 3,3<br />

Millionen bis Ende des Jahres 1941 in deutsche Hand geratenen sowjetischen Kriegsgefangenen<br />

verhungerte, erfror, starb vor Erschöpfung oder wurde umgebracht. Insgesamt kamen<br />

bis Kriegsende von den etwa 5,7 Mio. sowjetischen Kriegsgefangenen 3,5 Millionen<br />

in deutschem Gewahrsam ums Leben. 9<br />

Als sich aber seit dem Spätsommer 1941 und verstärkt dann im Winter dieses Jahres die<br />

militärische und damit auch die kriegswirtschaftliche Lage Deutschlands rapide wandelte,<br />

entstand erneut ein ökonomischer Druck zur Beschäftigung auch der sowjetischen Gefangenen,<br />

der sich im November in entsprechenden Befehlen äußerte. Die Initiative dazu ging<br />

diesmal von der Industrie, insbesondere vom Bergbau, aus, wo der Arbeitermangel bereits<br />

bedrohliche Formen angenommen hatte.<br />

Die überwiegende Mehrzahl der sowjetischen Gefangenen aber stand für einen Arbeitseinsatz<br />

gar nicht mehr zur Verfügung. Von den bis dahin mehr als 3 Mio. Gefangenen<br />

kamen bis März 1942 nur 160.000 zum Arbeitseinsatz ins Reich. Daher mußte nun auch<br />

hier in großem Stile auf die Rekrutierung sowjetischer Zivilarbeiter umgeschaltet werden.<br />

Die Beschaffung von so vielen Arbeitskräften in so kurzer Zeit wie möglich wurde zur<br />

vordringlichen Frage und zur Hauptaufgabe des im März neu eingesetzten „Generalbevollmächtigten<br />

für den Arbeitseinsatz“, ➤ Sauckel, der seine Aufgabe mit ebensoviel Effizienz<br />

wie schrankenloser Brutalität erfüllte. In knapp zweieinhalb Jahren wurden von den<br />

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Einsatzstäben der Wehrmacht und der deutschen Arbeitsämter 2,5 Mio. Zivilisten aus der<br />

Sowjetunion als Zwangsarbeiter ins Reich deportiert – 20.000 Menschen pro Woche.<br />

Parallel zu der Entwicklung bei Beginn des „Poleneinsatzes“ wurde auch dieser kriegswirtschaftlich<br />

motivierte Verstoß gegen die ideologischen Prinzipien des Nationalsozialismus<br />

durch ein System umfassender Repression und Diskriminierung der sowjetischen Zivilarbeiter<br />

kompensiert, das die Bestimmungen gegenüber den Polen an Radikalität allerdings<br />

noch weit übertraf.<br />

Innerhalb des Reiches hatte sich mittlerweile ein regelrechter Lagerkosmos herausgebildet;<br />

an jeder Ecke in den großen Städten wie auf dem Lande fanden sich Ausländerlager.<br />

Allein in einer Stadt wie Berlin gab es etwa 500, insgesamt mögen es im Reich mehr als<br />

20.000 gewesen sein, und etwa 500.000 Deutsche waren in verschiedenen Funktionen,<br />

vom Lagerleiter bis zum „Ausländerbeauftragten“ einer Fabrik, direkt in die Organisation<br />

des „Ausländereinsatzes“ einbezogen.<br />

Die Lebensbedingungen der einzelnen Ausländergruppen wurden durch eine strikte, bis<br />

in Kleinigkeiten reglementierte nationale Hierarchie differenziert. 10 Während die Arbeiter<br />

aus den besetzten Westgebieten und den sog. befreundeten Ländern zwar überwiegend in<br />

Lagern leben mußten, aber etwa dieselben Löhne und Lebensmittelrationen wie die Deutschen<br />

in vergleichbaren Stellungen erhielten und auch denselben Arbeitsbedingungen unterlagen,<br />

waren die Arbeiter aus dem Osten, vor allem die Russen, ganz erheblich schlechter<br />

gestellt. Die Rationen für die offiziell „Ostarbeiter“ genannten sowjetischen Zivilarbeiter<br />

fielen so gering aus, daß sie oft schon wenige Wochen nach ihrer Ankunft völlig unterernährt<br />

und arbeitsunfähig waren.<br />

Schon im Frühsommer 1942 berichteten zahlreiche Unternehmen, daß der „Russeneinsatz“<br />

ganz unwirtschaftlich sei, weil eine effektive Beschäftigung nicht nur eine bessere<br />

Verpflegung und ausreichende Ruhepausen, sondern auch dem Arbeitsvorgang entsprechende<br />

Anlernmaßnahmen für die Zwangsarbeiter voraussetze. Solche Maßnahmen hatten<br />

bei den französischen Kriegsgefangenen dazu geführt, daß die Arbeitsleistungen nach relativ<br />

kurzer Zeit beinahe das Niveau der deutschen Arbeiter erreichten. Die Lage vor allem<br />

der sowjetischen Zwangsarbeiter war allerdings von Betrieb zu Betrieb, von Lager zu Lager<br />

sehr unterschiedlich; in der Landwirtschaft ging es ihnen in der Regel erheblich besser<br />

als in der Industrie, und auch dort waren die Unterschiede in der Behandlung und der<br />

Ernährung eklatant, vor allem seit Ende 1942. Das aber verweist darauf, wie groß der<br />

Handlungs- und Ermessensspielraum des einzelnen Unternehmens war. Es kann überhaupt<br />

keine Rede davon sein, daß die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter<br />

aus dem Osten allein auf die bindenden Vorschriften der Behörden zurückzuführen gewesen<br />

seien.<br />

Zu wirksamen Verbesserungen der Lebensverhältnisse der „Ostarbeiter“ in breitem Maße<br />

kam es allerdings erst nach der Niederlage in Stalingrad Anfang 1943; eine umfassende<br />

Leistungssteigerungskampagne setzte ein, verbunden mit einer Bindung der Höhe der Lebensmittelration<br />

an die Arbeitsleistung, zugleich begannen umfangreiche Qualifizierungsmaßnahmen.<br />

Dadurch gelang es tatsächlich, die Arbeitsleistungen beträchtlich zu erhöhen.<br />

Eine qualifizierte Beschäftigung mußte aber auch zwangsläufig Auswirkungen auf das Verhältnis<br />

der deutschen zu den ausländischen Arbeitern haben. So war denn schon in den<br />

entsprechenden Vorschriften der Behörden alles getan worden, um die bevorzugte Stellung<br />

der deutschen Arbeiter gegenüber den Ausländern, insbesondere aber den Russen, in allen<br />

Bereichen durchzusetzen. Gegenüber den „Ostarbeitern“ hatten die Deutschen prinzipiell<br />

eine Vorgesetztenstellung, in manchen Betrieben erhielten die deutschen Arbeiter, die die<br />

„Ostarbeiter“ anlernen sollten, sogar die Funktion von Hilfspolizisten.<br />

Was nun die Löhne betrifft, so gab es hierbei grob gesprochen ein vierfach gestaffeltes System.<br />

Die zivilen Arbeitskräfte aus allen Ländern außer den ehemals polnischen und sowjetischen<br />

Gebieten erhielten die gleichen Löhne wie die deutschen Arbeiter bzw. Arbeiterinnen<br />

in vergleichbaren Funktionen – zumindest nominell. Es gibt vielfache Berichte darüber, daß<br />

dies in der Praxis nicht immer so gehandhabt wurde, wie von den Behörden vorgeschrieben.<br />

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37<br />

Ulrich Herbert<br />

Arbeits- und<br />

Lebensbedingungen<br />

der ZwangsarbeiterInnen


Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick<br />

Das aber soll hier unberücksichtigt bleiben. Nominell die gleichen Löhne sollten auch polnische<br />

Arbeiter erhalten, allerdings mußten sie eine besondere 15prozentige Steuer, die „Polen-Abgabe“,<br />

zahlen – übrigens von den deutschen Arbeitsbehörden mit der bemerkenswerten<br />

Begründung eingeführt, dies diene zum Ausgleich dafür, daß die Polen ja nicht wie die<br />

Deutschen zum Wehrdienst eingezogen würden. Die sowjetischen Arbeiter hingegen erhielten<br />

besonders festgelegte Löhne, die erheblich niedriger lagen als die der deutschen und anderen<br />

ausländischen Arbeiter – nominell etwa um 40 %, tatsächlich in den meisten Fällen<br />

wohl noch tiefer. Von vielen Betrieben ist zudem bekannt, daß sie gar keine Löhne an die sowjetischen<br />

Zivilarbeiter auszahlten und diese für „Zivilgefangene“ hielten.<br />

Der Ausländereinsatz gehörte in Deutschland mittlerweile wie selbstverständlich zum<br />

Kriegsalltag, und angesichts der eigenen Sorgen war für die meisten Deutschen das Schicksal<br />

der ausländischen Arbeiter von durchaus geringem Interesse. Im Sommer 1944 befanden<br />

sich 7,6 Mio. ausländische Arbeitskräfte auf Arbeitsstellen im Reich: 5,7 Mio. Zivilarbeiter<br />

und knapp 2 Mio. Kriegsgefangene. 2,8 Mio. von ihnen stammten aus der Sowjetunion,<br />

1,7 Mio. aus Polen, 1,3 Mio. aus Frankreich; insgesamt wurden zu dieser Zeit Menschen<br />

aus fast 20 europäischen Ländern im Reich zur Arbeit eingesetzt. Mehr als die Hälfte<br />

der polnischen und sowjetischen Zivilarbeiter waren Frauen, im Durchschnitt unter 20 Jahre<br />

alt – der durchschnittliche Zwangsarbeiter in Deutschland 1943 war eine 18jährige Schülerin<br />

aus Kiew. 26,5 % aller Beschäftigten im Reich waren damit Ausländer: in der Landwirtschaft<br />

46 %, in der Industrie knapp 40 %, in der engeren Rüstungsindustrie etwa 50 %, in<br />

einzelnen Betrieben mit hohem Anteil an Ungelernten bis zu 80 und 90 %. 11<br />

AUSLÄNDISCHE ARBEITSKRÄFTE IN DER DEUTSCHEN KRIEGSWIRTSCHAFT 1939 BIS 1944 12<br />

Landwirtschaft<br />

Alle nichtlandwirtschaftlichen<br />

Bereiche<br />

Gesamtwirtschaft<br />

Deutsche<br />

Zivile Ausländer<br />

Kriegsgefangene<br />

Ausländer insg.<br />

Ausl. in %<br />

aller Beschäftigten<br />

Deutsche<br />

Zivile Ausländer<br />

Kriegsgefangene<br />

Ausländer insg.<br />

Ausl. in %<br />

aller Beschäftigten<br />

Deutsche<br />

Zivile Ausländer<br />

Kriegsgefangene<br />

Ausländer insg.<br />

Ausl. in %<br />

aller Beschäftigten<br />

1939 1940 1941 1942 1943 1944<br />

10.732.000<br />

118.000<br />

—<br />

118.000<br />

1,1<br />

28.382.000<br />

183.000<br />

—<br />

183.000<br />

0,6<br />

39.114.000<br />

301.000<br />

—<br />

301.000<br />

0,8<br />

9.684.000<br />

412.000<br />

249.000<br />

661.000<br />

6,4<br />

25.207.000<br />

391.000<br />

99.000<br />

490.000<br />

1,9<br />

34.891.000<br />

803.000<br />

348.000<br />

1.151.000<br />

3,2<br />

8.939.000<br />

769.000<br />

642.000<br />

1.411.000<br />

13,6<br />

24.273.000<br />

984.000<br />

674.000<br />

1.659.000<br />

6,4<br />

33.212.000<br />

1.753.000<br />

1.316.000<br />

3.069.000<br />

8,5<br />

8.969.000<br />

1.170.000<br />

759.000<br />

1.929.000<br />

38 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

17,7<br />

22.568.000<br />

1.475.000<br />

730.000<br />

2.205.000<br />

8,9<br />

31.537.000<br />

2.645.000<br />

1.489.000<br />

4.134.000<br />

11.6<br />

8.743.000<br />

1.561.000<br />

609.000<br />

2.230.000<br />

20,3<br />

21.324.000<br />

3.276.000<br />

954.000<br />

4.230.000<br />

16,5<br />

30.067.000<br />

4.837.000<br />

1.623.000<br />

6.460.000<br />

17,7<br />

8.460.000<br />

1.767.000<br />

635.000<br />

2.402.000<br />

22,1<br />

20.144.000<br />

3.528.000<br />

1.196.000<br />

4.724.000<br />

18,9<br />

28.604.000<br />

5.295.000<br />

1.831.000<br />

7.126.000<br />

19,9<br />

Nach: Der Arbeitseinsatz im (Groß-) Deutschen Reich, Jgg. 1939–1944, Stichtag jew. 1.5. d.J.


Die Beschäftigung von ausländischen Zwangsarbeitern beschränkte sich durchaus nicht<br />

allein auf Großbetriebe, sondern erstreckte sich, von der Verwaltung abgesehen, auf die<br />

gesamte Wirtschaft – vom Kleinbauernhof über die Schlosserei mit sechs Arbeitern bis zur<br />

Reichsbahn, den Kommunen und den großen Rüstungsbetrieben, aber auch vielen privaten<br />

Haushalten, die eines der mehr als 200.000 überaus begehrten, weil billigen russischen<br />

Dienstmädchen im Haushalt einsetzten.<br />

II.<br />

Seit Anfang 1944 aber zeigte sich, daß selbst solche in der Tat erheblichen Zahlen für den<br />

Arbeiterbedarf insbesondere der großen Rüstungsprojekte des Reiches nicht mehr ausreichend<br />

waren, zumal infolge der militärischen Entwicklung die Arbeiterrekrutierung vor allem<br />

in der Sowjetunion zurückging und so die durch weitere Einberufungen immer größer<br />

werdenden Arbeitskräftelücken nicht mehr ausgefüllt werden konnten. Daraufhin wandte<br />

sich das Interesse zunehmend der einzigen Organisation zu, die noch über ein erhebliches<br />

Potential an Arbeitskräften verfügte: der SS und den ihr unterstellten Konzentrationslagern. 13<br />

In den ersten Kriegsjahren hatte der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen eine kriegswirtschaftliche<br />

Bedeutung nicht besessen. Zwar gab es bereits seit 1938 SS-eigene Wirtschaftsunternehmen<br />

– vor allem Steinbrüche, Ziegeleien und Ausbesserungswerkstätten –, und nahezu<br />

alle Häftlinge wurden in irgendeiner Form zur Zwangsarbeit herangezogen. Der Charakter<br />

der Arbeit als Strafe, „Erziehung“ oder „Rache“ blieb aber auch hier erhalten und<br />

nahm gegenüber den in der politischen und rassischen Hierarchie der Nazis besonders tief<br />

stehenden Gruppen bereits vor 1939 und verstärkt danach die Form der Vernichtung an.<br />

Durch die Gründung von SS-eigenen Betrieben wie den „Deutschen Ausrüstungswerken“<br />

und den „Deutschen Erd- und Steinwerken“ wurde zwar das Bestreben der SS sichtbar, die<br />

Konzentrationslager zunehmend auch als ökonomischen Faktor zu nutzen, in der Praxis<br />

aber blieb die wirtschaftliche Funktion der Zwangsarbeit der Häftlinge bis weit in die<br />

Kriegsjahre hinein den politischen Zielsetzungen der Lagerhaft untergeordnet. 14<br />

Nach dem militärischen Rückschlag an der Ostfront im Herbst 1941 und der damit verbundenen<br />

Umorganisation der deutschen Rüstungsindustrie auf die Notwendigkeiten eines<br />

langen Abnutzungskrieges wurden nun auch beim Reichsführer SS organisatorische Umstellungen<br />

vorgenommen, um die Produktion für die Rüstung – und nicht nur wie bisher in der<br />

Bauwirtschaft, der Baustoffgewinnung und der Militärausrüstung – in den Konzentrationslagern<br />

zur vorrangigen Aufgabe zu machen. Tatsächlich waren jedoch weder die Konzentrationslager<br />

auf eine solche rapide Umstellung eingerichtet noch reichte der wirtschaftliche<br />

Sachverstand in dem als neue Organisationszentrale der Konzentrationslager eingerichteten<br />

➤ „Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt“ der SS (WVHA) aus, um eine Rüstungsfertigung<br />

in großem Stile aus dem Boden zu stampfen. Zudem waren die KZ-Wachmannschaften<br />

selbst aufgrund der jahrelang geübten Praxis, daß ein Menschenleben im KZ nichts<br />

galt, nur schwer auf den Vorrang des Arbeitseinsatzes umzustellen. Das Wirtschafts- und<br />

Verwaltungshauptamt der SS machte im April 1942 allen KZ-Kommandanten den Arbeitseinsatz<br />

der KZ-Häftlinge zur Hauptaufgabe: Tatsächlich aber starben von den 95.000 registrierten<br />

KZ-Häftlingen des 2. Halbjahres 1942 57.503, also mehr als 60 %. Der Wert der<br />

KZ-Rüstungsproduktion im Jahre 1942 lag durchschnittlich bei etwa 0,002 % der Gesamtfertigung;<br />

für die gleiche Produktionsmenge bei der Karabinerfertigung benötigte ein Privatunternehmer<br />

nur 17 % der Arbeitskräfte wie der KZ-Betrieb Buchenwald. 15<br />

Erst im Frühjahr 1942 begann die SS damit, KZ-Häftlinge in umfangreicherem Maße für<br />

Rüstungszwecke einzusetzen, insbesondere beim Aufbau des IG-Farben-Werkes bei Auschwitz.<br />

16 Allerdings waren die Häftlinge hier zunächst nur bei den Bauarbeiten beschäftigt<br />

worden, während der Einsatz bei der Rüstungsfertigung erst ein Jahr später begann. Bei<br />

den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen innerhalb der<br />

SS setzte sich der Gedanke der Strafe und Vernichtung gegenüber dem von Arbeit und<br />

Produktivität weiterhin durch – vor allem deshalb, weil durch die Massendeportation<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

39<br />

Ulrich Herbert<br />

„Vernichtung<br />

durch Arbeit“ –<br />

Zwangsarbeit von<br />

KZ-Häftlingen


Die SS „verleiht“<br />

KZ-Häftlinge an<br />

die Industrie<br />

Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick<br />

sowjetischer Arbeitskräfte nach Deutschland, die zu dieser Zeit einsetzte, ein kriegswirtschaftlicher<br />

Druck zur Beschäftigung von Konzentrationslager-Häftlingen nicht entstand.<br />

Erst am 22. September 1942 entschied Hitler auf Vorschlag des Rüstungsministers Speer,<br />

daß die SS ihre KZ-Häftlinge fortan der Industrie leihweise zur Verfügung stellen und die<br />

Industrie ihrerseits die Häftlinge in den bestehenden Produktionsprozeß integrieren solle.<br />

Dadurch wurde hier das Prinzip der Ausleihe von KZ-Häftlingen an die Privatindustrie festgeschrieben,<br />

das von nun an den Arbeitseinsatz der KZ-Häftlinge bestimmen sollte. Seit<br />

dieser „Führerentscheidung“ wurde der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen innerhalb bestehender<br />

Industriebetriebe verstärkt; dazu meldeten die Privatunternehmen ihren Arbeitskräftebedarf<br />

beim WVHA, von wo aus Unterkünfte und Sicherheitsbedingungen überprüft<br />

und die Genehmigungen erteilt wurden. Dabei konnten in der Regel Firmenbeauftragte in<br />

den Lagern selbst die geeignet erscheinenden Häftlinge aussuchen. Anschließend wurden<br />

die Häftlinge in ein „Außenlager“ des Konzentrationslagers übergeführt, das meistens in<br />

unmittelbarer Nähe der Arbeitsstelle errichtet wurde. 17 Die Gebühren für die Überlassung<br />

der Häftlinge, die die Firmen an die SS zu zahlen hatten, betrugen pro Tag 6,- RM für<br />

Facharbeiter und 4,- RM für Hilfsarbeiter und Frauen. Gleichzeitig begannen auch die SSeigenen<br />

Wirtschaftsbetriebe im Reich verstärkt auf Rüstungsproduktion umzustellen; die<br />

Deutschen Ausrüstungswerke (DAW) produzierten seit Ende 1942 bereits zum überwiegenden<br />

Teil für rüstungs- und kriegswichtige Zwecke, vor allem Instandsetzungsarbeiten.<br />

Um den Rüstungseinsatz zu verstärken, lag das vorrangige Interesse des WVHA nur<br />

darin, die Zahl der Häftlinge in möglichst kurzer Zeit rigoros zu vergrößern. Die Belegstärke<br />

aller Konzentrationslager stieg von 110.000 (September 1942) in sieben Monaten<br />

auf 203.000 (April 1943). Im August 1944 war die Häftlingszahl bereits auf 524.268<br />

angewachsen, Anfang 1945 auf über 700.000. Die Todesraten der Häftlinge waren nach<br />

wie vor außerordentlich hoch und begannen erst seit dem Frühjahr 1943 zu sinken – von<br />

10 % im Dezember 1942 auf 2,8 % im April 1943. Da aber die Häftlingszahlen so stark<br />

gestiegen waren, sanken die absoluten Zahlen von Toten in weit geringerem Maße, als es<br />

die Prozentzahlen suggerieren. Von Januar bis August 1943 starben wiederum über<br />

60.000 Häftlinge in den Konzentrationslagern, die relative Sterblichkeit aber nahm ab.<br />

Dies zeigt, daß den erhöhten Anforderungen von seiten der privaten und der SS-Industrie<br />

stark erhöhte Einweisungszahlen entsprachen, nicht aber grundlegend veränderte Arbeitsund<br />

Lebensbedingungen der Häftlinge in den Lagern. 18<br />

Entsprechend lag die durchschnittliche Arbeitsfähigkeit – und damit die Lebensdauer –<br />

des einzelnen Häftlings 1943/44 zwischen einem und zwei Jahren; allerdings mit großen<br />

Unterschieden je nach Einsatzort und Gruppenzugehörigkeit der Häftlinge. Zur wirklichen<br />

Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der KZ-Häftlinge kam es aber nur dann,<br />

wenn durch berufsqualifizierten Einsatz oder nach Anlernzeiten auf qualifizierten Arbeitsplätzen<br />

die Arbeitskraft des einzelnen nicht oder nur schwer ersetzbar wurde.<br />

Im Sommer 1943 waren von den 160.000 registrierten Gefangenen der WVHA-Lager etwa<br />

15 % bei der Lagerinstandhaltung beschäftigt und 22 % als arbeitsunfähig gemeldet. Die<br />

restlichen 63 %, also etwa 100.000, verteilten sich auf die Bauvorhaben der SS, die Wirtschaftsunternehmen<br />

der SS sowie die privaten Unternehmen. Noch für das Frühjahr 1944<br />

ging das Rüstungsministerium lediglich von 32.000 tatsächlich eingesetzten KZ-Häftlingen in<br />

der privaten Rüstungsindustrie im engeren Sinne aus. Am Ende des Jahres 1942 gab es innerhalb<br />

des Reichsgebiets 82 Außenlager der KZ, ein Jahr später 186. Im Sommer 1944 stieg<br />

diese Zahl auf 341, bis Januar 1945 auf 662. Da die Zahlenangaben der SS und des Speer-<br />

Ministeriums zum Teil stark voneinander abweichen, sind exakte Bestimmungen schwierig.<br />

III.<br />

Gegenüber den deutschen Juden ist der Übergang zur systematischen Zwangsarbeit mit<br />

dem Beginn des Jahres 1939 feststellbar. Juden, die Arbeitslosenunterstützung beantragten,<br />

wurden nach entsprechendem Erlaß der deutschen Arbeitsverwaltung seither im<br />

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„geschlossenen Arbeitseinsatz“ als Hilfsarbeiter eingesetzt; bis zum Sommer 1939 wuchs<br />

die Zahl dieser – vorwiegend männlichen – jüdischen Zwangsarbeiter auf etwa 20.000<br />

an, die insbesondere bei Straßenbauarbeiten, bei Meliorations-, Kanal- und Talsperrenprojekten<br />

sowie auf Müllplätzen, nach Kriegsbeginn auch bei kurzfristigen Schneeräumungsoder<br />

Ernteaktionen eingesetzt wurden. Im Laufe des Jahres 1940 wurde die Verpflichtung<br />

zur Zwangsarbeit auf alle arbeitsfähigen deutschen Juden – Frauen wie Männer – ausgedehnt,<br />

unabhängig vom Empfang der Arbeitslosenunterstützung. Von nun an erfolgte der<br />

Einsatz vorwiegend in der Industrie. 19<br />

Spätestens seit dem Frühjahr 1941 aber konkurrierten die Bestrebungen zur Zwangsarbeit<br />

der deutschen Juden in Rüstungsunternehmen im Reichsgebiet mit dem Ziel der deutschen<br />

Führung, die Juden aus Deutschland zu deportieren.<br />

Auch für die – im Sommer 1941 etwa 50.000 – in Rüstungsbetrieben eingesetzten jüdischen<br />

Zwangsarbeiter boten die Arbeitsplätze, von denen viele als „rüstungswichtig“ eingestuft<br />

waren, keinen sicheren Schutz vor der Deportation, sondern lediglich eine nach der rüstungswirtschaftlichen<br />

Bedeutung ihrer Tätigkeit gestaffelte Verzögerung. Bemerkenswert<br />

war in diesem Zusammenhang, daß die Deportationen auch von in kriegswichtigen Betrieben<br />

beschäftigten Juden mit Hinweisen begründet wurden, es stünden schließlich genug Polen<br />

bzw. Ukrainer als Ersatz zur Verfügung – und dies war der letztlich ausschlaggebende<br />

Faktor bei der Entscheidung, die vorerst verschonten Berliner „Rüstungsjuden“ schließlich<br />

doch zu deportieren. Am 27. Februar 1943 wurden die Berliner jüdischen Rüstungsarbeiter<br />

an ihren Arbeitsplätzen ergriffen und zu den Deportationszügen gebracht. Ihre Arbeitsplätze<br />

in den Betrieben wurden durch ausländische Zivilarbeiter ersetzt. Am 5., 7. und 30.<br />

März wurden die ersten Transporte mit den Berliner „Rüstungsjuden“ in Auschwitz registriert.<br />

Von den 2757 deportierten Juden aus diesen Transporten wurden 1689 sofort umgebracht.<br />

Im Sommer 1943 gab es innerhalb Deutschlands – von wenigen Einzelfällen abgesehen<br />

– keine Juden und also auch keine jüdischen Zwangsarbeiter mehr.<br />

Ähnlich, wenngleich in zum Teil anderer zeitlicher Staffelung, entwickelte sich der<br />

Zwangsarbeitseinsatz in den von Deutschland besetzten Ländern insbesondere Osteuropas.<br />

Dies kann im einzelnen vor allem anhand des besetzten Polen nachvollzogen werden.<br />

Im sogenannten „Generalgouvernement“ wurde der jüdische Arbeitszwang bereits im<br />

Oktober 1939 verhängt. Danach mußten alle männlichen Juden zwischen 14 und 60 Jahren<br />

Zwangsarbeit in dafür einzurichtenden Zwangsarbeitslagern leisten. Es war Aufgabe der<br />

„Judenräte“, diese Arbeitskräfte entsprechend zu erfassen und einzuteilen. Einige Wochen<br />

später wurde der Arbeitszwang auch auf alle jüdischen Frauen im Alter zwischen 14 und<br />

60 Jahren ausgedehnt. 20<br />

Ursprünglich hatte allerdings die SS vorgesehen, alle Juden im „Generalgouvernement“<br />

in großen Zwangsarbeitslagern zur Arbeit einzusetzen. Allerdings waren so viele Juden de<br />

facto in freien Arbeitsverhältnissen tätig, daß eine schlagartige Umstellung auf Lagerhaft<br />

schon organisatorisch kaum möglich erschien. Jedoch sollte der jüdische „Arbeitseinsatz“<br />

zunehmend in Gettos konzentriert werden, deren Errichtung zu dieser Zeit noch nicht sehr<br />

weit vorangeschritten war.<br />

Etwas anders verlief die Entwicklung in denjenigen Teilen Polens, die ins Reichsgebiet eingegliedert<br />

worden waren. Hier gab es wegen der reichsrechtlichen Vorschriften keine generelle<br />

Regelung für die jüdische Zwangsarbeit. Die deutschen Maßnahmen zielten<br />

zunächst auf die „Verschiebung“ von Polen, Juden und Zigeunern ins „Generalgouvernement“<br />

zugunsten jener Volksdeutschen, die aus der Sowjetunion, Rumänien und anderen<br />

Regionen kommend im „Reich“ angesiedelt werden sollten. De facto aber wurde der im<br />

„Generalgouvernement“ geltende Arbeitszwang für Juden durch ortsgebundene Verfügungen<br />

auch in den annektierten Gebieten eingerichtet.<br />

Die Arbeitsverwaltung im „Generalgouvernement“ legte bereits im Sommer 1940 fest,<br />

daß jüdische Arbeitskräfte im freien Einsatz höchstens 80 % der üblichen Löhne erhalten<br />

sollten, die Polen für eine entsprechende Tätigkeit erhielten. Viele deutsche Unternehmen<br />

oder Institutionen entließen daraufhin ihre jüdischen Arbeitskräfte, denen sie zuvor oft<br />

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41<br />

Ulrich Herbert<br />

Der „geschlossene<br />

Arbeitseinsatz“<br />

jüdischer ZwangsarbeiterInnen<br />

Zwangsarbeit in<br />

den besetzten<br />

Gebieten Polens<br />

und der Sowjetunion


März 1942:<br />

Auflösung der<br />

Gettos und<br />

Deportation in<br />

Vernichtungslager<br />

Die letzte Phase<br />

des Krieges:<br />

Zwangsarbeit in<br />

unterirdischen<br />

Rüstungsbetrieben<br />

Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick<br />

geringere oder gar keine Löhne bezahlt hatten. Das änderte sich aber mit dem Beginn der<br />

systematischen „Endlösung“. Die Flucht in die „Shops“ genannten Arbeitsstellen in den Gettos<br />

und die schreckliche Lage der jüdischen Arbeiter, die fürchten mußten, bei nicht genügenden<br />

Arbeitsleistungen deportiert und ermordet zu werden, machte sie als Arbeitskräfte<br />

zunehmend attraktiver. Die Einteilung in rüstungswichtige und weniger wichtige Fertigungsstätten<br />

wurde für die jüdischen Zwangsarbeiter immer mehr zur Entscheidung über Leben<br />

und Tod. 21<br />

Mit der Umstellung auf den Primat des Arbeitseinsatzes seit Anfang 1942 verschärften<br />

sich die Widersprüche: Im „Generalgouvernement“ begannen seit März 1942 die Auflösung<br />

der Gettos und die Deportationen der polnischen Juden in die ➤ Vernichtungslager.<br />

Ein Teil von ihnen jedoch wurde in besondere, den SS- und Polizeiführern unterstehende<br />

Arbeitslager gebracht, wo sie bei Bauvorhaben und in der Rüstungsproduktion eingesetzt<br />

wurden. 22 Dazu errichtete die SS in diesen Lagern eigene Wirtschaftsbetriebe, zum Teil aus<br />

den verlagerten Betriebsanlagen ehemals jüdischer Betriebe. Durch diese Maßnahmen kam<br />

es zu erheblichen Konflikten vor allem mit der an der Erhaltung „ihrer“ jüdischen Arbeitskräfte<br />

in den Gettowerkstätten interessierten Wehrmacht. Die SS war jedoch lediglich<br />

bereit, den Rüstungsbetrieben die jüdischen Arbeitskräfte vorerst zu belassen, wenn die<br />

Juden als KZ-Häftlinge unter der Regie der SS den Betrieben zum Arbeitseinsatz überlassen<br />

würden.<br />

Am 19. Juli 1942 ordnete Himmler an, alle polnischen Juden bis zum Ende des Jahres<br />

1942 zu ermorden. Nur solche Juden, die rüstungswichtige Zwangsarbeit verrichteten, sollten<br />

vorerst am Leben gelassen werden. Allerdings sollten solche Produktionsstätten sukzessive<br />

in SS-Regie übergehen und in Zwangsarbeitslagern zusammengefaßt werden.<br />

Daraufhin wurden von nun an Getto um Getto geräumt und die aufgebauten Produktionsstätten<br />

mit Zehntausenden von jüdischen Arbeitskräften stillgelegt, die Zwangsarbeiter in<br />

die Vernichtungslager deportiert und ermordet. Selbst die von der SS noch im März 1943<br />

aufgebaute „Ost-Industrie“, eine Dachgesellschaft, die die verschiedenen einzelnen Arbeitslager<br />

mit Rüstungsproduktion zusammenfaßte, wurde geschlossen, als diese Betriebe im<br />

Herbst 1943 gerade ihre Produktion aufgenommen hatten. Sämtliche hier beschäftigten<br />

17.000 Juden wurden aus den Fabriken herausgeholt und noch in den folgenden Tagen in<br />

der Nähe von Lublin erschossen. 23<br />

In den besetzten Gebieten der Sowjetunion war die Lage nicht anders. Nach der ersten<br />

Phase der Massenerschießungen in Sommer 1941 waren auch hier Juden in Arbeitskolonnen<br />

und Werkstätten beschäftigt worden. Aber auch in der Folgezeit und nach der kriegswirtschaftlichen<br />

Umstellung seit Anfang 1942 wurde die Praxis der Liquidationen ohne<br />

Rücksicht auf wirtschaftliche Belange fortgesetzt. 24<br />

Erst seit Anfang 1944, als gegenüber den Juden das politische Hauptziel des Nationalsozialismus<br />

erreicht war, kam es aufgrund des sich dramatisch verschärfenden Arbeitskräftemangels<br />

in der letzten Kriegsphase zu einer Änderung, und jüdische Häftlinge wurden<br />

auch im Reichsgebiet als Arbeitskräfte in SS-eigenen Betrieben, bei unterirdischen Betriebsverlagerungen<br />

und in Privatunternehmen, vor allem in der Großindustrie, eingesetzt. Bereits<br />

im August 1943 war in der Führungsspitze des Regimes die Entscheidung gefallen, die<br />

Herstellung der Raketenwaffe A 4, eine der sog. V-Waffen, mit Hilfe von KZ-Häftlingen in<br />

unterirdischer Produktion durchführen zu lassen. Seit dem Jahreswechsel 1943/44 wurde<br />

nun überall in Deutschland damit begonnen, rüstungswichtige Fertigungen in Untertagefabriken<br />

– meist Höhlen oder Bergstollen – zu verlagern, wo sie vor Bombenangriffen geschützt<br />

waren. Diese unter enormem Zeitdruck vorangetriebenen Projekte hatten schreckliche<br />

Auswirkungen für die hierbei eingesetzten KZ-Häftlinge. 25 Gerade in der Aufbauphase<br />

im Herbst und Winter 1943/44 waren die Todeszahlen immens. Leichte Ersetzbarkeit der<br />

Häftlinge bei technisch überwiegend einfachen, aber körperlich schweren Arbeiten, hoher<br />

Zeitdruck, mangelnde Ernährung und denkbar schlechte Lebensbedingungen waren die Ursachen<br />

für die hohen Todesraten, die erst zu sinken begannen, als das Wohnlager fertiggestellt<br />

und die Produktion aufgenommen worden war. Bis dahin jedoch waren die Häftlinge<br />

42 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

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Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


schon wenige Wochen nach ihrem Eintreffen „abgearbeitet“. Projekte dieser Art, zu denen<br />

Zehntausende, ja Hunderttausende von Arbeitskräften in drei Tagesschichten gebraucht<br />

wurden, waren nur noch mit KZ-Häftlingen durchführbar, denn allein die SS besaß noch Arbeitskraftreserven<br />

in solchen Größenordnungen. Aber auch die reichten zur Erfüllung der<br />

gestellten Aufgaben bald nicht mehr aus, so daß im Frühjahr 1944 der Arbeitseinsatz auch<br />

von Juden diskutiert wurde. Bis dahin war die Beschäftigung von Juden innerhalb des Reiches<br />

explizit verboten, schließlich galt es als Erfolg des Reichssicherheitshauptamtes der<br />

SS, das Reich „judenfrei“ gemacht zu haben. Nun aber änderte sich dies: Offenbar ausgehend<br />

von einer Anfrage der besonders im militärischen Bauwesen eingesetzten Organisation<br />

Todt bestimmte Hitler im April 1944, für Rüstungsverlagerung und Großbunkerbau seien<br />

„aus Ungarn die erforderlichen etwa 100.000 Mann durch Bereitstellung entsprechender<br />

Judenkontingente aufzubringen“. 26<br />

Den Deutschen waren durch die Besetzung Ungarns im März 1944 etwa 765.000 Juden<br />

in die Hände gefallen; am 15. April begann ihre Deportation, in deren Verlauf bis zum Juli<br />

etwa 458.000 ungarische Juden nach Auschwitz gebracht wurden. Von diesen wurden etwa<br />

350.000 Menschen sofort vergast und 108.000 besonders arbeitsfähig wirkende für<br />

den Arbeitseinsatz im „Reich“ aussortiert. Nachdem der Zufluß von „Fremdarbeitern“ mittlerweile<br />

beinahe ganz zum Versiegen gekommen war, hatten immer mehr Firmen im Reich<br />

bei den Arbeitsämtern, zum Teil auch direkt bei den Konzentrationslagern Häftlinge angefordert<br />

und waren nun auch einverstanden, jüdische Zwangsarbeiter aus der „Ungarnaktion“<br />

zu beschäftigen. Die aus Auschwitz kommenden Häftlinge, darunter sehr viele Frauen,<br />

wurden nun formal den Konzentrationslagern im „Reich“ unterstellt und auf die Firmen, die<br />

KZ-Arbeiter angefordert hatten, verteilt.<br />

Die Zahl der Arbeitskommandos der KZ-Stammlager wuchs seit dem Frühjahr 1944 rapide<br />

an, am Ende des Krieges existierten auf Reichsgebiet etwa 660 Außenlager; die Liste<br />

der deutschen Unternehmen, die solche KZ-Außenlager einrichteten und KZ-Häftlinge einsetzten,<br />

wurde immer länger und umfaßte Hunderte von renommierten Firmen. 27<br />

Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlinge waren dabei in den verschiedenen Firmen<br />

sehr unterschiedlich. Insgesamt kann man – mit aller Vorsicht – jedoch davon ausgehen,<br />

daß diejenigen, die in der Produktion der Rüstungsbetriebe selbst beschäftigt wurden,<br />

erheblich größere Überlebenschancen besaßen als diejenigen Häftlinge, die in den großen<br />

Bauvorhaben und insbesondere beim Ausbau unterirdischer Produktionsstätten sowie bei<br />

der Fertigung in den Höhlen und Stollen nach der Betriebsverlagerung eingesetzt wurden.<br />

Insgesamt wird angesichts dieses knappen Überblicks deutlich, daß die deutsche Wirtschaft<br />

spätestens seit der Kriegswende im Winter 1941/42 alternativlos auf Zwangsarbeiter<br />

angewiesen war. Angesichts der erheblichen Fluktuation ist es vermutlich realistisch, von<br />

insgesamt etwa 9,5 bis 10 Millionen ausländischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen<br />

auszugehen, die für längere oder kürzere Zeit in Deutschland als Zwangsarbeiter eingesetzt<br />

wurden. Die höchste Zahl der gleichzeitig eingesetzten „Fremdarbeiter“ wurde im<br />

Sommer 1944 mit etwa 7,6 Millionen erreicht. Die Zahl der KZ-Häftlinge, die in Konzentrations-Stammlagern<br />

oder Außenlagern insgesamt zur Zwangsarbeit eingesetzt worden waren,<br />

ist seriös kaum schätzbar. Insgesamt sind zwischen 1939 und 1945 etwa 2,5 Millionen<br />

Häftlinge in Konzentrationslager des späteren Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts<br />

der SS eingeliefert worden; darunter etwa 15% Deutsche und 85 % Ausländer; eine seriöse<br />

Schätzung der Zahl der in diesen Jahren in den Lagern Gestorbenen geht von 836.000 bis<br />

995.000 Toten aus. Hierin sind die Lager Majdanek und Auschwitz nicht enthalten; in beiden<br />

Lagern zusammen ist die Zahl der Toten auf etwa 1,1 Millionen berechnet worden, von<br />

denen die weit überwiegende Mehrheit Juden waren. Unter den etwa 900.000 in den<br />

Konzentrationslagern im Reichsgebiet Gestorbenen dürfte die Zahl der Juden bei etwa<br />

300.000 bis 350.000 liegen; diejenige der Russen zwischen 200.000 und 250.000, die<br />

der Polen unter 100.000 – wobei es sich um grobe Schätzungen handelt. 28 Es ist davon<br />

auszugehen, daß nahezu jeder KZ-Häftling während seiner Haftzeit für kurze oder lange<br />

Zeit zur Zwangsarbeit eingesetzt worden ist, allerdings in sehr unterschiedlicher und sich<br />

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43<br />

Ulrich Herbert<br />

Ungarische Juden<br />

und Jüdinnen<br />

zwischen<br />

Zwangsarbeit und<br />

Vernichtung<br />

Der Zwangsarbeitseinsatz<br />

in<br />

Zahlen


Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick<br />

wandelnder Weise. Von den etwa 200.000 Häftlingen im April 1943 dürfte noch weniger<br />

als die Hälfte im Rüstungsbereich eingesetzt gewesen sein. Am Ende des Jahres 1944 lag<br />

die Gesamtzahl der KZ-Häftlinge bei etwa 600.000, von denen 480.000 tatsächlich als<br />

„arbeitsfähig“ gemeldet waren. Nach Schätzungen des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts<br />

der SS wurden davon etwa 240.000 bei den unterirdischen Verlagerungen sowie<br />

bei den Bauvorhaben der Organisation Todt eingesetzt und ca. 230.000 in der Privatindustrie.<br />

29<br />

Die Zahl derjenigen Juden, die vor oder nach ihrer Deportation zur Zwangsarbeit herangezogen<br />

wurden, ist nicht mit hinreichender Genauigkeit zu schätzen; zumal dies in den<br />

einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich war. Im Sommer 1942 lag die Zahl<br />

der in den Gettos und Zwangsarbeitslagern eingepferchten polnischen Juden bei etwa 1,5<br />

Millionen; es ist gewiß nicht zu hoch gegriffen, wenn man davon ausgeht, daß von diesen<br />

mindestens die Hälfte für einige Zeit zur Zwangsarbeit eingesetzt worden ist. Erheblich geringer<br />

war der Anteil derjenigen, die aus den verschiedenen europäischen Ländern in die<br />

Lager des Ostens verschickt wurden und dort als „arbeitsfähig“ aussortiert worden waren;<br />

ebensowenig gibt es für die Gebiete der Sowjetunion Zahlen, die uns auch nur einen<br />

Annäherungswert ermöglichten.<br />

1 Im folgenden wird auf Einzelnachweise verzichtet, für detaillierte<br />

Belege verweise ich auf die Spezialliteratur. Zur ersten Information<br />

vgl. den Artikel „Zwangsarbeit“ in Yisrael Gutman u.a.<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung<br />

der europäischen Juden, 4 Bde., dt. Ausgabe Berlin 1993,<br />

Sp. 160-1644.<br />

2 Dazu ausführlich Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis<br />

des „Ausländereinsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten<br />

Reiches, Berlin, Bonn 1985; ders. (<strong>Hrsg</strong>.), Europa und der<br />

„Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und<br />

KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991; Walter Naasner,<br />

Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942-<br />

1945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten<br />

für den Arbeitseinsatz und das Reichsministerium<br />

für Bewaffnung und Munition/Reichsministerium für Rüstung<br />

und Kriegsproduktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem,<br />

Boppard 1994; Edward L. Homze, Foreign Labor in<br />

Nazi Germany, Princeton 1967; Literaturübersicht bei Hans-Ulrich<br />

Ludewig, Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg: Forschungsstand<br />

und Ergebnisse regionaler und lokaler Fallstudien, in: AfS<br />

31(1991), S. 558-577.<br />

3 Dazu jetzt grundlegend: Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen<br />

Konzentrationslager, Hamburg 1999; sowie Ulrich<br />

Herbert/ Karin Orth/Christoph Dieckmann (<strong>Hrsg</strong>.), Die nationalsozialistischen<br />

Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur,<br />

Göttingen 1998; Yisrael Gutman/Avital Saf (<strong>Hrsg</strong>.), The Nazi Concentration<br />

Camps. Structure and Aims, The Image of the Prisoner,<br />

The Jews in the Camp, Proceedings of the fourth Yad Vashem<br />

International Historical Conference, Jerusalem 1980; Falk<br />

Pingel, Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung<br />

und Vernichtung im Konzentrationslager, Hamburg 1978;<br />

Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager,<br />

Frankfurt 1993; Johannes Tuchel, „Arbeit“ in den Konzentrationslagern<br />

im Deutschen Reich 1933-1939, in: Rudolf G. Ardelt/Hans<br />

Hautmann (<strong>Hrsg</strong>.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus,<br />

Wien, Zürich 1990, S. 455-467; sowie die Beiträge in der Se-<br />

Aus: Klaus Barwig, Günter Saathoff, Nicole Weyde (<strong>Hrsg</strong>.):<br />

Entschädigung für NS-Zwangsarbeit. Rechtliche, historische und politische Aspekte,<br />

Nomos Verlagsgesellschaft, Baden. Baden 1998, S. 17-32.<br />

rie „Dachauer Hefte“, Studien und Dokumente zur Geschichte<br />

der nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. v. Wolfgang<br />

Benz/Barbara Distel, München 1986 ff.; nach wie vor grundlegend,<br />

in vielem mittlerweile aber überholt ist Martin Broszat,<br />

Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Hans<br />

Buchheim u.a. (<strong>Hrsg</strong>.), Anatomie des SS-Staats, Gutachten des Instituts<br />

für Zeitgeschichte, Bd. 2, Olten u.a. 1965, S. 11-133.<br />

4 Ulrich Herbert, Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse<br />

und Primat der „Weltanschauung“ im Nationalsozialismus, in:<br />

ders. (<strong>Hrsg</strong>.), Europa, S. 384-426; Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung<br />

und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt<br />

1995; Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord<br />

in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold<br />

Beitz 1941-1944, Bonn 1996; Dieter Pohl, Nationalsozialistische<br />

Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944. Organisation und<br />

Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München<br />

1996; ders., Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt<br />

Lublin des Generalgouvernements 1939-1944, Frankfurt u.a.<br />

1993; Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf<br />

1972.<br />

5 Vgl. Rüdiger Hachtmann, Industriearbeiterinnen in der deutschen<br />

Kriegswirtschaft 1936-1944/45, in: Geschichte und Gesellschaft<br />

19 (1993) S. 332-366.<br />

6 Herbert, Fremdarbeiter, S. 67-95.<br />

7 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 96-131; zu den Italienern: Cesare<br />

Bermani/Sergio Bologna/Brunello Mantelli, Proletarier der „Achse“.<br />

Sozialgeschichte der italienischen Fremdarbeiter in NS-<br />

Deutschland 1937-1943; zu den Franzosen: Ulrich Herbert, Französische<br />

Kriegsgefangene und Zivilarbeiter im deutschen Arbeitseinsatz<br />

1940-1942, in: La France et l´Allemagne en guerre. Sous la direction<br />

de Claude Carlier (et. al.), Paris 1990, S. 509-531; Bernd Zielinski,<br />

Staatskollaboration. Arbeitseinsatzpolitik in Frankreich unter<br />

deutscher Besatzung 1940-1944, Münster 1996; Yves Durand,<br />

Vichy und der Reichseinsatz, in: Herbert, Europa, S. 184-199; Yves<br />

Durand, La vie quotidienne des prisonniers de guerre dans les Stalags,<br />

les Oflags et les Kommandos 1939-1945, Paris 1987.<br />

44 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


8 Herbert, Fremdarbeiter, S. 132-189; ders., Zwangsarbeit in<br />

Deutschland: Sowjetische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene<br />

1941-1945, in: Peter Jahn/Reinhard Rürup (<strong>Hrsg</strong>.), Erobern und<br />

Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, Berlin<br />

1991, S. 106-130; sowie die Darstellung bei Barbara Hopmann/<br />

Mark Spoerer/ Birgit Weitz/Beate Brüninghaus, Zwangsarbeit bei<br />

Daimler-Benz, Stuttgart 1994; sowie Hans Mommsen/Manfred<br />

Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten<br />

Reich, Düsseldorf 1996.<br />

9 Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen<br />

Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978; Alfred<br />

Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im „Fall<br />

Barbarossa“. Eine Dokumentation. Unter Berücksichtigung der<br />

Unterlagen deutscher Strafverfolgungsbehörden und der Materialien<br />

der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur<br />

Aufklärung von NS-Verbrechen. Heidelberg, Karlsruhe 1981; Karl<br />

Hüser/Reinhard Otto, Das Stammlager 326 (VI K) Senne 1941-<br />

1945. Sowjetische Kriegsgefangene als Opfer des nationalsozialistischen<br />

Weltanschauungskrieges, Bielefeld 1992.<br />

10 Zum Folgenden allg. Herbert, Fremdarbeiter, S. 190-236; Jill Stephenson,<br />

Triangle: Foreign Workers, German Civilians and the<br />

Nazi Regime. War and Society in Württemberg, 1939-1945, in:<br />

German Studies Review 15 (1992) S. 339-359; sowie v.a. die betriebsgeschichtlichen<br />

Untersuchungen Hopmann u.a., Zwangsarbeit<br />

bei Daimler-Benz; sowie Mommsen/Grieger, Volkswagenwerk;<br />

vgl. auch Klaus-Jürgen Siegfried, Das Leben der Zwangsarbeiter<br />

im Volkswagenwerk 1939-1945, Frankfurt/Main 1988;<br />

ders., Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk.<br />

Eine Dokumentation, Frankfurt/Main 1986; als Beispiel für<br />

die mittlerweile sehr umfangreiche regionalgeschichtliche Literatur<br />

vgl. Andreas Heusler, Zwangsarbeit in der Münchner Kriegswirtschaft<br />

1939-1945, München 1991.<br />

11 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 269 ff.<br />

12 Nach: Der Arbeitseinsatz im (Groß-)Deutschen Reich, Jgg. 1939-<br />

1944, Stichtag jew. 1.5. d.J.<br />

13 Vgl. die Literaturhinweise in Fn. 2, sowie Johannes Tuchel, Die<br />

Inspektion der Konzentrationslager 1938-1945. Das System des<br />

Terrors. Eine Dokumentation, Berlin 1994; ders., Konzentrationslager.<br />

Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der<br />

Konzentrationslager“ 1934-1938, Boppard 1991; Klaus Drobisch/<br />

Günther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933-1939,<br />

Berlin 1993; Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager,<br />

Frankfurt 1996; Hermann Kaienburg (<strong>Hrsg</strong>.), Konzentrationslager<br />

und deutsche Wirtschaft 1939-1945, Opladen 1996; ders.,<br />

„Vernichtung durch Arbeit“. Der Fall Neuengamme. Die Wirtschaftsbestrebungen<br />

der SS und ihre Auswirkungen auf die Existenzbedingungen<br />

der KZ-Gefangenen, Bonn 1990.<br />

14 Zum Folgenden v.a. Orth, System; Herbert/Orth/Dieckmann, Konzentrationslager,<br />

Kap. „Arbeit“.<br />

15 Vgl. Orth, System; Herbert, Arbeit und Vernichtung; darauf aufbauend,<br />

in der Interpretation aber einseitig Daniel Jonah Goldhagen,<br />

Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche<br />

und der Holocaust, dt. Ausgabe Berlin 1996, Kap. 10-12, S. 335-<br />

384.<br />

16 Vgl. Peter Hayes, Industry and Ideology. IG Farben in the Nazi<br />

Era, Cambridge/New York 1987; ders., Die IG Farben und die<br />

Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen im Werk Auschwitz, in: Kaienburg,<br />

Konzentrationslager, S. 129-148; Robert Jan van Pelt/Debórah<br />

Dwork, Auschwitz, 1270 to the present, New Haven 1996.<br />

17 Vgl. unter den zahlreichen Untersuchungen einzelner Konzentrationslager<br />

und Außenlager vor allem Florian Freund/Bertrand<br />

Perz, Das KZ in der Serbenhalle. Zur Kriegsindustrie in Wiener<br />

Neustadt, Wien 1987; Florian Freund, „Arbeitslager Zement“.<br />

Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung, Wien<br />

1989; Rainer Fröbe/Claus Füllberg-Stolberg u.a., Konzentrationslager<br />

in Hannover. KZ-Arbeit und Rüstungsindustrie in der<br />

Spätphase des Zweiten Weltkriegs, 2 Bde., Hildesheim 1986; Bertrand<br />

Perz, Projekt Quarz: Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager<br />

Melk, Wien 1991; Isabell Sprenger, Groß-Rosen. Ein<br />

Konzentrationslager in Schlesien, Köln u.a. 1996; Herwart Vor-<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

45<br />

Ulrich Herbert<br />

länder (<strong>Hrsg</strong>.), Nationalsozialistische Konzentrationslager im<br />

Dienst der totalen Kriegsführung. Sieben württembergische<br />

Außenkommandos des Konzentrationslagers Natzweiler/Elsaß,<br />

Stuttgart 1978; Gerd Wysocki, Arbeit für den Krieg. Herrschaftsmechanismen<br />

in der Rüstungsindustrie des „Dritten Reiches“.<br />

Arbeitseinsatz, Sozialpolitik und staatspolizeiliche Repression<br />

bei den Reichswerken „Hermann Göring“ im Salzgitter-Gebiet<br />

1937/38 bis 1945, Braunschweig 1992; sowie Hopmann u.a.,<br />

Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, und Mommsen/Grieger, Volkswagenwerk.<br />

18 Einzelnachweise bei Orth, System; Herbert, Arbeit und Vernichtung.<br />

19 Dazu grundlegend Wolf Gruner, Der geschlossene Arbeitseinsatz<br />

deutscher Juden: Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung<br />

1938-1943, Berlin 1997.<br />

20 Vgl. Herbert, Arbeit und Vernichtung; Sandkühler, „Endlösung“;<br />

Pohl, Judenverfolgung in Ostgalizien; ders., Von der „Judenpolitik“<br />

zum Judenmord.<br />

21 Vgl. Florian Freund/ Bertrand Perz/Karl Stuhlpfarrer, Das Getto in<br />

Litzmannstadt (Lódz), in: „Unser einziger Weg ist Arbeit“: Das<br />

Getto in Lódz, 1940-1944. Ausstellungskatalog des Jüdischen<br />

Museums Frankfurt, Wien 1990, S. 17-31; Alfred Konieczny, Die<br />

Zwangsarbeit der Juden in Schlesien im Rahmen der „Organisation<br />

Schmelt“, in: Sozialpolitik und Judenvernichtung. Gibt es eine<br />

Ökonomie der Endlösung? (Beiträge zur nationalsozialistischen<br />

Gesundheits- und Sozialpolitik, 5), Berlin 1987, S. 91-110.<br />

Überblick über die neuere Holocaustforschung bei Ulrich Herbert<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945.<br />

Neuere Forschungen und Kontroversen, Frankfurt 1998.<br />

22 Vgl. Sandkühler, Das Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska,<br />

1941-1944, in: Herbert/Orth/Dieckmann (<strong>Hrsg</strong>.), Konzentrationslager.<br />

23 Helge Grabitz/Wolfgang Scheffler, Letzte Spuren. Ghetto Warschau,<br />

SS-Arbeitslager Trawniki, Aktion Erntefest. Fotos und Dokumente<br />

über Opfer des Endlösungswahns im Spiegel der historischen<br />

Ereignisse, Berlin 1988.<br />

24 Vgl. Christoph Dieckmann, Der Krieg und die Ermordung der litauischen<br />

Juden, in: Herbert (<strong>Hrsg</strong>.), Vernichtungspolitik, S. 292-<br />

329; Artikel „Zwangsarbeit“ in: Enzyklopädie des Holocaust, Sp.<br />

160-1644.<br />

25 Florian Freund, Die Entscheidung zum Einsatz von KZ-Häftlingen<br />

in der Raketenrüstung, in: Kaienburg, Konzentrationslager, S.<br />

61-76; ders., Arbeitslager Zement; Freund/Perz, Das KZ in der<br />

„Serbenhalle“; Rainer Fröbe, Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen<br />

und die Perspektive der Industrie 1943-1945, in: Herbert<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Europa, S. 351-383; ders., „Wie bei den alten Ägyptern“.<br />

Die Verlegung des Daimler-Benz-Flugmotorenwerks Genshagen<br />

nach Obrigheim am Neckar 1944/45, in: Angelika Ebbinghaus<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Das Daimler-Benz-Buch. Ein Rüstungskonzern im „Tausendjährigen<br />

Reich“, Nördlingen 1987, S. 392-417; Rainer Eisfeld,<br />

Die unmenschliche Fabrik. V2-Produktion und KZ „Mittelbau-<br />

Dora“, Erfurt 1993; ders., Mondsüchtig. Wernher von Braun und<br />

die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, Reinbek<br />

1996; Jens-Christian Wagner, Das Außenlagersystem des KZ Mittelbau-Dora,<br />

in: Herbert/Orth/Dieckmann (<strong>Hrsg</strong>.), Konzentrationslager;<br />

Edith Raim, Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering<br />

und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten<br />

Kriegsjahr 1944/45, Landsberg am Lech 1992.<br />

26 Hitler am 6.7.1944, BA R 3/1509 (Besprechung mit Dorsch, Organisation<br />

Todt); vgl. Herbert, Arbeit und Vernichtung, S. 413.<br />

27 Vgl. die (unvollständigen) Übersichten bei Schwarz, Die nationalsozialistischen<br />

Lager; und Martin Weinmann (<strong>Hrsg</strong>.), Das nationalsozialistische<br />

Lagersystem (Catalogue of Camps and Prisons in<br />

Germany and German-Occupied Territories 1939-1945), Frankfurt<br />

am Main 1990.<br />

28 Orth, System, Kap. VII: „Bilanz der Opfer“; Wolfgang Benz<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen<br />

Opfer des Nationalsozialismus, München 1991.<br />

29 Aussage Pohl, 25. 8. 1947, Trials of War Criminals, Bd. 5, Washington<br />

1950, S. 445.


Interview mit Florian Freund<br />

„Die Kriegswirtschaft wäre ohne ZwangsarbeiterInnen<br />

zusammengebrochen“<br />

Wie viele ZwangsarbeiterInnen waren in Österreich während des Nationalsozialismus<br />

beschäftigt?<br />

Freund: Man muss hier zwischen verschiedenen Gruppen von ZwangsarbeiterInnen, die in<br />

Österreich beschäftigt waren, unterscheiden: Es gab österreichische Juden und Jüdinnen in<br />

Zwangsarbeitslagern von Ende 1938 bis 1941 und zum Teil auch bis 1945. Von dieser<br />

Art der Zwangsarbeit waren ca. 20.000 Personen betroffen, die zumeist in kleineren<br />

Lagern gearbeitet haben. Der größte Teil dieser Menschen wurde vermutlich in den Vernichtungslagern<br />

ermordet. Eine weitere Gruppe, die zur Zwangsarbeit herangezogen wurde,<br />

waren die österreichischen Roma und Sinti. Bisher habe ich 15 Lager von Roma und<br />

Sinti identifizieren können, in denen sie Zwangsarbeit, vor allem für Baufirmen, geleistet<br />

haben. Es wird aber noch einiger Forschungsanstrengungen bedürfen, um mehr herauszufinden.<br />

Darüber hinaus waren In- und AusländerInnen in sogenannten Arbeitserziehungslagern<br />

– auch dazu gibt es bis heute keine systematische Untersuchung. Die größte Gruppe<br />

von ZwangsarbeiterInnen waren zivile AusländerInnen, im Herbst 1944 waren es nach<br />

den offiziellen NS-Statistiken 580.000 Menschen. Zu den ZwangsarbeiterInnen zählten<br />

selbstverständlich auch KZ-Häftlinge, Ende 1944 waren es ca. 70.000 Menschen. Auch<br />

Justizhäftlinge, vor allem jene, die aus politischen Gründen inhaftiert waren, wurden zu<br />

Zwangsarbeit herangezogen. Hinzu kommen noch die Kriegsgefangenen verschiedener<br />

Nationalitäten, insbesondere aber die polnischen, sowjetischen und italienischen Kriegsgefangenen.<br />

Auch darüber liegt bisher keine Forschungsarbeit vor. Im Herbst 1944 waren<br />

es vermutlich einige 10.000 Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter in Österreich eingesetzt<br />

wurden. Und schließlich sind hier die ca. 50.000 ungarischen Juden und Jüdinnen<br />

zu nennen, die vor allem beim Bau des sogenannten Südostwalls, aber auch in landwirtschaftlichen<br />

und gewerblichen Betrieben gearbeitet haben. Allein im damaligen Gau Niederdonau<br />

waren sie in 75 Lagern untergebracht und haben bei 250 verschiedenen Arbeitgebern<br />

Zwangsarbeit verrichtet, in Wien waren sie auf 67 verschiedene Lager aufgeteilt<br />

und haben in 105 Betrieben gearbeitet. Die Verhältnisse bei den ungarischen Juden und<br />

Jüdinnen waren zum Teil ganz katastrophal. Ein Beispiel ist das Lager Felixdorf, das Ende<br />

Dezember/Anfang Jänner 1945 eingerichtet wurde, dort verstarben 1865 von 2087 Gefangenen,<br />

die Todesursachen waren Unterernährung, Seuchen und Misshandlungen. Das<br />

ist eine Todesrate, die bei weitem über der eines „normalen“ Konzentrationslagers liegt,<br />

abgesehen natürlich von den Vernichtungslagern, in denen fast 100 Prozent der Häftlinge<br />

ermordet wurden. Ein großer Teil der zu Kriegsende noch lebenden ungarischen Juden<br />

und Jüdinnen wurde vor der Befreiung in Todesmärschen Richtung Mauthausen und von<br />

dort weiter nach Gunskirchen getrieben. In Gunskirchen wurden ca. 15.000 bis 18.000<br />

ungarische Juden und Jüdinnen von den Amerikanern befreit, die über die dort herrschenden<br />

Zustände völlig schockiert waren.<br />

Insgesamt muss man für den Herbst 1944 von einer Zahl von 700.000 Menschen ausgehen,<br />

die Zwangsarbeit geleistet haben. Das ist allerdings nur eine Gesamtzahl zu einem<br />

46 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


estimmten Zeitpunkt. Dabei ist noch nicht die Fluktuation berücksichtigt, die es bei allen<br />

Gruppen von ZwangsarbeiterInnen gegeben hat. Will man die Gesamtzahl der in Österreich<br />

beschäftigten ZwangsarbeiterInnen errechnen, so muß man zu den 700.000 im<br />

Herbst 1944 jene dazuzählen, die noch bis 1945 nach Österreich kamen, außerdem die<br />

Verstorbenen, Geflohenen oder auch jene, die in ihre Heimatländer zurückgeschickt wurden,<br />

weil sie krank wurden. Es wird noch eine wichtige Aufgabe der historischen Forschung<br />

sein, die Gesamtzahl zu ermitteln.<br />

Aus welchen Ländern stammten die zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen?<br />

Die größte Gruppe, ungefähr 178.000 Menschen, waren sicherlich die sogenannten „Ostarbeiter“<br />

und „Ostarbeiterinnen“. Die Nationalsozialisten haben immer darauf geachtet,<br />

dass auch ein relativ hoher Anteil von Frauen mitdeportiert wird. Damit wollten sie erreichen,<br />

dass die Zwangsarbeiter unter sich bleiben und möglichst keine Kontakte der ausländischen<br />

Männer zu „deutschen“ Frauen entstehen. Aus diesem Grund hat man immer versucht,<br />

zwischen 30 und 50 Prozent Frauen zu deportieren. Diese Menschen stammten vor<br />

allem aus der Ukraine, aus Russland, zum Teil auch aus Polen und aus Weißrussland. Die<br />

genaue Herkunft lässt sich jedoch nach den NS-Statistiken nicht rekonstruieren, weil sie die<br />

Nationalität der sogenannten „OstarbeiterInnen“ nicht erfassten. Aus dem ➤ Generalgouvernement,<br />

also dem Teil Polens, der nicht in das Deutsche Reich eingegliedert wurde und der<br />

durch den Generalgouverneur Frank verwaltet war, und aus dem Bezirk Bialystok kamen<br />

am Stichtag 30. September 1944 106.000 Menschen, aus dem Protektorat Böhmen und<br />

Mähren, dem heutigen Tschechien, 61.000, außerdem waren zu diesem Zeitpunkt 57.000<br />

Franzosen und Französinnen, 49.000 ItalienerInnen, 33.000 JugoslawInnen und andere<br />

kleinere Nationalitätengruppen in Österreich. Aufschlußreich ist der Anteil ausländischer<br />

Arbeitskräfte an der Gesamtzahl der Arbeitskräfte, der während des Krieges stetig angestiegen<br />

ist. Berücksichtigt man nur die Zahl der zivilen AusländerInnen, waren es im Durchschnitt<br />

25 Prozent aller Beschäftigten. Berücksichtigt man alle Gruppen von ZwangsarbeiterInnen,<br />

kommt man auf ca. 30 bis 33 Prozent aller Beschäftigten, die am 30. September<br />

1944 zwangsweise zu Arbeit eingesetzt wurden. Die entsprechenden Zahlen für die in den<br />

einzelnen „Gauen“ eingesetzten zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen sind für Niederdonau<br />

rund 32,3 Prozent, an zweiter Stelle lag die Steiermark mit 29,3 Prozent, danach<br />

Oberdonau mit 29,3 Prozent, Kärnten mit 28,7 Prozent, Salzburg mit 22,8 Prozent,<br />

Tirol-Vorarlberg mit 22,2 Prozent und Wien mit 16,7 Prozent. In diesen Zahlen sind Kriegsgefangene,<br />

KZ-Häftlinge, ungarische Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti und die anderen<br />

Gruppen von Zwangsarbeitskräften noch nicht enthalten. Die Verteilung der zivilen ausländischen<br />

Zwangsarbeitskräfte in den einzelnen „Gauen“ macht deutlich, wo die Schwerpunkte<br />

der Rüstungswirtschaft lagen und wo der größte Arbeitskräftemangel bestand. Daher<br />

muß man davon ausgehen, dass dort, wo es schon einen hohen Anteil von zivilen ausländischen<br />

Arbeitskräften gab, auch der Anteil von Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen usw.<br />

entsprechend höher war.<br />

In welchen Bereichen der österreichischen Wirtschaft wurden zivile und andere<br />

ZwangsarbeiterInnen eingesetzt?<br />

Von den zivilen AusländerInnen war der größte Teil, nämlich ca. 35 Prozent aller zivilen<br />

ausländischen Zwangsarbeitskräfte nach einer NS-Statistik vom 15. November 1943 in der<br />

Landwirtschaft eingesetzt, weiters in allen kriegs- bzw. rüstungsrelevanten Bereichen, das<br />

heißt im Maschinen-, Kessel-, Apparate- und Fahrzeugbau; darunter fallen Autofirmen ebenso<br />

wie die Luftfahrtindustrie, die Eisenbahnindustrie, das heißt die Lokomotivproduktion und<br />

ähnliches, mit einem Anteil von 13,5 Prozent aller zivilen AusländerInnen im November<br />

1943. Bau- und Nebengewerbe waren besonders wichtig, weil in der NS-Zeit sehr viele<br />

neue Fabriken, neue Kraftwerke usw. gebaut wurden. Dort gab es einen ganz besonders<br />

hohen Anteil von zivilen AusländerInnen und auch KZ-Häftlingen, für zivile ausländische<br />

Zwangsarbeitskräfte liegt die Zahl bei ca. 12,8 Prozent. In der Eisen-, Stahl- und Metallwa-<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Interview mit Florian Freund<br />

47


Zwangsarbeit in Österreich<br />

ZWANGSARBEITER UND ZWANGSARBEITERINNEN IN DER „OSTMARK“. EINE ÜBERSICHT 1<br />

Anzahl und Nationalität der zivilen AusländerInnen in der „Ostmark“<br />

25.4.1941<br />

10.7.1942<br />

15.11.1943<br />

30.9.1944<br />

25.4.1941<br />

10.7.1942<br />

15.11.1943<br />

30.9.1944<br />

25.4.1941<br />

10.7.1942<br />

15.11.1943<br />

30.9.1944<br />

Polen Italiener Jugoslawen Franzosen Ungarn Sowjets Protektorat<br />

40.928 15.298 20.594 589 8.258 538 n.erfaßt<br />

62.568 32.802 35.345 2.592 12.335 45.803 37.677<br />

97.382 17.800 35.131 62.303 12.018 153.310 66.553<br />

106.023 49.078 33.916 57.628 10.759 178.596 61.738<br />

Beschäftigte AusländerInnen in der Ostmark am 15.11.1943 2<br />

(incl. „OstarbeiterInnen“, ohne Kriegsgefangene, auf Grund der Arbeitsbuchstatistik)<br />

Wien<br />

Niederdonau<br />

Oberdonau<br />

Tirol/Vlbg<br />

Salzburg<br />

Kärnten<br />

Steiermark<br />

Gesamt:<br />

Slowaken Dänen Niederländer Belgier Griechen Rumänen Bulgaren<br />

22.180 575 895 926 n.erfaßt n.erfaßt 3.414<br />

23.799 444 2.096 2.467 n.erfaßt n.erfaßt n erfaßt<br />

n.erfaßt n.erfaßt 3.411 4.237 n.erfaßt n.erfaßt n.erfaßt<br />

13.213 415 3.651 17.949 10.481 2.978 6.221<br />

Schweizer Sonstige AusländerInnen in der<br />

„Ostmark“ gesamt<br />

684 13.851 12.8730<br />

n.erfaßt 44.536 30.2464<br />

n.erfaßt 75.445 52.7590<br />

861 27.133 58.0640<br />

InländerInnen AusländerInnen In- und<br />

AusländerInnen<br />

AusländerInnen in Prozent<br />

aller Beschäftigten<br />

600.710 114.730 715.440 16,04%<br />

345.298 147.500 492.798 29,93%<br />

245.827 88.483 334.310 26,47%<br />

113.702 28.118 141.820 19,83%<br />

62.049 16.819 78.868 21,33%<br />

97.932 30.837 128.769 23,95%<br />

242.448 86.431 328.879 26,28%<br />

1,707.966 512.918 2,220.884 23,10% 19,70%<br />

Beschäftigte AusländerInnen in der Ostmark am 30.9.1944 3<br />

(incl. „OstarbeiterInnen“, ohne Kriegsgefangene, auf Grund der Arbeitsbuchstatistik)<br />

Wien<br />

Niederdonau<br />

Oberdonau<br />

Tirol/Vlbg<br />

Salzburg<br />

Kärnten<br />

Steiermark<br />

Gesamt:<br />

InländerInnen AusländerInnen In- und<br />

AusländerInnen<br />

1 Statistik zusammengestellt nach: Der Arbeitseinsatz<br />

in der Ostmark (einschließlich der angegliederten sudetendeutschen<br />

Gebiete). Mitteilungen des Reichsarbeitsministeriums,<br />

Zweigstelle Österreich für Arbeitseinsatz<br />

und Arbeitslosenhilfe, Jg. 1939; Der Arbeit-<br />

AusländerInnen in Prozent<br />

aller Beschäftigten<br />

579.824 116.226 696.050 16,70%<br />

336.184 160.116 496.300 32,26%<br />

242.249 100.373 342.622 29,30%<br />

110.386 31.577 141.963 22,24%<br />

63.633 18.841 82.474 22,84%<br />

95.123 38.378 133.501 28,75%<br />

244.504 101.485 345.989 29,33%<br />

Deutsches<br />

Reich<br />

Deutsches<br />

Reich<br />

1,671.903 566.996 2,238.899 25,32% 20,5%<br />

seinsatz im Großdeutschen Reich, Jg. 1940–1944.<br />

2 Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, Nr. 1,<br />

31.1.1944, S. 5 ff<br />

3 Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, Nr. 9,<br />

30.9.1944, S. 8 ff. Quelle: Florian Freund<br />

48 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


enherstellung, also Kanonen-, Panzerfabrikation und ähnliches, waren 6 Prozent der zivilen<br />

AusländerInnen beschäftigt. In der Eisen- und Metallgewinnung – darunter fallen zum<br />

Beispiel die „Hermann Göring Werke“, aus denen nach 1945 die VOEST hervorgegangen<br />

ist, Böhler u.a. – waren es 3 Prozent, und bei der Reichsbahn, den heutigen ÖBB, waren zu<br />

diesem Zeitpunkt 15.355 zivile AusländerInnen beschäftigt, also fast 3 Prozent aller zivilen<br />

AusländerInnen. Zu diesem Zeitpunkt hat es etwa auch 8900 Dienstmädchen in Österreich<br />

gegeben, die Zwangsarbeiterinnen waren, was auch eine ganz beachtliche Zahl ist. Auch<br />

die Fremdenverkehrswirtschaft hat 7522 ZwangsarbeiterInnen beschäftigt, in erster Linie in<br />

den Gauen Tirol-Vorarlberg und Salzburg.<br />

Wieviele österreichische Firmen waren in die Zwangsarbeit involviert, welche<br />

ökonomische Bedeutung hatte die Zwangsarbeit für den Staat und<br />

für die einzelnen Firmen?<br />

Es haben praktisch alle für die Rüstungswirtschaft relevanten Firmen in der einen oder<br />

anderen Form ZwangsarbeiterInnen beschäftigt. So wäre zum Beispiel die gesamte Raketenrüstung,<br />

der Bau der sogenannten „Wunderwaffe“, ohne Zwangsarbeit, insbesondere<br />

KZ-Zwangsarbeit unmöglich gewesen. Führend bei der Beschäftigung von ZwangsarbeiterInnen<br />

war ganz sicher Steyr-Daimler-Puch. Wie mein Kollege Bertrand Perz erforscht hat,<br />

beschäftigte Steyr-Daimler-Puch im Herbst 1944 ca. 50.000 Personen, von denen der größte<br />

Teil zivile AusländerInnen waren. Zu diesen 50.000 sind zu diesem Zeitpunkt mindestens<br />

noch 20.000 bis 30.000 KZ-Häftlinge dazuzuzählen, die in den Statistiken üblicherweise<br />

nicht aufscheinen. Sie machten aber einen ganz erheblichen Anteil der Beschäftigten aus,<br />

die direkt oder indirekt für die Steyr-Daimler-Puch gearbeitet haben. Bei den Baufirmen ist<br />

es ganz ähnlich. Die Universale Bau AG zum Beispiel hat auch in großem Ausmaß KZ-Häftlinge<br />

beschäftigt, andere Baufirmen wiederum beschäftigten nur zivile AusländerInnen. Das<br />

war von Firma zu Firma immer wieder unterschiedlich, vor allem auf Grund der Bauprojekte,<br />

in die die Firmen involviert waren. Die Firmen selbst haben während der gesamten NS-<br />

Zeit sozusagen um Arbeitskräfte gerauft. Den meisten Privatfirmen war es vermutlich lieber,<br />

wenn es InländerInnen waren, weil sie sich dadurch die Probleme und Kosten ersparen<br />

konnten, die z.B. die Überwachung, Separierung, Ernährung der ZwangsarbeiterInnen und<br />

der Einfluß der SS bei der Beschäftigung von KZ-Häftlingen aus ihrer Sicht mit sich brachten.<br />

Aber inländische Arbeitskräfte hat es einfach nicht gegeben, weil ein großer Teil der<br />

Männer zur Wehrmacht eingezogen war und das NS-Regime die Erwerbsarbeit von Frauen<br />

nicht unbedingt forcieren wollte. Letztlich waren die ZwangsarbeiterInnen die einzige<br />

Möglichkeit, zusätzliche Arbeitskräfte zu bekommen, durch sie konnten die Firmen expandieren.<br />

Mehr Umsatz bedeutete mehr Gewinn, und ohne diese Arbeitskräfte hätten sie<br />

weder Umsatz noch Gewinn machen können. Zwangsarbeit hatte also eine ganz große<br />

Bedeutung für die einzelnen Firmen. Die gesamte Kriegswirtschaft wäre ohne den Einsatz<br />

von ZwangsarbeiterInnen spätestens Ende 1941 zusammengebrochen. Zu diesem Zeitpunkt<br />

hatten sich die ganzen ökonomischen Rahmenbedingungen auf Grund der Tatsache<br />

verändert, dass man die Wirtschaft auf einen lange dauernden Krieg umstellen musste.<br />

Insofern waren diese Menschen im wahrsten Sinne des Wortes gezwungen, zur Verlängerung<br />

des Krieges beizutragen.<br />

Wie viele dieser ehemaligen ZwangsarbeiterInnen leben heute noch?<br />

Wenn man eine Gesamtschätzung derer versucht, die heute noch leben, muss man sich an<br />

den Zahlen orientieren, die die „Vereinigung der durch das Dritte Reich geschädigten<br />

Polen“ durch sehr intensive Umfragen erhoben hat. Sie geht davon aus, dass heute noch<br />

ca. 25.000 Polen und Polinnen leben, die als KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, zivile AusländerInnen<br />

oder einer der anderen Gruppen zugehörig in irgendeiner Weise Zwangsarbeit<br />

in Österreich geleistet haben. Nimmt man an, dass bei anderen Nationalitäten die Überlebensrate<br />

ähnlich ist, dann kann man davon ausgehen, dass heute noch insgesamt ca.<br />

100.000 ehemalige ZwangsarbeiterInnen leben. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Interview mit Florian Freund<br />

49


Zwangsarbeit in Österreich<br />

Lebenserwartung in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ganz unterschiedlich ist zur<br />

Lebenserwartung in Polen, und diese ist wiederum völlig unterschiedlich zur Lebenserwartung<br />

in den westlichen Industrieländern. Diese Zahl ist also nur eine grobe Schätzung. Wir<br />

wissen es noch nicht genau, und für die Frage der Entschädigungszahlungen ist es auch<br />

nicht das Hauptproblem, außer, dass man die Gesamtkosten noch nicht genau abschätzen<br />

kann. Aber wir wissen, unter welchen Bedingungen und unter welchem Grad von Zwang<br />

die einzelnen Gruppen von Betroffenen in Österreich Zwangsarbeit geleistet haben, das ist<br />

absolut eindeutig. Bei den zivilen AusländerInnen muss man differenzieren. Es sind nicht<br />

alle Nationalitäten gleich behandelt worden. Angehörige mit dem Deutschen Reich verbündeter<br />

Nationen wurden besser behandelt, zum Beispiel KroatInnen, oder, solange Italien<br />

mit dem Deutschen Reich verbündet war, auch die ItalienerInnen. Ab Herbst 1943, mit dem<br />

Abschluss eines Waffenstillstands zwischen Italien und den Alliierten, änderte sich das radikal,<br />

und die ItalienerInnen wurden danach ganz besonders diskriminiert. Die sogenannten<br />

„WestarbeiterInnen“, sprich HolländerInnen, Franzosen und Französinnen, ItalienerInnen,<br />

DänInnen wurden grundsätzlich wesentlich besser behandelt als die sogenannten „OstarbeiterInnen“<br />

oder Polen und Polinnen. Den Nationalsozialisten ist es gelungen, eine rassistisch<br />

hierarchisierte Gesellschaft aufzubauen, die im Sinne der Machthaber „sehr gut“<br />

funktioniert hat. Sie hat unter aktiver Beteiligung eines Teils der Bevölkerung funktioniert, zumindest<br />

aber unter Billigung einer Mehrheit, ohne dass es notwendig war, sich selbst daran<br />

zu aktiv zu beteiligen.<br />

Haben ehemalige ZwangsarbeiterInnen in Österreich bisher Entschädigung erhalten?<br />

Meines Wissens nicht. Es haben nur jene eine Entschädigung erhalten, die österreichische<br />

StaatsbürgerInnen waren. Sie haben ihre Haftzeiten entschädigt bekommen, nicht aber die<br />

Arbeitsleistung, die sie damals erbracht haben. Die zivilen AusländerInnen und auch alle<br />

anderen Gruppen wurden von österreichischer Seite weder für die Haftzeiten noch für die<br />

Arbeit entschädigt, die sie geleistet haben. Einige österreichische Firmen haben allerdings<br />

nun die Bereitschaft bekundet, den ehemals bei ihnen beschäftigten ZwangsarbeiterInnen<br />

eine Entschädigung zu zahlen.<br />

Warum und auf Grund welcher Rechtslage wurden sie bisher nicht entschädigt?<br />

Österreich hat sich erstens nie als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches gesehen, was<br />

formal auch dem Völkerrecht entspricht. Allerdings hat man auch keine moralische<br />

Verpflichtung gesehen, die wird erst jetzt, zumindest verbal, übernommen, weil auch der<br />

internationale Druck größer geworden ist. Ansonsten haben sich die Firmen ja nie rechtfertigen<br />

müssen. Ihre Antworten auf entsprechende Anfragen von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen<br />

waren teilweise sehr zynisch. Zum Beispiel hat eine Baufirma auf die Anfrage<br />

eines KZ-Häftlings geantwortet: „Wir haben ohnehin für Ihre Arbeitskraft an die SS<br />

bezahlt, daher sehen wir uns außerstande, Ihnen etwas zu zahlen.“ So in dieser Art lauteten<br />

die Antworten von Firmen. Es hat im Grunde überhaupt kein Unrechtsbewusstsein gegeben,<br />

weder bei den Firmen noch in der Öffentlichkeit. Und ich befürchte, auch bei der<br />

jetzigen Debatte wurde bisher viel zu wenig vermittelt, welches Unrecht diesen Menschen<br />

angetan wurde.<br />

Warum wird gerade jetzt die Frage nach der Verantwortung österreichischer Unternehmen<br />

und der Entschädigung von Zwangsarbeit gestellt?<br />

Ich glaube, dass hier mehrere Faktoren ganz wesentlich sind: Erstens einmal die völlig veränderte<br />

politische Situation in Europa durch das Ende des Kalten Krieges, durch die<br />

Ostöffnung, was ganz andere politische Kontakte möglich gemacht hat. Bis dahin lautete<br />

die Begründung ja immer: „Bis zu einem Friedensvertrag wird mit diesen Ländern über<br />

diese Fragen nicht verhandelt.“ Der zweite und meiner Meinung nach wichtigste Grund ist<br />

die Möglichkeit, die das amerikanische Recht geboten hat, mit sogenannten class actions,<br />

also ➤ Sammelklagen, gegen die Firmen vorzugehen. Das ist im Zusammenhang mit der<br />

50 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


internationalen Entwicklung der Globalisierung zu sehen. Es gibt kaum eine größere österreichische<br />

Firma, die nicht irgendetwas mit den USA zu tun hat. Sobald es eine Geschäftsverbindung<br />

gibt, kann eine solche Klage in den USA eingebracht werden. Das sind meiner<br />

Meinung nach die zentralen Gründe, warum die Entschädigungsfrage heute debattiert<br />

wird. Der letzte Grund ist auch im Zusammenhang mit dem Generationswechsel zu sehen.<br />

Die Kriegsgeneration ist heute in einem sehr hohen Alter, gleichzeitig ist aber eine jüngere<br />

Generation nachgekommen, die einfach sagt: „Das ist Unrecht, darüber muss man reden,<br />

und es muss – auch im Nachhinein und auch, wenn es nur symbolisch ist – entschädigt<br />

werden.“ Das ist eine, wenn man so will, „zornige“ jüngere Generation, die keine großen<br />

Rücksichten auf Empfindlichkeiten nimmt, auch nicht auf Empfindlichkeiten in Österreich.<br />

Ich glaube, diese Gründe haben eigentlich erst bewirkt, dass auch in Österreich langsam<br />

eine solche Diskussion vorankommt. Ich befürchte nur, vor den Wahlen im Herbst 1999<br />

wird in dieser Hinsicht nichts mehr passieren, und nach den Wahlen wird alles wieder<br />

offen sein.<br />

Einige österreichische Unternehmen haben nun Forschungsteams eingesetzt,<br />

die das Ausmaß von Vermögensentzug durch Zwangsarbeit erforschen sollen.<br />

Werden die Ergebnisse dieser Teams eine Grundlage für künftige<br />

Entschädigungsleistungen liefern?<br />

Genau darum geht es. Ich glaube, die klügeren Firmenmanagements haben erkannt, dass<br />

es besser ist, genau Bescheid zu wissen und nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Es<br />

muss garantiert sein, dass all diese Forschungsteams völlig unabhängig arbeiten und<br />

dass ihre Ergebnisse ohne jeden Eingriff, ohne jede Einflussnahme von Seiten der Firmen<br />

publiziert werden. Daher sind sehr interessante Ergebnisse zu erwarten. Für die Firmen<br />

geht es darum, in irgendeiner Weise mit dieser Situation umzugehen. Für die heutigen<br />

Firmen, zumindest für die großen Firmen, stellt sich das Problem, dass in der Regel der<br />

Imageschaden, der durch die langwierigen Diskussionen über diese Fragen entsteht, viel<br />

größer ist als das, was sie tatsächlich an Entschädigungen zahlen würden. Das ist das<br />

Hauptmotiv für die Firmen. Die großen Firmen müssten eigentlich Interesse an einer einvernehmlichen<br />

Regelung dieser Fragen haben. Aber einige Firmen stecken halt den Kopf<br />

in den Sand und lassen es auf Klagen ankommen. Das halte ich allerdings für keine sehr<br />

kluge Strategie.<br />

Welcher Unterschied besteht zwischen der von der Regierung eingesetzten<br />

Historikerkommission und den von Firmen finanzierten Forschungsteams?<br />

Zwischen den von Firmen finanzierten Forschungsteams und der Historikerkommission liegt<br />

der Unterschied in der Dimension. Die Untersuchungen zu einzelnen Firmen behandeln<br />

Spezialfragen, an deren Beispiel man allerdings sehr viel an allgemeinen Vorgängen auf<br />

diesem Gebiet aufzeigen kann. Die österreichische Historikerkommission muss demgegenüber<br />

sehr viel umfassender an die Frage herangehen, weil auch Vorgänge betroffen sind,<br />

mit denen die Firmen nur zum Teil etwas zu tun hatten, und die man in einem größeren<br />

Zusammenhang sehen muss. Das betrifft jede Form von „Arisierung“, Enteignung von<br />

Grundstücken, also Immobilien, Enteignung von betrieblichem Eigentum. Es betrifft genauso<br />

Berufsverbote, es betrifft die nationalen Minderheiten und deren teilweise oder völlige Enteignung,<br />

wie zum Beispiel die Roma und Sinti. In einem allgemeineren Sinn betrifft das<br />

auch die Zwangsarbeit. Von Seiten der Historikerkommission hat man ein Interesse daran,<br />

zum Beispiel das Thema Zwangsarbeit in der Landwirtschaft aufzuarbeiten, weil klar ist,<br />

dass kein noch so großer Gutsbetrieb ein eigenes Forschungsteam finanzieren kann. Das<br />

ist natürlich eine staatliche Angelegenheit, ebenso wie die Erhebung österreichweiter Zahlen,<br />

die Analyse der damaligen Rechtsvorschriften und ihrer Umsetzung. Daher ist es meines<br />

Erachtens absolut notwendig, die Frage der Zwangsarbeit im Rahmen der Historikerkommission<br />

zu untersuchen.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Interview mit Florian Freund<br />

51


Zwangsarbeit in Österreich<br />

Befinden sich die Historikerkommission und die Forschungsteams nicht in einem<br />

Konflikt zwischen komplexen Erklärungsmodellen der historischen Forschung<br />

einerseits und andererseits der Erwartung der Öffentlichkeit, dass es klare,<br />

eindeutige Fakten und Zahlen geben wird?<br />

Ich glaube, man muss beides verbinden, und es ist auch die Aufgabe der HistorikerInnen,<br />

die für die Kommission arbeiten werden, dass sie sich eben nicht nur auf das eine oder<br />

auf das andere beschränken. Es ist eine klassisch historische Arbeit gefordert, wobei natürlich<br />

ein Schwerpunkt auf der Recherche von sogenannten Fakten liegen wird: Wie hoch<br />

war der Vermögensentzug da oder dort? Wie und wieviel wurde nach 1945 rückgestellt<br />

und entschädigt? Es geht also um die berühmten „W-Fragen“ – wer, wie, wo, was, wann,<br />

warum –, dazu gehören aber auch komplexe Analysen. Dieselben Fragen muss man für<br />

die Zweite Republik untersuchen. Und da gehört wiederum beides dazu: Auf der einen<br />

Seite steht die reine Faktizität – wieviel wurde denn eigentlich zurückgegeben? Und auf<br />

der anderen Seite die Erklärung, warum wurde was zurückgegeben oder nicht zurückgegeben,<br />

warum wurde entschädigt und warum nicht. Das sind alles Fragen, die man<br />

klären muss, und insofern findet diese Teilung zwischen Faktizität und Theorie eigentlich<br />

nicht statt. Es soll eine solide historische Arbeit geleistet werden. Es ist allerdings eine sehr<br />

eingeschränkte Fragestellung, die Frage des Vermögensentzugs ist nicht eine Geschichte<br />

des Nationalsozialismus in Österreich, sondern sie ist ein Teil dieser Geschichte. Und ich<br />

befürchte, dass alle anderen Bereiche der Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich<br />

weiterhin eben nicht erforscht werden. Ich befürchte, dass man nach dem Endbericht<br />

der Historikerkommission erst recht keine Forschungsprojekte zum Thema Nationalsozialismus<br />

mehr fördern wird. Es gibt aber noch viele offene Fragen, z.B. ist die ganze NS-Täterseite<br />

noch nicht erforscht. Es gibt hunderte ganz wichtige Fragen, die international bereits<br />

diskutiert werden und die in Österreich seit Jahrzehnten in der Forschung blockiert sind,<br />

weil es dafür keine Finanzierung gibt und weil die Widerstände in der Politik in den<br />

letzten Jahrzehnten viel zu groß waren. Die Ausrede wird dann sein: „Jetzt haben wir eh<br />

schon so viel Geld in eine Historikerkommission investiert, jetzt muss einmal etwas anderes<br />

gemacht werden.“<br />

Gibt es in der Bundesrepublik Deutschland schon Modelle für Entschädigungen für<br />

ZwangsarbeiterInnen?<br />

Dort wird diese Frage schon wesentlich konkreter verhandelt als bei uns. In Deutschland<br />

sind zwei verschiedene Fonds in Diskussion, die man bis zum 1. September einrichten will.<br />

Ein Fonds soll von Firmen finanziert werden und ist für die Personen gedacht, die bei<br />

diesen Firmen Zwangsarbeit geleistet haben. Ein weiterer Fonds wird voraussichtlich von<br />

der deutschen Regierung eingerichtet für die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, für die<br />

keine Firmengelder vorhanden sind. Man verhandelt derzeit über die Höhe der Entschädigungssumme,<br />

die zwischen 5000 und 10.000 Mark liegen soll und die direkt an die<br />

ehemaligen ZwangsarbeiterInnen ausbezahlt werden wird. Es gibt allerdings noch eine<br />

Menge juridischer Probleme, weil die Firmen natürlich eine Konstruktion finden wollen, mit<br />

der sie künftigen Klagen entgehen können.<br />

Welche Möglichkeiten der finanziellen Entschädigung für Zwangsarbeiter –<br />

Individualentschädigung, Globalentschädigung, eine symbolische Summe oder die<br />

Auszahlung der Lohndifferenz – werden derzeit in Österreich diskutiert?<br />

Es kann letztendlich ja nur um symbolische Summen gehen. Wie will man etwa eine<br />

Zwangsarbeiterin entschädigen, die hier ein Kind bekommen hat, das ihr nach der Geburt<br />

weggenommen wurde, das man mit Absicht in sogenannten Kinderheimen für „Ostarbeiterinnen“<br />

verhungern oder sonst irgendwie zu Tode kommen hat lassen? Wie will man solche<br />

Dinge entschädigen? Es kann immer nur um symbolische Summen gehen. Und ich glaube,<br />

das sollte auf jeden Fall in Form einer Individualentschädigung geschehen, die direkt an<br />

die einzelnen Betroffenen geht. Stellen Sie sich einmal vor, was es für ehemalige Zwangs-<br />

52 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


arbeiterInnen bedeutet, die heute in der Ukraine, in Polen oder anderswo im Elend leben<br />

und fast keine Pensionen bekommen, wenn ihnen jetzt in Devisen eine bestimmte Summe<br />

ausbezahlt wird. Dann können sie wenigstens jetzt, im hohen Alter, vernünftig leben. Das<br />

sollte man auf jeden Fall machen und nicht zu lange warten, denn mit jeder Woche, die<br />

man noch wartet, sterben wieder einige. Diese Strategie, alles in die Länge zu ziehen,<br />

weil das billiger kommt – nach der alten Devise seit 1945, wie Robert Knight in seinem<br />

Buch „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen …“ bereits nachgewiesen hat –,<br />

empfinde ich als ziemlich schäbig.<br />

Dr. Florian Freund ist Historiker, Univ.Lektor am Institut für<br />

Zeitgeschichte der Universität Wien,<br />

Forschungsschwerpunkte: Kriegswirtschaft, Zwangsarbeit,<br />

Konzentrationslager, Verfolgung der österreichischen<br />

Roma und Sinti im Nationalsozialismus<br />

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Interview mit Florian Freund<br />

53


Roma und Sinti<br />

Sterilisationsopfer<br />

„Euthanasie“-Opfer<br />

„Asoziale“<br />

Leben im Verborgenen<br />

Frauen im Widerstand<br />

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Die vergessenen Opfer<br />

Das folgende Kapitel umfaßt Texte, die sich mit jenen Gruppen von Opfern des Nationalsozialismus<br />

auseinandersetzen, deren Erfahrungen und Leid lange Jahre in Österreich<br />

tabuisiert wurden: die sogenannten U-Boote, Roma und Sinti sowie andere ethnische<br />

Minderheiten, ZeugInnen Jehovas, Homosexuelle, Vertriebene, Opfer von Sterilisation und<br />

➤ „Euthanasie“ sowie als „asozial“ Verfolgte.<br />

Diese Gruppen wurden sowohl aus sogenannten rassischen oder politischen, religiösen<br />

Gründen, aufgrund sexueller Orientierung oder „fehlender Anpassung“ diskriminiert und<br />

verfolgt. Als Grundlage für ihre Verfolgung, Vertreibung und Ermordung dienten die<br />

➤ „Nürnberger Rassengesetze“ von 1935, die 1938 auch für Österreich Gültigkeit erlangten,<br />

sowie die nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik – am 1.1. 1940 trat in Österreich<br />

etwa das ➤ „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft.<br />

Die Biographie von Betty Voss verdeutlicht, welche entscheidende Rolle die Gesundheitsund<br />

Fürsorgeämter als verlängerter Arm der Verfolgungsbehörden einnahmen, bei der Initiierung<br />

von Entmündigungsverfahren und Zwangspsychiatrierung sowie der Einweisung in<br />

Arbeitshäuser und Konzentrationslager.<br />

Auch die Überstellung von Kindern und Jugendlichen in NS-Erziehungslager und NS-<br />

Erziehungsanstalten erfolgte vielfach durch Registratur und Beurteilung von Fürsorgerinnen.<br />

In welchem Ausmaß Kinder und Jugendliche in derartigen Einrichtungen zu sogenannten<br />

medizinischen Forschungszwecken herangezogen, Opfer von Zwangssterilisation und<br />

„Euthanasie“ wurden, belegen die leidvollen Erfahrungen der ehemaligen „Kinder vom<br />

Spiegelgrund“.<br />

Während einige Texte im nachfolgenden Kapitel die Verfolgung während des Nationalsozialismus<br />

untersuchen, liegt der Schwerpunkt anderer Darstellungen auf dem Umgang<br />

Österreichs mit den Opfern nach 1945. Diese Auswahl soll die Kontinuitäten von Vorurteilen<br />

und Ausgrenzung deutlich machen. Die Stigmatisierung von Roma und Sinti oder<br />

sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen als „asozial“ und „arbeitsscheu“ wie auch die<br />

Kriminalisierung von Homosexualität stellten keine nationalsozialistische Erfindung dar. Und<br />

auch die Anerkennung bzw. Nichtanerkennung als Opfer nach 1945 erfolgte nicht aufgrund<br />

tatsächlicher Verfolgung und den psychischen und physischen Folgeschäden, sondern<br />

nach den weiterhin wirksamen Grundsätzen rassen- und erbbiologischer Ideologie der<br />

NS-Zeit. Die Geschichte der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung (siehe viertes Kapitel) verdeutlicht<br />

dies eindrücklich.<br />

Über die Errichtung des ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus<br />

1995 wurden diese bislang in der Opferfürsorgegesetzgebung entweder unberücksichtigten<br />

oder in unzureichendem Ausmaß berücksichtigten Opfergruppen als solche<br />

anerkannt.<br />

Die folgenden Texte mögen das Ausmaß und die Konsequenzen der Verfolgung veranschaulichen<br />

sowie das vielfach fortgesetzte Leid der ehemaligen Opfer durch ihre<br />

langjährige Nichtanerkennung.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

55


BEINAHE VERGESSENE OPFER – ROMA UND SINTI<br />

BRIGITTE BAILER-GALANDA<br />

„Arbeitsscheu<br />

und asozial“<br />

„Lösung der<br />

Zigeunerfrage“ –<br />

Das Lager<br />

Lackenbach<br />

Die Verfolgung der Roma und Sinti durch das nationalsozialistische Regime wird bis heute<br />

von einer breiteren Öffentlichkeit kaum, von der zeitgeschichtlichen Forschung nur nach<br />

und nach zur Kenntnis genommen, 1 obschon das Vorgehen der nationalsozialistischen Verfolger<br />

gegen die österreichischen „Zigeuner“ 2 in seinen Grundzügen der Verfolgung der Juden<br />

gleicht. Sofort nach dem „Anschluß“ 1938 erfolgten Schulbesuchs- und Berufsverbote,<br />

aufgrund eines Runderlasses des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei Heinrich<br />

➤ Himmler wurden alle „Zigeuner“ durch die Polizeibehörden registriert. 1939 setzten die<br />

ersten umfangreichen Verhaftungsaktionen ein. Aufgrund einer Weisung des Reichskriminalamtes<br />

Berlin wurden Männer mit ihren Söhnen unter dem Vorwand, sie seien arbeitsscheu<br />

und daher „asozial“, in verschiedene Konzentrationslager gebracht. Diese Etikettierung als<br />

„arbeitsscheu und asozial“ bereitete den ehemaligen Häftlingen nach 1945 beträchtliche<br />

Schwierigkeiten mit den Opferfürsorgebehörden. Im Juni 1939 wurden 440 Frauen aus<br />

Wien, Niederösterreich und dem Burgenland ins neu errichtete Frauenkonzentrationslager<br />

Ravensbrück eingewiesen. 3 In den Konzentrationslagern wurden an den Roma und Sinti<br />

Zwangssterilisationen und medizinische Experimente vorgenommen, an deren physischen<br />

und psychischen Folgeschäden die Überlebenden bis heute leiden, 4 auch wenn die Gutachter<br />

in Opferfürsorgefällen dies nicht wahrhaben wollen. 5 Mit Runderlaß des ➤ Reichssicherheitshauptamtes<br />

vom 17. Oktober 1939 wurde angeordnet, daß die Roma und Sinti ihren<br />

Aufenthaltsort ab Ende Oktober ohne polizeiliche Erlaubnis nicht mehr verlassen durften. 6<br />

Ende 1940 wurde die Ausgrenzung und Gettoisierung in eigenen Lagern vollzogen – neben<br />

zahlreichen kleineren Lagern vor allem im burgenländischen ➤ Lackenbach und im Vorort<br />

der Stadt Salzburg, Maxglan. 7 Im November 1941 wurden 5007 österreichische „Zigeuner“,<br />

davon mehr als die Hälfte Kinder, ins Getto von Lodz deportiert und von dort aus wenig<br />

später in den Gaskammern von ➤ Chelmno (Kulmhof) getötet. 8 Im Frühjahr 1943 wurden<br />

tausende Roma und Sinti aus den von Deutschland besetzten Ländern, auch aus Österreich,<br />

ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort in der Nacht vom 2. auf den 3. August<br />

1944 in den Gaskammern von Birkenau ermordet. 9 Zuvor, 1942, waren die im Burgenland<br />

seßhaft gewesenen Familien zum Verkauf ihrer Grundstücke und Häuser gezwungen<br />

worden, ihr Besitz wurde gleichsam ➤ „arisiert“, da – wie der Landrat in Oberwart in einem<br />

Rundschreiben feststellte – „mit einer weiteren Lösung der Zigeunerfrage zu rechnen“ sei. 10<br />

Einen besonderen Stellenwert im Kampf der Roma und Sinti um volle Anerkennung als<br />

Opfer des Nationalsozialismus nahm das burgenländische Lager Lackenbach ein. Offiziell<br />

am 23. November 1940 gegründet, 11 unterstand das Lager der Kriminalpolizeileitstelle<br />

Wien. Die Lagerleitung oblag gleichfalls Beamten der Kriminalpolizei, die jedoch „aufgrund<br />

ihrer Funktion einen SS-Rang hatten“. 12 Erster Kommandant war SS-Obersturmführer<br />

Kohlroß, er starb bei der 1942 in Lackenbach ausgebrochenen Flecktyphusepidemie, sein<br />

Stellvertreter war der später zur Waffen-SS einberufene Polizeibeamte Franz Langmüller,<br />

der 1948 von einem Wiener Volksgericht wegen „Quälerei und Mißhandlung der Lagerinsassen“<br />

verurteilt wurde. 13 Das Lager selbst war in einem größeren Meierhof untergebracht,<br />

die Häftlinge mußten anfänglich in Ställen und später in rasch errichteten Baracken<br />

hausen, wo keinerlei sanitäre Einrichtungen für die vielen hundert Menschen zur Verfügung<br />

standen. Die Ernährungssituation war katastrophal. Im Sommer 1941 war der Lagerbrunnen<br />

ausgeschöpft, die Inhaftierten mußten ihr Trinkwasser dem nahegelegenen Bach entnehmen.<br />

Der Flecktyphusepidemie 1942 fielen zahlreiche Lagerinsassen zum Opfer. Alle<br />

arbeitsfähigen Häftlinge, auch Kinder, wurden entweder an Bauern oder an Unternehmen<br />

als Arbeitskräfte vermietet oder mußten im Lager selbst diverse Arbeiten verrichten. Den<br />

Arbeitslohn erhielt die Lagerverwaltung, die davon den Insassen nur einen kleinen Teil als<br />

„Taschengeld“ ausbezahlte, der Rest wurde für „Verköstigung und Unterbringung“ abgezogen.<br />

Bei Verstößen gegen die Lagerordnung wurden verschiedene Strafen verhängt: Einzelhaft<br />

im „Bunker“, Prügel, strafweises Knien für die Kinder oder auch Essensentzug. Erst als<br />

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SS-Untersturmführer Julius Brunner die Leitung des Lagers übernahm, wurde die Situation<br />

der Häftlinge etwas besser. 14<br />

Die Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie hatten nach 1945<br />

wieder mit denselben Vorurteilen und Vorbehalten zu kämpfen wie vor und während der<br />

NS-Zeit. Sie waren und blieben die „Fremden“, deren Kultur und Lebensweise man<br />

mißtrauisch und ablehnend gegenüberstand, die zu verstehen man sich – abseits romantischer<br />

Klischees – nicht die Mühe machte, obwohl zahlreiche Familien bereits seit mehreren<br />

Generationen beispielsweise im Burgenland ansässig gewesen waren. Nur die Hälfte bis<br />

zu zwei Drittel der Verschleppten kehrte im Burgenland in ihre Heimatgemeinden zurück. 15<br />

Ihre Familien- und Gruppenstrukturen, die in der Kultur der Roma und Sinti besondere Bedeutung<br />

besitzen, hatte der Nationalsozialismus in vielen Fällen zerstört. Bei den Behörden<br />

und Ämtern waren sie nach wie vor Diskriminierungen ausgesetzt, nicht einmal die Ausdrucksweise<br />

hatte sich seit der NS-Zeit wesentlich geändert. Aus der „Zigeunerplage“ war<br />

das „Zigeunerunwesen“ geworden. So stellte die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit<br />

in Wien 1948 fest, „daß das Zigeunerunwesen in einigen Gegenden des Bundesgebietes<br />

wieder im Zunehmen begriffen“ sei „und sich bereits unangenehm bemerkbar“<br />

mache. „Um auf die Bevölkerung Eindruck zu machen, sollen sich Zigeuner oftmals als KZler<br />

ausgeben. Soweit die Voraussetzungen nach der Ausländerpolizeiverordnung gegeben<br />

erscheinen und die Möglichkeit einer Außerlandschaffung besteht, wäre gegen lästige Zigeuner<br />

mit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes vorzugehen und ihre Außerlandschaffung<br />

durchzuführen.“ 16 Bereits Tobias Portschy, burgenländischer Landeshauptmann nach<br />

dem „Anschluß“, hatte 1938 die beste „Lösung der Zigeunerfrage“ in deren „freiwilliger<br />

Abwanderung ins Ausland“ gesehen. 17<br />

Bezeichnend für die Haltung von Gemeinden und Behörden gegenüber den zurückgekehrten<br />

Roma und Sinti ist folgender Fall: Der burgenländische Landarbeiter I. H. wurde bereits<br />

im Juli 1938 in ein Konzentrationslager gebracht. Sein bescheidenes Haus wurde niedergerissen,<br />

die Möbelstücke verschwanden, das übriggebliebene Baumaterial gleichfalls.<br />

Nach seiner Rückkehr verlangte H. von seiner Heimatgemeinde St. Margarethen im Wege<br />

der ➤ Rückstellungsgesetzgebung Ersatz für sein verlorengegangenes Eigentum. Sein Antrag<br />

wurde abgelehnt, in der Begründung des Rückstellungserkenntnisses wird ausgeführt: „Die<br />

Gemeinde St. Margarethen als Antragsgegnerin beantragt Abweisung des Rückstellungsantrages<br />

und wendet ein, daß der Antragsteller ein Haus nicht besaß, sondern nur eine primitive<br />

Unterkunft in einem Erdloch bzw. einer Bretterbude. Desgleichen hätte der Antragsteller<br />

niemals Möbel besessen. Außerdem sei die Aktion gegen die Zigeuner nicht von der Gemeinde<br />

St. Margarethen ausgegangen, sondern von einer Dienststelle der NSDAP. Schließlich<br />

hätte sich die Gemeinde aus dem Baumaterial des Antragstellers überhaupt nichts angeeignet.<br />

Außerdem sei dem Antragsteller von der Gemeinde eine Wohnung zur Verfügung<br />

gestellt worden. Richtig ist, daß Zigeuner zum Kreise der politisch verfolgten Personen<br />

zählen, und erwiesen ist, daß auch der Antragsteller aus der Zigeunersiedlung St. Margarethen<br />

von der ➤ SS in ein KZ verbracht wurde und daß bei dieser Verschleppung der Zigeuner<br />

die Siedlung in Brand aufging. (...) Durch die Auskunft des Amtes der burgenländischen<br />

Landesregierung steht fest, daß die in der Gemeinde St. Margarethen gegen Zigeuner<br />

getroffene Maßnahme keine Aktion seitens der Gemeinde darstellt, sondern auf Grund<br />

der Anordnungen übergeordneter Parteien oder staatlicher Dienststellen zurückzuführen<br />

sind. Durch die Aussage des Zeugen Paul Unger, der Bürgermeister bis zur Machtergreifung<br />

des NS in St. Margarethen gewesen ist, ist erwiesen, daß Antragsteller (sic!) nur eine Hütte<br />

hatte, die mit Holzläden bedeckt war. Durch diesen Zeugen ist aber auch erwiesen, daß<br />

das wenige Material, das nach dem Brand des Zigeunerlagers übrig blieb, von den Ortsbewohnern<br />

als Lohn für die Beseitigung des Lagers in Empfang genommen wurde. Weiters ist<br />

durch diesen Zeugen erwiesen, daß die Zigeuner eine Wohnungseinrichtung überhaupt<br />

nicht besaßen, in einem Bett schlief nur der Zigeunerprimas. Diese Aussage wird von dem<br />

Zeugen Karl Unger, der Bürgermeister während der nationalsozialistischen Aera gewesen<br />

ist, bestätigt. (...) Lediglich der Zeuge Michael Barta gibt in seiner Aussage als Zeuge an,<br />

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Brigitte Bailer-Galanda<br />

57<br />

Von der<br />

„Zigeunerplage“<br />

im NS zum<br />

„Zigeunerunwesen“<br />

nach 1945


Mangelnde<br />

Aufklärung und<br />

Angst vor<br />

Umgang mit den<br />

Behörden<br />

Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti<br />

daß er dem Antragsteller ein Haus in der Größe von 4 mal 4 m aufbauen half.“ 18 Die in<br />

diesem Erkenntnis zum Ausdruck kommende offensichtlich hohe Glaubwürdigkeit, die Aussagen<br />

ehemaliger NS-Funktionäre seitens der Gerichte und Behörden der Zweiten Republik<br />

zugebilligt wurde, findet sich auch in den Beweiswürdigungen der Opferfürsorgebehörden.<br />

Viele der Roma und Sinti scheuten nach Kriegsende Bemühungen um Leistungen nach<br />

dem ➤ Opferfürsorgegesetz, da sie – wie Erika Thurner wohl zu Recht vermutet – den Umgang<br />

mit Behörden fürchteten. Andererseits muß berücksichtigt werden, daß das Opferfürsorgegesetz<br />

vorwiegend nur jenen Menschen bekannt war, die sich in einem der Opferverbände<br />

organisiert hatten oder über Kontakt zu einem solchen Verband verfügten. Außerhalb<br />

der Publikationen der Verbände wurde in den Medien nur wenig über die Gesetzgebung<br />

zugunsten der Opfer berichtet. So könnten zahlreiche Anträge von Sinti und Roma<br />

auch an mangelnder Information gescheitert sein. Doch jene, die den Gang zu den Behörden<br />

auf sich nahmen, sahen sich dort wieder mit Vorurteilen konfrontiert. So schreibt der<br />

„Neue Mahnruf“, der sich ab Beginn der fünfziger Jahre der Anliegen der „Zigeuner“ annahm,<br />

1953: „Die Zigeuner gelten als rassisch Verfolgte und haben daher den Anspruch<br />

darauf, genau so behandelt zu werden wie alle anderen Personen, die aufgrund der<br />

Opfer- und Entschädigungsgesetze irgendwelche Ansprüche stellen können. (...) Es sind uns<br />

aber Fälle bekannt, (...) wo manche Behörden glauben, mit unbegründeten Ausflüchten berechtigte<br />

Ansprüche von Zigeunern abtun zu können, oder die Unkenntnis dieser Personen<br />

dazu ausnützen, sie um Ansprüche bringen zu können.“ 19 Und als 1957 in Oberwart und<br />

Pinkafeld Informationsabende des ➤ KZ-Verbandes über die Opferfürsorgegesetzgebung<br />

stattfanden, mußte die Referentin „mit Erstaunen feststellen“, „daß die burgenländischen<br />

Kameraden, die Zigeuner sind, sehr niedrige Renten beziehen und nicht jene Leistungen<br />

gewährt werden, auf die nach dem Opferfürsorgegesetz Anspruch besteht“. 20 Auch im offiziellen<br />

Kommentar zum Opferfürsorgegesetz vom zuständigen Ministerialrat des Bundesministeriums<br />

für soziale Verwaltung, Dr. Burkhart Birti, findet sich im Stichwortverzeichnis<br />

kein Hinweis auf die „Zigeuner“, auch bei den allgemeinen Erläuterungen zum Personenkreis<br />

der „rassisch“ Verfolgten werden sie nicht erwähnt. Erst bei den Erläuterungen zur<br />

Haftentschädigung kommen auch die „Zigeuner“ vor, und es wird auf die oben erwähnten<br />

Runderlässe des Reichsführers SS und des ➤ Reichssicherheitshauptamtes verwiesen. 21<br />

Roma und Sinti, die außer in Lackenbach noch in anderen Konzentrationslagern inhaftiert<br />

gewesen waren, hatten bescheidene Chancen, einen ➤ Opferausweis oder eine ➤ Amtsbescheinigung<br />

nach Opferfürsorgegesetz zu erhalten, meist jedoch mußten sich diese Opfer<br />

der rassistischen Verfolgung mit einem für sie ziemlich nutzlosen Opferausweis begnügen –<br />

wie hätten sie einen Steuerabsetzbetrag nutzen sollen? Anträge auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung<br />

hingegen scheiterten sehr oft daran, daß das Lager Lackenbach nicht als<br />

Haftstätte gemäß Opferfürsorgegesetz anerkannt wurde. Bereits im November 1952 verfaßten<br />

ehemalige Häftlinge des Lagers eine Niederschrift über den Charakter des Lagers.<br />

Der KZ-Verband nahm sich in der Folge der Anliegen der ehemaligen Lackenbacher an. In<br />

einem Vermerk des Verbandes wurde darauf hingewiesen, daß die Opferfürsorgekommission<br />

sich in einer ihrer nächsten Sitzungen mit dem Problem befassen werde. „Von seiten unseres<br />

Verbandes wird alles unternommen werden, um die Anerkennung des Lagers Lackenbach<br />

durchzusetzen. Es ist uns aber bekannt, und das wollen wir nicht verschweigen, daß<br />

das Finanzministerium und das Sozialministerium gegen die Anerkennung des Lagers<br />

Lackenbach sind, da in diesem Lager vor allem Zigeuner in Haft waren und nach Meinung<br />

der beiden Ministerien die Zigeuner eigentlich nicht als Opfer der Verfolgung zu betrachten<br />

sind.“ 22 Diese übertrieben klingende Behauptung erfährt ihre Bestätigung jedoch in der<br />

Wortwahl eines Bescheides des Sozialministeriums, 23 mit dem der Antrag eines ehemaligen<br />

Lackenbacher Häftlings auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung abgelehnt worden war:<br />

„Was hingegen den vom Beschwerdeführer behaupteten Haftcharakter seiner Anhaltung im<br />

Lager Lackenbach betreffe, habe das belangte Bundesministerium durch Einsicht in die<br />

betreffenden Akten des Bundesministeriums für Inneres (Generaldirektion für die öffentliche<br />

Sicherheit) festgestellt, daß es sich im Falle des Beschwerdeführers keinesfalls um eine Haft<br />

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im Sinne des Opferfürsorgegesetzes gehandelt haben könne. Insbesondere entspreche die<br />

Behauptung des Beschwerdeführers, daß das Lager Lackenbach der ➤ Gestapo unterstellt<br />

gewesen sei, nicht den Tatsachen. In Wahrheit habe es vielmehr der Kriminalpolizeileitstelle<br />

unterstanden. In diesem Lager seien hauptsächlich arbeitslos herumziehende Zigeuner, die<br />

eine Gefahr für das Eigentum dritter Personen darstellten, zusammengefaßt worden, um sie<br />

einer geregelten Arbeit zuführen zu können. Sie seien demnach nicht nach Art von Häftlingen<br />

festgehalten, sondern im Einverständnis mit dem Arbeitsamt den Landwirten zur<br />

Arbeitsleistung zugewiesen worden, wo man sie untertags verpflegt und im Stundenlohn<br />

entlohnt habe. (...) Die Ordnung im Lager sei durch Stammesgenossen (‚Zigeunerkönige‘)<br />

ausgeübt worden, welche die Lagerleitung (zwei Kriminalbeamte der Kripoleitstelle Wien)<br />

zu unterstützen hatten. (...) Lackenbach sei somit kein Konzentrationslager, sondern ein<br />

Arbeitslager gewesen.“ 24 Die hier vom Gerichtshof referierte Ausdrucksweise des Sozialministeriums<br />

ist insoferne mehr als bemerkenswert, als sie sich wörtlich mit der Denkschrift des<br />

burgenländischen Gauleiters Dr. Tobias Portschy über die Zigeunerfrage deckt. Portschy<br />

war darin nämlich zu dem Schluß gekommen: „In der großen Anzahl von fast 8000 Zigeunern<br />

als Nichtstuer, Arbeitsscheue, Lungerer und Verbrecher liegt die große Gefahr für die<br />

Sicherheit des Eigentums und für den wirtschaftlichen Bestand unserer Landgemeinden.“ 25<br />

Im Jahr 1958 kam die Frage nach dem Charakter des Lagers Lackenbach neuerlich vor<br />

den Verwaltungsgerichtshof, als ein ehemaliger Insasse des Lagers Lackenbach einen<br />

Bescheid des Amtes der burgenländischen Landesregierung anfocht. Der Beschwerdeführer<br />

hatte 1952 die Ausstellung einer Amtsbescheinigung beantragt, da er sich infolge der<br />

Haftbedingungen ein Herzleiden zugezogen hatte, „durch welches seine Arbeitsfähigkeit<br />

weitgehend herabgesetzt worden sei“. 26<br />

Dieser Antrag war abgelehnt worden, da „die Voraussetzungen nach § 1 Abs. 1 lit. e OFG<br />

im Hinblick auf das Ausmaß der vorliegenden Gesundheitsschädigung nicht gegeben seien<br />

und die Anhaltung im ‚Arbeitslager Lackenbach‘ allein noch nicht anspruchsbegründend<br />

sei.“ 27 Aufgrund der Berufung des Beschwerdeführers wurde ein ausführliches Ermittlungsverfahren<br />

durchgeführt. Neben ehemaligen Insassen des Lagers wurden vor allem Lagerverantwortliche<br />

aus der NS-Zeit als Zeugen einvernommen: die Lagerbewachungsorgane Josef<br />

Leberl und Nikolaus Reinprecht, Josef Zenz, der für die Abrechnung der Arbeitsleistungen<br />

der Lagerinsassen verantwortlich gewesen war, Roman Neugebauer und Josef Hajek, die<br />

in der Lagerverwaltung tätig gewesen waren, Ignaz Schumeritsch, der für die „Durchführung<br />

eines Zigeunertransportes nach Lackenbach“ verantwortlich gewesen war, sowie<br />

der Lackenbacher Bürgermeister der NS-Zeit, Matthias Hlavin, und der damalige Landrat in<br />

Oberpullendorf, Dr. Friedrich Scheuerle. Außerdem berücksichtigte die Behörde das Strafverfahren<br />

gegen den ehemaligen stellvertretenden Lagerführer Langmüller und erhalten gebliebene<br />

Dokumente aus der NS-Zeit über das Lager. Letztendlich billigte die Behörde den<br />

Aussagen der Funktionäre der NS-Zeit höhere Glaubwürdigkeit zu als den ehemaligen<br />

Lagerinsassen. Insbesondere tauchte in den Aussagen der ehemaligen Lagerfunktionäre<br />

stets wieder die Behauptung auf, die Häftlinge hätten Urlaub beanspruchen können und<br />

sonntags zu Spaziergängen frei gehabt. Die ehemaligen Insassen des Lagers beschrieben<br />

diese Spaziergänge zwar als organisierte Märsche in den Wald zur Sammlung von Brennholz,<br />

28 doch das Argument des „Urlaubs“ wog in den Augen der Behörde schwer. Die<br />

Behörde kam zu dem Schluß: „Die belangte Behörde nahm aufgrund der Angaben der<br />

Zeugen Leberl, Neugebauer, Hajek und Hlavin als erwiesen an, daß die Lagerinsassen<br />

gelegentlich Urlaub und insbesondere an Sonntagen und nach der Arbeitszeit auch Ausgang<br />

erhielten, wobei sie Kinos und Bekannte besuchen konnten. Wohl seien die Angaben<br />

der ehemaligen Lagerinsassen über die Ausgangsmöglichkeiten vielfach widersprechend<br />

gewesen, auch habe der Zeuge R. (ehemals Bewachungsorgan) angegeben, daß es<br />

grundsätzlich keinen Ausgang oder Urlaub gegeben habe. Dem stünde aber die Aussage<br />

des Zeugen Neugebauer als ehemaligem Wirtschaftsführer im Lager gegenüber, der mit<br />

den Lagerverhältnissen aus eigener Wahrnehmung vertraut sei, weshalb im Hinblick auf<br />

die gleichlautenden Angaben der Zeugen Leberl, Hajek und Hlavin den Angaben des<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Brigitte Bailer-Galanda<br />

59<br />

Lackenbach „nur“<br />

ein Arbeitslager?<br />

Die „Glaubwürdigkeit“<br />

ehemaliger<br />

NS-Funktionäre


Eingeschränkte<br />

Entschädigung für<br />

Sinti und Roma<br />

Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti<br />

Zeugen Reinprecht keine entscheidende Bedeutung beigemessen werde. Die Glaubwürdigkeit<br />

der Aussagen der ehemaligen Lagerinsassen sei durch das persönliche Interesse an der<br />

Sache, welches auch Widersprüche mit den sonstigen Beweisergebnissen gezeitigt habe,<br />

gekennzeichnet, während gegen die Aussagen des Zeugen Neugebauer – derzeit im Ökonomiereferat<br />

der Polizeidirektion Wien tätig – keine solchen Bedenken bestünden.“ 29 Daß<br />

die ehemals für die Lagerverhältnisse Mitverantwortlichen gleichfalls schon aus Gründen<br />

der Schuldabwehr geneigt sein mußten, die Zustände in Lackenbach in möglichst positivem<br />

Licht erscheinen zu lassen, bedachte die Behörde offensichtlich nicht, während die Aussagen<br />

der ehemals betroffenen Roma und Sinti vorneweg als unglaubwürdig abgetan<br />

wurden. 30 Mit diesem Erkenntnis legte der Verwaltungsgerichtshof jedenfalls fest, daß es<br />

sich bei der „Anhaltung“ in Lackenbach keinesfalls um eine Haft gehandelt habe. 31 Daher<br />

konnten einerseits aufgrund von Anhaltungen in Lackenbach auftretende Gesundheitsschäden<br />

von den ehemals Inhaftierten nicht geltend gemacht werden – es war ihnen also auf<br />

diese Weise der Weg zu einer Amtsbescheinigung und damit zu Rentenfürsorge verschlossen<br />

–, andererseits konnten sie auch keine Haftentschädigung für die in Lackenbach zugebrachten<br />

Zeiten erhalten. Sie blieben von materiellen Leistungen des Opferfürsorgegesetzes<br />

bis auf weiteres ausgeschlossen. Erst die ➤ 12. Novelle 1961 sah Entschädigungen – die<br />

aber nur die Hälfte der Haftentschädigung ausmachten – für Freiheitsbeschränkungen vor.<br />

Unter diesem Begriff wurde dann auch das Lager Lackenbach subsumiert.<br />

Aufgrund der Nicht-Anerkennung des Lagers als Haftstätte kam es zu seltsamen Kapriolen<br />

der Behördenentscheidungen. Franz S. aus Klagenfurt hatte sich von November 1939 bis<br />

Mai 1945 als „Zigeuner“ in Haft befunden. In einem ersten Bescheid stellten die Kärntner<br />

Behörden fest, „daß die Anhaltung des Beschwerdeführers wegen mehrmaliger Übertretung<br />

des Verbotes des Umziehens nach Zigeunerart und nicht aus politischen bzw. rassischen<br />

Gründen erfolgt sei“. 32 Aufgrund seiner Berufung wurde Franz S. schließlich eine Entschädigung<br />

für die Zeit bis 30. September 1941 zuerkannt, für die Zeiten, die er in sogenannten<br />

„Zigeunerlagern“, darunter auch Lackenbach, zubringen hatte müssen, jedoch nicht – eine<br />

Entscheidung, die auch der Verwaltungsgerichtshof bestätigte. Folgt man dieser Logik, wäre<br />

Franz S. ab Oktober 1941 quasi frei gewesen, denn die Haft endete mit September 1941!<br />

Aufgrund langjähriger Bemühungen der Opferverbände und engagierter Historiker/innen<br />

wurde das Opferfürsorgegesetz 1988 dahingehend geändert, daß nunmehr die ehemaligen<br />

Insassen von Lackenbach auch eine Amtsbescheinigung, und damit Rentenfürsorge erhalten<br />

können: „Opfern der politischen Verfolgung (…), die eine Freiheitsbeschränkung in<br />

der Dauer von mindestens einem halben Jahr erlitten haben, ist an Stelle eines Opferausweises<br />

eine Amtsbescheinigung auszustellen.“ 33 Die Möglichkeit zur Erlangung eines Opferausweises<br />

infolge erlittener Freiheitsbeschränkungen war gleichfalls sehr spät in das<br />

Opferfürsorgegesetz aufgenommen worden, und zwar mit der 23. Novelle aus 1975. 34<br />

Doch nicht nur in der Bewertung des Charakters von Lackenbach wurden weiterwirkende<br />

Vorurteile der Beamten gegen Roma und Sinti deutlich. In manchen Fällen wurde sogar ihre<br />

Verfolgung aus Gründen der Abstammung und damit die Anerkennung als Opfer im Sinne<br />

des Opferfürsorgegesetzes verneint, wobei den „Zigeunern“ ihre auch vor 1938 an die<br />

herrschenden gesellschaftlichen Normen und bürgerlichen Vorstellungen nicht angepaßte<br />

Lebensweise zum Problem wurde. Zahlreiche Roma und Sinti waren wegen ihres nomadisierenden<br />

Lebens wegen Vagabondage, manche auch wegen geringfügigerer Eigentumsdelikte<br />

vorbestraft. Aus diesen Gründen waren Sinti und Roma in der nationalsozialistischen<br />

Zeit vielfach als sogenannte „Asoziale“ inhaftiert gewesen, und die Opferfürsorgebehörden<br />

schlossen sich in solchen Fällen dem von den Nationalsozialisten angeführten<br />

Haftgrund an oder interpretierten diesen in die Verfolgung der Roma und Sinti zurück. Als<br />

„Asoziale“ verfolgt gewesene Menschen haben jedoch bis heute (Stand: 1993) in Österreich<br />

keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Opferfürsorgegesetz. 35<br />

J. P. war von 1941 bis 1945 in Lackenbach inhaftiert gewesen und hatte sich dort ein<br />

Herzleiden, Rheumatismus und Erfrierungen zugezogen. Seine Anerkennung als Opfer<br />

nach dem Opferfürsorgegesetz wurde von der Bezirkshauptmannschaft Oberwart jedoch<br />

60 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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abgelehnt, „da der Beschwerdeführer bereits vor der Verschickung in ein Konzentrationslager<br />

(sic!) wegen Eigentumsdelikten und Vagabundage vorbestraft gewesen sei, weshalb<br />

angenommen werden müsse, daß die Inhaftierung nicht auf Grund der Abstammung allein<br />

erfolgte“. 36 J. P. betrieb nach dieser Ablehnung die Tilgung seiner Vorstrafen und stellte danach<br />

einen neuerlichen Antrag auf Ausstellung eines Opferausweises, der jedoch abermals<br />

zurückgewiesen wurde, da seine seinerzeitige Ablehnung nicht wegen der damals noch ungetilgten<br />

Vorstrafen erfolgt sei: „Es sei im Bescheid lediglich davon gesprochen worden,<br />

daß die Anhaltung des Berufungswerbers in Lackenbach im Hinblick auf seine Vorstrafen<br />

wegen Asozialität und nicht aus Abstammungsgründen erfolgt sein dürfte.“ 37 Der Verwaltungsgerichtshof<br />

schloß sich dieser Auffassung an und wiederholte die Argumentation der<br />

burgenländischen Behörden: „Auf diese Vorstrafen ist nur bei der Frage bedacht genommen<br />

worden, ob der Beschwerdeführer in der nationalsozialistischen Zeit aus rassischen<br />

Gründen oder aus Gründen seiner ‚asozialen Einstellung‘ in das Lager Lackenbach gebracht<br />

wurde. In Bezug auf diese Frage spielt die Tilgung der Strafen naturgemäß keine<br />

Rolle, weil es diesfalls auf die Verhältnisse in der nationalsozialistischen Zeit ankommt.“ 38 In<br />

einem anderen Fall hob der Verwaltungsgerichtshof einen Bescheid des Landeshauptmanns<br />

von Wien auf, worin die Wiener Behörden festgestellt hatten, auf Grund des Erlasses des<br />

Reichsführers SS aus dem Jahre 1939 seien nur asoziale Zigeuner verhaftet und deportiert<br />

worden. Die allgemeine Deportation von Zigeunern habe erst 1942 begonnen, so daß vorher<br />

keine zwingenden Gründe für ein Leben im Verborgenen gegeben gewesen seien und<br />

der Antrag (U-Boot Juni 1939 bis Juni 1942) habe abgewiesen werden müssen. 39<br />

Versuche einzelner Sinti und Roma, über die Geltendmachung einer Einkommensminderung<br />

einen Opferausweis zu erhalten, scheiterten an deren schlechten Einkommensverhältnissen<br />

vor der Verfolgung beziehungsweise an deren Ausnützung als billige, nicht der Sozialversicherung<br />

gemeldete Aushilfsarbeitskräfte. Frau A. H. aus Oberpullendorf beispielsweise<br />

war 1934 bis 1938 als Hilfskraft in einer Gastwirtschaft beschäftigt, verlor diesen<br />

Arbeitsplatz wegen „ihrer Zugehörigkeit zur Zigeunerrasse“. 40 In der Folge wurde sie zu<br />

keinem geregelten Arbeitsverhältnis mehr zugelassen „und habe daher durch mehr als<br />

sechs Jahre aus Gründen der Abstammung einen völligen Einkommensverlust erlitten.“ 41<br />

Trotz anderslautender Aussagen anderer Angestellter der Gastwirtschaft schenkten die<br />

Behörden den Angaben des Gastwirtes und dessen Gattin Glauben, die angaben, A. H.<br />

sei bei ihnen nur fallweise beschäftigt gewesen und das erst ab 1936, weshalb er sie nicht<br />

zur Sozialversicherung angemeldet haben. Die Möglichkeit, daß der ehemalige Arbeitgeber<br />

der A. H. sich mit diesen Angaben mögliche nachträgliche Schwierigkeiten mit der Sozialversicherung<br />

habe ersparen wollen, zogen weder die Behörde noch der Verwaltungsgerichtshof<br />

in Erwägung. Die Aussage angesehener Bürger wog vor dem Gericht einfach<br />

schwerer als die kleiner Angestellter oder gar einer „Zigeunerin“. Hier kam vermutlich zusätzlich<br />

der auch heute bekannte Umstand zum Tragen, daß Menschen aus niedrigen<br />

sozialen Schichten schwerer zu ihrem Recht kommen können als wohlhabende oder gebildete<br />

– ein Problem, das wohl sehr viele der Roma und Sinti bis heute betrifft.<br />

Auch zwangssterilisierte Roma und Sinti fanden keine Anerkennung ihres erlittenen<br />

Gesundheitsschadens. So stellte ein Wiener Amtsarzt fest: „Der somatische Schaden, der<br />

durch die Zwangssterilisation hervorgerufen wurde, ist geringfügig. Nach den Kriegsversehrtenstufen<br />

bedingt ja sogar der Verlust beider Hoden erst die Einstufung in die Versehrtenstufe<br />

II. Immerhin ist der soziale bzw. moralische Schaden für jemanden, der Wert<br />

darauf legt, eine Familie zu gründen, ein derartiger, daß er für die Zwecke der Erlangung<br />

des Opferausweises wohl der Versehrtenstufe III gleichgehalten werden könne. Doch muß<br />

von vornherein der Bewerber darauf aufmerksam gemacht werden, daß Opferrentenansprüche<br />

daraus sich bei der derzeitigen Gesetzeslage schwer ableiten ließen.“ 42 Der Betroffene<br />

J. H. erhielt einen Opferausweis, sein Antrag auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung<br />

wurde jedoch vom Bundesministerium für soziale Verwaltung abgelehnt. 43 Die aus einer<br />

zwangsweisen Unfruchtbarmachung für Roma und Sinti resultierenden schwerwiegenden<br />

sozialen und psychischen Probleme berücksichtigten die amtsärztlichen Gutachten nicht.<br />

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Brigitte Bailer-Galanda<br />

61<br />

Die noch ausstehendeEntschädigung


Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti<br />

Insgesamt konnte nur ein Bruchteil der rund 11.000 verfolgten Roma und Sinti Anerkennung<br />

als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung finden. Laut Burggasser betrug die<br />

Zahl der anerkannten Roma in Österreich nicht einmal ganz 1000 Personen! 44 Angst und<br />

Scheu der Betroffenen vor der Konfrontation mit den Behörden haben dazu ebenso beigetragen<br />

wie Kontinuität von Vorurteilen und die daraus resultierende, ablehnende Haltung<br />

der Behördenvertreter selbst.<br />

1 In diesem Zusammenhang muß auf die verdienstvolle Pionierarbeit<br />

durch Dr. Selma Steinmetz verwiesen werden, die wohl als erste<br />

in Österreich auf das Schicksal der Roma und Sinti in eigenen<br />

Arbeiten aufmerksam machte: Selma Steinmetz, Österreichs Zigeuner<br />

im NS-Staat, Wien 1966; dies., Die Zigeuner, in: Widerstand<br />

und Verfolgung im Burgenland 1934-1945, hsg. v. Dokumentationsarchiv<br />

des österreichischen Widerstandes, Wien 1979, S<br />

244ff. Seit Beginn der achtziger Jahre widmet sich vor allem Erika<br />

Thurner dieser Thematik: Erika Thurner, Nationalsozialismus und<br />

Zigeuner in Österreich, Salzburg 1983; dies., Kurzgeschichte des<br />

nationalsozialistischen Zigeunerlagers in Lackenbach (1940-1945),<br />

Eisenstadt 1984. Weiters erschienen einige Diplom- und Hausarbeiten<br />

zu diesem Thema: Claudia Mayerhofer, Die Zigeuner im<br />

Burgenland, Hausarbeit, Universität Wien 1977; Herbert Michael<br />

Burggasser, Österreichs Zigeuner – Schwerpunkt 1938 bis 1980. Ein<br />

Minderheitenproblem, Hausarbeit Universität Wien 1980/81.<br />

2 Der Begriff „Zigeuner“ wurde den Roma und Sinti von außen<br />

zugeschrieben und wird vielfach in negativer Konnotierung verwendet.<br />

Das Wort „Roma“ heißt einfach „Mensch“. In Österreich<br />

leben hauptsächlich die Stämme der Roma und Sinti.<br />

3 Steinmetz, Die Zigeuner, a. a. O., S. 249f.<br />

4 Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, a. a. O.,<br />

S. 215ff.<br />

5 Die Situation ist in der BRD keineswegs besser: Christiane Pross, Wiedergutmachung.<br />

Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Frankfurt/Main<br />

1988, S 273f.; Helga und Hermann Fischer-Hübner (<strong>Hrsg</strong>.), Die Kehrseite<br />

der „Wiedergutmachung“, Gerlingen 1990, S 163.<br />

6 Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, a.<br />

a. O., S. 20.<br />

7 Zur Geschichte des Lagers Maxglan siehe: Erika Thurner, Die Verfolgung<br />

der Zigeuner, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />

Widerstandes (Hsg.), Salzburg 1991, Bd. 2, S 474-521, bes.<br />

498ff.; Barbara Rieger, „Zigeunerleben“ in Salzburg 1930-1943. Die<br />

regionale Zigeunerverfolgung als Vorstufe zur planmäßigen Vernichtung<br />

in Auschwitz, unveröffentlichte Diplomarbeit an der geisteswissenschaftlichen<br />

Fakultät der Universität Wien, Wien 1990.<br />

8 Vgl. „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Ghetto in Lodz 1940-<br />

1944, eine Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt am<br />

Main, Wien 1990, S 186f.<br />

9 Vgl. Auschwitz, Geschichte und Wirklichkeit des Vernichtungslagers,<br />

o. Hsg., Reinbek 1980, S 133.<br />

10 DÖW Akt Nr. 11. 293.<br />

11 Die ersten Eintragungen ins „Lagertagebuch“ erfolgten erst im<br />

Jänner 1941. Steinmetz, Die Zigeuner, a. a.a O., S. 247.<br />

12 a. a. O.<br />

13 Vgl. dazu DÖW Akt Nr. 9626.<br />

14 Steinmetz, a. a. O., S 248.<br />

15 Thurner, Nationalsozialismus, a. a. O., S. 220.<br />

16 Rundschreiben des Bundesministeriums für Inneres, Generaldirektion<br />

für die öffentliche Sicherheit. Schreiben betreffend Zigeunerunwesen<br />

an alle Sicherheitsdirektionen und alle Bundespolizeibehörden,<br />

Zl. 84.426-4/48. Zitiert nach Thurner, a. a. O., Anhang XXVIII.<br />

17 Denkschrift von Dr. Tobias Portschy betreffend die Zigeunerfrage,<br />

August 1938, zitiert nach: Widerstand und Verfolgung im Burgenland,<br />

a. a. O., S. 257.<br />

18 Abschrift des Erkenntnisses der Rückstellungskommission beim<br />

Aus: Brigitte Bailer-Galanda: Wiedergutmachung kein Thema. Löcker Verlag, Wien 1993, S. 177-184.<br />

Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien vom 16. 6. 195, Zl. 63 Rk<br />

1269/49. DÖW Akt Nr. 82.<br />

19 Der neue Mahnruf, Nr. 4, April 1953.<br />

20 Der neue Mahnruf. Nr. 7/8, Juli/August 1957.<br />

21 Das Opferfürsorgegesetz in seiner derzeitigen Fassung und sonstige<br />

Vorschriften des Fürsorgerechts für die Opfer des Kampfes für<br />

ein freies, demokratisches Österreich und die Opfer der politischen<br />

Verfolgung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung<br />

des Verwaltungsgerichtshofes, erläutert von Dr. Burkhart<br />

Birkti, Sektionsrat im Bundesministerium für soziale Verwaltung,<br />

Wien 1958, S. 14, S. 215f.<br />

22 Niederschrift ehemaliger Häftlinge des Lagers Lackenbach vom<br />

30. 11. 1952, undatierter Vermerk des KZ-Verbandes „Lager Lackenbach“.<br />

DÖW Akt Nr. 82.<br />

23 Referiert im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. 1.<br />

1954, Zl. 3001/52-6.<br />

24 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes, a. a. O. Der Bescheid<br />

des BM für soziale Verwaltung wurde wohl gegen Rechtswidrigkeit<br />

infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben,<br />

da die Behörde keine Erhebungen über die tatsächlichen Zustände<br />

im Lager gepflogen hatte.<br />

25 Zitiert nach: Widerstand und Verfolgung im Burgenland, a. a. O.,<br />

S. 256.<br />

26 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 27. 1. 1958, Zl.<br />

2060/55-3.<br />

27 a. a. O.<br />

28 Vgl. DÖW Akt Nr. 82.<br />

29 a. a. O.<br />

30 Ähnliche Probleme gab es auch bei der Anerkennung des Lagers<br />

Maxglan. Im Zuge eines Entschädigungsverfahrens in der Bundesrepublik<br />

Deutschland wurden die Antragsteller – ehemalige Insassen<br />

des Lagers Maxglan – infolge beschönigender österreichischer Darstellungen<br />

sogar wegen Meineids angeklagt. Im Zuge des Meineidsverfahrens<br />

stellte sich jedoch die Richtigkeit der Angaben der<br />

ehemaligen Häftlinge heraus. Vgl. dazu Rieger, a. a. O., S. 97-99.<br />

31 Vgl. dazu auch das spätere Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs<br />

vom 9. 6. 1964 zu zehn Beschwerden ehemaliger Insassen<br />

von Lackenbach, Zl. 2340 bis 2349/63.<br />

32 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 17. 4. 1958, Zl.<br />

1273/57-4.<br />

33 BGBl. Nr. 197/1988, in Kraft ab 1. 5. 1988.<br />

34 BGBl. Nr. 93/1975 vom 23. 1. 1975.<br />

35 Siehe dazu das Kapitel III. 5. c) in: Brigitte Bailer, Man nannte sie<br />

„asozial“, Wiedergutmachung kein Thema, Wien 1993, S. S 193-<br />

197.<br />

36 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 25. 3. 1954, Zl. 825/53-2.<br />

37 a. a. O.<br />

38 a. a. O.<br />

39 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 18.5.1966, Zl. 39/65-4.<br />

40 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 20.9.1966, Zl. 1703/64-6.<br />

41 a. a. O.<br />

42 DÖW Akt Nr. 20 000/h 568.<br />

43 Zur Problematik der Sterilisierungen siehe das Kapitel „Die Opfer<br />

der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik“.<br />

44 Herbert Michael Burggasser, Österreichs Zigeuner – Schwerpunkt<br />

1938 bis 1980. Hausarbeit, Universität Wien 1980/81, S. 85.<br />

62 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


VERTRIEBEN UND NICHT ZURÜCKGEKEHRT<br />

BRIGITTE BAILER-GALANDA<br />

1<br />

Auch die Gruppe der jüdischen Vertriebenen zählt zu den „vergessenen Opfern“. Weder<br />

bemühte sich die Republik, die Vertriebenen nach Österreich zurückzuholen und sie willkommen<br />

zu heißen noch wurden sie in der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung angemessen berücksichtigt.<br />

Den Wenigen, die nach 1945 nach Österreich zurückkehrten, wurde vielmehr vorgeworfen,<br />

während des Krieges im Ausland „gut gelebt“ zu haben. Die (Nicht-) Berücksichtigung<br />

dieser Gruppe im Opferfürsorgegesetz wird in mehreren Texten des vorliegenden Bandes<br />

behandelt. An dieser Stelle soll geschildert werden, welche Folgen Vertreibung und Exil<br />

tatsächlich für die Betroffenen hatten. Für eine ausführlichere Darstellung verweisen wir auf<br />

die Bücher „Wiedergutmachung kein Thema“ von Brigitte Bailer-Galanda sowie „Neubeginn<br />

ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945“ von Helga Embacher (Wien 1995).<br />

Die Mehrheit der 1938/39 aus Österreich geflüchteten bzw. vertriebenen Menschen kehrte<br />

auch nach Kriegsende nicht mehr in die Heimat zurück, andere wieder konnten Verfolgung<br />

und Konzentrationslager überleben – oft als einzige ihrer Familie –, verließen jedoch nach<br />

der Befreiung Österreich oder kehrten gar nicht mehr hierher zurück. Den im Ausland<br />

lebenden Opfern wurden und werden in Österreich besonders massive Vorurteile entgegengebracht.<br />

Einerseits ließ man sie fühlen, daß ihre Rückkehr nicht eben erwünscht wäre, andererseits<br />

machte man ihnen im selben Atemzuge zum Vorwurf, daß sie eben nicht zurückgekehrt<br />

seien, ihre Heimat quasi im Stich gelassen hätten. Diese Argumentationslinie trat<br />

besonders deutlich in den fünfziger Jahren hervor, als das ➤ „Committee for Jewish Claims<br />

on Austria“ seine Verhandlungen um „Wiedergutmachung“ für diesen Personenkreis aufnahm<br />

und sich erste positive Verhandlungsergebnisse abzeichneten. Die in Österreich<br />

lebenden Opfer, die zu diesem Zeitpunkt gleichfalls noch keine Entschädigung 2 erhalten<br />

hatten, beobachteten den Fortgang der Kontakte der Bundesregierung mit dem „Claims<br />

Committee“ mit Mißtrauen. So schrieb das Organ der „ÖVP-Kameradschaft“ 1955: „Allerdings<br />

können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, daß hier mancher gar nicht mehr die<br />

Absicht hatte, österreichischen Boden zu betreten, seine Volksverbundenheit (!) also sehr<br />

problematisch war, und trotzdem fordert er heute von Österreich Wiedergutmachung. Wir<br />

können und wollen nun an der Tatsache der Wiedergutmachung für die Ausländer nichts<br />

geändert haben. Wir wollen aber und verlangen kategorisch, daß die in Österreich Befindlichen<br />

und durch die Wiedergutmachungsgesetzgebung noch nicht Erfaßten, nunmehr endlich<br />

auch zu einer Abfertigung bzw. Versorgung kommen.“ 3<br />

Diese Vorurteile gehen gänzlich an der subjektiven, aber auch objektiven Situation der<br />

Nicht-Rückkehrer vorbei. Viele von ihnen sind auf sehr irrationale Weise nach wie vor an<br />

Österreich gebunden, können jedoch nicht verwinden, was ihnen und ihrer Familie hier<br />

nach dem März 1938 angetan wurde: Sie fürchten den in Österreich nach wie vor vorhandenen<br />

Antisemitismus, sie ertragen die mit Österreich verbundenen Erinnerungen nur<br />

schwer. Trotzdem bleibt bei vielen dieser Menschen ein Gefühl der Entwurzelung, das eine<br />

ehemalige Österreicherin, die seit Jahrzehnten in den USA lebt, so beschrieb: „Ich bin heute<br />

eine Frau ohne Heimat.“ 4 Andere wieder treibt eine unbestimmte Sehnsucht regelmäßig<br />

nach Wien zurück, das sie jedoch wenige Wochen später ernüchtert wieder verlassen – bis<br />

zum nächsten Mal. 5 Eine als Jugendliche in das damalige Palästina geflüchtete Wienerin,<br />

die heute mit ihrem Gatten nach wie vor in Israel lebt, erklärte der Verfasserin weinend: Es<br />

sei schrecklich, in Wien sei alles vertraut, hier sei sie daheim, trotzdem könne sie hier nicht<br />

mehr leben.<br />

Diese Einzelschicksale werden auch von den mit Verfolgten befaßten Psychiatern und<br />

Psychotherapeuten bestätigt. So wie viele der Überlebenden des Holocaust leiden auch so<br />

manche der Nicht-Zurückgekehrten an „Überlebensschuld“, also unklaren Schuldgefühlen,<br />

vielleicht doch nicht alles versucht zu haben, Familienmitgliedern oder Freunden zur Flucht<br />

ins rettende Ausland zu helfen, oft auch ausgedrückt in der peinigenden Frage „Wieso<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

63


Vertrieben und nicht zurückgekehrt<br />

habe ich überlebt und die anderen nicht?“ Besonders „entwurzelte Verfolgte leiden unter<br />

ihrer unbefriedigenden Anpassung an die neue Umgebung, an ihrem niedrigen Sozialstatus<br />

und Lebensstandard, der an sich sogar höher sein kann als im Ursprungsland. Sie ziehen<br />

sich von ihrer Umgebung zurück, sind schlaflos, träumen von der Verfolgung und den<br />

getöteten Angehörigen, entwickeln eine Menge von psychosomatischen Beschwerden. (...)<br />

In einigen Fällen ist die reaktive Depression besonders gefärbt durch Schuldgefühle, die<br />

sich zwanghaft an bestimmte Erinnerungen aus der Verfolgungszeit knüpfen, z. B. an den<br />

Gedanken, für den Tod von Angehörigen verantwortlich zu sein.“ 6 Der deutsche Privatdozent<br />

Ulrich Venzlaff stellt fest: „Für die meisten bedeutete das Erlebnis jahrelanger Ächtung<br />

und Verfolgung oder der Entwurzelung durch Emigration eine einschneidende Kontinuitätsunterbrechung<br />

der Lebenslinie, einen nachhaltigen Bruch des seelischen Ordnungsgefüges.“<br />

7 Der bekannte US-Psychiater William G. Niederland berichtet über die Situation<br />

der Vertriebenen: „Wem trotz haarsträubender Schwierigkeiten die Beschaffung der erforderlichen<br />

Dokumente und die Flucht ins Ausland gelang, dem wurde die Beziehungslosigkeit<br />

zur sprach-, kultur- und wesensfremden Umgebung zu einer neuen seelischen Belastung.<br />

Langwährende Entwurzelungsdepressionen stellten sich ein, in deren Gefolge nicht<br />

wenige Selbstmord begingen. Viele andere kämpften Jahre hindurch mit Umstellungsdepressionen,<br />

die ihr Fußfassen in der fremden Umwelt weiter erschwerten und nicht selten<br />

die Gründung einer neuen Lebensexistenz unmöglich machten. Der soziale Abstieg, die<br />

Trennung von den Angehörigen, die Zerreißung enger Familienbande, das Gefühl der Heimatlosigkeit,<br />

die enormen Anpassungsschwierigkeiten innerer und äußerer Art, die keineswegs<br />

seltene Notwendigkeit, erstmals im Leben Wohlfahrtseinrichtungen in Anspruch zu<br />

nehmen und Almosenempfänger zu werden, schließlich das zunehmende Durchsickern von<br />

Nachrichten über Nazigreuel und den Verfolgungstod zurückgelassener naher Verwandter<br />

und Freunde – all dies verstärkte die Depressionen und Ängste in so erheblichem Maße,<br />

daß sich bei vielen der Ausgewanderten ernste Krankheitszustände seelischer und psychosomatischer<br />

(d. h. leibseelischer) Natur und Herkunft zu entwickeln begannen.“ 8 Die oft erst<br />

im Pensionsalter auftretenden seelischen Leiden der Überlebenden und Vertriebenen führten<br />

in Israel zur Gründung einer eigenen Institution „AMCHA“, die sich um therapeutische Hilfe<br />

für diese Menschen bemüht. 9<br />

Der durch die erzwungene Flucht oder „Auswanderung“ bedingte „Knick in der Lebenslinie“<br />

10 zieht die Folgen bis in die Gegenwart nach sich.<br />

1 Zu den sozialversicherungsrechtlichen Problemen der Vertriebenen<br />

siehe das Kapitel „Sozialversicherungsrechtliche Probleme“,<br />

in: Brigitte Bailer-Galanda, Wiedergutmachung kein Thema, Wien<br />

1993, S. 239-245.<br />

2 Mit Ausnahme der Haftentschädigung 1952.<br />

3 Der Freiheitskämpfer, Nr. 121, November 1952.<br />

4 Interview mit Frau M. S. DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“, Interviewabschrift<br />

Nr. 323. In diesem, aber auch in einer Reihe anderer<br />

Interviews kommt dieser Konflikt der Nicht-Rückkehrer<br />

zwischen emotionaler Bindung an die Heimat und Ängsten angesichts<br />

erlittene Traumata deutlich zum Ausdruck. Vgl. dazu: Dokumentationsarchiv<br />

des österreichischen Widerstandes (<strong>Hrsg</strong>.),<br />

Jüdische Schicksale, a. a. O., Kapitel „Leben nach dem Holocaust“.<br />

5 Kapitel „Leben nach dem Holocaust“, a. a. O.<br />

Aus: Brigitte Bailer-Galanda: Wiedergutmachung kein Thema,<br />

Löcker Verlag, Wien 1993, S. 157ff<br />

6 Vgl. Walter Ritter von Baeyer, Heinz Zäfner, Karl Peter Kisker,<br />

Psychiatrie der Verfolgten. Psychopathologische und gutachtliche<br />

Erfahrungen an Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung<br />

und vergleichbaren Extrembelastungen, Berlin-Göttingen-Heidelberg<br />

1964, S. 88.<br />

7 Zitiert nach:; William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das<br />

Überlebenden-Syndrom Seelenmord, Frankfurt/M. 1980, S. 203.<br />

8 Niederland, a. a. O., S. 16.<br />

9 Vgl. die von Trautl Brandstaller gestaltete Dokumentation „Es vergißt<br />

sich nicht.“ Überlebende des Holocaust berichten, ORF 1990.<br />

AMCHA hat auch ein Komitee in Österreich, 1080 Wien, Lange<br />

Gasse 64/2/15.<br />

10 Helga und Hermann Fischer-Hübner (<strong>Hrsg</strong>.), Die Kehrseite der<br />

„Wiedergutmachung“. Das Leiden von NS-Verfolgten in den Entschädigungsverfahren,<br />

Gerlingen 1990.<br />

64 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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ZUM UMGANG MIT DEN OPFERN DER NS-RASSENHYGIENE NACH 1945<br />

WOLFGANG NEUGEBAUER<br />

1<br />

Rassenhygiene – Zwangssterilisierung – Euthanasie<br />

Nach den Rassenlehren der Nationalsozialisten waren nicht nur Juden, Roma und Sinti<br />

(„Zigeuner“) sowie andere „rassisch“ oder ethnisch bestimmte Minderheiten „minderwertig“<br />

und letztlich „lebensunwert“; im Interesse der Höherentwicklung der eigenen „Rasse“<br />

sollten auch die „Minderwertigen“ des eigenen Volkes „ausgemerzt“ werden. Die Theorien<br />

des Naturwissenschaftlers Charles Darwin vom Kampf ums Dasein und von der natürlichen<br />

Auslese, vom Durchsetzen des Stärkeren (Anpassungsfähigeren) gegen den Schwächeren<br />

wurden von Rassentheoretikern vom Tierreich auf die menschliche Gesellschaft übertragen.<br />

Dieser „Sozialdarwinismus“ wurde zu einem Hauptinhalt der nationalsozialistischen Weltanschauung<br />

und nach der Machtergreifung 1933 mit barbarischer Konsequenz in die<br />

Wirklichkeit umgesetzt. Für „unnütze Esser“ oder „Ballastexistenzen“ wie geistig oder körperlich<br />

Behinderte war im nationalsozialistischen Deutschland, das auch das menschliche<br />

Leben einer erbarmungslosen Kosten-Nutzen-Rechnung unterwarf, kein Platz. Die „Minderwertigen“<br />

sollten entweder durch Verhinderung der Fortpflanzung oder durch physische<br />

Vernichtung ausgeschaltet werden. Die erste systematisch geplante und durchgeführte<br />

Massenmordaktion des NS-Regimes richtete sich gegen die geistig und körperlich behinderten<br />

Menschen. 2<br />

Schon zu Beginn ihrer Herrschaft hatten die Nationalsozialisten mit dem Gesetz zur<br />

Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933 als erste „rassenhygienische“ Maßnahme<br />

die Zwangssterilisierung der „Erbkranken“ (Schwachsinn, Schizophrenie, manischdepressives<br />

Irresein, Fallsucht, Veitstanz, Blindheit, Taubheit, schwere körperliche Mißbildungen,<br />

schwerer Alkoholismus) eingeführt, und nach Pseudoverfahren vor „Erbgesundheitsgerichten“<br />

wurden an die 400.000 Menschen zwangsweise unfruchtbar gemacht.<br />

Mehr als 1 % der Betroffenen, mindestens 5000, davon 90 % Frauen, starben an den Folgen<br />

der Operation, die von den NS-Gesundheitsbehörden als harmloser Eingriff hingestellt<br />

wurde. 3 In Österreich, wo das Gesetz am 1. 1. 1940 in Kraft trat, wurden etwa 5000 Menschen<br />

zwangssterilisiert. 4<br />

Daß der Übergang von der „rassenbiologisch“ langfristig wirksam werdenden Zwangssterilisierung<br />

zur Ermordung im Jahr des Kriegsausbruchs 1939 erfolgte, war kein Zufall.<br />

Mit der Eliminierung der geistig und körperlich Behinderten sollte der in den Augen der<br />

Nazis vor sich gehenden „negativen Auslese“ durch den Krieg – Tod oder Verstümmelung<br />

der Gesunden, Überleben der Kranken – entgegengewirkt werden. Unmittelbarer Anlaß für<br />

die Massenmordaktion war die Notwendigkeit, Lazarettraum zu schaffen, Spitalspersonal<br />

freizustellen, Nahrungsmittel, Medikamente u. dgl. einzusparen, also die sozialen Kosten<br />

zugunsten der Kriegswirtschaft zu reduzieren. 5 So wurde etwa die der Stadt Wien gehörende<br />

Anstalt in Ybbs an der Donau nach dem Abtransport von über 2000 Patienten zur Vernichtung<br />

in ein militärisches Reservelazarett umgewandelt. 6<br />

Die Nationalsozialisten begannen die zu Unrecht ➤ „Euthanasie“ (griechisch: schöner<br />

Tod) oder „Gnadentod“ genannte Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“ mit geistig<br />

und körperlich behinderten Kindern. Aufgrund eines Geheimerlasses des Reichsinnenministeriums<br />

vom 18. August 1939 mußten alle Hebammen und Ärzte solche Kinder bis zu<br />

drei (später: 17) Jahren den Gesundheitsämtern melden; nach einer (Pseudo-) „Begutachtung“<br />

erfolgte – vielfach unter Täuschung der Eltern oder mit Zwang – die Einlieferung<br />

der ausgesuchten Kinder in eine „Kinderfachabteilung“. In der in der Anstalt ➤ „Am<br />

Steinhof“ untergebrachten Kinderklinik ➤ „Am Spiegelgrund“ wurden einige hundert Kinder<br />

mittels Gift, Injektion oder Aushungern von Ärzten und Pflegepersonal umgebracht.<br />

Einzelne „Kinderfachabteilungen“ hatten Forschungsabteilungen, wo klinische Versuche,<br />

diagnostische Experimente und anatomische Forschungen durchgeführt wurden. Solche<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

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65<br />

Realisierung<br />

sozialdarwinistischer<br />

Ideen<br />

Von der Zwangssterilisierung<br />

zur<br />

„Euthanasie”<br />

Die Kinderfachabteilung<br />

„Am<br />

Spiegelgrund”


Die Ermordung<br />

Geisteskranker<br />

Die „Liquidierung“<br />

sogenannter<br />

„Asozialer”<br />

Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945<br />

der ärztlichen Ethik zutiefst widersprechenden Aktivitäten dürften auch am „Spiegelgrund“<br />

stattgefunden haben.<br />

Kurze Zeit nach der Einführung der „Kindereuthanasie“ begann das NS-Regime aufgrund<br />

einer auf den 1. September 1939 rückdatierten „Ermächtigung“ des Führers Adolf Hitler,<br />

die keinerlei Gesetzeskraft oder Legalität hatte, mit der „Euthanasie“ der erwachsenen geistig<br />

und körperlich Behinderten. Im Rahmen dieser von der „Kanzlei des Führers“ organisierten<br />

Tötungsaktion (nach der Adresse Berlin, Tiergartenstraße 4 ➤ „T4“ genannt) wurde<br />

ein Großteil der Patienten der psychiatrischen Anstalten im Deutschen Reich in „Euthanasieanstalten“,<br />

u. a. nach Hartheim bei Eferding, abtransportiert und dort mit Giftgas getötet.<br />

Die Angehörigen der Opfer wurden mit verfälschten Briefen und Totenscheinen zu täuschen<br />

versucht. Vorher waren die Patienten von bezahlten „Gutachtern“, etwa 40-50, davon zwei<br />

aus Wien (Dr. Erwin Jekelius und Dr. Hans Bertha), im Wege einer Fragebogenauswertung<br />

für die „Euthanasie“ ausgewählt worden.<br />

Im Zuge der Aktion „T4“ wurden ca. 18.000 Insassen österreichischer Anstalten nach ➤<br />

Hartheim abtransportiert. Darunter waren auch Pfleglinge kleinerer Anstalten und – über<br />

den Kreis der psychisch Kranken weit hinaus – Insassen von Pflegeheimen und Altersheimen<br />

einbezogen.<br />

Mit Hitlers Befehl zum Abbruch der Aktion „T4“ vom 24. August 1941 kam die NS-<br />

Euthanasie jedoch keineswegs vollständig zum Erliegen. Die Kindereuthanasie wurde weitergeführt,<br />

und in den Euthanasie-Anstalten wurden Häftlinge aus den Konzentrationslagern<br />

vergast (Aktion 14f13). Als einzige Euthanasie-Anstalt blieb Hartheim, bis Dezember<br />

1944, weiter in Betrieb, unter anderem wurden dort geisteskranke „Ostarbeiter“ vergast,<br />

die keine Leistung mehr erbringen konnten.<br />

In den einzelnen Anstalten wurde die Ermordung von Geisteskranken durch Verhungern,<br />

Vergiften u. ä. fortgesetzt; vielfach entsprang diese der Initiative von Gauleitungen, Anstaltsleitungen<br />

oder einzelnen Ärzten. Ob eine zentrale Anweisung für diese ungeregelten<br />

Mordaktionen vorlag, ist nicht klar. Viktor Brack, einer der Hauptverantwortlichen für die<br />

„Euthanasie“-Aktion in der „Kanzlei des Führers“, prägte dafür die Bezeichnung „wilde<br />

Euthanasie“. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen geht hervor, daß seitens des Pflegepersonals<br />

zeitweise sogar mehr Patienten getötet wurden, als von oben angeordnet worden<br />

war. Der Gesichtspunkt der „Pflegeaufwendigkeit“ war dabei von entscheidender Bedeutung:<br />

Je mehr ein Patient die Pfleger in Anspruch nahm, desto größer war seine Aussicht<br />

auf Todesbeschleunigung.<br />

Verlegungstransporte zwischen einzelnen Anstalten dienten zur Verschleierung des<br />

raschen Sterbenlassens bzw. dessen Beschleunigung. Besonders gut dokumentiert ist das<br />

Schicksal der im August 1943 aus Hamburg nach „Steinhof“ gebrachten 228 Frauen<br />

und Mädchen, von denen 201 – meist nach beträchtlichen Gewichtsverlusten durch Hungern<br />

– umkamen. Zu den in Hartheim ermordeten 15.000 bis 18.000 ÖsterreicherInnen<br />

kommen also einige weitere tausend Patienten hinzu, die in den Anstalten selbst ums Leben<br />

gebracht wurden. Das heißt, daß die Größenordnung der österreichischen Euthanasieopfer<br />

bei mindestens 25.000 liegt.<br />

Die Absichten und Planungen der für die Gesundheits- und Sozialpolitik verantwortlichen<br />

NS-Funktionäre in Staat, Partei und SS gingen weit über „Erbkranke“, Geisteskranke und<br />

Behinderte hinaus; von den verbrecherischen Maßnahmen waren alle den Normen des<br />

NS-Regimes nicht entsprechenden Menschen bedroht, insbesondere alle jene, die keine<br />

Leistung für die „Volksgemeinschaft“ erbrachten oder erbringen konnten, die vom ökonomischen<br />

Standpunkt als „unnütze Esser“ angesehen wurden. 7 Vor allem dem Chef des ➤ SD<br />

und der Sipo Reinhard ➤ Heydrich, neben ➤ Himmler Hauptorganisator des NS-Terrors,<br />

ging es um die „Ausmerzung“ aller den NS-Normen nicht entsprechenden sozialen Randgruppen<br />

und Minderheiten im deutschen Herrschaftsbereich. In seinem Auftrag wurde ein<br />

„Gemeinschaftsfremdengesetz“ ausgearbeitet, in dem Zwangssterilisierung und Schutzhaft<br />

für alle in den Augen der Nazis als „asozial“ Eingestufte vorgesehen waren. Die Liquidierung<br />

der „Gemeinschaftsfremden“, dazu wurden u. a. „Arbeitsscheue“ und „gewohnheits-<br />

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mäßige Schmarotzer“, „Landesverräter“, „Rassenschänder“, „sexuell Hemmungslose“, Süchtige,<br />

Trinker, Prostituierte, Abtreiberinnen, Straffällige gezählt, nach damaligen statistischen<br />

Berechnungen etwa 2 % der Bevölkerung (1,6 Millionen Menschen), wurde hinsichtlich der<br />

Jüngeren im Wege der „Kindereuthanasie“, die bis zum 17. Lebensjahr erstreckt wurde,<br />

betrieben, zum größeren Teil erfolgte sie durch den ➤ SS- und Polizeiapparat, d. h. durch<br />

Inhaftierung in Konzentrationslagern und „Vernichtung durch Arbeit“. 8<br />

Allein im Reichsgau Groß-Wien wurden im Zuge der 1939 begonnenen „Erbbiologischen<br />

Bestandsaufnahme“ 700.000 Personen als „asozial“ in Karteien erfaßt. Daß diese<br />

Menschen als zukünftige Opfer nationalsozialistischer Rassenpolitik ins Auge gefaßt waren,<br />

liegt in der Logik des NS-Systems. Manche Forscher (G. Aly, K. H. Roth, K. Dörner, D. Peukert)<br />

nehmen an, daß eine Art „Endlösung der sozialen Frage“, also eine Ausrottung der gesamten,<br />

als „minderwertig“ angesehenen Unterschichten der Gesellschaft, geplant war. Den<br />

mörderischen Ausmerzungstendenzen wurde vor allem mit der Hinaufsetzung der Altersgrenze<br />

bei der „Kindereuthanasie“ von drei auf 17 Jahre Rechnung getragen, wodurch<br />

auch die Einbeziehung von verwahrlosten und schwer erziehbaren Kindern ermöglicht<br />

wurde. „In der Tötungspraxis des ‚Reichsausschusses‘ spielten die Kriterien ‚soziales Verhalten‘<br />

und ‚allgemeine Lebensbewährung‘ von Anfang an eine entscheidende Rolle“,<br />

resümiert G. Aly. 9 Aus Schilderungen von Personen, die als Kinder oder Halbwüchsige den<br />

Aufenthalt in der Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ (Pavillons 17 und 18) überlebten,<br />

10 wissen wir, daß die Todesdrohung – ausgesprochen oder unausgesprochen –<br />

ständig im Raum stand. Zum einen gab es eine permanente Unterversorgung mit Nahrungsmitteln,<br />

die zu einer hohen Mortalitätsrate führte, 11 zum anderen hing über jedem Patienten<br />

das Damoklesschwert der „Euthanasierung“ durch Vergiften oder Abspritzen, die offenbar<br />

auch als schärfste Strafe im Falle von Widersetzlichkeiten zur Anwendung kam.<br />

Die Ausgrenzung der Opfer<br />

Der Umgang mit der NS-Euthanasie und das Schicksal der Täter und Opfer nach 1945<br />

sind eingebettet in die allgemeine gesellschaftliche und politische Entwicklung Nachkriegsösterreichs.<br />

In einer – freilich nur kurz währenden – antifaschistischen Periode 1945/46<br />

wurden NS-Täter, darunter auch einige Verantwortliche der NS-Euthanasie, konsequent zur<br />

Verantwortung gezogen.<br />

Der antifaschistische Geist von 1945 flaute bald ab. In der Weltpolitik beendete der<br />

Kalte Krieg zwischen Ost und West die Anti-Hitler-Koalition, Antikommunismus trat anstelle<br />

des Antifaschismus. Die Nationalsozialisten, die sich ja immer schon als die Vorkämpfer<br />

gegen den Bolschewismus aufgespielt hatten, wurden wieder aufgewertet. Die Maßnahmen<br />

zur Entnazifizierung und Strafverfolgung waren nicht mehr politisch opportun. In Österreich<br />

setzte ein Wettlauf aller Parteien um die ehemaligen Nationalsozialisten ein, die als<br />

Wähler und Parteimitglieder gebraucht wurden. Bald standen diesen die Führungspositionen<br />

wieder offen.<br />

Mehr als 690 000 Österreicher gehörten der NSDAP an; 1,2 Millionen Österreicher<br />

dienten in der deutschen Wehrmacht. Diese sogenannte Kriegsgeneration war zahlenmäßig<br />

weitaus stärker als die Widerstandskämpfer und die überlebenden oder aus dem<br />

Exil zurückgekehrten NS-Opfer und dominierte daher Politik und Gesellschaft in Nachkriegsösterreich.<br />

Das offizielle Österreich wies im Sinne der „Opfertheorie“ von Anfang an und bis zu<br />

Beginn der neunziger Jahre jede Schuld oder Mitverantwortung für die NS-Verbrechen von<br />

sich und sah daher auch keine Verpflichtung zur „Wiedergutmachung“. 12 Freiwillig habe<br />

es aber Österreich übernommen, für die Opfer des Kampfes für ein freies und demokratisches<br />

Österreich und der NS-Verfolgung (bzw. deren Angehörige oder Hinterbliebene) zu<br />

sorgen. 13 Diesem Geist entsprang 1947 das ➤ „Opferfürsorgegesetz“ (OFG), wobei der<br />

Kreis der anspruchsberechtigten Befürsorgten sehr eng gezogen und erst nach langwierigen<br />

Bemühungen erweitert wurde. Dabei wurde (und wird) zwischen „Opfern des<br />

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Wolfgang Neugebauer<br />

67<br />

„Wiedergutmachung“?


Aussichtslose<br />

Anträge auf<br />

Opferfürsorge<br />

Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945<br />

Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich“ (§ 1, Abs.1), also Widerstandskämpfern,<br />

und „Opfern der politischen Verfolgung“ (§ 1, Abs. 2), das waren politisch, religiös,<br />

national oder rassisch Verfolgte, unterschieden, wobei letztere eindeutig schlechter gestellt<br />

wurden. 14<br />

Während für die Opfer der politischen und rassistischen Verfolgung sowohl in der Bundesrepublik<br />

Deutschland als auch in Österreich eine „Wiedergutmachung“ im Sinne einer<br />

bescheidenen finanziellen Abgeltung für Haftzeiten, wirtschaftliche Schäden, Gesundheitsschädigungen<br />

u. dgl. sowie einer Anerkennung von Rentenansprüchen u. a. erfolgte und<br />

damit auch eine gewisse politisch-moralische Anerkennung verbunden war, geschah für die<br />

Opfer der nazistischen Zwangssterilisierung und Euthanasie bis 1995 überhaupt nichts.<br />

Vom Gesetz war – zumindest nach Auffassung und in der Auslegung der zuständigen<br />

Behörden und Gerichte – nichts vorgesehen, und dennoch geltend gemachte Ansprüche<br />

wurden abgewiesen. Anerkennung und Entschädigung der Opfer der NS-Rassenhygiene<br />

standen nie zur Diskussion, da die Betroffenen bzw. deren Hinterbliebene keine Verbände<br />

wie die politisch und „rassisch“ Verfolgten hatten, die ihre Interessen dem Gesetzgeber und<br />

der Regierung gegenüber vertreten hätten. Gleiches gilt im übrigen auch für vom NS-Regime<br />

verfolgte Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“ und Kriminelle, die in einer unserer<br />

Rechtsauffassung widersprechenden Weise hart bestraft wurden.<br />

Lediglich einzelne Opfer der NS-Zwangssterilisierung und -Euthanasie versuchten, trotz<br />

der nahezu aussichtslosen gesetzlichen Lage, Ansprüche bei den zuständigen Behörden<br />

vorzubringen. Das ➤ DÖW hat für das Bundesland Wien den Bestand der Opferfürsorgeakten<br />

in der ➤ Magistratsabteilung 12, in der Größenordnung von über 100.000 Akten,<br />

systematisch durchgearbeitet und darin etwa ein Dutzend Anträge von Sterilisierungs- und<br />

Euthanasieopfern (bzw. von deren Hinterbliebenen) gefunden. Diese Anträge wurden von<br />

den zuständigen Behörden, in erster Instanz der Landeshauptmann von Wien (MA 12), in<br />

zweiter Instanz das Sozialministerium, abgelehnt. 15 So heißt es in einem Bescheid des Sozialministeriums<br />

vom 26. Mai 1961, in der die Berufung der zwangssterilisierten Ludmilla<br />

D. gegen den ablehnenden Bescheid des Landeshauptmannes von Wien zurückgewiesen<br />

wurde:<br />

„Eine als Folge der im Jahre 1943 durchgeführten Sterilisierung eingetretene Gesundheitsschädigung<br />

hätte nur dann einen Anspruch nach dem Opferfürsorgegesetz begründet,<br />

wenn im konkreten Fall für die Anordnung dieser Operation nicht medizinische, sondern<br />

politische Gründe maßgebend gewesen wären. Für eine solche Ausnahme konnten im vorliegenden<br />

Fall keine Anhaltspunkte gefunden werden, /…/. Auf Grund der Krankengeschichte<br />

der Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien ‚Am Steinhof’ ist vielmehr anzunehmen,<br />

daß die Unfruchtbarmachung ausschließlich wegen der unheilbaren Krankheit der<br />

Berufungswerberin erfolgte.“ 16<br />

Im Lichte dieses Bescheides erscheint die nazistische Zwangssterilisierung nicht als eine<br />

konsequente Verwirklichung nationalsozialistischer rassenpolitischer und erbbiologischer<br />

Auffassungen, sondern als eine durchaus legale medizinische Maßnahme des damaligen<br />

Staates. Ein solches Verständnis steht freilich in eklatantem Widerspruch zu der im Zuge<br />

der Aufhebung nationalsozialistischer Vorschriften und Gesetze erfolgten Außerkrafttretung<br />

des ➤ „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Jahre 1945.<br />

In einem anderen Ablehnungsbescheid des Sozialministeriums vom 22. Dezember 1958<br />

wurde ausgeführt:<br />

„Es ist unbestritten, daß die Berufungswerberin vor ihrer Sterilisation weder politisch<br />

tätig war noch ihrer Religion, Abstammung oder Nationalität wegen von den nationalsozialistischen<br />

Behörden verfolgt worden ist. Sie wurde vielmehr anläßlich einer Einlieferung<br />

in eine Heil- und Pflegeanstalt auf Grund der damals geltenden Bestimmungen zur Verhütung<br />

erbkranken Nachwuchses sterilisiert. Es handelt sich um keine Verfolgungsmaßnahme<br />

im Sinn der angeführten Gesetzesstelle, weshalb spruchgemäß zu entscheiden war.“ 17<br />

Nach diesen Grundsätzen wurde in allen ähnlich gearteten Fällen negativ für die Sterilisierungsopfer<br />

entschieden. Schließlich wurde zumindest in einem Fall das Verfahren vor<br />

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den Verwaltungsgerichtshof gebracht. In einem Erkenntnis vom 21. Jänner 1964 wurde die<br />

Beschwerde des zwangssterilisierten Johann W. gegen einen ablehnenden Bescheid des<br />

Sozialministeriums als unbegründet abgewiesen und der schon dargelegten Rechtsauffassung<br />

des Sozialministeriums Recht gegeben.<br />

Auch jüdische Euthanasieopfer wurden nicht als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung<br />

anerkannt. So heißt es in einem Berufungsbescheid des Sozialministeriums vom 20. November<br />

1958 im Falle eines angeblich 1940 ins ➤ „Generalgouvernement“ verlegten Patienten<br />

der Anstalt „Am Steinhof“:<br />

„Bei der Schwere der Erkrankung und der festgestellten Diagnose ‚Progressive Paralyse<br />

und cavernöse Phthise’ kann ungeachtet des Fehlens einer Krankengeschichte und damit<br />

von Aufzeichnungen über das Fortschreiten der Krankheit nicht von einem Beweis in der<br />

Richtung gesprochen werden, daß der Tod des Opfers aus einer anderen Ursache als in<br />

dem schicksalsmäßigen Ablauf der festgestellten Leiden erfolgte.“ 18<br />

In diesem Fall wurden die Lügengespinste des nazistischen Euthanasieapparates, der<br />

eine Verlegung in das „Generalgouvernement“ vorgaukelte, für bare Münze genommen.<br />

Zu diesem Zeitpunkt gab es – wie ein Blick in die Fachliteratur gezeigt hätte – keine Judendeportationen,<br />

wohl aber Abtransporte von Geisteskranken. Mit an Sicherheit grenzender<br />

Wahrscheinlichkeit war der Betreffende in der Euthanasieanstalt Hartheim vergast worden.<br />

Aus diesen behördlichen und gerichtlichen Verfahren spricht ein völliges Unverständnis<br />

für eine ganze Gruppe von Opfern des Nationalsozialismus. Bei einer strengen Auslegung<br />

des damaligen Opferfürsorgegesetzes mag die Nichtberücksichtigung der Euthanasie- und<br />

Sterilisierungsopfer vielleicht juristisch richtig gewesen sein. Man hätte jedoch bei einigem<br />

guten Willen auch juristische Interpretationen finden können, die eine Einbeziehung dieser<br />

Opfer ermöglicht hätten.<br />

Späte Anerkennung<br />

Mit dem wachsenden Abstand von 1945 verlor die Kriegsgeneration aus biologischen<br />

Gründen an Bedeutung; für die nachwachsenden Generationen war die NS-Zeit kein Tabu<br />

mehr, sie wurden seit den siebziger Jahren in Schulen und Universitäten im Rahmen der Zeitgeschichte<br />

und <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong> mit NS-Verbrechen, mit NS-Opfern und -Gegnern konfrontiert.<br />

Nicht zuletzt hat auch die internationale Kontroverse um die Kriegsvergangenheit<br />

von Kurt Waldheim in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in Österreich tiefgreifende Diskussionen<br />

und letztlich Veränderungen des historisch-politischen Bewußtseins herbeigeführt.<br />

Die Opfertheorie konnte nicht mehr aufrechterhalten werden; immer mehr setzte sich die Erkenntnis<br />

der Mitverantwortung der Österreicher für den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen<br />

durch. Der offizielle Durchbruch erfolgte durch die von Bundeskanzler Vranitzky namens<br />

der Bundesregierung im Juni 1991 im Nationalrat abgegebene Erklärung.<br />

Diese Veränderungen im politisch-gesellschaftlichen Klima kamen letztlich auch den NS-<br />

Opfern zugute. Als ich im Zuge eines Referates für ein Symposium der Österreichischen<br />

Gesellschaft für Sozialanthropologie über Zwangssterilisierungen 1986 feststellen mußte,<br />

daß die Zwangssterilisierten und Euthanasieopfer nicht als NS-Opfer anerkannt werden, 19<br />

habe ich mich in der Folge mehrmals und vergeblich an das Sozialministerium, an den<br />

Bundeskanzler und an die Parlamentsklubs mit dem Ersuchen um Änderung dieses unhaltbaren<br />

Standpunktes gewandt und 1992 auch einen Vorschlag für eine Novellierung des<br />

Opferfürsorgegesetzes vorgelegt. Das Sozialministerium und leider auch die Verbände der<br />

NS-Opfer lehnten eine gesetzliche Änderung ab und verwiesen auf den Gnadenweg. 20<br />

Nach der Vranitzky-Erklärung von 1991 über die Mittäterschaft der Österreicher mußten<br />

im Bereich der NS-Opfer auch Taten folgen: 1995 wurde einstimmig im Nationalrat das<br />

Verfassungsgesetz über den ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus<br />

beschlossen, das erstmals auch die Opfer der rassenhygienischen Maßnahmen<br />

des NS-Regimes anerkannte. Nahezu zeitgleich wurde im Zuge einer Novellierung<br />

des Opferfürsorgegesetzes Behinderung als Verfolgungsgrund in das Gesetz auf-<br />

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Wolfgang Neugebauer<br />

69<br />

Ein Wandel im<br />

historischpolitischen<br />

Bewußtsein?<br />

Nationalfonds/<br />

Erweiterung des<br />

Opferfürsorgegesetzes<br />

1995


Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945<br />

genommen. 21 Doch auch danach wurden noch immer nicht alle Opfer des Nationalsozialismus<br />

als solche akzeptiert. Alois Kaufmann, der wie viele andere in der NS-Zeit als Kind<br />

am „Spiegelgrund“ unter menschenunwürdigen Verhältnissen interniert war und dessen<br />

Stigmatisierung als „Asozialer“ auch nach 1945 noch weiterwirkte, wurde zwar vom<br />

Nationalfonds als NS-Opfer anerkannt, von der Opferfürsorge blieb er weiter ausgeschlossen.<br />

Erst infolge der internationalen Diskussion über die NS-Medizin in Österreich<br />

und den Fall Gross, 22 die eine Bereinigung der österreichischen „Altlasten“ der Vergangenheitsbewältigung<br />

nötig machte, kamen die Kinder vom „Spiegelgrund“ zu ihrem Recht:<br />

Alois Kaufmann und andere wurden von der Opferfürsorgebehörde als NS-Opfer anerkannt.<br />

23 Bei den Homosexuellen konnte sich die Republik Österreich bis heute nicht zu<br />

diesem Schritt durchringen.<br />

1 Für Informationen und Beratung bin ich meiner Kollegin Mag. Dr.<br />

Brigitte Bailer dankbar; siehe zur Thematik grundlegend: Brigitte<br />

BAILER, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer<br />

des Nationalsozialismus, Wien 1993; weiters: dies., Die Opfergruppen<br />

und deren Entschädigung. Referat bei der Enquete des Grünen<br />

Klubs im Parlament, 13. 6. 1997 (siehe nächstes Kapitel); Claudia<br />

Andrea SPRING, Verdrängte Überlebende. NS-Zwangssterilisationen<br />

und die legistische, medizinische und gesellschaftliche Ausgrenzung<br />

von zwangssterilisierten Menschen in der Zweiten Republik,<br />

Dipl. Arb. Universität Wien, 1999; nicht mehr auf dem aktuellen<br />

Stand: Wolfgang NEUGEBAUER, Das Opferfürsorgegesetz und die<br />

Sterilisationsopfer in Österreich, in: Dokumentationsarchiv des<br />

österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 1989, S. 144-150.<br />

2 Vgl. dazu u. a.: Hans-Walter SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus,<br />

Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung<br />

„lebensunwerten Lebens“ 1890-1945, Göttingen 1987 (Kritische<br />

Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 75).<br />

3 Vgl. Gisela BOCK, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus.<br />

Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986 (Schriften<br />

des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der<br />

Freien Universität Berlin, Bd. 48).<br />

4 Horst SEIDLER, The Viennese Reichserbgesundheitsgericht, Wien o.<br />

J., 7; Wolfgang NEUGEBAUER, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“<br />

in Österreich 1940-1945, in: Zeitgeschichte, 1/2 (1992), 17 ff.<br />

5 Vgl. dazu u. a.: Gerhard BAADER, Die „Euthanasie“ im Dritten<br />

Reich, in: Gerhard BAADER/Ulrich SCHULZ (Hg.), Medizin und<br />

Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene<br />

Tradition? , 3. Aufl., Frankfurt (Main) 1987.<br />

6 Wolfgang NEUGEBAUER, Von der Rassenhygiene zum Massenmord,<br />

in: Wien 1938, Wien 1988, 279.<br />

7 Siehe dazu u. a.: Wolfgang AYASS, „Asoziale“ im Nationalsozialismus,<br />

Stuttgart 1995; Hans-Uwe OTTO/Heinz SÜNKER (Hg.),<br />

Soziale Arbeit und Faschismus, Frankfurt am Main 1989; Klaus<br />

SCHERER, „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten,<br />

Münster 1990.<br />

8 Siehe dazu ausführlich: Karl-Heinz ROTH (Hg.), Erfassung zur Vernichtung.<br />

Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“,<br />

Berlin 1984.<br />

9 Götz ALY, Medizin gegen Unbrauchbare, in: Aussonderung und<br />

Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren, Berlin 1985, 37.<br />

10 Siehe dazu: Alois KAUFMANN, Spiegelgrund Pavillon 18. Ein Kind<br />

im NS-Erziehungsheim, Wien 1993; DÖW E 17 792, Aktenvermerk<br />

von Rechtsanwalt Dr. Johannes Patzak über sein Gespräch mit<br />

Friedrich Zawrel in der Strafvollzugsanstalt Stein, 24. 4. 1979.<br />

11 Ausführlich dokumentiert bei: Michael WUNDER/Ingrid GENKEL/<br />

Harald JENNER, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten<br />

mehr: Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg<br />

1987, 225 ff.<br />

12 Zur Problematik des Begriffs „Wiedergutmachung“ siehe: BAILER,<br />

Wiedergutmachung, 12 f.<br />

13 Maßnahmen der Republik Österreich zugunsten bestimmter<br />

politisch, religiös oder abstammungsmäßig Verfolgter seit 1945,<br />

hgg. vom Bundespressedienst, Wien 1988, 5 f.<br />

14 Siehe dazu allgemein: BAILER, Wiedergutmachung.<br />

15 NEUGEBAUER, a. a. O.<br />

16 a. a. O., 148.<br />

17 a. a. O.<br />

18 a. a. O., 149.<br />

19 a. a. O.<br />

20 Siehe die diesbezüglichen Korrespondenzen und Unterlagen im<br />

Besitz des Verfassers.<br />

21 Novelle des Opferfürsorgegesetzes, BGBl. 433/1995; Bundesgesetz<br />

über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des<br />

Nationalsozialismus, BGBl. 432/95. Beide Gesetze wurden am 1. 6.<br />

1995 vom Nationalrat beschlossen.<br />

22 Die internationale Kritik an der Weiterverwendung des Pernkopf-<br />

Anatomieatlasses führte 1997/98 zu einer Untersuchung an der<br />

Wiener Universität; siehe dazu: Senatsprojekt der Universität<br />

Wien, Untersuchungen zur Anatomischen Wissenschaft in Wien<br />

1938-1945, Wien 1998. Gegen den in die Kindereuthanasie involvierten<br />

Arzt Dr. Heinrich Gross wurde aufgrund von 1995 und<br />

1997 erstatteten Anzeigen 1999 von der Staatsanwaltschaft Wien<br />

Anklage wegen Mordes erhoben.<br />

23 Anläßlich einer internationalen wissenschaftlichen Tagung zur<br />

NS-Euthanasie im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien im<br />

Jänner 1998 wurden Gespräche mit dem zuständigen Wiener<br />

Stadtrat Dr. Sepp Rieder geführt, der eine humane Lösung der<br />

Rechtsproblematik ermöglichte.<br />

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KINDER UND JUGENDLICHE ALS OPFER DER NS-VERFOLGUNG<br />

JANA MÜLLER<br />

Im NS-Staat wurden Kinder und Jugendliche systematisch im Sinne der nationalsozialistischen<br />

Ideologie erzogen, gedrillt, mit Sport „ertüchtigt“, in der Hitler-Jugend und im ➤ Bund<br />

Deutscher Mädel zusammengefaßt; die jüngeren waren ➤ „Jungmädel“ und „Pimpfe“. Es<br />

genügte nicht, deutsch und arisch zu sein. Sie wurden ständig beobachtet und auf ihren<br />

„Nutzen für die Volksgemeinschaft“ geprüft. Die arische Jugend hatte erbgesund und<br />

leistungsfähig, gehorsam und angepaßt zu sein. Rassenhygiene, Erbgesundheitspflege,<br />

eugenische Ausmerzung; der erbuntüchtige, minderwertige Mensch, ebenso der unangepaßte<br />

und gemeinschaftsfremde – das waren Schlagwörter und NS-Begriffe, die das<br />

Schicksal auch der Jungen und Jüngsten mitbestimmten.<br />

Kindereuthanasie<br />

Unabhängig von der ➤ Euthanasieaktion ➤ „T4“, 1 der Tötung von körperlich und geistig<br />

Behinderten durch Gas in sechs großen Tötungsanstalten (darunter ➤ Hartheim bei Linz),<br />

wurden im Rahmen der sogenannten Kindereuthanasie 2 mindestens 37 3 „Kinderfachabteilungen“<br />

eingerichtet. Sie unterstanden einem zuständigen „Reichsausschuß“; an diesen<br />

wurde von den Anstaltsärzten Meldung über von ihnen als „lebensunwert“ eingeschätzte<br />

Kinder („Reichsausschußkinder“) gemacht. Aus Berlin kam dann die Rückmeldung als<br />

Ermächtigung bzw. Weisung zur Tötung. Die „Todesbeschleunigungen“ erfolgten meist mit<br />

Medikamenten und durch Nahrungsentzug. In der „Ostmark“ gab es drei solche Kinderfachabteilungen:<br />

in Wien ➤ „Am Spiegelgrund“, in Graz-Feldhof und in Klagenfurt. 4<br />

NS-Erziehungsheime<br />

Kinder und Jugendliche mußten auch in ihrem Verhalten, ihrer Handlungsweise den Ansprüchen<br />

der NS-Ideologie entsprechen. Die geringsten Abweichungen wurden registriert.<br />

Wenn sie sich auflehnten, den Gehorsam verweigerten, wenn ein nicht entsprechender Lebenswandel<br />

vorlag, wurden sie als schwererziehbar, „asozial“ respektive „gemeinschaftsfremd“<br />

eingestuft und in NS-Erziehungsheime eingewiesen, ebenso Kinder von „Volksschädlingen“,<br />

von Regimegegnern, aus „desolaten“ Familien usw.<br />

Ein ganzes Netz von Kinder- und Jugendheimen, von Fürsorge- und Erziehungsanstalten<br />

überzog das Deutsche Reich. Schon bestehende Heime wurden übernommen, NS-Erziehung,<br />

Drill und harte Strafen eingeführt. Es kam auch zur Gründung neuer Anstalten wie<br />

z.B. des Erziehungsheimes am Wiener „Spiegelgrund“. Weitere, recht unterschiedliche Heime<br />

in Wien waren beispielsweise die „Juchgasse“ in Wien 3 oder die „Hohe Warte“; das<br />

Zentralkinderheim und die ➤ Kinderübernahmestelle (KÜST) in der Lustkandlgasse scheinen<br />

in den meisten Akten für den Raum Wien und darüber hinaus auf. Besonders die KÜST war<br />

„Schalt- und Verteilerstelle“.<br />

Für die Bundesländer sollen hier zwei Schicksale angeführt werden: In Kärnten wurde<br />

die elfjährige Hermine Obweger 5 ihren Eltern, die Zeugen Jehovas („Bibelforscher“ 6 )<br />

waren, weggenommen und in das NS-Umerziehungsheim Feldkirchen-Waiern eingewiesen.<br />

Nachdem es den Eltern immer wieder gelungen war, mit ihrer Tochter in Kontakt zu<br />

treten, wurde Hermine in ein weit entferntes Heim in München verlegt. In Oberösterreich<br />

waren für Evelin Dietrich 7 und ihre Geschwister das Waisenhaus Steyr, das Fürsorgeheim<br />

Gleink, das Heim Baumgartenberg (und Ende Februar 1945 sogar das inzwischen<br />

geleerte Schloß Hartheim, nachdem alle Spuren entfernt worden waren) Stationen ihres<br />

Leidensweges. Die Mutter war 1941 in das Frauen-KZ Ravensbrück gebracht worden,<br />

wegen abfälliger Bemerkungen über Hitler. An alle Aufenthalte hat Evelin traumatische<br />

Erinnerungen. (…)<br />

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71


Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verfolgung<br />

Dr. Gross<br />

Dr. Heinrich Gross, einer der Euthanasieärzte in der Kinderklinik am Wiener „Spiegelgrund“,<br />

machte nach 1945 wissenschaftliche Karriere; die Gehirne der ermordeten Kinder<br />

waren für ihn Forschungsmaterial.<br />

Anfang der fünfziger Jahre war ein Gerichtsurteil gegen ihn aufgehoben und das Verfahren<br />

eingestellt worden. Jetzt beschäftigt Dr. Gross erneut die österreichische Justiz. Jahrzehntelang<br />

war er bei den Gerichten als vielbeschäftigter Gerichtsgutachter ein- und ausgegangen.<br />

Besonders in den letzten Monaten wurde über ihn und die Vorgänge am „Spiegelgrund“<br />

auch in internationalen Medien berichtet.<br />

In einem ZDF-Bericht vom November 1998, der in Deutschland Aufsehen erregte, kam<br />

auch Waltraud Häupl zu Wort. Sie hat ihre Schwester am „Spiegelgrund“ verloren. Erst<br />

1997 erfuhr sie von den tatsächlichen Hintergründen des Todes der vierjährigen Annemarie<br />

im Jahre 1942. Sie begann zu recherchieren und erhielt einen überraschend gut erhaltenen<br />

Akt. Es steht fest, daß das Kind zu jenen Opfern gehört, deren Gehirne als Präparate<br />

in der Pathologie des Psychiatrischen Krankenhauses noch heute gelagert sind.<br />

Der Akt ist von besonderer Dichte und Aussagekraft. Er enthält mehrfach Unterschriften<br />

von Dr. Gross und Dr. Illing sowie handschriftliche Vermerke von Dr. Gross. Sogar die Verabreichung<br />

von Luminal scheint einmal auf. Nach einem Krankenhausaufenthalt war vom<br />

Amtsarzt ein Gutachten erstellt worden. Aus diesem geht hervor: „ … kräftiges, aber kleines<br />

Kind – keine Mißbildungen – Rachitis in Heilung – aufmerksam – das untersuchte Kind<br />

eignet sich nicht zur Aufnahme in eine Anstalt für schwachsinnige Kinder – entwicklungsund<br />

erziehungsfähig – pflegebedürftig …“ Die vorgedruckte Frage „Schwachsinn?“ ist mit<br />

nein beantwortet.<br />

Das Kind wird am 6. 6. 1941 auf den „Spiegelgrund“ überstellt; nach der Aufnahme in<br />

der „Kinderfachabteilung“ wird es von Dr. Gross erneut untersucht und photographiert; in<br />

die Rubrik Diagnose wird Idiotie eingesetzt, Datum 6. 6. 1941. In der Kartei findet sich<br />

immerhin die Bestätigung, daß das Mädchen „gut entwickelt und gut genährt“ ist. Da<br />

sogar die Gewichtstabellen erhalten sind, ist systematische Unterernährung in der weiteren<br />

Folge nachweisbar. Tagesberichte schildern den späteren Zustand: „… das Kind schreit,<br />

näßt, spricht nicht, kann nicht gehen.“ Eine Eintragung fällt ganz aus diesem Rahmen,<br />

bringt Schimmer von Menschlichkeit, geschrieben von einer Schwester: „Nur sehr schwer<br />

ist dem Kinde ein Lächeln zu entlocken, umso mehr war ich erstaunt, als ich bei dem Spiel<br />

‚Patsch Handerl z’samm‘ ein herzliches Lachen erreichen konnte und merkte, daß es Freude<br />

am Spiel findet.“<br />

Am 26. 9. 1942 ist Annemarie tot. Eine Meldung war an den Reichsausschuß gegangen;<br />

die Rückmeldung aus Berlin war fast immer das Todesurteil. Die geschwächten Kinder<br />

wurden mit Luminal betäubt und der Kälte ausgesetzt, die Folge war der vermeintlich natürliche<br />

Tod durch Lungenentzündung. So auch bei Annemarie.<br />

Zum Minensuchen noch gebraucht<br />

Im Mai vergangenen Jahres erhielt Johann Gross eine Vorladung in das Landesgericht für<br />

Strafsachen Wien. In Anwesenheit eines Arztes wurde er ausführlich über Vorgänge<br />

befragt, die mehr als 50 Jahre zurückliegen. Es ging um die Voruntersuchung gegen Dr.<br />

Heinrich Gross.<br />

Johann G. besitzt ein außerordentlich gutes Erinnerungsvermögen. Auf Grund der Causa<br />

Dr. Gross, der vermehrten Berichterstattung in den Medien und durch Veranstaltungen und<br />

TV-Berichte über Themen wie „NS-Medizin“ oder „Vergessene NS-Opfer“ hat er sich mittlerweile<br />

seinen Erinnerungen gestellt und begonnen, sie niederzuschreiben.<br />

Johann G. ist 1930 in Wien geboren, sein Vater war Teilinvalide, die Mutter verließ die<br />

Familie. Er kam auf mehrere Pflegeplätze. Als er bei einer Pflegefamilie geborgen und<br />

glücklich ist, wird er vom Vater zurückgeholt, offenbar wegen des Kindergeldes. Der Vater<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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ist Trinker und schlägt den Buben. In Pimpfuniform des ➤ Deutschen Jungvolks nimmt dieser<br />

von einer Sammelaktion Reißaus und fährt spontan mit der Sammelbüchse (er braucht Geld<br />

für Fahrt und Essen) zur geliebten Hedi-Tant‘ von der letzten Pflegestelle. Amtlich liest sich<br />

das so: „Ist mit der Sammelbüchse der NSV, die er erbrochen hat, nach St. Pölten durchgegangen<br />

und wurde von der Kripo interniert.“ Er ist nun nicht mehr würdig, das „Ehrenkleid<br />

der Jugend“ zu tragen, wird dem Zehnjährigen gesagt. Von da an ist sein Weg durch die<br />

NS-Erziehungsheime vorgezeichnet.<br />

Im Waisenhaus Mödling sind sadistische Erzieher am Werk, „Kleiderappelle“, „Nachtspiele“,<br />

Froschhüpfen, Robben, Drill und Schläge sind Alltag. Nach dem zweiten Fluchtversuch<br />

kommt es zu einem regelrechten Strafritual im leeren Schlafsaal, der Bub allein, die<br />

Erzieher zu viert. Im Juli 1941 wird er schließlich in das Erziehungsheim am „Spiegelgrund“<br />

überstellt. Im Anschluß an die Aufnahme lernt er Dr. Gross kennen, der u.a. seinen<br />

Kopf vermißt. Er sollte ihm in Zukunft noch oft begegnen. Schon durch die Namensgleichheit<br />

blieb „Dr. Gross“ für immer im Gedächtnis haften.<br />

Am „Spiegelgrund“ ist vieles anders. Nur Schwestern statt Erzieher, die Fenster sind vergittert<br />

und versperrt, auch jede Tür ist versperrt und muß immer erst geöffnet werden. Vieles<br />

geht fast lautlos und für ihn unheimlich vor sich. Besonders unwürdig ist das Klosett, mit<br />

einer Halbtür und somit einsehbar; jedes Mal mußte gemeldet werden, ob „klein“ oder<br />

„groß“ zu erwarten war … Es kommt laut Akt zur ersten Flucht vom „Spiegelgrund“ am<br />

16. 8. 1941. Er wird im Prater aufgegriffen und bereits nach zwei Tagen wieder zurückgebracht.<br />

Nach Schlägen von Dr. Krenek, dem Leiter des Erziehungsheimes, kommt er in<br />

eine Einzelzelle in seinem Pavillon (Nr.7). Die erste „Speiinjektion“ durch Dr. Gross folgt. Er<br />

glaubt tatsächlich, daß er stirbt, so schlimm ist es.<br />

Im Pavillon 13 gehen die Kinder zur Schule. Im Februar 1942 hatte Johann G. ein grausiges<br />

Erlebnis. Kurz vor dem Pavillon 13 (d.h. direkt neben dem „Todespavillon“ 15 – Anmerkung<br />

der Verf.) zog ein Hausarbeiter einen zweirädrigen Karren an den Schulkindern<br />

vorbei; darin lagen tote Kleinkinder, nackt und eigenartig verfärbt. Die Begleitschwester<br />

nahm kaltblütig das Entsetzen der Kinder zur Kenntnis. Offenbar bemühte man sich nicht<br />

um Geheimhaltung vor den Kindern, der Wagen war nicht einmal abgedeckt.<br />

Nach einer weiteren Flucht wird er in den sogenannten Strafpavillon 11 verlegt. Einmal<br />

wird er von vier Schwestern gleichzeitig verprügelt. In der Isolation des Kellers lernt er<br />

Jugendliche kennen, älter als er, die offenbar einiges hinter sich haben, darunter einer, der<br />

„lange Karl“, von dem er erfährt, daß es auch so etwas wie Auflehnung gegen Hitler gibt.<br />

Bald darauf ist der „lange Karl“ nicht mehr da.<br />

Immer wieder war Johann G. wochenlang im Keller, hinaus ging es nur zur Schule und<br />

zum Schlafen im ersten Stock. Von Nr. 11 konnte er den gegenüberliegenden Pavillon, der<br />

im ansteigenden Gelände höher gelegen war, sehr gut einsehen: Pavillon 17 der Euthanasieklinik.<br />

Oft sah er, wie die Bettchen mit den Kleinkindern über Nacht auf den Balkon gestellt<br />

wurden, der Kälte ausgesetzt, und hörte ihr Weinen und Wimmern. Er begriff nun,<br />

was sich hier abspielte. Den Leichenkarren sah er mindestens noch einmal.<br />

Einmal gelingt ihm sogar die Flucht aus der Einzelzelle. Es zieht ihn auf den Wiener<br />

Naschmarkt und mehrmals nach Hasenleiten (im 11. Bezirk) in eine Barackensiedlung mit<br />

„Randexistenzen“, für ihn sind es aber Lebenskünstler. Mit ihrer Hilfe verbringt er dort in<br />

der Umgebung sogar einige Wochen, seine längste Zeit in Freiheit (Frühjahr/Sommer<br />

1942). Nach Rückkehr auf den „Spiegelgrund“ bekam er weiterhin Injektionen in die<br />

Hand, Schwefelinjektionen in den Oberschenkel; diese brannten fürchterlich, lähmten<br />

teilweise und machten eine Fortbewegung unmöglich. Einmal bekam er kurz hintereinander<br />

beide, da war man zu viert gekommen, davon zwei Ärzte, davon einer wiederum Dr.<br />

Gross. Als nach der Injektion die Bewegungsstörung bereits einsetzte, meinte Dr. Gross zu<br />

ihm, er könne jedenfalls zum Minensuchen noch gebraucht werden.<br />

Johann G. dürfte zu den am häufigsten „entwichenen“ (Akt) Heiminsassen gehört haben.<br />

Das verschaffte ihm bei den anderen einen gewissen Bekanntheitsgrad und eine Art<br />

Respekt. Er galt auch als guter Schüler. Mit Dr. Gross verband ihn immer enger das gewis-<br />

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73<br />

Jana Müller


Bestrafungsritual<br />

Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verfolgung<br />

sermaßen gemeinsame Bestrafungsritual der Injektionen. Dr. Gross ist ihm unvergeßlich geblieben,<br />

und es könnte vermutet werden, daß auch umgekehrt dieser Heimbub dem NS-<br />

Arzt im Gedächtnis haften geblieben ist.<br />

Die (mit Mödling) insgesamt elf Fluchten waren nicht vorrangig Ausdruck eines „Wandertriebes“;<br />

es war vor allem eine Kampfansage, sein Krieg, wie er selbst es nennt, gegen das<br />

System, gegen die Demütigungen, von denen alle betroffen waren. Er verabscheute die<br />

kriecherische Haltung, die sich viele aneigneten, um durchzukommen. Es war der eiserne<br />

Wille, sich nicht brechen zu lassen.<br />

Zuletzt will Heimleiter Krenek ihn nicht mehr „haben“. Im Frühsommer 1943 kommt er<br />

zurück nach Mödling.<br />

Alfred Grasel, Johann Gross, Waltraud Häupl, Anna Maierhofer und Franz Pulkert konnten<br />

von der Verfasserin persönlich befragt werden. Das Gespräch mit Emil Blaschek führte<br />

Anna Maierhofer. Alle Zeitzeugen leben in Wien.<br />

1 Tarnbezeichnung für die beschriebene Euthanasieaktion nach der<br />

Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4 (Kanzlei des Führers).<br />

2 Zielgruppe dieser speziellen Kindermordaktion waren Kinder,<br />

die sich nicht in Anstaltspflege befanden – denn diese wurden<br />

ohnehin im Zuge der Aktion „T4“ (...) erfaßt –, insbesondere<br />

Neugeborene. Durch einen geheimen Runderlaß des Reichsministeriums<br />

des Inneren vom 18. 8. 1939 (...) wurden alle Hebammen<br />

und Ärzte verpflichtet, in den Kliniken alle Neugeborenen<br />

mit schweren angeborenen Leiden (...) sowie alle Kinder bis zu<br />

drei Jahren mit diesen Leiden den zuständigen Gesundheitsämtern<br />

mittels eines Formblattes zu melden. In: Wolfgang Neugebauer,<br />

Die Klinik „Am Spiegelgrund“ 1940-1945 – Eine „Kinderfachabteilung“<br />

im Rahmen der NS-“Euthanasie“, in: Jahrbuch<br />

Aus: Betrifft Widerstand 43/2 1999, S. 4–13.<br />

des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, Band 52/53, Wien<br />

1996/97, S. 293.<br />

3 Matthias Dahl, Endstation Spiegelgrund. Die Tötung behinderter<br />

Kinder während des Nationalsozialismus am Beispiel einer Kinderfachabteilung<br />

in Wien 1940-1945, Erasmus, Wien 1998, S. 32.<br />

4 Ebda., u.a. S. 29, 35, 41.<br />

5 Geschichte der Familie Obweger aus: Geschichtsarchiv der Zeugen<br />

Jehovas, Wien.<br />

6 Die Zeugen Jehovas, die 1931 diesen Namen annahmen, wurden<br />

in der NS-Zeit nach ihrer früheren Bezeichnung Erste oder Internationale<br />

Bibelforscher genannt.<br />

7 Walter Kohl, Die Pyramiden von Hartheim, Edition Geschichte der<br />

Heimat, Grünbach 1997, S. 390ff.<br />

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FÜRSORGE – ARBEITSHAUS – KZ: DAS LEBEN DER BETTY VOSS<br />

MARTINA SCHEITENBERGER/MARTINA JUNG<br />

„Asozial“ 1<br />

Der Nationalsozialismus verfolgte jede Lebensäußerung, die nicht dem sogenannten<br />

„gesunden deutschen Volksempfinden“ entsprach. 2 Soziale bzw. kulturelle Verhaltensweisen,<br />

die von der Norm des nationalsozialistischen Gesellschaftsmodells abwichen, wurden<br />

von der Bevölkerung bereitwillig denunziert und von den dafür zuständigen Behörden<br />

kontrolliert und im Zweifelsfall korrigiert. Dazu griff das nationalsozialistische Regime auf<br />

die bestehenden Einrichtungen wie Gesundheits- und Sozialämter (Fürsorgeämter) zurück,<br />

die als verlängerter Arm der Verfolgungsbehörden weiter ausgebaut wurden. Diese Einrichtungen<br />

registrierten, erfaßten, beurteilten und gaben ihre Informationen an Polizei und<br />

Gerichte weiter. Die Beurteilungen von Fürsorgerinnen konnten zu Entmündigungen,<br />

Zwangssterilisation, Einweisungen in Arbeitshäuser und zu Konzentrationslagerhaft auf unbestimmte<br />

Zeit führen. Begriffe wie „asozial“ und „arbeitsscheu“ brandmarkten die Betroffenen,<br />

auch lange nach 1945.<br />

In der Mehrzahl waren die Menschen, die als asozial eingestuft wurden, arm und abhängig<br />

von staatlicher Unterstützung, viele von ihnen hatten keinen festen Wohnsitz. Zu ihnen<br />

zählten Bettler, Fürsorgeempfänger, Wohnungslose, Landstreicher, Alkoholiker, Straftäter,<br />

Homosexuelle, unterhaltssäumige Väter, Prostituierte und „Zigeuner“. 3 Sinti und Roma wurden<br />

auf Grund ihrer „zigeunerischen“ Lebensweise als „asozial“ eingestuft. 4 In den Konzentrationslagern<br />

wurden diesen Gruppen drei verschiedene Winkel zugeordnet, zum Teil<br />

willkürlich. Der schwarze Winkel mit einem A galt „Asozialen“, ein grüner Winkel „Kriminellen“,<br />

„männlichen Homosexuellen“ 5 wurde ein rosa Winkel zugewiesen.<br />

Die Definition des Begriffes „asozial“ war derart dehnbar, daß ein Heilbronner Obermedizinalrat<br />

als Frühsymptome eines „asozialen“ Verhaltens bei Jugendlichen beispielsweise<br />

Rauchen, Faulheit, Eigensinn, Trotz, Zerstörungslust, Schulschwänzen u.a. ansah. 6<br />

„Schließlich schien vielen gerade eine diffuse Kategorie geeignet, um im Namen des<br />

‚Volksempfindens‘ alles darin zu sammeln, das sie störte.“ 7 In einem Handbuch über Erbkrankheiten<br />

aus dem Jahre 1937 verstieg sich ein Verfasser zu der Idee, die Definition von<br />

„asozial“ dem „Volksempfinden“ überlassen zu wollen. 8 Ein Gesetz, das die Verfolgung und<br />

Inhaftierung von „Asozialen“ geregelt hätte, existierte nicht, jedoch wurden zahlreiche Erlässe<br />

und Verordnungen geschaffen, die der Verfolgung einen legalen Anstrich verliehen. 9<br />

Diese Politik führte im Nationalsozialismus nach Peukert „zur Ausblendung jeglicher Rechtsgarantie<br />

für Menschen mit abweichendem Verhalten“. Die Deklarierung als „asozial“ funktionierte<br />

als Vorstufe zu „ihrer Auslieferung an polizeiliche Allmacht, ja zur systematischen<br />

Ausrottung, und als Legitimation für die Mißhandlungen, Morde und die allgemein hohe<br />

Sterblichkeit in den Konzentrationslagern 10 “. Die Entwicklung dahin vollzog sich allmählich<br />

und begann nicht erst mit der Machtergreifung 1933. Schon zuvor wurden, verstärkt durch<br />

die ökonomische Krise in den zwanziger Jahren, vermehrt Stimmen laut, die in der Gruppe<br />

der „Unangepaßten“ eine Bedrohung sahen. 11 Die Argumentation, daß die Menschen nach<br />

ihrem Nutzen für die Gesellschaft beurteilt werden müßten, wurde im Laufe der dreißiger<br />

Jahre immer häufiger formuliert. Daraus wurde abgeleitet, daß Infektionskrankheiten wie<br />

Tuberkulose, die als Armenkrankheit galt, nicht als persönliches Leid für den Kranken,<br />

sondern als „volksschädigend“ anzusehen seien. 12 So konnte es einem Tuberkulosekranken<br />

passieren, daß er in eine Bewahranstalt zur Zwangsarbeit eingewiesen wurde. 13<br />

Durch die tatkräftige Mithilfe zahlreicher Wissenschaftler erhielten „Reaktionen der sozialen<br />

Mehrheit auf abweichendes Verhalten (...) ihre biologische Legitimation“, indem diese<br />

durch fragwürdige Untersuchungen nachzuweisen versuchten, daß das, „was Juden zu<br />

Juden mache“, „Geisteskranke zu Geisteskranken“, „Zigeuner zu Zigeunern“ und „Asoziale<br />

zu Asozialen“, in den Genen angelegt, erblich und somit unwiderruflich sei. 14 Jegliche<br />

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75<br />

Gesundheits- und<br />

Fürsorgeämter<br />

als verlängerter<br />

Arm der Verfolgungsbehörden


„Rassenhygiene“<br />

als Legitimation<br />

für Verfolgung<br />

und Vernichtung<br />

Die „totale Erfassung“<br />

durch<br />

Polizei, Gesundheits-<br />

und Sozialbehörden<br />

Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss<br />

sozialen Aspekte wurden rigoros ausgeblendet oder verschleiert. Wissenschaftler machten<br />

sich daran, ganze Familien nach ihren Erbanlagen, etwa nach „asozialen Anlagen“ wie<br />

„Schwachsinnigkeit“, zu untersuchen. Rassenhygieniker, die auf eine lange Tradition zurückblicken<br />

konnten, lieferten im Nationalsozialismus die Argumente zu Verfolgung und Vernichtung<br />

von gesellschaftlichen Randgruppen. Ökonomische Ursachen für soziale Verelendung,<br />

die Tatsache, daß viele Menschen in der Zeit der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger<br />

Jahre arbeitslos geworden waren, wurden ausgeblendet. Vor allem nachdem die Nationalsozialisten<br />

das Problem der Arbeitslosigkeit nach der Machtergreifung mit Beschäftigungsprogrammen<br />

scheinbar gelöst hatten, wurden Fürsorgeempfänger für ihre Lage verantwortlich<br />

gemacht und ihnen persönliche Unfähigkeit nachgesagt. Argumentiert wurde in die<br />

Richtung, daß die sogenannten „Asozialen“ nicht imstande seien, ihr Leben eigenverantwortlich<br />

zu gestalten, und es entsprechend ihrer Veranlagung auch nie können würden. 15<br />

Das ➤ „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das 1934 in Kraft getreten<br />

war, bildete die logische Konsequenz aus dieser geistigen Haltung. Von dieser Zeit bis<br />

1945 sind auf Grund dieses Gesetzes etwa 400.000 Zwangssterilisationen durchgeführt<br />

worden. 16 Der angeblich nachgewiesene erblich veranlagte „Schwachsinn“ eines Menschen<br />

hatte eine Zwangssterilisation zur Folge. Diese „Diagnose“ führte zu den meisten<br />

Zwangssterilisationen. 17 Während „wertvolle Frauen“ aus „erbgesunden Familien“ eine<br />

Geburtenförderung erfahren sollten, setzte man bei den „minderwertigen Frauen“ ein<br />

Gebärverbot durch. Zudem verbot das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der<br />

deutschen Ehre“ von 1935 Ehe und Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Juden.<br />

1942 wurde das Gesetz noch um den Begriff „Zigeuner“ erweitert. 18 Bereits 1933 wurden<br />

„sexuell Unangepaßte“, Prostituierte und Frauen, denen häufig wechselnder Geschlechtsverkehr<br />

nachgesagt wurde, registriert, verfolgt und später als „Asoziale“ in Konzentrationslager<br />

verschleppt. 19<br />

„Daß es dem Staat allein um Ordnung ging und nicht etwa um Moral, bewies sein zynisches<br />

Bestreben, Offiziere, Soldaten und sogar Zwangsarbeiter in den Konzentrationslagern<br />

kontrolliert mit Prostituierten zu ‚versorgen’. Faustregel eines KZ-Planers: zehn Frauen<br />

pro 3000 Arbeiter.“ 20<br />

Frauen konnten bereits in die Mühlen der Ermittlungsbehörden geraten, wenn ein Verdacht<br />

bestand, daß sie „eigene Wege gingen“ oder sich „auf Rummelplätzen herumtrieben“.<br />

21 In Ermangelung von Beweisen wurde im Sinne des „Volksganzen“ entschieden und<br />

nicht im Sinne der jeweiligen Person. 22 Eine „ordentliche Frau“ sollte einen „krisenanfälligen<br />

Gelegenheitsverbrecher“ durch ihren Einfluß wieder auf die rechte Bahn rücken können.<br />

War aber eine „liederliche Frau“ mit einem „willensschwachen Mann“ verheiratet, so<br />

konnte dieser Umstand nach dem Erbforscher Stumpfl „verheerende Auswirkungen auf den<br />

Lebensweg“ des Mannes haben. 23<br />

Angestrebt wurde eine totale Erfassung zur konsequenten Repression allen abweichenden<br />

Verhaltens in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Sexualität. Dazu dienten Gesetze,<br />

Erlasse und Verordnungen. Polizei, Gesundheits- und Sozialbehörden führten die „Maßgaben“<br />

aus, sie arbeiteten Hand in Hand und übertrafen zuweilen die verordneten Anforderungen.<br />

24<br />

Ein weiteres Zwangsmittel zur Erfassung waren Entmündigungsverfahren durch die Erbgesundheitsgerichte,<br />

die bei angeblich nachgewiesenem „Schwachsinn“ Eheverbot und<br />

Zwangssterilisation anordnen konnten. Die Sterilisationsverfahren galten vor allem Frauen,<br />

insbesondere unverheirateten Müttern mit mehr als einem Kind. 25 Der Sterilisation ging vielfach<br />

ein Entmündigungsverfahren voraus: „Das Verfahren war aus Sicht der Opfer nahezu<br />

aussichtslos: Fürsorgerinnen und Pflegeämter beantragten die Entmündigung bei den Amtsgerichten<br />

mit der Begründung, der Betroffene sei ‚nicht fähig’, den ‚Sinn der Unfruchtbarmachung‘<br />

zu erfassen.“ Daraufhin wurden amtliche Pfleger eingesetzt, die die Sterilisation<br />

ihrer Mündel beantragten. 26 Zur „Diagnose“ wurden „Intelligenzprüfbögen“ herangezogen,<br />

die Fragen wie „Was ist der Unterschied zwischen einer Leiter und einer Treppe?“, „Was<br />

ist Elektrizität?“ oder „Welche Schlacht hat Hindenburg geschlagen?“ enthielten. 27<br />

76 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Die Situation für angeblich „Asoziale“ verschärfte sich im Laufe der dreißiger Jahre bis<br />

hin zur Einweisung in ein Konzentrationslager auf unbestimmte Zeit. 1933 wurden große<br />

Bettlerrazzien organisiert, die noch kurzfristige Haftzeiten für die Festgenommenen zur Folge<br />

hatten. Es konnte zusätzlich zur Haftzeit eine Zwangseinweisung in ein Arbeitshaus erfolgen.<br />

Dort mußten die Inhaftierten in der Regel ein Jahr verbringen, wurden danach aber<br />

wieder auf freien Fuß gesetzt. Ab 1934 konnte die Arbeitshaushaft unbefristet verlängert<br />

werden, die Unterbringung war nun „tendenziell lebenslänglich“. 28 Frauen wurden vermehrt<br />

ab 1936 in Arbeitshäuser eingewiesen. Die Begründung war zumeist „sittlicher Verfall“, auf<br />

Grund dessen sie dem Staat finanziell zur Last fallen würden. Dabei konnte es sich lediglich<br />

um Krankenhauskosten zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten handeln. 29<br />

Im Zuge des Arbeitskräftemangels um 1937/38 strebte insbesondere die ➤ SS an, alle,<br />

die auffällig geworden waren, wenn nötig mit Gewalt zur Arbeit zu zwingen. Ein Erlaß<br />

über „die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ ebnete der SS den<br />

Weg, „Asoziale“ systematisch in Konzentrationslager zu verschleppen. Ab diesem Zeitpunkt<br />

hatten Polizei und ➤ Gestapo einen Zugriff auf angeblich „Arbeitsscheue“. Darauf<br />

folgten Verhaftungswellen durch die Gestapo, die besonders diejenigen zu fürchten hatten,<br />

die bereits in einem Arbeitshaus gewesen waren. Ihnen drohte eine Einweisung in ein KZ<br />

als „Vorbeugehaft“. 30<br />

Wie sich so eine Verkettung von Ereignissen abspielen konnte, verdeutlicht die Biographie<br />

von Betty Voss, die die Auswirkungen der verschärften Verfolgung von Armen und<br />

„Unangepaßten“ am eigenen Leibe zu spüren bekam.<br />

Betty Voss 31<br />

In einem kleinen Dorf bei Magdeburg wurde Betty Voss am 25.11.1911 geboren. Sie war<br />

die älteste von drei Geschwistern und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, ihre Mutter<br />

war Landarbeiterin.<br />

„Meine allererste Erinnerung an die Kindheit, da war ich fünf Jahre. Da war meine Mutter<br />

schwerkrank, und mein Vater hat im Steinbruch gearbeitet.“<br />

Betty Voss berichtet in einem Interview, daß ihr Vater im Streit seine kranke Frau stieß,<br />

daß diese fiel und an den Verletzungen starb. Das Gericht glaubte Betty Voss nicht, da sie<br />

noch ein Kind war, ihr Vater wurde freigesprochen. Er heiratete bald wieder. Unter der<br />

Stiefmutter, die die Kinder schlug, litt Betty Voss sehr.<br />

„(...) und in der Schule, da durften wir uns nicht ausziehen, wenn der Schularzt kam, da<br />

mußten wir sagen, wir sind gefallen!“<br />

Die Mißhandlungen ließen sich bei einer Reihenuntersuchung in der Schule nicht verheimlichen.<br />

Wegen Kindesmißhandlung bekam die Stiefmutter eine Haftstrafe von zwei Jahren.<br />

Nach deren Entlassung wurde die Situation für Betty Voss immer unerträglicher. Sie ging<br />

1925, nachdem sie die Schule absolviert hatte, für drei Jahre zu einem Verwandten nach<br />

Brandenburg, bei dem sie eine Ausbildung als Gärtnerin machte. Nach Abschluß der Ausbildung<br />

mußte sie zurück zu ihren Eltern. Das Verhältnis zwischen der Stiefmutter und Betty<br />

Voss war unverändert schlecht. Sie fühlte sich von ihrer Stiefmutter vollkommen ausgenutzt,<br />

weil sie beispielsweise ihren gesamten Lohn als Taglöhnerin zu Hause abzugeben hatte.<br />

Deshalb verließ sie heimlich ihr Elternhaus, obwohl sie noch nicht volljährig war, und begab<br />

sich auf Wanderschaft.<br />

„Ja, wir waren, ich war auf Tippelei, und im Frühjahr, im Sommer, habe ich mir beim<br />

Bauern Arbeit gesucht, da hab’ ich den ganzen Sommer gearbeitet, das Geld habe ich mir<br />

gespart, hab’ mir Zeug gekauft, und wenn es Herbst war, war nichts mehr zu machen, bin<br />

ich weiter getippelt.“<br />

In dieser Zeit freundete sie sich mit einem Landarbeiter an. Sie wurde schwanger. Noch<br />

vor der Geburt ihres Kindes ertrank ihr Freund in einem See. Auf Grund der Schwangerschaft<br />

konnte sie bald nicht mehr arbeiten, sie wanderte weiter in Richtung Norden und<br />

übernachtete in Obdachlosenheimen.<br />

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Martina Scheitenberger/Martina Jung<br />

77<br />

„Zwischenstation“<br />

Arbeitshaus<br />

Das Konzentrationslager<br />

als<br />

„Vorbeugehaft“<br />

Obdachlosenasyl<br />

– erste Kontakte<br />

mit der Fürsorge


Von der Zwangspsychiatrie<br />

ins<br />

Arbeitshaus<br />

Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss<br />

„Ich bin ja immer in ein Obdachlosenasyl gegangen, ich bin nie in eine Herberge, wo<br />

Männer waren. Es gab da Herbergen, da konnten Männer und Frauen, ich bin immer in<br />

ein Obdachlosenasyl, da war ich am sichersten.“<br />

Das Kind bekam Betty Voss in einer Gefängniszelle in Berlin am Alexanderplatz. Da sie<br />

erst 20 Jahre alt war, schickte die Polizei sie zurück zu ihren Eltern, die sie als vermißt gemeldet<br />

hatten. Nach einem Jahr hielt es Betty Voss zu Hause nicht mehr aus und ging abermals<br />

auf Wanderschaft, diesmal nach Kiel.<br />

„Erstens mal hab’ ich gefragt, wo hier ’ne Unterkunft ist für Frauen, da hat man mir gesagt,<br />

in der Gartenstraße bei Schwester Therese, und da bin ich hin, anstandshalber, um<br />

nicht auf der Straße zu liegen und rumzutreiben (...) und gleich, oh die Therese, hat gleich<br />

telephoniert, nach dem Gesundheitsamt: ‚Hier ist jetzt wieder eine Neue gekommen, wo<br />

die herkommt, wissen wir nicht richtig (…).‘“<br />

Daraufhin mußte sich Betty Voss auf Veranlassung des Gesundheitsamtes untersuchen lassen.<br />

In dem Heim lernte sie ihren ersten Mann kennen, den sie 1933 heiratete. Sie bekam<br />

zwei weitere Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Die Familie lebte von der Unterstützung<br />

durch das Fürsorgeamt. Die Arbeitslosigkeit des Mannes, seine Alkoholprobleme und die<br />

permanenten Geldsorgen führten schnell zu Spannungen in der Ehe. Häufig mußte die Familie<br />

wegen ihrer Mietzahlungsrückstände die Wohnung wechseln. Betty Voss wusch für<br />

Frauen aus der Nachbarschaft Wäsche und ging zeitweilig betteln, obwohl das verboten<br />

war, um ihre Kinder zu ernähren.<br />

„Da war ich gezwungen von Haus zu Haus, von Treppe zu Treppe, mit einem Kind an<br />

der Hand und einem im Bauch betteln [zu] gehen.“<br />

Zweimal in der Woche kam ein Mann vom Fürsorgeamt und kontrollierte die häuslichen<br />

Verhältnisse. Bei einem dieser Besuche kam es zu einem Streit zwischen Betty Voss und<br />

ihrem Mann, der sie tätlich angriff. Der Fürsorger forderte sie danach auf, sich scheiden zu<br />

lassen. Sie weigerte sich. Kurze Zeit später bekam sie ihr drittes Kind. Als Betty Voss keine<br />

Möglichkeit mehr sah, ihre Kinder zu ernähren, gab sie die beiden größeren Kinder in ein<br />

katholisches Kinderheim. Obwohl sie regelmäßig Besuche im Heim machte, wurden die<br />

Kinder ohne Benachrichtigung der Mutter in ein anderes Heim überwiesen. Die Behörden<br />

leiteten ein Entmündigungsverfahren gegen Betty Voss ein. 1936 wurde sie entmündigt.<br />

Voraus gingen eine medizinische Untersuchung und ein „Intelligenztest“.<br />

„Professor Hallermann war in der Nervenklinik hier in Kiel der Höchste. Da hat er gesagt:<br />

‚Frau Diederich, was ist denn der Unterschied zwischen Treppe und Leiter?‘ Und ich sag:<br />

‚Aber Herr Doktor, auf der Leiter gehen Sie auf Sprossen und auf der Treppe auf Stufen.‘“<br />

Nach der medizinischen Untersuchung: „ (...) dann sag ich: ‚Na, Herr Professor, wie ist<br />

denn der Befund nach zwei Tage?‘ ‚Ach’, sagt der Kleine: ‚Da verstehst du nichts von, ist<br />

o.B.‘ ‚Ach ja’, sag ich, ‚ohne Befund, nich’!‘“<br />

Es folgte die Einweisung in eine Nervenklinik nach Schleswig, wo sie drei Jahre zwangsweise<br />

bleiben mußte.<br />

„Und der Oberarzt Dr. Krei ( in Schleswig, d.V.), der hat zu mir gesagt: ‚Laß dich scheiden<br />

von dem Mann!‘ (...) Wir haben menschlich gesprochen, wir beiden, und er wußte,<br />

mir fehlt nichts. Er hat gesagt, ihm sind die Hände gebunden, wenn’s nach ihm ginge, würde<br />

er mich rauslassen. Aber ich ginge gleich wieder nach Kiel, und dann würd‘ er sein Amt<br />

los, nich. So hat er mir das dann erzählt, und ich sag: ‚Und scheiden laß ich mir nicht!’“<br />

„Ach, und da hab ich dann gesessen bis 1939, fing dann der Krieg an. Da hab ich denn<br />

gesagt: ‚Nun wird es Zeit, (...) Herr Oberarzt, ich laß mich scheiden, dann bin ich frei!‘“<br />

1939 ließ sich Betty Voss von ihrem Mann, der inzwischen in Hannover wohnte, scheiden.<br />

Sie blieb weiter entmündigt und bekam deshalb nicht das Sorgerecht für ihre Kinder,<br />

die sie auf Veranlassung der Familie ihres Mannes nicht sehen durfte. Sie sollte gleich nach<br />

der Scheidung zurück in das Dorf fahren, aus dem sie stammte.<br />

„Ich fahr nicht nach Hause, ich fahr wieder nach Kiel, bin ich wieder in Kiel, sehen sie<br />

(vermutlich das Fürsorge- oder Gesundheitsamt, d.V.) mich wieder, ein Jahr Arbeitshaus,<br />

Glückstadt.“<br />

78 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Martina Scheitenberger/Martina Jung<br />

Nach ihrer Ankunft in Kiel geriet Betty Voss erneut in die Erfassungsmühlen der städtischen<br />

Behörden, die sie zu einem Jahr Arbeitshaus verurteilten. Nach ihrer Entlassung<br />

aus dem Arbeitshaus in Glückstadt arbeitete sie für längere Zeit bei einem Flugzeugersatzteilehersteller<br />

in der Rüstungsindustrie. Dort freundete sie sich mit einem holländischen<br />

Zwangsarbeiter an. Die Beziehung war sehr gefährlich, da jeglicher Kontakt zwischen<br />

Deutschen und Zwangsarbeitern streng untersagt war. Auf Grund der Meldung des Personalchefs<br />

der Fabrik, der insgesamt sieben Holländer und sieben Fabrikarbeiterinnen<br />

wegen unerlaubter Kontakte denunzierte, wurde Betty Voss gemeinsam mit den anderen<br />

verhaftet. Nach ein paar Tagen in einem Gefängnis brachte man sie mit den anderen<br />

sechs Frauen am 3. Februar in das Konzentrationslager Ravensbrück. Die Begründung für<br />

ihre Einweisung lautete „Herumtreiberei“. Ihr holländischer Freund wurde in das KZ<br />

Neuengamme verschleppt und dort getötet. An die Ankunft in Ravensbrück erinnert sich<br />

Betty Voss:<br />

„Da war’n Raum, da saß’n SS-Mann, so breitbeinig, ‚Wat bist du für eine?‘ ‚Deutsche.‘<br />

Klatsch, klatsch bumm, ha, ha, gleich rechts und links eine weg. (...) Da war so’n großer<br />

Baderaum und hinten da in dem anderen Raum, da schrien sie alle. Da hab’ ich mal um<br />

die Ecke geschielt, oh, da wurden die Haare abgeschnitten, alle, alle! Die haben mich dort<br />

entehrt, die haben mich entmündigt, die haben mir die Haare abgeschnitten, die haben mir<br />

doch entehrt da, die ganzen Jahr’ in Ravensbrück, und jetzt soll ich nichts dafür haben!“<br />

Im KZ wies man ihr die Häftlingskategorie „Asozial“ zu. Sie bekam einen schwarzen<br />

Winkel aus Stoff mit einem „A“ darauf und die Häftlingsnummer 16747. Die Lebensbedingungen<br />

waren katastrophal, täglich von Hunger begleitet.<br />

„Ich hab mal Weißkohl geklaut. Wir haben alle Hunger gehabt. Wir haben die ganze<br />

Woche nur Steckrüben in Wasser gekocht, kein Fleisch, wir haben keine Wurst, nichts, wir<br />

haben immer nur trockenes Brot, so’n Stück, das mußte reichen, den ganzen Tag. Und da<br />

kam denn ein Wagen mit Weißkohl. Und ich und noch eine mehr, ich sag: ‚Komm man<br />

Friedel, wir ducken uns, sind ja klein, da können sie nicht so sehen, wenn es ein bißchen<br />

schummrig ist!‘ Wir denn ruff auf den Auto. (...) Wir liefen da mit die Weißkohlköpfe los in<br />

unseren Block. Erst war ich in Block 19 und denn in Block 23. Und wie wir denn da reinkamen,<br />

oh, ach, die haben uns ja überfallen, der Weißkohl, der war im Nu weg, so roh.<br />

Und dann haben sie uns erwischt! Eine hat uns gesehen, und die hat uns verpfiffen. (...)<br />

Strafrapport, dann mußten wir vorne nach n’ Revier. (...) Dann kam’n wir unten nach dem<br />

Keller. Da war ein Holzblock, so ein schönes Ding, wissen Sie, haha! Und dann kriegten<br />

wir ’ne weiße Leinenhose, ’ne nasse an! Und dann: ‚Leg dich mal auf den Bock.‘ Mit Gummiknüppel!<br />

‚Zähle, zählst du die Schläge nicht, kriegst du einen mehr!‘“<br />

Mit ihr wurden medizinische Versuche durchgeführt, am Oberarm operierte man ihr einen<br />

Muskel heraus. Sie berichtet, daß ihr in Ravensbrück auch Mittel gespritzt wurden, die<br />

epileptische Anfälle hervorriefen.<br />

Betty Voss arbeitete in den verschiedenen Arbeitskommandos des KZ:<br />

„Und denn jedes Vierteljahr wurden 500 ausgesucht aus die Blocks. Ich habe mir ja<br />

gleich zur Arbeit, das hieß ja Arbeitsvermehrung, um sieben Uhr, (...) gemeldet. Ich hab’<br />

Straßenbau mitgemacht, ich hab’ die Küche rein mitgemacht, in de Schusterei mitgemacht,<br />

ich hab’ Bäume mitgefällt, ich hab’ Sand mitgeschaufelt, ich hab’ Leichen mit verbrannt, in<br />

unser eignes Krematorium.“<br />

Betty Voss war bis zur Befreiung des KZ durch die Russen in Ravensbrück. Mit einigen anderen<br />

Frauen aus ihrer Häftlingsbaracke verließ sie zu Fuß das KZ in Richtung Mecklenburg.<br />

„Ehe wir losgewandert sind, sind wir nach Oranienburg gegangen und haben uns einen<br />

Zettel geben lassen, daß wir gesessen haben da drin, von dann bis dann, nich, in Ravensbrück.“<br />

Im Berliner Rathaus gab sie den Schein ab, um Wiedergutmachungsansprüche geltend<br />

zu machen. Dort ging die Bescheinigung verloren.<br />

1946 heiratete Betty Voss ein zweites Mal. Die Ehe hielt jedoch nur kurz, da ihr Mann<br />

erkrankte und in eine Nervenklinik nach Schleswig eingeliefert wurde. Sie ließ sich bald<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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79<br />

„Unerlaubte<br />

Kontakte“<br />

führen ins Konzentrationslager<br />

Ravensbrück


Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss<br />

darauf scheiden. Drei Jahre später lernte sie Herrn Voss kennen. Gemeinsam mit ihm setzte<br />

sie die Aufhebung ihrer Entmündigung von 1936 beim Vormundschaftsgericht durch.<br />

„Und dann hab ich gesagt: ‚Ich möchte‘ jetzt endlich wieder frei sein, ich bin so lange<br />

entehrt gewesen, von 1936 bis 1951, das ist ja wohl lange genug!‘ ‚Ja, woll’n wir mal<br />

gucken!‘ Ich sag: ‚Oder muß ich noch mal erzählen, was der Unterschied zwischen Treppe<br />

und Leiter (...)?’<br />

Das dauerte 14 Tage, da kriegte ich meinen Bescheid, die Entmündigung ist aufgehoben.<br />

Ich hab noch das Schreiben! Und 1951 haben wir geheiratet.“<br />

Ihre Kinder sah Betty Voss erst, als diese schon 18 und 19 Jahre alt waren. Das Verhältnis<br />

zu ihnen beurteilte Betty Voss als sehr gespannt. Sowohl Tochter als auch Sohn werfen<br />

der Mutter vor, daß sie in ein Heim mußten, und glauben nicht daran, daß ihre Mutter keine<br />

andere Möglichkeit sah. Am Stadtrand von Kiel lebte Betty Voss mit ihrem Mann in einer<br />

kleinen Laube. 1991 starb sie mit 80 Jahren.<br />

„Ich hab’ keine Worte mehr für die Menschen, ein Tier tut mir nichts, ein Tier belügt mir<br />

nicht, aber können Sie noch einem Menschen trauen? Vorne lachen sie und hinten kratzen<br />

sie, ja ist wahr, man muß ja Angst kriegen! – Nu ja – denkt von mir, was ihr wollt – ich<br />

weiß es nicht, was ihr denkt.“<br />

1 Die Verfolgtengruppe, die die Nationalsozialisten als „asozial“<br />

einstuften, wird in der Literatur zu den Konzentrationslagern<br />

häufig vernachlässigt oder nur am Rande erwähnt. Deshalb war es<br />

uns besonders wichtig, die Biographie einer Frau aufzunehmen,<br />

die als „Asoziale“ im KZ Ravensbrück inhaftiert war. Die der Biographie<br />

vorangestellte knappe Einführung soll hier lediglich einen<br />

Überblick über diese Gruppe geben.<br />

2 Vgl. Klaus Scherer: „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen<br />

Verfolgten. Münster 1990, S. 9.<br />

3 Vgl. Wolfgang Ayaß, Das Arbeitshaus Breitenau. Bettler, Landstreicher,<br />

Prostituierte, Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der<br />

Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau (1874-1949). Kassel<br />

1992, S. 287. Siehe auch Scherer (1990), S. 50, 70.<br />

4 Vgl. Scherer (1990), S. 50.<br />

5 Männliche Homosexuelle wurden auf der Grundlage des § 175<br />

StGB verfolgt und im Konzentrationslager als eine spezifische Gruppe<br />

mit einem rosa Winkel „markiert“. Weibliche Homosexuelle fielen<br />

nicht unter dieses Gesetz. Trotzdem wurden auch sie verfolgt<br />

und in KZ verschleppt, „eine qualvolle Erfahrung, die der Mehrzahl<br />

lesbischer Frauen glücklicherweise erspart blieb“. Claudia Schoppmann:<br />

Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität.<br />

Pfaffenweiler 1991, S. 223. Vgl. ebd., S. 5, 214-226.<br />

6 Vgl. Scherer (1990), S. 55.<br />

7 Ebd., S. 52.<br />

8 Ebd., S. 50.<br />

9 Vgl. Ayaß (1992), S. 266-282. Siehe auch Scherer (1990), S. 29-35.<br />

10 Detlef Peukert: Arbeitslager und Jugend-KZ: Die „Behandlung<br />

Gemeinschaftsfremder“ im Dritten Reich. In: Ders./Jürgen<br />

Reulecke (<strong>Hrsg</strong>.): Die Reihen fast geschlossen. Wuppertal 1981,<br />

S. 413.<br />

11 Vgl. Uwe Lohalm: Die Wohlfahrtskrise 1930-1933. Vom ökonomischen<br />

Notprogramm zur rassenhygienischen Neubestimmung. In:<br />

Frank Bojahr/Walter Johe/Uwe Lohalm (<strong>Hrsg</strong>.): Zivilisation und<br />

Aus: Claus Füllberg-Stolberg (<strong>Hrsg</strong>.):<br />

Frauen im Konzentrationslager, Bergen-Belsen, Ravensbrück,<br />

Edition Temmen, Bremen 1994, S. 299-305<br />

Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Hamburg<br />

1991, S 193-225.<br />

12 Vgl. Scherer (1990), S. 20f.<br />

13 Vgl. ebd., S. 77.<br />

14 Ebd., S. 21.<br />

15 Vgl. ebd., S. 42, 63.<br />

16 Vgl. Schoppmann (1991), S.67. Vgl. auch Scherer (1990), S. 10, 27.<br />

17 Ebd., S. 68.<br />

18 Ebd., S. 29.<br />

19 Vgl. Gaby Zürn, A. ist ein Prostituiertentyp. Zur Ausgrenzung und<br />

Vernichtung von Prostituierten und moralisch nicht-angepaßten<br />

Frauen im nationalsozialistischen Hamburg. In: Verachtet – Verfolgt<br />

– Vernichtet. Zu den „vergessenen“ Opfern des NS-Regimes. Hg. v.<br />

der Projektgruppe für die „vergessenen“ Opfer des NS-Regimes.<br />

Hamburg 1988, S 128-151; S. 129. Siehe auch Scherer (1990), S. 81.<br />

20 Scherer (1990), S. 80. Vgl. auch den Beitrag von Schulz über Lagerbordelle:<br />

Christa Schulz, Weibliche Häftlinge aus Ravensbrück in<br />

Bordellen der Männerkonzentrationslager, S 135-146, in: Claus<br />

Füllberg-Stolberg u. a. (Hg.), Frauen in Konzentrationslagern: Bergen-Belsen,<br />

Ravensbrück, Bremen 1994.<br />

21 Scherer (1990), S. 85.<br />

22 Ebd.<br />

23 Ebd., S. 45.<br />

24 Vgl. Ayaß (1992), S. 291.<br />

25 Vgl. Scherer (1990), S. 47.<br />

26 Ebd., S. 95.<br />

27 Vgl. ebd., S. 97.<br />

28 Vgl. Ayaß (1992), S. 309.<br />

29 Vgl. ebd., S. 264-287.<br />

30 Vgl. ebd., S. 287-292.<br />

31 Die folgenden Angaben und Zitate sind dem Filmprotokoll<br />

„Schicksal bleibt stumm. Das Leben der Betty V.“ von Barbara von<br />

Poschinger entnommen.<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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DIE SOGENANNTEN „U-BOOTE“ – ÜBERLEBT IM VERBORGENEN<br />

BRIGITTE BAILER-GALANDA<br />

Das Schicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank, das mit seinen Eltern und Freunden<br />

der Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam versteckt lebte, bis die Untergetauchten im<br />

August 1944 verraten und verhaftet wurden, hat unzählige Leser in der ganzen Welt<br />

gerührt. Doch auch in Wien konnten zahlreiche von der Deportation bedrohte Menschen<br />

den Krieg als Untergetauchte, sogenannte „U-Boote“ überleben; ihre genaue Zahl konnte<br />

bisher nicht zuverlässig eruiert werden. 1 Sie organisierten sich nach 1945 kurzfristig im<br />

sogenannten „U-Boot-Verband“ mit Sitz in Wien IX, Universitätsstraße 8/3. 2 Sehr viele dieser<br />

Menschen hatten Jahre der Angst, oft eingeschlossen in winzigen Verstecken und zur<br />

allermöglichsten Geräuschlosigkeit, oft infolgedessen auch beinahe Bewegungslosigkeit<br />

verurteilt, hinter sich. 3 Nach der Befreiung 1945 gelang es ihnen nur mit Mühe, sich wieder<br />

an das normale Leben zu gewöhnen, Kontakt mit Menschen aufzunehmen. Sie trugen<br />

als Folge der ungeheuren Anspannung psychische Schäden davon, von denen sich manche<br />

auch später nicht mehr erholten. Herr N., der gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern<br />

und seinen Eltern als Kleinkind in einem Wiener Keller überleben konnte, beschreibt<br />

rückblickend seinen Vater bis 1938 als lebenstüchtigen Mann, dessen Tatkraft und Organisationstalent<br />

auch das Hauptverdienst für das Überleben der Familie in der NS-Zeit zukam.<br />

Nach der Befreiung 1945 war der Vater jedoch ein gebrochener Mann, der mit dem<br />

Leben nicht mehr fertig wurde und dann seinerseits nur mit Hilfe der halbwüchsigen Kinder<br />

und seiner schwerkranken Frau überleben konnte. 4<br />

Die Mehrheit dieser „U-Boote“ waren wohl jüdisch Verfolgte. Ab 1942/43 entzogen<br />

sich auch österreichische Wehrmachtsangehörige, oft aus politischen Gründen, dem weiteren<br />

Kriegsdienst und tauchten unter. Sie erlebten das Kriegsende – soferne sie nicht verraten<br />

wurden – in ihren Verstecken, andere wiederum schlossen sich Partisanenverbänden<br />

an. 5<br />

Das Opferfürsorgegesetz berücksichtigte das Leben im Verborgenen vor der ➤ 12. Novelle<br />

vom 22. März 1961 überhaupt nicht als eigenen anspruchsbegründenden Verfolgungstatbestand,<br />

obschon über die Tatsache des Lebens als „U-Boot“ bereits 1945 einiges bekannt<br />

war. So schrieb das „Neue Österreich“ im Mai 1945: „Doch nicht jedem lag es, sich<br />

wehrlos wie ein Stück Vieh zur Schlachtbank treiben zu lassen. Und nicht jeder wollte<br />

untätig zusehen, wie Freunde und Verwandte in den qualvollen Tod gehetzt wurden. Einige<br />

der Gezeichneten rafften ihren letzten Mut zusammen, besprachen sich mit hilfsbereiten<br />

Freunden und beschlossen, sich zu verstecken. Das waren dann die geheimnisvollen ‚Unterseeboote‘.<br />

Viele Hunderte gab es davon in Wien – natürlich nicht nur Juden, sondern auch<br />

aus politischen Gründen Verfolgte und Gefährdete.“ 6 Die Diktion des Artikels muß als bemerkenswert<br />

gesehen werden – wenn schon einmal jüdische Opfer vorkamen, schwächte<br />

man sofort ab.<br />

Bis zur 12. Novelle standen ehemaligen „U-Booten“ keine Ansprüche aufgrund des Opferfürsorgegesetzes<br />

offen, es sei denn, sie konnten eine Einkommensschädigung um mehr<br />

als die Hälfte für mindestens dreieinhalb Jahre nachweisen, was – wie oben gezeigt – nicht<br />

leicht war. In diesem Falle konnten sie zumindest einen ➤ Opferausweis erhalten, nicht jedoch<br />

die ➤ Amtsbescheinigung. Die 12. Novelle nahm das Leben im Verborgenen dann als<br />

entschädigungswürdigen Tatbestand in das Gesetz auf, wobei jedoch einfaches Untertauchen<br />

nicht ausreichend war – es mußte unter „menschenunwürdigen Bedingungen“ erfolgt<br />

sein, als ob ein Leben in der Illegalität nicht an sich schon menschenunwürdig genug wäre.<br />

In den Anweisungen des Bundesministeriums für soziale Verwaltung an die Ämter der Landesregierungen<br />

für die Durchführung der 12. Novelle heißt es dazu: „Der Begriff des Lebens<br />

im Verborgenen unter menschenunwürdigen Bedingungen ist ein unbestimmter Rechtsbegriff,<br />

der sich in Form einer generellen Weisung nicht genau umschreiben läßt, so daß<br />

die entscheidende Behörde innerhalb des ihr gesetzlich zugestandenen Rahmens eine entsprechende<br />

Entscheidungsfreiheit hat. Es wird Sache der Behörde sein, in jedem einzelnen<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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81<br />

Kein<br />

Anspruch auf<br />

Opferfürsorge<br />

Was sind<br />

„menschenunwürdige<br />

Bedingungen“?


Die sogenannten „U-Boote“<br />

Falle nach Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes in freier<br />

Beweiswürdigung zu beurteilen, ob die beiden Tatbestandsmerkmale des § 14 Abs. 2 lit. c<br />

OFG erfüllt sind. Der Begriff ‚Leben im Verborgenen‘ wird dahin auszulegen sein, daß darunter<br />

nicht nur ein Leben unter falschen Namen und Verstecken, sondern überhaupt ein<br />

Leben außerhalb der bürgerlichen Rechtsordnung zu verstehen sein wird. Das gleiche wird<br />

auch für die Tarnung oder Verheimlichung anderer für die Verfolgungsvorgänge wichtiger<br />

persönlicher Umstände wie z.B. Konfession und rassische Abstammung gelten. Das Tatbestandsmerkmal<br />

‚unter menschenunwürdigen Bedingungen’ wird vorliegen, wenn nach dem<br />

Verfolgten intensiv gefahndet wurde und er sich deshalb nur in wirklichen Verstecken aufhalten<br />

konnte und oft die Flucht ergreifen mußte. Ebenso wird als menschenunwürdig anzusehen<br />

sein, wenn z.B. ein Verfolgter durch erzwungene Tarnung seinen Beruf aufgeben und<br />

einen anderen Beruf unter erniedrigenden und vielleicht ungesunden Bedingungen ausüben<br />

mußte. Bei einem Leben in einem Versteck oder auf der Flucht (ständiges Wechseln des<br />

Aufenthaltes, ohne an einem Ort aus verfolgungsbedingten Gründen länger verweilen zu<br />

können) würden die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 lit. c OFG jedenfalls bejaht werden<br />

können.“ 7<br />

1965 sah sich das Bundesministerium für soziale Verwaltung genötigt, in einem Erlaß darauf<br />

hinzuweisen, daß „der Begriff ‚menschenunwürdige Bedingungen‘ vielfach zu eng ausgelegt<br />

wird“, und gesonderte neuerliche Erklärungen dazu zu liefern: „Der Verwaltungsgerichtshof<br />

hat dargelegt, daß unter ‚menschenunwürdig‘ nur etwas verstanden werden kann,<br />

was über die Verhältnisse eines im Verborgenen lebenden Menschen hinausgeht, und auch<br />

die Ansicht vertreten, daß es sich bei den menschenunwürdigen Bedingungen nicht um jene<br />

Schwierigkeiten handeln kann, die das Leben im Verborgenen zwangsläufig mit sich bringt;<br />

es müssen vielmehr noch besondere äußere Umstände hinzukommen, die das Leben im Verborgenen<br />

wesentlich erschweren, wie zum Beispiel das Leben in besonders unzulänglichen<br />

Unterkünften oder unter besonders ungünstigen Versorgungsverhältnissen.“ 8<br />

Im Klartext hieß dies, daß die über Jahre dauernde Angst vor Entdeckung, die Sorge um<br />

die Verwandten oder Freunde, die enormen psychischen Belastungen infolge vielleicht<br />

beengten Lebens auf kleinem Raum allein nicht „menschenunwürdig“ genug waren, um<br />

einen Anspruch auf Entschädigung nach dem Opferfürsorgegesetz zu begründen, die<br />

öS 350,- pro Monat des Lebens im Verborgenen ausmachte. 9<br />

Die Behörden, aber auch der Verwaltungsgerichtshof beurteilten die Anträge der Opfer<br />

entsprechend den Durchführungsbestimmungen sehr engherzig. Der Wiener F. G. war im<br />

Juni 1942 in Wien festgenommen und in das Sammellager Kleine Sperlgasse 2a gebracht<br />

worden, von wo ihm jedoch die Flucht gelungen war. Bis Kriegsende hatte er unangemeldet<br />

in der Wohnung seiner späteren, nichtjüdischen Gattin gelebt. Nur zweimal hatte er<br />

es wegen eines Arztbesuches gewagt, die Wohnung zu verlassen. Das Amt der Wiener<br />

Landesregierung lehnte seinen Antrag auf Entschädigung mit der Begründung ab, daß er<br />

„sich während des gesamten Zeitraumes in der Wohnung seiner nichtjüdischen Frau aufgehalten<br />

und nur ganz selten in deren Begleitung das Haus verlassen habe“. 10 Das Bundesministerium<br />

für soziale Verwaltung korrigierte in diesem Fall im Berufungsverfahren die<br />

Wiener Opferfürsorgebehörden. 11<br />

In einem anderen Fall lehnte sogar der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde eines<br />

Mannes ab, der nach der Deportation seiner Mutter und seiner Schwester untergetaucht<br />

war, jedoch teilweise seinen Lebensunterhalt mit Schwarzarbeiten in der Wiener Markthalle<br />

hatte verdienen können: „Wie er (der Berufungswerber, Anm. der Verf.) bei seiner Einvernahme<br />

am 15. Juli 1959 selbst angeführt habe, habe er während seines Lebens im Verborgenen<br />

durch Schwarzarbeit bei Fleischhauern seinen Lebensunterhalt verdient. Aus den<br />

Angaben der Zeugen W. und D. gehe hervor, daß der Berufungswerber während der<br />

angeführten Zeit bei diesen Personen und bei anderen Bekannten in der Wohnung<br />

gewohnt hat. Aus seiner Beschäftigung müsse geschlossen werden, daß es ihm möglich<br />

war, ohne jeweilige Behinderung seine Unterkunft zu verlassen und sich zu seiner Arbeitsstätte<br />

zu begeben. Besondere äußere Umstände, die das Leben im Verborgenen<br />

82 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


wesentlich erschweren, wie z.B. das Leben in besonders unzulänglichen Unterkünften oder<br />

unter besonders ungünstigen Versorgungsverhältnissen, seien vom Berufungswerber nicht<br />

nachgewiesen worden. Daß er durch den Nichtbezug von Lebensmittelkarten Hunger<br />

gelitten und deswegen unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt habe, könne<br />

gleichfalls aufgrund seiner Angaben und der Angaben der Zeugen, daß die ihn verköstigt<br />

hätten, nicht als erwiesen angenommen werden. 12 Gleichfalls abgelehnt wurde die Beschwerde<br />

einer Wienerin, der es gelungen war, unter falscher Identität die NS-Herrschaft<br />

zu überleben. 13<br />

Die Bedeutung dieser Nicht-Anerkennung als Opfer beschreibt Herr N., bezugnehmend<br />

auf die verzweifelte Situation seines Vaters nach der Befreiung: „… aber richtig auf die<br />

Beine hat man niemandem geholfen. (…) Und was mein Vater eigentlich gebraucht hat,<br />

das war keine Wiedergutmachung, keine finanzielle Abgeltung. Er hat wieder respektiert<br />

werden wollen als Mensch, er hat dort weiter machen wollen, wo er im 38er Jahr aufgehört<br />

hat, aber das hat es natürlich nicht gegeben. (…) Aber man hätte ihm wenigstens<br />

das anerkennen sollen, daß er sieben Jahre seines Lebens praktisch in einem Kellerloch<br />

versteckt war, diskriminiert war, sein Leben bedroht war, und das hat man eigentlich bis<br />

zum Schluß nicht getan. (…) Wir haben dann nach Jahren, viele Jahre später, da war<br />

mein Vater schon tot, einen Opferausweis bekommen.“ 14<br />

Erst mit der 21. Novelle (!) zum Opferfürsorgegesetz vom 11. November 1970 wurde<br />

die Situation verbessert: Die Novelle sah die Zuerkennung eines Opferausweises für das<br />

Leben im Verborgenen vor, falls dieses Leben mindestens sechs Monate gedauert hatte<br />

und auf dem Gebiet der Republik Österreich stattfand. Bezüglich der finanziellen Entschädigung<br />

blieb jedoch alles beim Alten, hier blieb die Zusatzbedingung „unter<br />

menschenunwürdigen Bedingungen“ aufrecht. Der Abgeordnete Otto Skritek (SPÖ) verwies<br />

1970 bei seiner Rede im Nationalrat zu dieser Novelle darauf, „daß uns beim ‚Leben<br />

im Verborgenen‘ immer Anne Frank einfallen muss“. Der ➤ KZ-Verband setzte in seiner<br />

Pressekorrespondenz dazu: „Hohes Haus! Nach dem österreichischen Opferfürsorgegesetz<br />

würde man für dieses Leben einer Anne Frank in Amsterdam höchstens einen<br />

Opferausweis, aber für diesen Tatbestand keinerlei Entschädigung erhalten. Auch nicht<br />

nach dieser Novelle!“ 15<br />

In der am 26. April 1972 beschlossenen 22. Novelle wurde dann auch dieser Mißstand<br />

behoben. Einerseits wurde die Klausel „auf dem Gebiet der Republik Österreich“ aus der<br />

Anspruchsvoraussetzung für den Opferausweis gestrichen, ebenso die „menschenunwürdigen<br />

Bedingungen“ als Voraussetzung für die finanzielle Entschädigung. Skritek sagte dazu<br />

im Nationalrat: „Ich möchte dem Herrn Minister besonders auch dafür danken, daß er ein<br />

jahrelanges Anliegen betreffend die Bestimmungen bezüglich des Lebens im Verborgenen<br />

wesentlich verbessert hat; das ist bei Gewährung des Opferausweises die Streichung der<br />

Worte ‚Gebiet der Republik Österreich‘. Damit sind auch die besetzten Gebiete eingeschlossen,<br />

das heißt, daß Menschen, die damals aus Österreich flüchten mußten und in einem<br />

besetzten Gebiet im Verborgenen lebten, einen Opferausweis erhalten. Die zweite entscheidende<br />

Verbesserung betrifft die Streichung des Passus ‚menschenunwürdige Bedingungen‘<br />

gleichfalls für den Personenkreis, der im Verborgenen lebte, als Bedingung für die Entschädigung.<br />

Es handelt sich hier um ein Anliegen, das immer wieder vorgebracht wurde.<br />

Diese Frage wurde im Gesetz einschränkend behandelt, weil man fürchtete, daß eine Überprüfung<br />

schwer sei. Es ist klar, daß die Tatbestände heute natürlich auch nicht leicht feststellbar<br />

sind. Aber es ist doch sicherlich nicht möglich, daß man diesen Menschen nur deshalb<br />

etwas vorenthält, weil Österreich fast 25 Jahre gebraucht hat, ihnen einen gesetzlichen Anspruch<br />

zu geben, und dann natürlich die Prüfung etwas schwieriger ist.“ 16<br />

Nie geklärt werden kann wohl, wieviele der ehemaligen „U-Boote“ diese Gesetzesänderung<br />

überhaupt noch erlebten. Diese Geste des Gesetzgebers kam zu einem Zeitpunkt,<br />

wo mit wesentlichen Mehrkosten im Bereich der Opferfürsorge nicht mehr gerechnet<br />

zu werden brauchte. Vor allem hatten die 350 Schilling im Vergleich zu 1961 bereits beträchtlich<br />

infolge der jährlichen Inflationsrate an Geldwert eingebüßt. Die Behandlung die-<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Brigitte Bailer-Galanda<br />

83<br />

Finanzielle<br />

Entschädigung<br />

oder moralische<br />

Rehabilitierung<br />

der Opfer ?<br />

Langes Warten<br />

auf einen<br />

gesetzlichen<br />

Anspruch


Die sogenannten „U-Boote“<br />

ser Opfer, die zu einem großen Teil bereits seit 1945 in Österreich lebten, bedürftig waren<br />

und an schweren Folgen zu tragen hatten, mag als ein Beispiel für die Kleinlichkeit der Opferfürsorgegesetzgebung,<br />

aber auch der mit der Vollziehung befaßten Behörden gegenüber<br />

den Opfern stehen.<br />

1 Die Israelitische Kultusgemeinde Wien gab 1950 die Zahl der „U-<br />

Boote“, die die NS-Zeit in Wien hatten überleben können, mit 378<br />

Personen an, wobei hierbei wahrscheinlich nur Mitglieder der Kultusgemeinde<br />

berücksichtigt sind. Israelitische Kultusgemeinde,<br />

Statistik der insgesamt nach Wien zurückgekehrten Juden, von<br />

1945 bis 1950, Wien 1950, Institut für Zeitgeschichte, Wien, Nachlaß<br />

Albert Loewy; Gwyn Moser gibt die Zahl mit 619 an; dies., Jewish<br />

U-Boote in Austria 1938-1945, in: Simon Wiesenthal Center<br />

Annual, Volume 2, New York 1985, S. 55. Siehe auch: Brigitte Ungar-Klein,<br />

Bei Freunden untergetaucht – U-Boote in Wien, in: Kurt<br />

Schmid, Robert Streibel (<strong>Hrsg</strong>.), Der Pogrom 1938. Judenverfolgung<br />

in Österreich und Deutschland, Wien 1990, S. 87-92.<br />

2 Schreiben des „U-Boot-Verbandes“ an Ministerialrat Dr. Sobek,<br />

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Bestand<br />

KZ-Verband, Mappe Schriftwechsel. Die Mitgliederkartei des<br />

U-Boot-Verbandes befindet sich im Dokumentationsarchiv des<br />

österreichischen Widerstandes.<br />

3 Vgl. beispielsweise die Schilderungen in: Peter Kunze, Dorothea<br />

Neff, Mut zum Leben, Wien 1983.<br />

4 DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“, Interviewabschrift Nr. 647.<br />

5 Zu den in Südkärnten operierenden slowenischen Partisanen siehe<br />

unter anderem: Mirko Messner, Widerstand der Kärntner Slowenen,<br />

in: Spurensuche. Erzählte Geschichte der Kärntner Slowenen,<br />

hrsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes<br />

Aus: Brigitte Bailer-Galanda: Wiedergutmachung kein Thema.<br />

Löcker Verlag, Wien 1993, S. 145–149.<br />

et. al., Wien 1990 (Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern<br />

und Verfolgten. Band 4: Kärntner Slowenen); Hanns<br />

Haas, Karl Stuhlpfarrer, Österreich und seine Slowenen, Wien 1977.<br />

6 Neues Österreich, 5. 5. 1945.<br />

7 Schreiben des Bundesministeriums für soziale Verwaltung an alle<br />

Ämter der Landesregierungen (OF-Referate) vom 18. 12. 1962, Zl.<br />

IV-105.047-20a/1962. DÖW Bibl. Nr. 1195.<br />

8 Der neue Mahnruf, Nr. 11, November 1965.<br />

9 Zum Vergleich: Das monatliche Durchschnittseinkommen eines Arbeiters<br />

betrug 1962 S 2420,-, das eines Angestellten oder Beamten<br />

S 3740,-, Wirtschaftsstatistisches Handbuch 1964, hrsg. v. der Kammer<br />

für Arbeiter und Angestellte Wien, Wien 1965, S. 217.<br />

10 Zitiert nach Bescheid des Bundesministeriums für soziale Verwaltung,<br />

Zl. IV-64.098-22/63. Privatbesitz Mag. Ungar-Klein.<br />

11 a. a. O.<br />

12 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 28. 6. 1967, Zl. 254/67-3.<br />

13 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 29. 5. 1968, Zl.<br />

365/68-3.<br />

14 Die Entschädigung nach der 12. Novelle hat Familie N. erhalten.<br />

DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“, Interviewabschrift Nr. 647.<br />

15 Pressekorrespondenz des Bundesverbandes österreichischer Widerstandskämpfer<br />

und Opfer des Faschismus (KZ-Verband), Nr. 6,<br />

12. 11. 1970.<br />

16 Zitiert nach: Der sozialistische Kämpfer, Nr. 5-6, Mai – Juni 1972.<br />

84 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


FRAUEN IM WIDERSTAND<br />

Während des Zweiten Weltkrieges entfaltete sich eine<br />

militärische und politische Kampfform in einem bis dahin<br />

in der Geschichte unbekannten Ausmaß: der Partisanenkrieg.<br />

Durch ihn gelang es, die Operationen der Deutschen<br />

Wehrmacht zu behindern, deren Truppenverbände<br />

im Hinterland zu binden sowie Kriegsmaterial und Stützpunkte<br />

der Nazis zu vernichten. (…) Zwei Partisanenverbände<br />

mit mehreren Bataillons formierten sich in<br />

Kärnten, während in der Steiermark bewaffnete Widerstandsgruppen<br />

im Industriegebiet um Leoben/Donawitz<br />

sowie – unabhängig davon – im Gebiet der Koralpe operierten.<br />

Darüber hinaus gab es Partisanengruppen in<br />

Österreich nur noch im Tiroler Ötztal und im Salzkammergut/Ausseerland.<br />

In Kärnten hatte sich vor allem die slowenische Bevölkerung<br />

der partisanischen Befreiungsbewegung angeschlossen.<br />

Unter der NS-Herrschaft wurde die bereits vor<br />

1938 ausgeprägt antislowenische Politik verschärft, die in<br />

der „Bereinigung der volkspolitischen Frage“ (➤ Himmler),<br />

d.h. in der physischen Vertreibung und Vernichtung<br />

der Kärntner Slowenen gipfeln sollte) (…) Mit der Einführung<br />

von Deutsch als Amtssprache, dem deutschsprachigen<br />

Unterricht an Kindergärten und Schulen, dem<br />

Berufsverbot für slowenische Beamte, Lehrer, Ärzte, für<br />

Teile der Priesterschaft leiteten die NS-Behörden die<br />

Germanisierung ein. Hatte bis dahin ein Großteil der Slowenen<br />

defensiv reagiert, so änderte sich diese Haltung,<br />

als im April 1942 einer Anordnung von Himmler zufolge<br />

(25.8.1941) die zwangsweise Massenaussiedelung der Slowenen<br />

begann. Nach einem festgeleten Plan wurde die<br />

➤ Gestapo beauftragt, die Betriebe und Bauernhöfe von<br />

Kärntner Slowenen zu beschlagnahmen, einen „freiwilligen“<br />

Verzicht auf ihr Eigentum zu verlangen oder sie mit<br />

ihrer Verschleppung ins KZ zu bestrafen. Als Tausende<br />

von ihnen in Lagern des „Altreichs“ verschwanden, sah<br />

sich die zurückgebliebene slowenische Bevölkerung veranlaßt,<br />

Widerstand zu leisten. Im April 1941 hatte sich in<br />

Slowenien/Jugoslawien als überparteiliche Organisation<br />

die Befreiungsfront OF (Osvobodilna Fronta) gebildet.<br />

Neben der Entfachung des Widerstandskampfes gehörte<br />

zu deren Aufgaben die politische Aufklärungsarbeit,<br />

Agitation und Propaganda sowie das Einfädeln von Verbindungen<br />

zur Bevölkerung. Immer mehr Kärntner Slowenen<br />

sympathisierten mit dieser Befreiungsbewegung,<br />

unterstützten sie tatkräftig oder gingen selbst zu den<br />

Partisanenverbänden über. (…)<br />

Die Taktik der Partisanen, zumeist Einheimische, mit den<br />

lokalen Gegebenheiten bestens vertraut, bestand darin,<br />

den zahlenmäßigen und militärisch überlegenen Feind<br />

im Schutz waldreicher und gebirgiger Gegenden durch<br />

blitzartige, oft zur gleichen Zeit mit kleineren Trupps<br />

durchgeführte Gefechte zu verwirren. Dadurch wurde<br />

der Gegner gezwungen, größere Einheiten von der Front<br />

abzuziehen oder neue Formationen in diesen Regionen<br />

aufzustellen. Die Ausbreitung der Partisanen, die im<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Frühjar 1944 die Drau überquert hatten und bis in die<br />

Nähe von Klagenfurt/Celovec vorgestoßen waren, gab<br />

Anlaß, das SS-Polizei-Regiment 13 nach Kärnten zu verlegen.<br />

Um die Partisanen von der Bevölkerung zu isolieren,<br />

hießen sie im NS-Sprachgebrauch „Banditen”. Bestimmte<br />

Regionen wurden zum „Bandenkampfgebiet“ erklärt. Im<br />

Leobner Raum brachte die Gestapo Steckbriefe der<br />

Widerstandskämpfer mit einem Kopfgeld von 10.000 RM<br />

an. Trotz dieser Maßnahmen halfen zunehmend mehr<br />

Menschen den Partisanen. In der Gegend von Eisenkappel/Z<br />

ˇ elezna Kapla war diese Unterstützung besonders<br />

hoch – nach Gendarmerieberichten 90 Prozent der ansässigen<br />

Bevölkerung.<br />

Ohne die Mithilfe von Frauen, welche die Basisarbeit<br />

leisteten, indem sie Nachrichten beschafften und die<br />

Versorgung sicherstellten, wäre jede Guerillabewegung<br />

von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Im<br />

Leobner Gebiet waren etliche Frauen in den Ämtern tätig<br />

und konnten aufgrund ihrer Informationen die Partisanen<br />

vor den Razzien der Gestapo und der ➤ SS rechtzeitig<br />

warnen. Mit der Gründung der antifaschistischen<br />

Frauenfront AFZˇ im März 1943 auf österreichischem<br />

Boden gelang es, weitere Aktivistinnen für den Widerstandskampf<br />

zu gewinnen und in die politische Arbeit<br />

einzubinden. (…)<br />

Aus: Karin Berger, Elisabeth Holzinger u.a. (<strong>Hrsg</strong>.):<br />

Der Himmel ist blau. Kann sein.<br />

Frauen im Widerstand Österreich 1938-1945,<br />

Edition Spuren promedia Verlag,<br />

Wien 1985, S. 162-163<br />

85


ZeugInnen Jehovas<br />

DIE VERFOLGUNG DER ZEUGEN UND ZEUGINNEN JEHOVAS<br />

Die Vereinigung der „Bibelforscher“ bzw. der „Zeugen<br />

Jehovas“, wie sie sich ab 1931 nannten, wurde in der<br />

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet.<br />

Mitte der Zwanziger Jahre gab es in Deutschland<br />

bereits über 20.000, in Österreich über 500 bekennende<br />

BibelforscherInnen. Die Bibelforscher-Vereinigung wurde<br />

zunächst vor allem von der Kirche, dann auch von völkischer<br />

und von nationalsozialistischer Seite vehement<br />

bekämpft. Kritisiert wurden vor allem folgende Grundzüge<br />

der Lehre: die Predigt vom nahenden „Untergang<br />

der alten Welt und der sie tragenden Mächte Politik,<br />

Kapital und Kirche“, die heftige Kritik an Papst und<br />

Kirche, die Lehre von der Gleichheit der Rassen, das<br />

Bekenntnis zur zionistischen Bewegung und die Feststellung,<br />

dass ChristInnen allein der göttlichen Obrigkeit und<br />

nicht den staatlichen Regierungsgewalten Gehorsam<br />

schuldeten. In einigen deutschen Bundesländern und<br />

auch in Österreich ging man bereits vor der NS-Machtübernahme<br />

vor. So wurden während des Austrofaschismus<br />

unter Dollfuß ihre Zeitschriften, u.a. „Der Wachtturm“,<br />

zensuriert, ➤ Schuschnigg ließ die ZeugInnen<br />

Jehovas am 17. Juni 1935 verbieten.<br />

Die Verfolgung der ZeugInnen Jehovas im<br />

Nationalsozialismus<br />

Bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme der<br />

Nationalsozialisten in Deutschland wurden die ZeugInnen<br />

Jehovas in allen Bundesländern als erste Glaubensgemeinschaft<br />

verboten. Viele ZeugInnen führten jedoch<br />

ihre Versammlungen und „Haus-zu-Haus“-Missionen fort<br />

und widersetzten sich den nationalsozialistischen Vorschriften<br />

und Verhaltensregeln: So verweigerten sie den<br />

Hitlergruß, nahmen nicht an nationalsozialistischen<br />

„Wahlen“ und „Volksabstimmungen“ teil und verweigerten<br />

die Mitgliedschaft in NS-Zwangskörperschaften, etwa<br />

in der ➤ Deutschen Arbeitsfront (DAF), was für viele<br />

ZeugInnen zum Verlust ihres Arbeitsplatzes, ihrer Geschäfte<br />

und Wohnungen, zur Vernichtung ihrer gesamten<br />

wirtschaftlichen Existenz führte. Die im Staatsdienst<br />

beschäftigten ZeugInnen Jehovas wurden nach dem<br />

➤ „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“<br />

vom 7. April 1933 entlassen. Wenn ZeugInnen<br />

nicht bereit waren, ihre Kinder in die „Hitlerjugend“ zu<br />

geben, konnte das sogar zu Sorgerechtsentziehung und<br />

Abnahme der Kinder führen. Bei der Gestapo wurde<br />

1937 ein „Sonderreferat“ für das Vorgehen gegen die<br />

ZeugInnen eingerichtet, NS-Sondergerichte verurteilten<br />

in den sogenannten „Bibelforscherverfahren“ Tausende<br />

von ihnen zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen.<br />

Trotz der verschärften Repressionen setzten weit mehr als<br />

10.000 ZeugInnen Jehovas ihre Arbeit fort, indem sie ihre<br />

Strukturen den Bedingungen der Illegalität anpassten.<br />

Nach den im August und September 1936 stattfindenden<br />

Massenverhaftungen übernahmen verstärkt die weiblichen<br />

Mitglieder die Untergrundarbeit. Eine zweite<br />

86<br />

große Verhaftungswelle im Herbst 1937 führte schließlich<br />

zur Zerschlagung der Untergrundorganisation im „Altreich“.<br />

Die österreichischen ZeugInnen konnten ihre<br />

Missionsarbeit trotz mehrerer Verhaftungswellen noch bis<br />

Juni 1940 fortsetzen. Die Verhafteten wurden wegen<br />

„Zersetzung der Wehrkraft“ oder „Teilnahme an einer<br />

wehrfeindlichen Verbindung“ zu mehreren Jahren Gefängnis<br />

bzw. Zuchthaus verurteilt und kamen anschließend in<br />

ein Konzentrationslager. Zahlreiche ZeugInnen wurden<br />

aber auch ohne Gerichtsverfahren unmittelbar in ein KZ<br />

eingewiesen.<br />

ZeugInnen Jehovas in den Konzentrationslagern<br />

Die ZeugInnen Jehovas bildeten in den Konzentrationslagern<br />

eine geschlossene Gemeinschaft, die sich durch<br />

ihren Gruppenkodex und starken Zusammenhalt von anderen<br />

Häftlingsgruppen unterschied. Bis zu Kriegsbeginn<br />

stellten sie oftmals eine der größten Häftlingsgruppen<br />

dar. Sie waren v.a. anfangs Schikanen und Mißhandlungen<br />

durch das ➤ SS-Wachpersonal ausgesetzt. Im KZ<br />

Mauthausen starben im Winter 1939/40 mehr als 50 der<br />

damals inhaftierten 143 Zeugen Jehovas. Nach Kriegsbeginn<br />

und der Einweisung anderer Gruppen in die Konzentrationslager<br />

verbesserte sich ihre Situation. Da sie<br />

aus Glaubensgründen eine Flucht aus dem Lager prinzipiell<br />

ablehnten und die Arbeiten, die sich mit ihrem Glauben<br />

vereinbaren ließen, gewissenhaft verrichteten, wurden<br />

sie von der SS auch vermehrt in sogenannten „Vertrauensstellungen“<br />

eingesetzt.<br />

Von den 25.000 deutschen und österreichischen ZeugInnen<br />

Jehovas zu Beginn des Dritten Reiches wurden ungefähr<br />

10.000 inhaftiert, davon über 2000 in Konzentrationslagern.<br />

Die Zahl der Todesopfer liegt bei 1200.<br />

Damit wurden die ZeugInnen Jehovas von allen religiösweltanschaulichen<br />

Gruppen – nach den Angehörigen des<br />

jüdischen Glaubens – am härtesten verfolgt. Dennoch<br />

zählen sie zu den „vergessenen Opfern“, sie sind lange<br />

Zeit weder im bundesdeutschen noch im österreichischen<br />

Entschädigungsrecht als Verfolgte des Nationalsozialismus<br />

anerkannt worden. In Österreich haben sie durch<br />

den 1995, also 50 Jahre nach Kriegsende, geschaffenen<br />

➤ „Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus“<br />

einen Anspruch auf eine einmalige Entschädigung er<br />

halten.<br />

Heidrun Schulze<br />

Diese Zusammenfassung beruht wesentlich auf folgenden<br />

Artikeln: Detlef Garbe: Widerstand aus dem Glauben.<br />

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in Deutschland und<br />

Österreich unter nationalsozialistischer Herrschaft.<br />

Vortrag gehalten auf der Tagung „Zeugen Jehovas: Vergessene<br />

Opfer des Nationalsozialismus?“, Wien am 29.1.1998;<br />

Detlef Garbe: Kompromißlose Bekennerinnen. Selbstbehauptung<br />

und Verweigerung von Bibelforscherinnen, in:<br />

Christl Wickert (<strong>Hrsg</strong>.): Frauen gegen die Diktatur – Widerstand<br />

und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland,<br />

Edition Hentrich, Berlin 1995, S. 52-73.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Verfolgung, Ausgrenzung und Kriminalisierung von<br />

Männern und Frauen aufgrund sexueller gleichgeschlechtlicher<br />

Orientierung stellen keine Erfindung des<br />

Nationalsozialismus dar. Vielmehr lassen sich Kontinuitäten<br />

strafrechtlicher Verfolgung sowohl für die Zeit vor<br />

dem NS-Regime sowie lange Jahre danach, in Österreich<br />

bis 1994, auffinden.<br />

Während in Österreich nach dem Gesetz von 1852 für<br />

„Unzucht wider die Natur“ (§129) Personen beiderlei Geschlechts<br />

zu Strafen von ein bis fünf Jahren Kerker verurteilt<br />

wurden, so stand nach dem preußischen Strafgesetzbuch<br />

von 1851 explizit nur noch die widernatürliche Unzucht<br />

zwischen Männern unter Strafe (§143). In Deutschland<br />

ging der §143 bei Gründung des Deutschen Reiches<br />

1851 unverändert als § 175 in das neue Strafgesetzbuch<br />

ein und war auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme<br />

1933 weiterhin wirksam. In Österreich wurde<br />

auch nach dem Anschluss 1938 und trotz einer weitgehenden<br />

Vereinheitlichung von Strafrecht und Rechtsbestimmungen<br />

weiterhin sowohl männliche als auch<br />

weibliche Homosexualität unter Strafe gestellt.<br />

Obwohl die Strafverfolgung von Frauen (§129) in Österreich<br />

weiterhin wirksam war, waren Männer in weitaus<br />

stärkerem Maß einer Strafverfolgung ausgesetzt. Nach<br />

1938 nahm die Zahl der in Wien aufgrund ihrer Homosexualität<br />

verurteilten Männer um 40% zu, die der Frauen<br />

verdoppelte sich, blieb aber weit unter der Zahl der<br />

verurteilten Mörder. Die unterschiedliche Strafverfolgung<br />

erklärt sich aus den gültigen Interpretationen der<br />

Geschlechtscharaktere.<br />

Während bei homosexuellen Männern vor allem die Zeugungskraft<br />

vergeudet würde, so würden durch die weibliche<br />

Homosexualität eine Steigerung erwünschter Geburten<br />

und damit die bevölkerungspolitischen Intentionen<br />

nicht ernsthaft gefährdet. Hinzukommt, dass nach<br />

Auffassung der Juristen die männliche Sexualität (Penetration)<br />

als Norm gesetzt wurde.<br />

Als Instrument der Bekämpfung erwiesen sich neben den<br />

Justizbehörden vor allem SS und Polizei. Es blieb aber vielmehr<br />

im Ermessensspielraum der Gestapo, ob die Betreffenden<br />

dem Gericht übergeben, in „Schutzhaft“ genommen<br />

oder in ein Konzentrationslager eingewiesen wurden.<br />

Grundsätzlich fiel die Bekämpfung des „nichtpolitischen<br />

Verbrechertums“ der Kriminalpolizei zu, allerdings<br />

wurde in Berlin 1934 von der Gestapo ein eigenes Sonderdezernat<br />

„Homosexualität“ eingerichtet und 1936 eine<br />

„Reichszentrale für Bekämpfung der Homosexualität und<br />

Abtreibung“. Nach diesem Vorbild wurde auch bei der<br />

Wiener Gestapo ein Referat „Homosexualität und Abtreibung“<br />

eingerichtet. Die Aufgabe dieser Referate bestand<br />

vor allem in der Registrierung verdächtiger Personen.<br />

Trotz verschärfter Verfolgung war die Haltung der Nationalsozialisten<br />

zur Homosexualität von Widersprüchen geprägt,<br />

nicht zuletzt von taktischen Überlegungen bestimmt,<br />

und wurde in gewissen NS-Kreisen sogar toleriert<br />

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87<br />

Homosexuelle<br />

DIE VERFOLGUNG HOMOSEXUELLER WÄHREND DES NATIONALSOZIALISMUS<br />

oder ignoriert, wie etwa bei Ernst Röhm, SA-Stabschef<br />

und Vertrauter Hitlers. In der männerbündischen Welt<br />

der paramilitärischen Organisationen war latente oder<br />

offene Homosexualität durchaus nicht unbekannt.<br />

Unter der NS-Herrschaft wurden etwa 50.000 Männer<br />

wegen Vergehen gegen den §175 gerichtlich verurteilt.<br />

Die Zahl der aufgrund von Homosexualität in Konzentrationslagern<br />

internierten Personen ist nicht genau feststellbar,<br />

Schätzungen liegen bei etwa 5000 bis 15.000 Männern.<br />

In den Konzentrationslagern wurden männliche Homosexuelle<br />

als eigene Häftlingskategorie durch einen rosa<br />

Winkel gekennzeichnet. Für homosexuelle Frauen gab es<br />

keine derartige Kennzeichnung, vielfach wurden sie der<br />

Gruppe der sogenannten „Asozialen“ zugeordnet. Aus<br />

diesem Grund liegen keine Zahlen über aufgrund von Homosexualität<br />

in Konzentrationslagern inhaftierte Frauen<br />

vor, wie auch insgesamt weibliche Homosexualität wesentlich<br />

stärker im Verborgenen gelebt wurde als männliche.<br />

Viele der in den Lagern internierten Homosexuellen wurden<br />

ermordet. Jedoch kurz vor Kriegsende wurde ein Teil<br />

der männlichen Homosexuellen freigelassen und zum<br />

Frontdienst in der Wehrmacht eingezogen.<br />

Die Verfolgung von Homosexuellen blieb allerdings auf<br />

das Reich und die eingegliederten Gebiete beschränkt. Für<br />

ein Vorgehen gegen Homosexuelle in den besetzten<br />

Ländern gibt es keine Beweise, wie auch nicht von einer<br />

systematischen Ermordung dieser Bevölkerungsgruppe<br />

während des Nationalsozialismus gesprochen werden kann.<br />

Nach 1945 blieb die NS-Ideologie weiterhin wirksam, so<br />

dass auch in der Nachkriegszeit die Strafverfolgung noch<br />

intensiver war als in den Jahren der Ersten Republik. Die<br />

Kontinuität in der gesellschaftlichen Einstellung zu Homosexualität<br />

zeigt sich auch an der Entschädigungspraxis<br />

nach 1945.<br />

Sowohl in Österreich als auch in Deutschland wurde die<br />

Rechtmäßigkeit der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller<br />

nicht in Frage gestellt. Für die homosexuellen<br />

Opfer gab es bis in die neunziger Jahre weder eine ideelle<br />

noch eine finanzielle Entschädigung.<br />

Die Opferfürsorge schließt bis heute die Anerkennung<br />

Homosexueller aus.<br />

Seit 1995 besteht allerdings auch für diese so lange „vergessene“<br />

Opfergruppe die Möglichkeit, über den Nationalfonds<br />

der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus<br />

eine finanzielle Entschädigung zu erhalten.<br />

Gudrun Wolfgruber<br />

Diese Zusammenfassung beruht wesentlich auf folgenden<br />

Publikationen: Claudia Schoppmann: Verbotene Verhältnisse.<br />

Frauenliebe 1938-1945. Querverlag, Berlin 1999;<br />

Albert Müller/Christian Fleck: „Unzucht wider die Natur“.<br />

Gerichtliche Verfolgung der „Unzucht mit Personen gleichen<br />

Geschlechts“ in Österreich von den 1930er bis zu den 1950er<br />

Jahren. In: ÖZG 9, 1998, 3, S. 400-422; Eberhard Jäckel/Peter<br />

Longerich/Julius Schoeps (<strong>Hrsg</strong>.): Enzyklopädie des Holocaust.<br />

Die Verfolgung der europäischen Juden. 3 Bde., Piper, München/<br />

Zürich 1995, Bd. II, Homosexualität, S. 622-623.


Opferfürsorgegesetzgebung<br />

Die Israelitische Kultusgemeinde<br />

Rückstellungsgesetzgebung<br />

Vergleich Österreich-Deutschland<br />

Der Nationalfonds<br />

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Rückstellung und Entschädigung<br />

In welchem Ausmaß den Opfern des Nationalsozialismus ihr zwischen 1938 und 1945<br />

entzogenes und geraubtes Vermögen nach 1945 rückgestellt wurde, welche Gruppen für<br />

ihre Verfolgung und Vertreibung entschädigt wurden und welche nicht, lässt sich heute noch<br />

nicht eindeutig beantworten. Dieser Themenkomplex ist jedoch Untersuchungsgegenstand<br />

der österreichischen Historikerkommission, so dass in den nächsten Jahren mit neuen<br />

Erkenntnissen zu rechnen ist.<br />

Beide Gesetzeskomplexe, sowohl die ➤ Rückstellungsgesetzgebung als auch das ➤ Opferfürsorgegesetz<br />

(OFG), das Entschädigungen für NS-Opfer primär nach dem Fürsorgeprinzip<br />

regelte, zeichnen sich durch eine unübersichtliche Vielzahl von Gesetzen und Gesetzesnovellen<br />

aus. Wichtig für die Einschätzung des tatsächlichen Ausmaßes der Rückstellungen<br />

und Entschädigungen ist aber auch die bis heute kaum beleuchtete Rechtsprechung in<br />

Fragen der Rückstellungen und der Entschädigungen, in der sich die Mängel und Lücken<br />

der Gesetzgebung oftmals nachteilig für die Interessen der AntragstellerInnen, also der<br />

Enteigneten und Verfolgten, auswirken.<br />

Das folgende Kapitel soll einen ersten Überblick über die Geschichte der Entschädigung<br />

und Rückstellung im innen- und außenpolitischen Kontext der Zweiten Republik bieten und<br />

die wichtigsten Aspekte der Gesetzgebung näher beleuchten. Brigitte Bailer-Galanda skizziert<br />

in zwei Beiträgen die Grundzüge einerseits des Opferfürsorgegesetzes, andererseits<br />

der Rückstellungsgesetzgebung und ihre jeweilige Praxis in der Zweiten Republik. Die Entstehungsgeschichte<br />

beider Gesetzeskomplexe, die zwar getrennt voneinander zu sehen<br />

sind, sich aber in bestimmten Bereichen überschneiden, illustriert vor dem Hintergrund der<br />

innenpolitischen Situation der ersten Nachkriegsjahrzehnte auch den Umgang Österreichs<br />

mit seiner Vergangenheit.<br />

Die Einrichtung des „Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus“<br />

im Jahr 1995 führte zu einer wesentlichen Erweiterung des Kreises anspruchsberechtigter<br />

Personen in der Entschädigungsfrage.<br />

Die wichtigsten Veränderungen gegenüber dem OFG – etwa die Berücksichtigung der<br />

bislang „vergessenen Opfer“ (siehe dazu das vorhergehende Kapitel) –, die Ziele und<br />

Tätigkeitsfelder des Fonds, das Ausmaß der bisher erfolgten Entschädigungszahlungen u.a.<br />

werden in einem Gespräch mit Hannah Lessing, der Generalsekretärin des Nationalfonds,<br />

thematisiert.<br />

Georg Graf erläutert in einem Interview einige konkrete Probleme der komplexen Rückstellungsgesetzgebung<br />

und -praxis aus juristischer Perspektive.Welche Rolle die Aktivitäten<br />

der „Opferverbände“ und der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde bezüglich Rückstellungen<br />

und Entschädigungen in den Nachkriegsjahrzehnten spielten, schildert Helga Embacher in<br />

ihrem Beitrag. Dabei wird deutlich, dass eine „Hierarchie der Opfergruppen“, wie sie letztlich<br />

im Opferfürsorgegesetz festgeschrieben wurde, auch von den einzelnen Opfervertretungen<br />

aufgegriffen wurde und zu erheblichen Konflikten zwischen ihnen führte.<br />

Der Aufsatz von Frank Stern widmet sich vor allem den außenpolitischen Faktoren bzw.<br />

der Rolle der internationalen Öffentlichkeit in der Frage der „Wiedergutmachung“ für NS-<br />

Opfer und zeichnet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des österreichischen und des<br />

bundesdeutschen Weges der „Wiedergutmachung“ nach.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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89


DIE OPFERGRUPPEN UND DEREN ENTSCHÄDIGUNG<br />

BRIGITTE BAILER-GALANDA<br />

Österreichische<br />

Staatsbürgerschaft<br />

als<br />

Voraussetzung<br />

Die nur sehr zögerlich und vorwiegend unter alliiertem bzw. internationalem Druck zu Stande<br />

gekommenen Maßnahmen der Republik Österreich zu Gunsten der Opfer des Nationalsozialismus<br />

waren und sind auf eine ganze Reihe gesetzlicher Bestimmungen aufgesplittert,<br />

wodurch es den Betroffenen sehr erschwert wurde, zu ihrem Recht zu gelangen. Gleichzeitig<br />

entschied sich der Gesetzgeber bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen eine<br />

Gleichbehandlung aller NS-Opfer, wodurch es zu grundlegenden Ungleichbehandlungen<br />

und Diskriminierungen einer Gruppe von Verfolgten kam. 1<br />

Tatsächliche Entschädigung wurde nur in geringem Ausmaß geleistet; mit Ausnahme der<br />

➤ Rückstellungsgesetzgebung sahen alle anderen Maßnahmen der Republik nur Pauschalentschädigungen<br />

bis zu einer bestimmten Schadenshöhe und in Abhängigkeit vom Einkommen<br />

des Antragstellers vor. D.h. wer das Glück hatte, sich nach 1945 neuerlich eine gute<br />

Existenz aufzubauen zu können, wurde für seine Verluste in geringerem Ausmaß entschädigt<br />

als jemand, dem dies nicht gelungen war. Damit finden wir bei der Frage der materiellen<br />

Entschädigung (mit Ausnahme der Rückstellungsgesetzgebung) denselben prinzipiellen Fürsorgegedanken<br />

wie im ➤ Opferfürsorgegesetz, das Versorgungsrenten für in ihrer Erwerbsfähigkeit<br />

geschädigte Opfer vorsah. Dieser Grundzug der NS-Opfer-Gesetzgebung geht<br />

zurück auf die Position Österreichs, das Land – sich selbst pauschaliter als Opfer des NS-<br />

Regimes sehend – habe keine Verantwortung für die Verfolgung zu tragen und daher auch<br />

keinerlei Verpflichtung zur Entschädigung oder „Wiedergutmachung“. Nur Motive der<br />

humanitären Hilfe und soziale Überlegungen bewegten die Verantwortlichen, in Not geratenen<br />

Verfolgten Hilfestellung zu gewähren. So die offizielle Leseart. 2<br />

Probleme im Opferfürsorgegesetz<br />

Insbesondere das Opferfürsorgegesetz – neben den Rückstellungsgesetzen der zweite Eckpfeiler<br />

der so genannten „Wiedergutmachung“ 3 – sah eine Reihe von Trennlinien vor, nach<br />

denen die NS-Opfer geteilt wurden. Die wesentliche Linie verlief zwischen Noch- oder Wieder-Österreichern<br />

auf der einen und ehemaligen Österreichern auf der anderen Seite. Die<br />

Republik sah sich primär nur dazu veranlasst, für jene NS-Opfer zu sorgen, die nach wie<br />

vor die österreichische Staatsbürgerschaft besaßen und damit im Falle ihrer Mittellosigkeit<br />

oder Erwerbsunfähigkeit dem Staat ohnehin in der einen oder anderen Form zur Last fallen<br />

könnten. So können fortlaufende Rentenleistungen aus dem Opferfürsorgegesetz nur von<br />

Österreichern mit aufrechter österreichischer Staatsbürgerschaft bezogen werden. 4<br />

Menschen, die 1938 und danach aus Österreich flüchten mussten und anschließend eine<br />

andere Staatsbürgerschaft angenommen haben, bleiben bis heute von den wesentlichen<br />

Leistungen des Opferfürsorgegesetzes ausgeschlossen. Nur einzelne Entschädigungsleistungen<br />

(für Haft- bzw. Internierungszeiten, Leben im Verborgenen, Tragen des diskriminierenden<br />

Judensterns 5 ) können auch von ehemaligen Österreichern beansprucht werden. Die<br />

Höhe der Entschädigung ist seit Anfang der sechziger Jahre gleich geblieben: S 860,- pro<br />

Monat der Haft (entsprach damals der durchschnittlichen Invaliditätspension eines Arbeiters,<br />

lag aber deutlich unter der Alterspension, die sich für Arbeiter knapp über S 1.000,bewegte<br />

6 ), S 350,- pro Monat der „Freiheitsbeschränkung“ oder des Lebens im Verborgenen,<br />

S 6.000,- für mindestens 6 Monate Tragens des Judensterns. Weiters konnten sie aus<br />

den drei Hilfsfonds 7 Pauschalzahlungen im Falle von Berufs- und Einkommensschäden sowie<br />

einmalige Unterstützungszahlungen – abhängig von Alter und Gesundheitszustand –<br />

erhalten. 8 Wie weit diese Menschen in der Lage waren, ihre Existenz aus eigenem Erwerb<br />

zu sichern, interessierte Österreich nicht mehr. Diese Sicherung wurde und wird nur<br />

Menschen mit aufrechter österreichischer Staatsbürgerschaft zugestanden. Es dauerte darüber<br />

hinaus bis in die fünfziger Jahre, bis Pensionen – die auf Grund von vor 1938 erworbenen<br />

Versicherungszeiten angefallen waren – auch ins Ausland überwiesen wurden. 9<br />

90 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Wieweit diese restriktive Haltung gegenüber den Vertriebenen – meist mit abwertendem<br />

Unterton „Emigranten“ genannt – den beträchtlichen, dieser Verfolgtengruppe entgegengebrachten<br />

Vorurteilen oder schlicht Sparsamkeitserwägungen entsprach, ist auf Grund des<br />

derzeitigen Forschungsstandes nicht abzuschätzen. Jedenfalls war damit die zahlenmäßig<br />

größte Gruppe von Verfolgten weitgehend von Hilfe und Entschädigung ausgeschlossen,<br />

ebenso jene Überlebenden, die nach 1945 Österreich verlassen hatten, weil sie das Leben<br />

hier nicht mehr ertrugen. Die letzte Novelle zum Staatsbürgerschaftsgesetz ermöglicht es<br />

ihnen nunmehr wohl, die österreichische Staatsbürgerschaft zusätzlich zu ihrer bisherigen<br />

wieder zu erwerben und auf diese Weise antragsberechtigt zu werden, 10 doch diese Maßnahme<br />

kommt äußerst spät. Die Republik musste nur mehr mit geringen daraus resultierenden<br />

Kosten rechnen.<br />

Eine weitere wesentliche Trennlinie verläuft zwischen den Opfern des politischen Widerstandes<br />

und jenen der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen. In der unmittelbaren<br />

Nachkriegszeit war Unterstützung durch das Opferfürsorgegesetz ausschließlich Opfern des<br />

politischen Widerstandes vorbehalten, die Opfer der rassistischen Verfolgung blieben zur<br />

Gänze unberücksichtigt, außer es bestätigte ihnen jemand, sie seien vor 1938 politisch<br />

aktiv gewesen. 11 Mit dem 1947 verabschiedeten, in seinen Grundzügen bis heute geltenden<br />

neuen Opferfürsorgegesetz änderte sich diese Situation nur geringfügig. Eine Amtsbescheinigung<br />

– die alleine zum fortlaufenden Rentenbezug ermächtigt – war jenen vorbehalten,<br />

die für ein unabhängiges Österreich „mit der Waffe in der Hand gekämpft oder sich<br />

rückhaltlos in Wort oder Tat eingesetzt“ 12 hatten, d.h. de facto allen jenen, die aus<br />

„politischen“ Gründen inhaftiert worden oder sonst wie zu Schaden gekommen waren. Für<br />

die Verfolgungsopfer war nur ein ➤ Opferausweis vorgesehen, der abgesehen von einem<br />

geringfügigen Steuerfreibetrag kaum Vorteile für die Betroffenen brachte. Erst nach und<br />

nach, beginnend mit 1949, wurden auch die Verfolgungsopfer in den Kreis der Rentenanspruchsberechtigten<br />

aufgenommen, mussten jedoch bis in die sechziger Jahre hinauf<br />

schwereren Schaden als Widerstandskämpfer erlitten haben. 13 Die diskriminierende Unterscheidung<br />

➤ Amtsbescheinigung und Opferausweis besteht allerdings bis heute. So wurde<br />

zwar 1969 die erzwungene Flucht aus Österreich als Verfolgungstatbestand anerkannt,<br />

berechtigt allerdings ebenso wie das Überleben im Verborgenen nur zum Bezug eines<br />

Opferausweises. 14<br />

Aber auch der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird in sich weiter kategorisiert.<br />

Für die Opferfürsorge zählt nur ausdrücklich politische Aktivität gegen den Nationalsozialismus<br />

als Widerstand. Vorgeblich unpolitische oppositionelle Handlungen, obgleich<br />

auch diese zu Inhaftierungen, KZ-Haft oder sogar Hinrichtung führen konnten, finden nur in<br />

engen Grenzen Berücksichtigung. Aus Mitmenschlichkeit gesetzte Hilfsmaßnahmen für Verfolgte<br />

etwa zählten nur dann als Widerstand, wenn zu den Verfolgten keine verwandtschaftlichen<br />

oder freundschaftlichen Bindungen bestanden, wie die aus solchen Gründen<br />

ins KZ Auschwitz verbrachte Ella Lingens erfahren musste. 15 Wurde jemand wegen abfälliger<br />

Äußerungen über das NS-Regime oder Abhörens ausländischer Sender verurteilt, musste<br />

er nach 1945 gegenüber der Behörde seine dahinter stehenden politischen Motive glaubhaft<br />

machen, wobei politisch meist im Sinne von parteipolitischer Orientierung begriffen<br />

wurde. Frauen, die wegen verbotenen Umgangs mit „Fremdarbeitern“ oder Kriegsgefangenen<br />

verurteilt wurden, gelten nicht als Widerstandskämpferinnen. 16<br />

Und auch ein Franz Jägerstätter wurde nicht als Opfer politischen Widerstandes anerkannt.<br />

17<br />

Wie insgesamt militärische Delikte – wie Fahnenflucht beispielsweise – nur selten im<br />

Sinne des OFG anerkannt wurden, da – so die Begründung der Behörden – Desertion in<br />

allen Armeen der Welt strafbar sei. Unberücksichtigt bleiben daher die historischen Gegebenheiten,<br />

wie die besondere Härte der nationalsozialistischen Militärgerichtsbarkeit, der<br />

Charakter des deutschen Angriffskrieges, etc. 18<br />

Ebenso erkannten Gesetzgeber und Behörden nicht alle vom NS-Staat Verfolgten als anspruchsberechtigt<br />

an. Die von den Nationalsozialisten gesetzten Stigmatisierungen wirkten<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Brigitte Bailer-Galanda<br />

91<br />

Amtsbescheinigung<br />

versus<br />

Opferausweis<br />

Kontinuität von<br />

Stigmatisierungen


Benachteiligung<br />

unterer Einkommensschichten<br />

in<br />

der Rechtsdurchsetzungsfähigkeit<br />

Nur tatsächlich<br />

noch vorhandenes<br />

Gut kann rückgestellt<br />

werden<br />

Die Opfergruppen und deren Entschädigung<br />

nach 1945 in Entschädigungsfragen weiter. Trotzdem der rassistische Charakter der Verfolgung<br />

und Ermordung von Roma und Sinti 19 klar auf der Hand lag, wurden die Opfer der<br />

ersten Verhaftungswellen 1939 im Sinne des damals angegebenen Haftgrundes als angeblich<br />

wegen ihrer „kriminellen“ Neigungen Inhaftierte oftmals von den OF-Behörden abgelehnt.<br />

Insgesamt waren Roma und Sinti als Antragsteller mit einer starken Vorurteilskontinuität<br />

konfrontiert, wodurch eine Durchsetzung ihrer Ansprüche deutlich erschwert und<br />

oftmals verunmöglicht wurde. Diese jahrzehntelangen schlechten Erfahrungen führen dazu,<br />

dass überlebende Opfer aus diesem Kreis sich scheuen, neuerliche Anträge, z.B. an den<br />

➤ Nationalfonds, zu stellen und damit mögliche Entschädigungszahlungen versäumen. Auf<br />

diese Weise wirkt die Diskriminierung der letzten Jahrzehnte verhängnisvoll weiter.<br />

Bis 1995 waren drei Gruppen von Verfolgten gänzlich von jeder Entschädigungs- oder<br />

Hilfeleistung ausgeschlossen: 20<br />

die Opfer der nationalsozialistischen „Erbgesundheitsgesetze“, d.h. der Zwangssterilisierungen<br />

und der so genannten ➤ „Euthanasie“,<br />

die als sogenannte „Asoziale“ Verfolgten, d.h. mehrheitlich soziale Außenseiter bzw. Angehörige<br />

von Randgruppen, unangepasste Jugendliche etc.,<br />

wegen ihrer sexuellen Neigung verfolgte Homosexuelle.<br />

Deren Anerkennung als NS-Opfer standen weiterwirkende gesellschaftliche Vorurteile<br />

entgegen, die auch vor den Vertretern der übrigen Opfer nicht Halt machten. So wehrten<br />

sich die drei politischen Opferverbände stets gegen die Aufnahme dieses Personenkreises<br />

in das Opferfürsorgegesetz. Erst der Nationalfonds schuf hier eine Abhilfe. Nur leben<br />

heute nur mehr ganz wenige dieser ehemaligen Verfolgten oder aber haben nach Jahrzehnten<br />

der Ablehnung nicht den Mut oder die Energie, um eine Zahlung aus dem Fonds<br />

anzusuchen.<br />

Grundsätzlich anerkannten die OF-Behörden nach 1945 nicht den unterschiedlichen<br />

Charakter einer republikanischen Strafbestimmung und nationalsozialistischer Unrechtspflege.<br />

So wurde Homosexuellen unter Hinweis auf die bis in die siebziger Jahre geltende<br />

Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen jede Entschädigung und auch die Anrechnung<br />

der Haftzeiten für die Pension verweigert. 21 Die als angeblich „asozial“ verfolgten<br />

Menschen sahen sich mit dem mehr oder weniger ausgesprochenen Vorwurf konfrontiert,<br />

ihre Inhaftierung wäre wohl zu Recht erfolgt; Sterilisierung wurde als nicht typisch nationalsozialistische,<br />

sondern medizinische Maßnahme klassifiziert.<br />

Doch auch für die anerkannten Gruppen saß der Teufel im Detail: Was hilft es jemandem,<br />

einen Steuerfreibetrag zu erhalten, der so wenig verdient, dass er beinahe keine<br />

Lohnsteuer zu zahlen braucht? Wie soll jemand einen Einkommensschaden, d.h. Minderung<br />

des Einkommens um mehr als die Hälfte, geltend machen, der vor seiner Verfolgung<br />

mehrheitlich unangemeldet gearbeitet hat? Wie soll ein burgenländischer Roma Ersatz für<br />

untergegangenen Hausrat erhalten, wenn die Behörde meint, die „Zigeuner“ hätten sowieso<br />

keine Möbel gehabt? Hier lag eine ganze Reihe von Fallstricken vor allem für Antragsteller<br />

aus den unteren Einkommensschichten bereit. Diese Gruppen waren und sind aber<br />

auch aus sozialen Gründen in ihrer Rechtsdurchsetzungsfähigkeit benachteiligt, da ihnen<br />

Informationen ebenso fehlen wie die Möglichkeit, rechtskundlichen Beistand zu finden. Dies<br />

ist aber wohl kein spezifisches Problem der Entschädigung, in diesem Fall jedoch besonders<br />

schmerzhaft für die Betroffenen.<br />

Die materielle Entschädigung<br />

Etwas anders, aber deshalb nicht weniger problematisch, war die Situation im Bereich der<br />

Entschädigung für entzogenes, d.h. geraubtes Eigentum. Hier herrschte der Grundsatz,<br />

dass dem Staat Österreich aus dieser Rückgängigmachung der Beraubungen 1938 und danach<br />

möglichst keine Kosten erwachsen dürften. 22 Damit war aber die Grenze der Rückstellung<br />

bereits abgesteckt. Rückgestellt werden konnte nur jener Besitz, der tatsächlich noch<br />

vorhanden war. Nun war jedoch nach dem „Anschluss“ die überwältigende Mehrheit der<br />

92 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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„arisierten“ Betriebe zuerst ausgeraubt und anschließend im Sinne einer „Strukturbereinigung<br />

der Wirtschaft“ liquidiert worden, 23 so dass für zahlreiche Geschädigte, vor allem<br />

ehemalige Kleingewerbetreibende oder Handwerker, eine Wiederherstellung ihrer Existenz<br />

im Wege der Rückstellung gar nicht in Frage kam. Erst 1958 konnten sie im Wege des<br />

➤ „Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetzes“ Pauschalentschädigungen für verloren<br />

gegangenen Hausrat und Geschäftseinrichtungen erhalten. Diese Entschädigung wurde<br />

jedoch nur bis zu einer bestimmten Höhe (Hausrat öS 15.000,-, Geschäftseinrichtungen<br />

öS 20.000,-, in besonderen Härtefällen bis öS 50.000,-) und in Abhängigkeit vom Einkommen<br />

zum Zeitpunkt der Antragstellung (ab einem Jahreseinkommen von öS 72.000,- entfiel<br />

die Entschädigung, das durchschnittliche Monatseinkommen eines Beamten betrug damals<br />

rund öS 3.000,-) ausbezahlt , 24 sodass auch in diesem Bereich Entschädigung in Abhängigkeit<br />

von sozialer Bedürftigkeit geleistet wurde. Drei Jahre später wurde der ➤ Abgeltungsfonds<br />

errichtet, der die Abgeltung verfolgungsbedingter Verluste von Bankkonti, Wertpapieren<br />

und Bargeld sowie Verluste infolge diskriminierender Abgaben vorsah (Judenvermögensabgabe,<br />

➤ Reichsfluchtsteuer). Kleinere Verluste wurden zur Gänze, größere mit<br />

48,5 %, jedoch mindestens mit öS 47.250,- entschädigt. 25 Zu diesem Fonds sowie zur<br />

12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes hatte die BRD auf Grund des Abkommens von Bad<br />

➤ Kreuznach insgesamt 95 Millionen DM zugezahlt. 26<br />

Doch auch die Rückstellung noch vorhandenen Eigentums gestaltete sich problematisch,<br />

insbesondere im Rahmen der unmittelbaren Auseinandersetzung zwischen dem geschädigten<br />

Eigentümer und dem Inhaber des Eigentums nach 1945, wie sie im 3. Rückstellungsgesetz<br />

27 vorgesehen war. Der Beraubte befand sich von Anfang an in der ungünstigeren<br />

Position. Er war entweder mittellos oder krank aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt,<br />

sah sich – im selteneren Fall – nach seiner Heimkehr aus dem Zufluchtsland vor der<br />

Notwendigkeit einer neuerlichen Existenzgründung oder musste seine Ansprüche vom Ausland<br />

aus durchzusetzen versuchen. Der gegenwärtige Inhaber, entweder der ➤ „Ariseur“<br />

selbst oder dessen Nachfolger, konnte demgegenüber auf ein Netz von Kontakten und<br />

meist auch ausreichend finanzielle Mittel zurückgreifen. Zurückgestellt musste nur werden,<br />

wenn das geraubte Eigentum nicht eine grundlegende Umgestaltung erfahren hatte, d.h.<br />

z.B. die Fabrik erneuert oder auf eine andere Produktion eingestellt worden war. Im<br />

Übrigen hatte in vielen Fällen der geschädigte Eigentümer den Kaufpreis von 1938<br />

zurückzuzahlen, von dem er allerdings nur in den seltensten Fällen tatsächlich etwas in die<br />

Hand bekommen hatte. Das Geld hatte auf ➤ Sperrkonten gelegt werden müssen, davon<br />

wurden ➤ Judenvermögensabgabe und ➤ Reichsfluchtsteuer abgezogen, Beträge, die in<br />

der Judikatur der Rückstellungskommissionen allerdings als im Sinne der Beraubten verwendet<br />

gewertet wurden. 28 Wollte nun der Rückstellungswerber seinen Betrieb oder sein<br />

Haus zurückhaben, musste er nicht selten sogar einen Kredit aufnehmen, um sein Eigentum<br />

quasi zurückkaufen zu können. 29 Es verwundert daher nicht, dass zahlreiche der Verfahren<br />

mit Vergleichen endeten, in denen die geschädigten Eigentümer mit Abschlagszahlungen<br />

abgefunden wurden. Als ein Beispiel kann das Bärental des FPÖ-Obmannes gelten.<br />

Dessen Besitzerin, eine nach 1945 in Israel lebende Frau aus Italien, war mit einigen<br />

Jahreserträgen abgefunden worden. 30<br />

Außerdem dauerten die Verfahren unverhältnismäßig lange. Im Oktober 1954 waren<br />

von insgesamt 34.539 angestrengten Rückstellungsverfahren noch 5181 Verfahren anhängig.<br />

31<br />

Während in den vierziger Jahren auch Rückstellungsgesetze für Patente, Firmennamen,<br />

Ansprüche aus Dienstverhältnissen in der Privatwirtschaft und für entzogenes Eigentum von<br />

juristischen Personen verabschiedet wurden, 32 gelangte das bereits im Dritten Rückstellungsgesetz<br />

vom Gesetzgeber versprochene Gesetz der Rückstellung von Miet- und Bestandsrechten,<br />

also angemieteten Geschäftslokalen und Wohnungen, nicht über das Planungsstadium<br />

hinaus. D.h. Heimkehrer mussten in Not- und Massenquartieren unterkommen (1953<br />

noch 800 Mitglieder der ➤ IKG 33 ), während in ihren ehemaligen Wohnungen nach wie vor<br />

die „Ariseure“ oder deren Familien saßen.<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Brigitte Bailer-Galanda<br />

93<br />

Beraubter contra<br />

„Ariseur“<br />

Unzureichende<br />

und unterlassene<br />

Entschädigung


Volle Entschädigung<br />

war die<br />

Ausnahme<br />

Die Opfergruppen und deren Entschädigung<br />

Das 1952 verabschiedete Beamtenentschädigungsgesetz sah Abgeltungszahlungen von<br />

entgangenen Gehältern öffentlich Bediensteter vor, das 1953 auch ehemalige ÖsterreicherInnen<br />

einbezog. Die Entschädigungszahlungen stellten jedoch nur einen Bruchteil<br />

des tatsächlich entgangenen Gehaltes dar. 34<br />

Nie entschädigt wurde die Arbeitsleistung der Zwangsarbeiter verschiedener Nationalitäten<br />

in der Privatwirtschaft und beim Aufbau der verstaatlichten Industrie. Vor allem die<br />

Linzer Betriebe VOEST und OMV (früher Chemie Linz) entstanden als „Hermann Göring-<br />

Werke“ vorwiegend durch die Arbeit von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen. 35 Während<br />

österreichische Häftlinge zumindest Anspruch nach OFG hatten, gingen die übrigen Sklavenarbeiter<br />

bislang leer aus.<br />

Überblick über die Entschädigungsleistungen Österreichs<br />

Die volle Entschädigung für erlittene Verluste stellte im Rahmen der österreichischen Gesetzgebung<br />

die absolute Ausnahme dar. Die meisten Leistungen waren mit einer Obergrenze<br />

limitiert und zusätzlich von der sozialen Situation der Betroffenen zum Zeitpunkt der Antragstellung,<br />

wie beispielsweise bei der Entschädigung für verlorenen Hausrat und Geschäftseinrichtungen.<br />

Ebenso wurden verlorene Bankkonti u.ä. im Falle größerer Verluste nicht einmal<br />

zur Hälfte ersetzt. Wohnungen wurden überhaupt nicht zurückgegeben, sonstiges<br />

Eigentum nur mit allen oben angeführten Einschränkungen der Rückstellungsgesetzgebung.<br />

Interessant in diesem Zusammenhang sind weiters die Leistungen für entgangenes Einkommen.<br />

Öffentlich Bediensteten wurden zwar die Verfolgungszeiten für die Vorrückung angerechnet,<br />

die Entschädigungsbeträge beliefen sich jedoch nur auf einen Bruchteil der tatsächlichen<br />

finanziellen Einbußen. Nach dem Opferfürsorgegesetz erhielten die NS-Opfer<br />

1961 im Falle einer Minderung des Einkommens um mindestens die Hälfte durch mindestens<br />

3,5 Jahre eine einmalige Zahlung von öS 10.000,-. 36 Vergleicht man das mit der Einkommenssituation<br />

von 1961, so waren das deutlich weniger als sieben Monate durchschnittlicher<br />

Pensionszahlung. Die durchschnittliche Alterspension eines Angestellten betrug<br />

damals öS 1.500,-. 37 Auf diese Entschädigung wurden aber noch alle anderen aus diesem<br />

Titel erhaltenen Zahlungen aus dem Beamtenentschädigungsgesetz und dem 7. Rückstellungsgesetz<br />

(Abfertigungen, Kündigungsentschädigungen oder Betriebspensionen aus der<br />

Privatwirtschaft) angerechnet, so dass man von einer Gesamtentschädigung für Einkommensverluste<br />

von maximal öS 10.000,- ausgehen kann.<br />

Für eine erzwungene Unterbrechung der Berufsausbildung wurden 1961 gleichfalls nur<br />

öS 6.000,- Pauschalentschädigung (also vier Monate durchschnittlicher Angestelltenpension)<br />

geleistet. 38 Die ➤ Hilfsfonds, die sozusagen die Opferfürsorgeleistungen für ehemalige<br />

ÖsterreicherInnen kompensieren sollten, sahen gleichfalls nur vergleichsweise geringe<br />

Entschädigungsbeträge vor. Aus dem ersten Hilfsfonds 1956 39 betrug die höchste<br />

Zahlung – d.h. für einen ehemaligen Verfolgten mit 70 % Minderung der Erwerbstätigkeit –<br />

öS 30.000,-, das waren zu jener Zeit 16 durchschnittliche Monatsgehälter eines Arbeiters.<br />

40 Der zweite Hilfsfonds zahlte in den sechziger Jahren rund öS 14.000,- pro Person für<br />

Berufs- und Ausbildungsschäden aus. 41<br />

Von einer tatsächlichen Entschädigung für das verlorene Einkommen kann also keinesfalls<br />

die Rede sein.<br />

Eine interessante Rechnung erstellte 1972 die Arbeitsgemeinschaft der Opferverbände,<br />

zu der sich Sozialdemokratische Freiheitskämpfer, ÖVP-Kameradschaft und ➤ KZ-Verband<br />

in den sechziger Jahren zusammengefunden haben. Die Arbeitsgemeinschaft forderte –<br />

ergebnislos – von der Bundesregierung eine Abgeltung für die verfolgungsbedingte Minderung<br />

der Lebensverdienstsumme. Ausgehend vom Ausgleichszulagenrichtsatz, also der<br />

Mindestpension, der damals öS 1.600,- pro Monat betrug, verlangten sie eine Entschädigung<br />

in der Höhe der Hälfte der Mindestpension pro Monat der Verfolgung. Für eine<br />

siebenjährige Verfolgung (1938–1945) wären dies 1972 öS 68.000,- gewesen. 42 Rechnet<br />

man dies auf heutige Werte um, so gelangt man zu folgendem Ergebnis: 1997 beträgt die<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Mindestpension laut Auskunft der Pensionsversicherungsanstalt öS 7.887,- für eine Einzelperson.<br />

Unter Zugrundelegung der – allerdings bescheidenen – Forderung der Opferverbände<br />

beliefe sich heute eine Entschädigung für die Verluste in der Lebensverdienstsumme<br />

daher auf öS 331.254,-. Diese Summe relativiert wiederum die Auszahlungen nach dem<br />

Nationalfonds, wobei jedoch der Wert des Fonds, der erstmals beinahe alle Gruppen von<br />

Verfolgten umfasst, nicht geschmälert werden soll.<br />

Insgesamt hat die Republik Österreich nach offiziellen Angaben des Bundespressedienstes<br />

von 1945 bis 1988 rund 8 Milliarden Schilling, 43 unter Berücksichtigung des Nationalfonds<br />

und der weiteren Ausgaben der Opferfürsorge bis 1995 rund 11 Milliarden Schilling<br />

für Leistungen an die NS-Opfer aufgewendet. Diese Zahl inkludiert alle Zahlungen nach<br />

dem Opferfürsorgegesetz, die Hilfsfonds, das ➤ Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz<br />

und den Abgeltungsfonds. Abzuziehen sind davon die von der Bundesrepublik Deutschland<br />

eingebrachten 95 Millionen DM, also rund 600 Millionen Schilling nach damaligem Kurs.<br />

Nicht berücksichtigt in dieser Zahl sind außerordentliche Versorgungsgenüsse für Beamte<br />

(1988 rund 11 Millionen Schilling pro Jahr) sowie zusätzliche Leistungen für Verfolgte in<br />

der Pensionsversicherung, worüber jedoch – entgegen anders lautender Politikerbehauptungen<br />

– laut Auskunft des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger keine gesonderte<br />

Statistik verfügbar ist.<br />

Zusammenfassung<br />

Es kann also festgestellt werden, dass die Leistungen für die NS-Opfer weit hinter den<br />

tatsächlichen Verlusten zurückbleiben. Darüber hinaus bestehen bis heute Mängel in der<br />

Gesetzgebung, wie der erforderliche Nachweis der verfolgungsbedingten Kausalität eines<br />

Gesundheitsschadens, der den wenigen heute noch lebenden Opfern nach wie vor beträchtliche<br />

Hürden in den Weg legt. Außerdem gibt es nach wie vor eine Reihe von Verfolgten,<br />

deren Leiden in der NS-Zeit nicht als Verfolgung anerkannt werden bzw. die keinen<br />

Anspruch auf Entschädigung haben, wie beispielsweise die Deserteure aus der deutschen<br />

Wehrmacht oder die nichtösterreichischen Zwangsarbeiter.<br />

Doch nicht einmal Leistungen, die keine Kosten verursachen, wurden erbracht. Österreich<br />

hat die Opfer des Nationalsozialismus gnadenhalber wieder aufgenommen, nie jedoch<br />

tatsächliches Verständnis für die Situation der Überlebenden aufgebracht. Sie blieben<br />

außerhalb der Solidarität der Kriegsgeneration, deren Angehörige als Mitläufer, Sympathisanten,<br />

Angepasste das NS-Regime erlebten. Hier bliebe abseits aller materiellen Leistungen<br />

noch viel zu tun.<br />

1 Siehe dazu ausführlich: Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein<br />

Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien<br />

1993.<br />

2 Diese Grundposition findet sich kontinuierlich seit 1945. Noch<br />

1988 wurde sie in einer offiziellen Darstellung vertreten: Bundespressedienst<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Maßnahmen der Republik Österreich zu Gunsten<br />

bestimmter politisch, religiös oder abstammungsmäßig Verfolgter<br />

seit 1945, Wien 1988 (Österreich Dokumentation).<br />

Brigitte Bailer-Galanda<br />

Der vorliegende Text wurde von Brigitte Bailer-Galanda im Rahmen einer<br />

Enquete der GRÜNEN zum Thema „Die wirtschaftlichen Schäden der NS-Opfer“<br />

am 17. Juni 1997 im Parlament vorgetragen. Der Text dieses Referates wurde<br />

der Abteilung <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> des BMUK für die Dokumentation der<br />

Tagung der ZeitzeugInnen 1998 „1938–1998.<br />

Flucht – Migration – Asyl gestern und heute“ von Dr. Bailer-Galanda und<br />

dem Grünen Parlamentsklub zur Verfügung gestellt.<br />

Die bei der Enquete „Die wirtschaftlichen Schäden der NS-Opfer“<br />

gehaltenen Referate werden von den GRÜNEN und<br />

der GRÜNEN BILDUNGSWERKSTATT MINDERHEITEN publiziert und<br />

können auch über diese bezogen werden.<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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95<br />

Mängel in der<br />

Gesetzgebung<br />

bestehen bis<br />

heute<br />

3 Der Begriff der Wiedergutmachung im Sinne von „wieder gut machen“<br />

wurde auch von deutschen Wissenschaftern in Frage gestellt:<br />

Siehe z. B. Rolf Theis, Wiedergutmachung zwischen Moral und Interesse.<br />

Eine kritische Bestandsaufnahme der deutsch-israelischen<br />

Regierungsverhandlungen, Frankfurt/M. 1989, S. 32; Ludolf Herbst,<br />

Einleitung, in ders., Constantin Goschler (<strong>Hrsg</strong>.), Wiedergutmachung<br />

in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989 (Sondernummer<br />

Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte), S. 8 ff.


Die Opfergruppen und deren Entschädigung<br />

4 Bundesgesetz über die Fürsorge für die Opfer des Kampfes um ein<br />

freies, demokratisches Österreich und die Opfer politischer Verfolgungen<br />

(Opferfürsorgegesetz), BGBl. Nr. 183 vom 4.7.1947, § 1<br />

Abs. 4.<br />

5 §§ 13 c, 14 a, Opferfürsorgegesetz.<br />

6 Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (<strong>Hrsg</strong>.), Wirtschaftsstatistisches<br />

Handbuch 1961, Wien 1962, S. 87.<br />

7 BGBl. Nr. 25 vom 18.1.1956; BGBl. Nr. 178 vom 13.6.1962; BGBl. Nr.<br />

714 vom 13.12.1976.<br />

8 Siehe dazu ausführlicher: Bailer, a. a. O., S. 157-163.<br />

9 BGBl. Nr. 97/1954, siehe dazu auch: Dietmar Walch, Die jüdischen<br />

Bemühungen um die materielle Wiedergutmachung durch die Republik<br />

Österreich, Wien 1971, S. 43 ff.; Bailer, a. a. O., S. 240 f.<br />

10 Diese Möglichkeit wurde im Herbst 1993 geschaffen: Die Furche,<br />

15.9.1994.<br />

11 1. Durchführungserlass Zl. IV-8840/16/46 zum Gesetz vom<br />

17.7.1945, StGBl. Nr. 90 und zur Verordnung des Staatsamtes für<br />

soziale Verwaltung im Einvernehmen mit dem Staatsamt für Finanzen<br />

vom 31.10.1945, BGBl. Nr. 34/1946 (Opferfürsorgeverordnung),<br />

Sonderabdruck aus Heft 1/2 der „Amtlichen Nachrichten<br />

des Bundesministeriums für soziale Verwaltung“, S.4. Ausführlich:<br />

Bailer, a. a. O., S. 25 f.<br />

12 § 1 Abs. 1 Opferfürsorgegesetz.<br />

13 Bailer, a. a. O., S. 141-145.<br />

14 BGBl. Nr. 205 vom 22.5.1969.<br />

15 Bailer, a. a. O., S. 53 f.<br />

16 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.2.1965, Zl. 687/64.<br />

17 DÖW Akt Nr. 13.454; Erna Putz, Franz Jägerstätter. „... besser die<br />

Hände als der Wille gefesselt ...“, Linz-Passau 1987 (2. Aufl.), S. 278.<br />

18 Bailer, a. a. O., S. 168.<br />

19 Siehe dazu ausführlich: Barbara Rieger, „Zigeunerleben“ in Salzburg<br />

1930-1943. Die regionale Zigeunerverfolgung als Vorstufe<br />

zur planmäßigen Vernichtung in Auschwitz, Diplomarbeit an der<br />

geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien<br />

1990; Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich,<br />

Salzburg 1983; Bailer, a. a. O., S. 176-184.<br />

20 Bailer, a. a. O., S. 185-197. Zur Situation der Opfer der nationalsozialistischen<br />

Rassenhygiene siehe auch Wolfgang Neugebauer, Das<br />

Opferfürsorgegesetz und die Sterilisationsopfer in Österreich, in:<br />

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (<strong>Hrsg</strong>.),<br />

Jahrbuch 1989, Wien 1989, S. 144-150.<br />

21 Beantwortung der Anfrage der Abgeordneten Srb und Freunde<br />

an den Bundesminister für Arbeit und Soziales betreffend die homosexuellen<br />

Opfer des Nationalsozialismus (Nr. 2474/J) vom<br />

12.9.1988, Zl. 10.009/168-4/88.<br />

22 Erläuternde Bemerkungen zu dem Gesetz über die Nichtigkeit<br />

von Vermögensentziehung (3. Rückstellungsgesetz), 45. Sitzung<br />

des Ministerrates, 12.11.1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht,<br />

Ministerratsprotokolle, Karton 4.<br />

23 Gertraud Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle als Arisierungsbehörde<br />

jüdischer Betriebe, Diplomarbeit am Institut für Wirtschafts-<br />

und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien,<br />

Wien 1989, S. 166. Von den im Mai 1938 zum Zeitpunkt der Schaffung<br />

der Vermögensverkehrsstelle noch existierenden 26.000 jüdischen<br />

Betrieben waren nur 4353 zur Weiterführung vorgesehen.<br />

24 BGBl. Nr. 127 vom 25.6.1958.<br />

25 Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter,<br />

BGBl. Nr. 100 vom 22.3.1961.<br />

26 Das Kreuznacher Abkommen umfaßte zwei Teile. Der erste beinhaltete<br />

Zahlungen der BRD für die Eingliederung der so genannten<br />

„Volksdeutschen“ in Österreich, der zweite sah Zahlungen der<br />

BRD für die Maßnahmen zu Gunsten der NS-Opfer vor. Siehe dazu:<br />

Bailer, a.a. O., S. 96 ff. Der Text des Abkommens in BGBl. Nr.<br />

283 vom 28.9.1962.<br />

27 BGBl. Nr. 54/1947.<br />

28 Juristisch fundierte Kritik an dieser Praxis siehe: Georg Graf, Arisierung<br />

und keine Wiedergutmachung. Kritische Anmerkungen<br />

zur jüngeren österreichischen Rechtsgeschichte, in: P. Feyerabend,<br />

C. Wegeler (<strong>Hrsg</strong>.), Philosophie – Psychoanalyse – Emigration,<br />

Wien 1992, S. 73 ff.<br />

29 Vgl. Die Gemeinde, Nr. 2, März 1948.<br />

30 Profil, 9.6., 9.12.1986.<br />

31 Statistik über den Stand der Rückstellungsverfahren von Ende Oktober<br />

1954. Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Albert Löwy, Karton<br />

Rückstellung Statistiken.<br />

32 BGBl. 143/1947, 164/1949, 199/1949, 207/1949.<br />

33 Vereinigter Exekutivausschuss für jüdische Forderungen an Österreich,<br />

Memorandum über Ansprüche aus dem Titel entzogener<br />

Wohnungen, 1.7.1953. Institut für Zeitgeschichte der Universität<br />

Wien, Nachlaß Albert Löwy.<br />

34 ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten (<strong>Hrsg</strong>.), Die Wiedergutmachung.<br />

Werden und Ergebnis der Entschädigungsgesetze<br />

für politisch Verfolgte und gemaßregelte Beamte, Wien o.J.<br />

(1952).<br />

35 Florian Freund, Bertrand Perz, Fremdarbeiter und KZ-Häftlinge in<br />

der „Ostmark“, in: Ulrich Herbert (<strong>Hrsg</strong>.), Europa und der<br />

„Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und<br />

KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 317-350.<br />

36 § 14 b Opferfürsorgegesetz. Die Höhe der Entschädigung blieb<br />

seither gleich, wurde also nicht valorisiert.<br />

37 Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (<strong>Hrsg</strong>.), Wirtschaftsstatistisches<br />

Handbuch 1961, Wien 1962, S. 87.<br />

38 § 14 a Opferfürsorgegesetz. Siehe auch Anmerkung 36.<br />

39 BGBl. Nr. 25 vom 18.1.1956.<br />

40 Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (<strong>Hrsg</strong>.), Wirtschaftsstatistisches<br />

Handbuch 1964, Wien 1964, S. 217.<br />

41 BGBl. Nr. 178 vom 13.6.1962.<br />

42 PKZ, Pressekorrespondenz des Bundesverbandes österreichischer<br />

Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus (KZ-Verband),<br />

Nr. 3, 1.9.1972. Der Text wurde gleich lautend im Sozialistischen<br />

Kämpfer (Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des<br />

Faschismus) sowie im Freiheitskämpfer (ÖVP-Kameradschaft der<br />

politisch Verfolgten) veröffentlicht.<br />

43 Errechnet anhand der Angaben in: Bundespressedienst, a.a.O.<br />

96 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


ERSTE ANLAUFSTELLEN/MASSNAHMEN FÜR OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS NACH 1945<br />

Die Zuständigkeit der im Folgenden aufgelisteten behördlichen<br />

Stellen als erste Anlaufstellen für Opfer des<br />

Nationalsozialismus richtet sich nach der Anerkennung<br />

der einzelnen Opfergruppen in der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung<br />

(vgl. Bailer-Galanda in diesem Band, S. 90).<br />

Unmittelbar nach dem Kriegsende 1945 erfolgte von<br />

staatlicher Seite ausschließlich eine Anerkennung und<br />

Unterstützung der im Nationalsozialismus aus politischen<br />

Gründen verfolgten Opfer und WiderstandskämpferInnen.<br />

Den für Wien zuständigen Stellen und Ämtern des Magistrats<br />

der Stadt Wien entsprechen in den Bundesländern<br />

die jeweiligen Bezirkshauptmannschaften und<br />

Sozialreferate der Bezirksämter der Länder.<br />

Als Soforthilfe wurden im Juli 1945 von der Magistratsabteilung<br />

MA X/1 der Stadt Wien (1946 nach Umstrukturierung<br />

des Wiener Magistrats ➤ MA 12, Amt für Erwachsenen-<br />

und Familienfürsorge) für RückkehrerInnen aus Konzentrationslagern<br />

an den Wiener Bahnhöfen eigene Fürsorgestellen<br />

errichtet. In Zusammenarbeit mit den unmittelbar<br />

nach dem Krieg eingerichteten Fürsorgekommissionen,<br />

in denen hauptsächlich ehrenamtliche FürsorgerInnen<br />

tätig waren, erfolgte durch Unterstützung ausländischer<br />

Hilfsorganisationen die medizinische Erstversorgung,<br />

die Vergabe von Lebensmitteln und Bekleidung. Die Unterbringung<br />

obdachloser Rückwanderer und Flüchtlinge<br />

erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Anstaltenamt der<br />

Stadt Wien (MA 17), zumeist in Obdachlosenasylen sowie<br />

Krankenhäusern. Im Juli 1945 wurde von der MA 12 eine<br />

eigene Betreuungsstelle für die HeimkehrerInnen aus<br />

Konzentrationslagern errichtet; im Oktober 1945 wurden<br />

in den Fürsorgeämtern der einzelnen Gemeindebezirke<br />

weitere Betreuungsstellen eröffnet. Gemäß des 1. Opferfürsorgegesetzes<br />

vom 17. Juli 1945 war eine Unterstützung<br />

nur „Opfern des Kampfes um ein freies und demokratisches<br />

Österreich“ vorbehalten. Die Unterstützung erfolgte<br />

in Form von einmaligen Geld- und Sachleistungen, in<br />

der Gewährung von Fürsorgedarlehen als einmalige Aufwendung<br />

zur Wiederherstellung wirtschaftlicher Selbständigkeit,<br />

vor allem für Angehörige der freien Berufe,<br />

wie Ärzte, Dentisten etc. Auch die Möglichkeit für den<br />

Erhalt einer Wohnung war an die Anerkennung nach<br />

dem Opferfürsorgegesetz geknüpft. Wohnungszuweisungen<br />

an obdachlose Opfer erfolgten über das Wohnungsamt<br />

➤ MA 52 der Stadt Wien. Die Richtlinien über<br />

Wohnungsanmeldung und Wohnungsvergabe vom<br />

25.4.1995 sahen eine Vergabe freier Wohnungen allerdings<br />

nur für Bombengeschädigte vor. Das Wohnungsanforderungsgesetz<br />

vom 1.9.1945 erweiterte die Gruppe<br />

der anspruchsberechtigten WohnungswerberInnen, allerdings<br />

nur auf die Gruppe der aus politischen Gründen im<br />

Nationalsozialismus Verfolgten. Nach dem 2. Opferfürsorgegesetz<br />

vom 2.9.1947 wurden entsprechend der Ausdehnung<br />

des Kreises fürsorgeanspruchsberechtigter Personen<br />

auch die Leistungen der MA 12 auf die Einrichtung<br />

von Rentenkommissionen, die Ausdehnung der Rentenfürsorge<br />

und die Erstellung von ➤ Amtsbescheinungen und<br />

➤ Opferausweisen erweitert. Im Wiener Wohnungsamt<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

wurde am 20.8.1947 ein eigenes Wiedergutmachungsreferat<br />

eröffnet, das die Zuteilung von Wohnungen für<br />

nach dem OFG anerkannte Opfer vorsah. Sowohl Erhalt<br />

einer Wohnung als auch der Erhalt eines Opferausweises<br />

oder einer Amtsbescheinigung (mit folgendem Anspruch<br />

auf eine Opferfürsorgerente) war von einem ärztlichen<br />

Gutachten durch das Wiener Gesundheitsamt (1945: MA<br />

II/2, 1946: ➤ MA 15) oder der Konstatierung sozialer<br />

Bedürftigkeit durch die MA 12 abhängig.<br />

Das Wiedergutmachungsreferat der ➤ Israelitischen<br />

Kultusgemeinde<br />

Wegen der Einschränkung der öffentlichen Opferfürsorge<br />

auf primär aus politischen Gründen Verfolgte, wandten<br />

sich nach dem Krieg die auf Grund ihrer Abstammung<br />

verfolgten Juden und Jüdinnen an die Israelitische<br />

Kultusgemeinde (IKG), die ein eigenes Wiedergutmachungsreferat<br />

zur Betreuung der jüdischen Opfer errichtet<br />

hatte und vor allem über ausländische Hilfsaktionen<br />

arbeitete (wie z.B. ➤ JOINT, ZWO-JA). In der IKG erfolgte<br />

die Registrierung der Gemeindemitglieder sowie die Ausgabe<br />

von Jointpaketen, die medizinische Versorgung, die<br />

Ausstellung von Deportationsbescheinigungen und Todeserklärungen<br />

für während des Nationalsozialismus umgekommene<br />

Gemeindemitglieder, die Ausstellung sonstiger<br />

Bestätigungen, die für Behörden und Ämter benötigt<br />

wurden. Weitere Aufgaben waren die Rückführung jüdischer<br />

EmigrantInnen aus den Emigrationsländern nach<br />

Österreich, die Beschaffung von Unterkünften und die<br />

Beratung für RückkehrerInnen, Hilfe und Beratung bei<br />

Wohnungs- und Arbeitssuche sowie die Unterbringung in<br />

den eigenen Rückkehrerheimen der IKG: Wien II, Tempelgasse<br />

3, und Wien II, Untere Augartenstraße 35. Ein internationaler<br />

Suchdienst forschte nach vermissten Personen<br />

im In- und Ausland. Das Wiedergutmachungsreferat der<br />

IKG war aber auch zuständig für Beratungen in allgemeinen<br />

Fragen der Wiedergutmachung, für die Erfassung des<br />

ehemals entzogenen jüdischen Vermögens in Österreich,<br />

für welches sich keine anspruchsberechtigten Personen<br />

gemeldet hatten, für die Rückerlangung des der IKG entzogenen<br />

Vermögens sowie jenes jüdischer Vereine und<br />

Stiftungen. Für Rückstellungsansprüche privater RückstellungswerberInnen<br />

war das Referat zwar nicht zuständig,<br />

allerdings wurden über das Rechtsreferat der IKG eigene<br />

Juristen zu Verfügung gestellt. Neben diesen Hilfsmaßnahmen<br />

lag eine weitere zentrale Aufgabe des Wiedergutmachungsreferates<br />

in der Planung und Forcierung<br />

der Opferfürsorgegesetzgebung sowie in der Zusammenarbeit<br />

mit den Stellen der öffentlichen Fürsorge.<br />

Heute sind folgende Stellen zuständig (eine Auswahl):<br />

• Opferfürsorgereferat des Sozialamtes der Stadt Wien –<br />

Magistratsabteilung MA 12: 1010 Wien, Schottenring 24<br />

• Opferfürsorgestellen in den Sozialämtern der Bezirkshauptmannschaften,<br />

Bezirksämter in den einzelnen Bundesländern<br />

• ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des<br />

Nationalsozialismus: 1010 Wien, Doblhoffgasse 3<br />

• Israelitische Kultusgemeinde: 1010 Wien, Seitenstettengasse 4<br />

97


DER KAMPF UM DIE RECHTLICHE ANERKENNUNG JÜDISCHER ÜBERLEBENDER<br />

HELGA EMBACHER<br />

Gründung des<br />

KZ-Verbandes<br />

Hierarchie der<br />

Opfergruppen<br />

Ende Mai 1945 wurde in Wien die ➤ „Volkssolidarität“ gegründet, eine von den drei Parteien<br />

(SPÖ, ÖVP, KPÖ) beschickte Fürsorgeinstitution zur Betreuung der ehemals politisch<br />

verfolgten Heimkehrer. „Nur“-Juden waren aber bis Anfang 1946 von dieser Betreuung<br />

ausgeschlossen. Daneben entstanden in ganz Österreich zahlreiche kleinere Hilfskomitees<br />

für politisch Verfolgte. In Wien rief Ministerialrat Dr. Franz Sobek den ➤ KZ-Verband, später<br />

➤ „Bund der politisch Verfolgten“, ins Leben. Sobek wurde noch vor Kriegsende aus dem<br />

KZ entlassen und gehörte der Widerstandsgruppe 05 an. Offiziell wurde der KZ-Verband<br />

im März 1946 gegründet und wie die „Volkssolidarität“ von den drei Parteien paritätisch<br />

beschickt. Der KZ-Verband verstand sich nicht mehr als karitative Hilfsorganisation, sondern<br />

als politisches Instrument, als Wächter über die Demokratie, wozu von den Widerstandskämpfern<br />

entsprechende Positionen im Staat angestrebt und besetzt werden sollten. 1 Manche<br />

stellten sich sogar eine Art „Kammer“, eine selbständige Macht im Staat vor. 2 Da der<br />

KZ-Verband eine politisch-moralische Instanz beim Wiederaufbau eines „Neuen Österreich“<br />

sein wollte, stand nur ehemaligen „politischen“ Häftlingen 3 die Mitgliedschaft offen.<br />

Ausgeschlossen waren somit Zigeuner, Homosexuelle, Kriminelle, die Gruppe der sogenannten<br />

„Asozialen“ und jene Juden, die „nur“ aufgrund ihrer Abstammung verfolgt worden<br />

waren. Damit reproduzierte der KZ-Verband das Vorurteil von den „kriminellen KZlern“<br />

und setzte auch die im KZ bestehende Hierarchie innerhalb der Häftlinge fort. Dies brachte<br />

ihm den Vorwurf ein, auch nach 1945 am ➤ „Arierparagraphen“ festzuhalten. 4 Beim „Jüdischen<br />

Komitee“ in Linz beschwerten sich 1947 auch jüdische Überlebende über diskriminierende<br />

Behandlungen beim Wiener „KZ-Verband“ in der Lothringerstraße.<br />

„Im KZ-Verband wollten wir Auskunft haben, ob man uns Hilfe oder Rat erteilen kann.<br />

Der dortige Leiter erklärte uns – es war im letzten Zimmer der Kanzlei –, daß man mit Geld<br />

alles erreichen könne. Er sagte uns außerdem, daß ein politischer Häftling, der für die Freiheit<br />

Österreichs gekämpft hat, ihm tausendmal lieber sei als ein jüdischer Häftling, der alles<br />

verloren hat.“ 5<br />

Am 10. Februar 1946 konstituierte sich das „Aktionskomitee der jüdischen KZler“, später<br />

„Verband der wegen ihrer Abstammung Verfolgten“, das bereits bei seiner Gründung<br />

1670 Mitglieder zählte. 6 Um die Anerkennung der jüdischen KZler als gleichberechtigte<br />

Opfer durchzusetzen, versuchte es unter der Leitung des Kommunisten Akim Lewit, 7 in den<br />

„Bundesverband“ aufgenommen zu werden. Die Aufnahme erfolgte bereits am 14. Februar<br />

1946 mit folgender Begründung: Da Juden wegen ihrer Abstammung verfolgt worden waren,<br />

hätten sie als politisch unzuverlässig gegolten und wären auch deshalb ins KZ gekommen.<br />

8 Um Österreichs Rolle als erstes Opfer Nazi-Deutschlands nicht zu gefährden, mußten<br />

„rassisch Verfolgte“ offensichtlich zu aktiven Gegnern des Nationalsozialismus umdefiniert<br />

werden. Dadurch konnten sie als Beweis eines österreichischen Widerstandes herangezogen<br />

werden, während gleichzeitig von der aktiven Rolle der ÖsterreicherInnen bei der Judenverfolgung<br />

abgelenkt wurde. 9 Als nächstes strebte die ➤ Israelitische Kultusgemeinde eine<br />

Reform des ➤ Opferfürsorgegesetzes an, da in der bis dahin gültigen Version in Punkt 21<br />

des Abschnittes 1 ausdrücklich erklärt wurde, daß „rassisch Verfolgte“, die den Nachweis<br />

eines aktiven Einsatzes für ein unabhängiges, demokratisches Österreich nicht aufbringen<br />

konnten, ebenso wie alle anderen passiv zu Schaden gekommenen Österreicher nicht<br />

berücksichtigt werden sollten und warten müßten, bis eine neue Regelung erfolgen würde. 10<br />

Das im Juli 1947 beschlossene und am 2. September 1947 in Kraft getretene neue Opferfürsorgegesetz<br />

erweiterte zwar den Kreis der Anspruchsberechtigten – auch die aufgrund<br />

von „Abstammung, Religion und Nationalität“ erfolgte Verfolgung fand Berücksichtigung –,<br />

doch wies es noch immer gravierende Mängel auf. So konnten Juden nur mittels einer<br />

Gefälligkeitsbestätigung des KZ-Verbandes eine Amtsbescheinigung erhalten, die wiederum<br />

als Voraussetzung zum Rentenbezug benötigt wurde. 11 Das „Jüdische Aktionskomitee“<br />

98 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


empfand es auch als eine besondere Demütigung, „daß ‚politische‘ Häftlinge von der Art<br />

des Auslandsradiohörers und unvorsichtigen Meckerers oder Bekämpfers der Arbeiterschaft<br />

im und nach dem Februar 1934 und schließlich ‚Erduldens‘ einer sechsmonatigen ‚schweren‘<br />

Haft in ➤ Wöllersdorf“ 12 als Opfer bzw. Widerstandskämpfer anerkannt wurden,<br />

während beispielsweise Sternenträgern* die Aufnahme in den „Bundesverband“ versagt<br />

blieb. (Anm. d. Red.: *Ab 1941 wurden Juden gezwungen, den gelben Stern zu tragen, was<br />

die Einhaltung der antijüdischen Gesetze, wie z. B. das Benützen öffentlicher Verkehrsmittel,<br />

das Betreten von Parkanlagen oder das Verlassen von Ghettos, garantierte. Erst 1961 erhielten<br />

„Sternenträger“ eine geringe Abgeltung für ihre Verfolgung.)<br />

„Warum wird von den Abstammungsverfolgten überhaupt politischer Einsatz verlangt?<br />

Wozu braucht ein abstammungsverfolgter KZler noch seine antifaschistische Gesinnung zu<br />

beweisen?“ 13<br />

Diese Frage stellte 1947 ein Referent bei einer Tagung des KZ-Verbandes in Graz.<br />

Weiters interpretierte er das bestehende Opferfürsorgegesetz als Fortsetzung der KZ-Hierarchie.<br />

Seiner Meinung nach wollte die ➤ SS durch das Lagersystem „… bei allen nichtjüdischen<br />

Lagerinsassen den Eindruck einprägen, daß alle Juden (...) untereinander gleich<br />

sind und eine Differenzierung nicht am Platz ist. Und die ➤ Gestapo hat dieses Ziel erreicht:<br />

bei apolitischen nichtjüdischen KZlern deswegen, weil dies den letzten gepaßt hat,<br />

bei den politisch bewußten aber auch aus dem Grunde, weil auch sie dem ehernen Naturgesetz<br />

unterlegen waren, wonach das Milieu den Menschen formt. Die Folge davon war,<br />

daß die sogenannten arischen Kameraden sich des Gefühls einer gewissen Überwertigkeit<br />

nicht entledigen konnten, dies auf Kosten der jüdischen, auch der sogenannten politischen<br />

KZler, die andauernd mit Minderwertigkeitskomplexen behaftet sein mußten. (...) Eine unsichtbare<br />

Mauer hat sich zwischen beiden künstlich aufgezogenen Welten aufgerichtet,<br />

eine Scheidemauer, die von Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Sachsenhausen usw. bis<br />

nach Wien ging. Und hinter dieser Mauer haben sich der KZ-Verband und die ‚Volkssolidarität‘<br />

etabliert, die jedem sogenannten ‚rassisch‘ Verfolgten Einlaß verwehrten, hingegen<br />

aber um so beflissener beim Spendensammeln im In- und Ausland auf den Solidaritätsgedanken<br />

aller Naziopfer pochten.“ 14<br />

Die Auflösung des KZ-Verbandes<br />

Im September 1946 vereinigten sich der KZ-Verband und zahlreiche, auch in den Bundesländern<br />

bereits vorhandene Komitees zur Betreuung der KZ-Überlebenden zum „Bund der<br />

politisch Verfolgten – Österreichischer Bundesverband“, weiterhin kurz „KZ-Verband“ genannt.<br />

Der Verband war ebenfalls überparteilich organisiert, und neben den Vertretern von<br />

SPÖ, ÖVP und KPÖ schienen auch Vertreter der sogenannten „Abstammungsverfolgten“<br />

auf. Aufgrund des vom Nationalrat beschlossenen Privilegierungsgesetzes galt der KZ-Verband<br />

als offizielle Interessenvertretung aller Opfer des Faschismus. Wie die Historikerin<br />

Brigitte Bailer aufzeigte, beabsichtigte Innenminister ➤ Oskar Helmer damit die Kontrolle<br />

der KZ-Verbände und letztendlich die Ausschaltung der Kommunisten. Doch auch dem<br />

„Bundesverband“ war kein langes Leben beschieden. Am 8. März 1948 löste Helmer mit<br />

Zustimmung der Regierungsparteien aus innenpolitischen Motiven den „Bund der politisch<br />

Verfolgten“ auf. 15 Da, gemessen an ihrer zahlenmäßigen Stärke, Kommunisten im<br />

Widerstand überrepräsentiert waren, übten sie auch im KZ-Verband dominierende Funktionen<br />

aus. Im November 1947 war mit ➤ Dr. Altmann aber der letzte Kommunist aus der<br />

Regierung ausgeschieden, und es mußte auf die KPÖ keine Rücksicht mehr genommen werden.<br />

Ein geeinter Verband von KZ-Überlebenden, der noch dazu für sich in Anspruch nehmen<br />

wollte, über die demokratische Entwicklung in Österreich zu wachen, hätte auch die<br />

Koalitionspolitik, in der es bereits um die Integration der ehemaligen Nationalsozialisten<br />

ging, in Frage gestellt.<br />

Offiziell wurde die Auflösung des KZ-Verbandes mit Unstimmigkeiten im Wiener KZ-Verband<br />

gerechtfertigt, doch für „einfache“ Mitglieder und auch für Funktionäre erfolgte die<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Helga Embacher<br />

99<br />

Konflikte<br />

zwischen<br />

„WiderstandskämpferInnen“<br />

und „rassisch<br />

Verfolgten“<br />

Parteipolitische<br />

Vereinnahmung<br />

des KZ-Verbandes


Ausgrenzung der<br />

jüdischen Opfer<br />

Der Kampf der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

Auflösung vielfach unerwartet. ➤ Karl Mark, sozialistischer Abgeordneter und Generalsekretär<br />

des „Bundesverbandes“, berichtete über dessen unerwartetes Ende:<br />

„Im Februar 1948 kam ich zu dem Haus, in dem unser Büro untergebracht war. Einige<br />

Angestellte warteten schon davor. Ich hatte zwar meine Schlüssel, aber ich konnte nicht<br />

hinein. Mein Büro war versiegelt. Das war auf Anweisung von Oskar Helmer geschehen.<br />

Unter Mißachtung der gesetzlich fundierten Stellung des Bundes waren die Sekretariatsräume<br />

geschlossen worden und gleichzeitig jede weitere Tätigkeit unterbunden mit dem<br />

fadenscheinigen Hinweis auf einen möglichen kommunistischen Mißbrauch, natürlich aber<br />

wegen der von Helmers Linie abweichenden Haltung des Bundes. Diese Handlung setzte<br />

meiner Tätigkeit im Bund politisch Verfolgter ein unerwartetes Ende.“ 16<br />

Josef Ausweger, 17 ÖVP-Mitglied und Präsident des Salzburger KZ-Verbandes, betonte<br />

noch Ende März 1948 bei einer Versammlung, „daß gerade die Kommunisten sich im Lager<br />

vorbildlich verhalten haben“ und er weiterhin für einen überparteilichen Verband eintreten<br />

werde. 18 Noch am 13. März schrieb das „Demokratische Volksblatt“, das Organ<br />

der SPÖ Salzburg, „daß in Salzburg im Vergleich zu Wien in den Beschlüssen Einigkeit<br />

bestehe und keine politischen Differenzen vorhanden wären“. 19 Doch am 20. März riet<br />

das Blatt SPÖ-Mitgliedern dann vom Besuch der Veranstaltungen des KZ-Verbandes ab,<br />

denn „die Sozialisten würden die säuberliche Trennung von den Kommunisten, aber auch<br />

von jenen begrüßen, die seinerzeit wegen ihrer austrofaschistischen Tätigkeit verfolgt<br />

wurden“. 20<br />

Im Klima des Kalten Krieges vermochten sich die Überlebenden mit ihrem Wunsch nach<br />

einem überparteilichen Verband gegen den zentralistisch, ihrer Meinung nach sehr undemokratisch<br />

gefaßten Regierungsbeschluß nicht durchzusetzen. Letztendlich gründete jede<br />

Partei ihren eigenen KZ-Verband: die SPÖ den „Verband der sozialistischen Freiheitskämpfer“,<br />

die ÖVP die „Kameradschaft“, und der KPÖ blieb der KZ-Verband. Nur in Tirol wehrten<br />

sich die Überlebenden erfolgreich gegen eine Aufsplitterung. 21 Jüdische Überlebende,<br />

sofern sie keiner der drei Parteien beitreten wollten, blieben weiterhin unter sich. Der<br />

➤ „Neue Weg“ kritisierte nicht nur die Politik der Regierung, sondern auch die Politik des<br />

„Bundesverbandes“, in den Juden große Hoffnungen gesetzt hatten. 22 Daß ehemalige KZ-<br />

Häftlinge sich den Interessen der Parteien unterwarfen und den KZ-Verband zu einem „Veteranenverein“<br />

herabsinken ließen, löste beim Jüdischen Aktionskomitee „eine schwere Erbitterung“<br />

aus und das Gefühl, „als Juden als Paria“ behandelt worden zu sein. 23 Für den<br />

„Neuen Weg“ entstand der Eindruck, daß den politischen Funktionären des KZ-Verbandes<br />

nur an der Erfüllung ihrer Bedürfnisse gelegen war und sie in der Unterstützung der jüdischen<br />

Opfer versagt haben.<br />

„Die zurückkehrenden ‚politischen‘ KZler haben ihre verlorenen Stellen in Amt und Arbeit<br />

meist wiederbekommen, ja, dank ihrer Verbindung mit den politischen Parteien, bedeutend<br />

verbessert. Was sie sonst noch zu verlangen haben, war die Entschädigung für Haftzeit<br />

und sonstige Einbußen, war die Unterstützung der Hinterbliebenen von KZ-Kameraden und<br />

schließlich die Pflege der Kameradschaft, der Erinnerung an das gemeinsame Erlebnis im<br />

KZ. Diese bescheidenen Ziele entsprachen ganz dem Gedankengang und den Absichten<br />

der politischen Parteien. Nach ihrer Auffassung war die Hitler-Invasion ein bedauerliches,<br />

aber unvermeidliches Ereignis, die am Leben gebliebenen Opfer haben Anspruch auf<br />

Almosen in moderner Form, auf eine gewisse, nicht weitgehende wirtschaftliche Hilfe<br />

(früher einmal auf eine Werkelmannlizenz). Sonst sollten sie bei Heurigem und Wienermusik<br />

kameradschaftliche Geselligkeit pflegen, beim Begräbnis eines Kameraden mit der eigenen<br />

Fahne ausrücken usw. Das bedingte natürlich eine strenge Absonderung der Nazi-<br />

Opfer von den anderen Opfern.“ 24<br />

Bei vielen Überlebenden wirkte primär die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei und<br />

weniger die gemeinsame Lagererfahrung identitätsstiftend. Österreichische WiderstandskämpferInnen,<br />

unter ihnen auch viele jüdischer Herkunft, träumten im KZ vom Aufbau eines<br />

neuen Österreich, wozu sie sich nach ihrer Rückkehr auch tatkräftig zur Verfügung stellten.<br />

Auch sie akzeptierten die von den Alliierten und österreichischen Politikern entworfene<br />

100 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


These von Österreich als erstem Opfer Hitler-Deutschlands. Trotz zahlreicher Widersprüche<br />

übertrugen sie das eigene Leiden auf das der Nation. Als beispielsweise der Internationale<br />

KZ-Verband ankündigte, bei einer Tagung im Mai 1946 auch eine Resolution über die<br />

schleppend vor sich gehende Entnazifizierung und die Beteiligung von Österreichern am<br />

Nationalsozialismus zu fassen, zog der „Verband der politisch Verfolgten für Oberösterreich“<br />

seine angekündigte Teilnahme an der im Mai 1946 stattfindenden Tagung zurück.<br />

Auch das Innenministerium wollte die Tagung verbieten, die letztendlich mit Hilfe des<br />

oberösterreichischen Landeshauptmannes Gleißner doch noch durchgeführt werden konnte.<br />

Ministerialrat Franz Sobek empfand vor allem die Kritik an Österreichs Mitverantwortung<br />

am Nationalsozialismus und eine befürchtete Resolution an die UNO, in der vom Abzug<br />

der Besatzungssoldaten abgeraten werden sollte, als Provokation. Er bat daher den<br />

„Oberösterreichischen KZ-Verband um Bericht und um Vorschläge zu entsprechenden Maßnahmen<br />

gegen diese Leute, welche wahrscheinlich zum Großteil Kriminelle sind und in<br />

unserem Lande als Partisanen leben und unser Land im Ausland schwer diskriminieren“. 25<br />

Als Reaktion darauf warf Simon Wiesenthal, damals Funktionär des Internationalen KZ-<br />

Verbandes, dem österreichischen KZ-Verband vor, daß „der Ausländerhaß, welcher ein<br />

Bestandteil der Nazipropaganda war, in den Reihen des österreichischen KZ-Verbandes<br />

noch nicht ausgerottet zu sein scheint“. 26<br />

Alleingelassen im Kampf um die „Wiedergutmachung“, mußte die Israelitische Kultusgemeinde<br />

1949 auch den Ausschluß aus der Opferfürsorgekommission erleben. Bisher setzte<br />

sich diese Kommission aus Vertretern der drei Parteien und aus Vertretern der Israelitischen<br />

Kultusgemeinde oder „Abstammungsverfolgten“ zusammen, während bei der 1949 erfolgten<br />

Neubesetzung Sozialminister ➤ Karl Maisel, sozialistischer Abgeordneter und Buchenwald-Überlebender,<br />

anstelle der „Abstammungsverfolgten“ Vertreter der SPÖ nominierte.<br />

Wie der „Neue Weg“ kritisierte, wären diese „weder von den Abstammungsverfolgten auf<br />

demokratische Weise gewählt noch hierzu berufen worden und würden keinesfalls das Vertrauen<br />

der Gruppe genießen“. 27<br />

Im Kalten Krieg konnte die österreichische Regierung als anerkannter Partner der Westalliierten<br />

immer selbstbewußter agieren. Letzte Reste, die noch an Österreichs Mittäterrolle erinnerten,<br />

mußten entfernt werden. 1947 ➤ „arisierte“ das ➤ „Schwarze Kreuz“ in St. Florian<br />

in Oberösterreich den jüdischen Friedhof, indem es das jüdische Denkmal zerschlagen<br />

ließ. 28 Bereits 1946 machte Heinrich Sobek einen Vorschlag zur christlichen Vereinnahmung<br />

des ➤ Vernichtungslagers Mauthausen. Ein „überdimensionales, in der Nacht leuchtendes<br />

Kreuz“ sollte am höchsten Punkt des ehemaligen Lagers errichtet werden. 29 Auch als<br />

1952 an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eine Gedenktafel enthüllt wurde, gedachte niemand<br />

der jüdischen Opfer, der größten Gruppe unter den Ermordeten. 30 1954 sollten laut<br />

einer Empfehlung des Innenministeriums die KZ-Friedhöfe in „Kriegerfriedhöfe“ umgewandelt<br />

und damit alle Opfer des Zweiten Weltkrieges auf dieselbe Stufe gestellt werden. 31 Im<br />

selben Jahr wurden in ➤ Ebensee jüdische Gräber exhumiert, und das dortige jüdische<br />

Denkmal mit der Aufschrift „Dem deutschen Volk zur ewigen Schande“ wurde in die Luft<br />

gesprengt, um den Fremdenverkehr nicht zu stören. 32 In Linz fühlten sich jüdische Überlebende<br />

verletzt, als der KZ-Verband 1955 bei einer von ihm organisierten Trauerfeier in<br />

Ebensee die Israelitische Kultusgemeinde Linz nicht eingeladen hatte, obwohl die Häftlinge<br />

im Konzentrationslager Ebensee großteils Juden waren. 33<br />

Der Konflikt zwischen der Israelitischen Kultusgemeinde und den Lagergemeinschaften ist<br />

bis heute ungelöst. Noch im Februar 1995 mußte die „Gemeinde“ an einer Aussendung<br />

der „Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz“ anläßlich des 50. Gedenktages der<br />

Befreiung kritisieren, daß von ermordeten Österreichern, unter anderem Politikern, Künstlern,<br />

Journalisten oder Heimwehrfunktionären, gesprochen wurde, das Wort Jude oder<br />

jüdisch aber peinlich vermieden wurde. 34<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Helga Embacher<br />

Aus: Helga Embacher: Neubeginn ohne Illusionen.<br />

Juden in Österreich nach 1945,<br />

Picus Verlag, Wien 1995, S. 104-111.<br />

101


Der Kampf der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

1 Vgl. Salzburger Tagblatt. 18.1. 1946, S.6.<br />

2 Interview mit Josef Nischelwitzer. Klagenfurt 1987.<br />

3 Politisch Verfolgte trugen einen roten, Kriminelle einen grünen, sogenannte<br />

Asoziale einen schwarzen, Homosexuelle einen rosa und<br />

Bibelforscher einen lila Winkel. Juden mußten unter ihrem Winkel<br />

zudem ein gelbes Dreieck, das mit dem anderen Winkel einen Davidstern<br />

ergeben hat, tragen. Gruppen mit gleichartigen Winkeln<br />

bildeten aber keine homogene Gruppe. So wurden z. B. als politische<br />

Häftlinge nicht nur aktive Gegner des Nationalsozialismus eingeliefert<br />

– das Erzählen eines Witzes oder die Freundschaft mit einem<br />

„Fremdarbeiter“ konnten bereits KZ-Haft mit einem roten<br />

Winkel bedeuten. Langbein betonte auch, daß nicht alle „Roten“<br />

ihre Funktionen im Geiste der Kameradschaft ausgeübt und nicht<br />

alle „Grünen“ als Werkzeuge der SS gedient haben, vgl. Hermann<br />

Langbein, Menschen in Auschwitz, Berlin/Wien 1980, S. 29.<br />

4 Siehe Brief vom 8. Juni 1946 von Dipl.-Ing. Simon Wiesenthal an<br />

Dr. Sobek, S. W-C., M -9/10, Yad Vashem/Jerusalem.<br />

5 Beschwerdeprotokoll Linz am 1. 4. 1947, unterschrieben von Rosa<br />

Murlakow. S. W-C, M-9, 79a, Yad Vashem/Jerusalem.<br />

6 Vgl. Der neue Weg. Jüdisches Organ mit amtlichen Mitteilungen<br />

der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (DNW), 5/6, 15. Februar<br />

1946.<br />

7 Akim Lewit überlebte als jüdischer Häftling Buchenwald und wurde<br />

auf der 1. Freien Versammlung der Österreicher ins Präsidium der<br />

Organisation der österreichischen Überlebenden gewählt. Vgl. Erich<br />

Fein/Karl Flanner, Rot-Weiß-Rot in Buchenwald, Wien 1987, S 246.<br />

8 DNW, 1,2/1946, S. 13.<br />

9 Siehe auch das „Rot-Weiß-Rot-Buch“. Gerechtigkeit für Österreich!<br />

Darstellungen. Dokumente und Nachweis zur Vorgeschichte<br />

und Geschichte der Okkupation Österreichs (nach amtlichen Quellen).<br />

1. Teil, Wien 1946. Das Buch stellt Österreich als Opfer des<br />

nationalsozialistischen Aggressors dar, während die Judenverfolgung<br />

verschwiegen wurde.<br />

10 Vgl. DNW, 6/Anfang April 1947, S. 6 und 21/Anfang November<br />

1948, S.3.<br />

11 Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und<br />

die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993, S. 143.<br />

12 DNW, 21/Anfang November 1948, S.3.<br />

13 DNW, 6/Anfang April 1947, S. 6.<br />

14 Ebd., 6/1947, S. 6ff.<br />

15 Vgl. Bailer, S. 45 ff.<br />

16 Karl Mark, 75 Jahre Roter Hund. Lebenserinnerungen, Wien/Köln<br />

1990, S. 169.<br />

17 Innerhalb der ÖVP war Ausweger u. a. auch wegen einer gegen<br />

ihn laufenden Pressekampagne, in der ihm Spendenleistungen an<br />

die KPÖ vorgeworfen worden waren, sehr umstritten. 1949 schien<br />

er als ÖVP-Mandatar im Landtag nicht mehr auf. Vgl. Dirninger<br />

Christian, Die Arbeitgebervertretung im Bundesland Salzburg.<br />

Festschrift für Rudolf Friese, Salzburg Dokumentation Nr. 84,<br />

Schriftenreihe des Landespressebüros, Salzburg 1984, S 83<br />

18 Salzburger Tagblatt, 24. März 1948, S.2.<br />

19 Demokratisches Volksblatt, 13. März 1948, S. 2.<br />

20 Ebd., 20. März 1948, S. 3.<br />

21 Interview mit Heinz Mayer, Präsident des Bundes der Opfer des<br />

politischen Freiheitskampfes in Tirol.<br />

22 Vgl. DNW, 5/Anfang März 1948, S. 12.<br />

23 Ebd., 21/Anfang November 1948, S. 3.<br />

24 Ebd.<br />

25 Brief vom 23. Mai 1946. Ministerialrat Dr. Franz Sobek an den Verband<br />

der politisch Verfolgten für Oberösterreich. S.W.C., M-9/10,<br />

Yad Vashem/Jerusalem.<br />

26 Brief vom 8. Juni 1946 von Dipl.-Ing. Simon Wiesenthal an Dr.<br />

Sobek. S.W.C., M-9/10.<br />

27 DNW, 18/Anfang Oktober 1949, S. 3.<br />

28 Vgl. Bekanntgabe des jüdischen KZ-Verbandes. S.W.C., M-9/83<br />

b/66 b sowie DNW, 22/Anfang Dezember 1947, S. 4.<br />

29 Wiener Zeitung, 21. Juni 1946.<br />

30 Vgl. Brief der Israelitischen Kultusgemeinde vom 9. Mai 1952,<br />

Archiv der IKG Wien.<br />

31 Vgl. Iskult, 35/1955, S. 12.<br />

32 Vgl. ebd., 23/1955, S. 19.<br />

33 Vgl. ebd., 35/1955.<br />

34 Die Gemeinde, 3. Februar 1995 – 3. Adar 5755, sowie 5. April 1995<br />

– 5. Nissan 5755.<br />

102 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


„OHNE DEN STAAT WEITER DAMIT ZU BELASTEN ...“<br />

BRIGITTE BAILER-GALANDA<br />

1<br />

Bemerkungen zur österreichischen Rückstellungsgesetzgebung<br />

Vorbemerkung<br />

Die sogenannte „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts, im eigentlichen Wortsinn<br />

des „Wieder-gut-Machens“ unmöglich, 2 zerfällt in Österreich ebenso wie in der BRD in<br />

zwei große Bereiche: die in erster Linie der Sicherung einer Mindestexistenz der Opfer<br />

dienende Gesetzesmaterie (in Österreich ➤ Opferfürsorgegesetz, in der BRD ➤ Bundesentschädigungsgesetz)<br />

einerseits, und ➤ Gesetze zur Rückstellung entzogenen Eigentums und<br />

Vermögens andererseits. Zu beiden Bereichen liegt bereits eine Reihe deutscher Publikationen<br />

vor, während die österreichische Forschung erst am Anfang steht. 3 Der britische Historiker<br />

Robert Knight legte in seiner ausführlich kommentierten Edition von Auszügen der Kabinetts-<br />

und Ministerratsprotokolle der Nachkriegszeit eine erste, vor allem außenpolitische<br />

Faktoren berücksichtigende Übersicht zur Genese der Rückstellungsgesetze vor. 4 Der vorliegende<br />

Aufsatz versucht die innenpolitischen Gegebenheiten, die Desiderata der Rückstellungsgesetzgebung<br />

und die Auswirkung dieser Gesetze auf die Opfer in einem ersten<br />

Ansatz zu erhellen. Darüber hinaus wären weiterführende Forschungen zu diesem Themenkreis<br />

sehr wünschenswert.<br />

Die Rückstellungsgesetzgebung stellte – obschon eine ganze Reihe anderer Gruppen,<br />

nicht zuletzt auch die Kirchen von dieser Gesetzgebung betroffen waren – für die öffentliche<br />

Meinung ein vorwiegend jüdisches Problem dar, wodurch auch der vorliegende Aufsatz in<br />

erster Linie die Schwierigkeiten jüdischer Opfer, ihr Eigentum zurückzuerhalten, beleuchtet.<br />

Der nationalsozialistische Raubzug<br />

Plünderungen, Enteignungen und die durch nationalsozialistische Verordnungen geregelten<br />

Eigentumsentziehungen betrafen in erster Linie die aufgrund der ➤ Nürnberger Rassengesetze<br />

verfolgte Bevölkerung. 5 Zum Umfang dieser Beraubungen liegen einige von Vertretern<br />

der Opfer Anfang der fünfziger Jahre erstellte Statistiken vor, die den Wert des geraubten<br />

Eigentums und Vermögens mit rund 312 Millionen Dollar (780 Millionen Reichsmark) angaben,<br />

unter Einrechnung der Einkommensverluste ergab sich sogar ein Verlust von rund<br />

1,2 Milliarden Dollar. 6 Statistiken der ➤ Vermögensverkehrsstelle weisen ein aufgrund der<br />

Verordnung zur Anmeldung jüdischen Vermögens angemeldetes Vermögen von<br />

2.041,828.000 RM auf, jüdisches Betriebsvermögen umfaßte ca. 321 Millionen RM. 7 Die<br />

zur Eindämmung der unkontrollierten ➤ „Arisierungen“ und damit zur Sicherung der daraus<br />

resultierenden Gewinne für den NS-Staat im Mai 1938 geschaffene Vermögensverkehrsstelle<br />

übernahm in der Folge die Abwicklung der „ordnungsgemäßen“ „Arisierungen“. 8 Der<br />

überwiegende Teil der zu dieser Zeit noch bestehenden rund 26.000 jüdischen Betriebe<br />

wurde liquidiert, nur 4353 sollten weitergeführt werden. 9 Die in den Folgejahren verabschiedete<br />

Vielzahl antijüdischer Gesetze und Verordnungen beraubte die noch nicht geflüchteten<br />

Juden ihres gesamten Eigentums; selbst Radioapparate, Schiausrüstungen, Wollsachen,<br />

Elektrogeräte und anderes unterlagen nach und nach der Ablieferungspflicht. 10<br />

Unmittelbar nach dem „Anschluß“ erfolgte die Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen<br />

und deren zwangsweise Umsiedlung in Sammelwohnungen. Insgesamt wurden in<br />

Wien schon bis Ende 1938 rund 44.000 der 70.000 Wohnungen mit jüdischen Mietern<br />

auf diese Weise für „arische Volksgenossen“ frei gemacht. Gerhard Botz bezeichnet dies<br />

zu Recht als „Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik“. 11<br />

Im Laufe der NS-Herrschaft wurden noch weitere Bevölkerungsgruppen bzw. Institutionen<br />

ihres Eigentums beraubt: politisch Verfolgte, Kärntner Slowenen, kirchliche Institutionen,<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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103<br />

Umfang der<br />

Beraubung


Gesetz über die<br />

„Erfassung<br />

arisierter<br />

Vermögen“<br />

Erstes Rückstellungsgesetz<br />

Zweites Rückstellungsgesetz<br />

„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“<br />

aufgelöste Vereine, österreichische Unternehmen, aber auch der österreichische Staat infolge<br />

seines Untergangs 1938. Trotzdem geht es wohl an der historischen Realität vorbei,<br />

wenn der Abgeordnete Kolb im Nationalrat meinte, „erster Anspruchsberechtigter“ der<br />

Rückstellungsgesetzgebung sei „die Republik Österreich selber“. 12<br />

Die Anfänge der Rückstellungsgesetzgebung<br />

Alliierte Planungen hatten sich bereits während des Krieges mit der Frage des durch den<br />

nationalsozialistischen Staat entzogenen bzw. geraubten Eigentums befaßt. Die am 5. Jänner<br />

1943 verabschiedete ➤ „Londoner Deklaration“ erklärte alle unter nationalsozialistischer<br />

Besetzung erfolgten Enteignungen und scheinlegalen Vermögensübertragungen für<br />

ungültig. 13<br />

Obschon bereits Anfang Mai 1945 die Provisorische Staatsregierung ein ➤ „Gesetz über<br />

die Erfassung arisierter und anderer im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen<br />

Machtübernahme entzogener Vermögenschaften“ 14 verabschiedet hatte, war die Frage der<br />

individuellen Rückstellung entzogenen Eigentums innerhalb der politisch Verantwortlichen<br />

nicht unbestritten. Die Sozialdemokraten verknüpften die Frage der Rückstellungen sofort<br />

mit der Frage nach der Rückgabe des 1934 geraubten Vermögens ihrer Partei und der ihr<br />

angeschlossenen Organisationen und hatten gleichzeitig, wie übrigens auch die KPÖ, offensichtliche<br />

Reserven gegen die Restaurierung „kapitalistischer“ Vermögen. 15 Die Staatsregierung<br />

sah sich jedoch einerseits unter dem Druck des „Auslandes“, d. h. der Alliierten,<br />

die von Österreich entschiedenes Vorgehen gegen die ehemaligen Nationalsozialisten und<br />

zugunsten deren Opfer verlangten, andererseits aber stand sie auf dem Standpunkt, Österreich<br />

sei an den NS-Verbrechen unschuldig, habe daher keine Wiedergutmachung zu leisten<br />

– „Österreich hat aber nichts gut zu machen, weil es nichts verbrochen hat.“ 16 „Wiedergutmachung“<br />

durfte aus der Sicht der österreichischen Politiker möglichst keine Kosten<br />

verursachen. Dementsprechend entschloß man sich vorerst jene Fälle in Angriff zu nehmen,<br />

in denen Naturalrestitution möglich schien. 17<br />

Im Mai 1946 verabschiedete der Nationalrat das ➤ „Bundesgesetz über die Nichtigerklärung<br />

von Vermögensübertragungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs<br />

erfolgt sind“ 18 , und erkannte damit die in der „Londoner Deklaration“ normierten Prinzipien<br />

an. Doch erst im Herbst 1946 folgte die Vermögensentziehungsanmeldeverordnung, die<br />

die tatsächliche Anmeldung entzogenen Vermögens bis November desselben Jahres vorsah;<br />

die Anmeldepflicht lag dabei beim derzeitigen Inhaber dieses Eigentums, also in vielen<br />

Fällen beim ➤ „Ariseur“. 19<br />

Relativ einfach zu erledigen waren jene Fälle, in denen Eigentum aufgrund nationalsozialistischer<br />

Gesetze, insbesondere der ➤ 11. und ➤ 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz,<br />

und durch ➤ Gestapo-Maßnahmen entzogen worden war und sich nun in der<br />

Verwaltung der Republik befand. Diese Fälle regelte das am 26. Juli 1946 verabschiedete<br />

Erste ➤ Rückstellungsgesetz. 20 Damit hatte aber auch schon die für die österreichischen<br />

Maßnahmen zugunsten der NS-Opfer in der Folge typische Aufsplitterung in eine Reihe<br />

von Einzelgesetzen ihren Anfang genommen. 21 Dies erschwerte den Opfern selbst die<br />

Übersicht und damit die Durchsetzung ihrer berechtigten Forderungen deutlich. Es dauerte<br />

nochmals mehrere Monate, bis am 6. Februar 1947 der Nationalrat das Zweite Rückstellungsgesetz,<br />

betreffend die im Eigentum der Republik befindlichen entzogenen Vermögen,<br />

22 und das in der Folge wichtigste – und am heftigsten umstrittene – Dritte Rückstellungsgesetz,<br />

betreffend Rückstellung von in privater Hand befindlichen entzogenen Vermögen,<br />

23 verabschiedete. Wichtiger, wenn auch nicht unmittelbarer Pate für diese und die<br />

folgenden Gesetze war „das Ausland“; wie das für die Erfassung entzogener Vermögen<br />

geschaffene ➤ Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung im Vortrag<br />

für den Ministerrat zum Ersten Rückstellungsgesetz begründete, sollte dieses Gesetz<br />

verabschiedet werden, „um aber doch der Welt zu zeigen, daß seitens der Republik<br />

Österreich das, was möglich ist, getan wird.“ 24<br />

104 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Das Dritte Rückstellungsgesetz<br />

Dem Dritten Rückstellungsgesetz waren langwierige Diskussionen mit Vertretern der Opfer<br />

vorangegangen. Im Frühjahr 1946 wurde ein von der Rechtsanwaltskammer erstellter<br />

Entwurf veröffentlicht, der wegen deutlicher Bevorzugung der „Ariseure“ und Benachteiligung<br />

der Verfolgten auf die vehemente Kritik der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde und des<br />

➤ „Österreichischen Bundesverbandes ehemals politisch verfolgter Antifaschisten“ stieß. 25<br />

Der im Herbst 1946 dem Ministerrat vorgelegte Gesetzesentwurf für das Dritte Rückstellungsgesetz<br />

wies gleichfalls beträchtliche Mängel auf, indem nach wie vor der „Ariseur“<br />

(im Gesetz „Erwerber“ genannt) gegenüber den Opfern (im Gesetz „geschädigter Eigentümer“)<br />

bessergestellt war. Im Ministerrat drängte Bundesminister Heinl auf eine baldige Beschlußfassung:<br />

„Wir können die Unterstützung des Auslandes nur finden, wenn dieses Gesetz<br />

in Kraft tritt.“ 26 Die Israelitische Kultusgemeinde und der „Österreichische Bundesverband<br />

ehemals politisch verfolgter Antifaschisten“ erarbeiteten ausführliche Stellungnahmen<br />

zum Entwurf, 27 die bereits auf Probleme hinwiesen, die später bei der Handhabung des<br />

Gesetzes auftraten, wie beispielsweise die Verpflichtung des Opfers, dem „Erwerber“ den<br />

➤ Kaufpreis wieder zurückzuzahlen.<br />

In der Realität der Jahre 1938/1939 hatte kaum ein geschädigter Eigentümer je den<br />

Kaufpreis tatsächlich erhalten, geschweige denn diesen auf seiner Flucht ins Ausland mitnehmen<br />

können. Diese Bestimmung wurde in der endgültigen Fassung wohl eingeschränkt,<br />

28 die grundlegende Bestimmung über Gegenleistungen an den Erwerber blieb jedoch<br />

erhalten.<br />

Weiters erhoben die Betroffenen Forderungen zur Lösung des drängenden Problems der<br />

enteigneten Wohnungen. Diesbezüglich vertröstete der Gesetzestext auf weitere, noch zu<br />

erlassende Regelungen. Einen wichtigen Punkt sahen die Opfer in der Schaffung eines<br />

„Wiedergutmachungsfonds“ aus dem erblos gebliebenen Vermögen – rund 65.000 Juden<br />

aus Österreich waren dem Holocaust zum Opfer gefallen. Das dann verabschiedete Gesetz<br />

stellte die Errichtung eines Fonds auf der Grundlage einer noch zu erarbeitenden gesetzlichen<br />

Bestimmung in Aussicht. Letzte Diskussionen über den Entwurf fanden im Rahmen<br />

einer Sachverständigenenquete am 23. Jänner 1947 im Nationalrat statt. 29<br />

Anläßlich der Beschlußfassung betonte der sozialistische Abgeordnete ➤ Dr. Tschadek<br />

(1949-1952 selbst Justizminister), daß Österreich keinerlei Verpflichtung für untergegangenes<br />

oder an das Deutsche Reich gefallenes Vermögen übernehmen könne. Im übrigen<br />

seien die meisten „Ariseure“ ohnehin „reichsdeutsche Geschäftsleute, reichsdeutsche<br />

Krämer“ gewesen, die 1938 nach Wien gekommen seien, „um hier die jüdischen Geschäfte<br />

um einen Pappenstiel zu übernehmen“. 30 Weiters wiederholte Tschadek nochmals<br />

jene Argumente zugunsten der „Erwerber“, die bereits im Vortrag an den Ministerrat im<br />

Oktober 1946 31 vorgebracht worden waren: Viele hätten ja nur auf Bitten der Verfolgten<br />

deren Eigentum übernommen, um ihnen den Weg ins rettende Ausland zu ermöglichen –<br />

eine Argumentation, die in den ab 1948 einsetzenden Angriffen der „Erwerber“ gegen<br />

das Dritte Rückstellungsgesetz in steter Regelmäßigkeit vorgebracht wurde. Insgesamt<br />

zeigten sich die Betroffenen mit dem Gesetzestext zufrieden, 32 die Legal Division bei den<br />

US-Besatzungsbehörden empfahl, dem Gesetz trotz nach wie vor bestehender Mängel<br />

nicht die Zustimmung zu verweigern. 33<br />

Bis 1949 wurden noch vier weitere, in der öffentlichen Diskussion nur wenig beachtete<br />

Rückstellungsgesetze verabschiedet:<br />

Viertes Rückstellungsgesetz zur Wiederherstellung gelöschter oder geänderter Firmen, 34<br />

Fünftes Rückstellungsgesetz zur Rückstellung entzogenen Vermögens juristischer Personen<br />

(Aktiengesellschaften, Genossenschaften u. a.), 35<br />

Sechstes Rückstellungsgesetz zur Rückstellung von Patenten, Marken und Musterrechten, 36<br />

Siebentes Rückstellungsgesetz zur Geltendmachung entzogener oder nicht erfüllter Ansprüche<br />

aus Dienstverhältnissen in der Privatwirtschaft. 37<br />

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Brigitte Bailer-Galanda<br />

105<br />

Mängel im<br />

Dritten Rückstellungsgesetz<br />

Das Problem der<br />

enteigneten<br />

Wohnungen


Benachteiligung<br />

der Geschädigten<br />

in der Rückstellungspraxis<br />

„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“<br />

Das Dritte Rückstellungsgesetz in der Praxis 38<br />

Die Erleichterung der Verfolgtenverbände über die Verabschiedung des Dritten Rückstellungsgesetzes<br />

wich angesichts der Praxis der Rückstellungskommissionen, denen einzelne<br />

Bestimmungen beträchtlichen Ermessensspielraum einräumten, 39 bald der Enttäuschung und<br />

Ernüchterung: „Was wir bisher in legislativer Hinsicht erreicht haben, ist zweifellos als Erfolg<br />

zu buchen. Zu bemängeln ist aber die Art der Handhabung der an sich guten Gesetze,<br />

wogegen wir dauernd und mit unverminderter Kraft ankämpfen.“ 40<br />

Es häuften sich Klagen, daß die Rückstellungskommissionen im Zweifel zugunsten des Erwerbers,<br />

also in vielen Fällen des „Ariseurs“, und damit zu Lasten des Verfolgten entschieden.<br />

41 Noch vor der Beschlußfassung im Nationalrat hatten Vertreter des ➤ World Jewish<br />

Congress in einem Bericht an die US-Besatzungsmacht davor gewarnt, daß das Gesetz dazu<br />

neige, „to favor the interests of the present possessor over those of the legal owners“. 42<br />

Besonders die Praxis des mit der „Erfassung, Sicherung, Verwaltung und Verwertung von<br />

(„arisierten“, Anm. d. Verf.) Vermögenschaften und Vermögensrechten“ 43 betrauten Bundesministeriums<br />

für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung bot häufig Anlaß zu<br />

Kritik. Es mutet wie Zynismus an, daß gerade in diesem Ministerium überproportional viele<br />

Nationalsozialisten mit Sonderverträgen oder als Konsulenten eine Anstellung gefunden<br />

hatten. 44 Vielleicht deshalb entschied das Ministerium bei der Bestellung öffentlicher<br />

Verwalter für „arisiertes“ Eigentum oftmals zugunsten des „Ariseurs“, der damit bis zur Entscheidung<br />

der Rückstellungskommission die Verfügungsgewalt über das Eigentum des<br />

Verfolgten behielt. 45<br />

In diesem Zusammenhang ist den Beschwerden über die unverhältnismäßig lange Dauer<br />

der Rückstellungsverfahren, 46 die nur zu oft in unnotwendigen Behördenwegen und -schikanen<br />

begründet lagen, 47 besonderes Gewicht zuzumessen. Die geschädigten Eigentümer,<br />

oftmals selbst aufgrund der Verfolgung weitgehend mittellos, mußten infolgedessen unverhältnismäßig<br />

lange auf die Möglichkeit der Wiederaufrichtung ihrer Existenz warten und<br />

waren mit dem Risiko der Verschleppung oder Verschlechterung ihres Eigentums konfrontiert.<br />

48 Bis Ende Oktober 1954 waren von 34.539 bis dahin eingelangten Anträgen nach<br />

dem Dritten Rückstellungsgesetz nach wie vor 5181 anhängig. 49<br />

Eines der größten Probleme stellte jedoch eine Bestimmung des Dritten Rückstellungsgesetzes<br />

dar, die vorsah, daß der Verfolgte „als Gegenleistung das rückzustellen“ habe, „was er<br />

zu seiner freien Verfügung erhalten hat“. In jenen Fällen, in denen „bei einer Vermögensentziehung<br />

im übrigen die Regeln des redlichen Verkehrs eingehalten“ worden waren,<br />

konnte „die Rückstellungskommission nach billigem Ermessen (...) bestimmen, ob und welcher<br />

Teil des vom Erwerber bezahlten, vom Eigentümer aber nicht zur freien Verfügung erhaltenen<br />

Kaufpreises dem Erwerber vom geschädigten Eigentümer zu ersetzen ist.“ 50 Diese<br />

Bestimmung bedeutete in den meisten Fällen, daß der ehemals Verfolgte („geschädigte Eigentümer“)<br />

sein ihm zustehendes Eigentum de facto zurückkaufen mußte. Auch die Einschränkung<br />

der „freien Verfügung“, im Gesetz nicht näher definiert, wurde von den Rückstellungskommissionen<br />

unterschiedlich ausgelegt. In Einzelfällen wurde sogar angenommen,<br />

daß die vom Kaufpreis erlegte ➤ Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe dem<br />

Verfolgten zugute gekommen und daher an den „Erwerber“ zurückzuzahlen sei! 51 In den allermeisten<br />

Fällen war der Kaufpreis auf einem ➤ Sperrkonto deponiert worden, von dem<br />

der Verfolgte monatlich nur einen geringen Betrag hatte beheben können. Bei der Ausreise<br />

waren nur 10 oder 20 Reichsmark als Bargeld mitzunehmen gestattet. Die auf den Konten<br />

liegenden Beträge fielen spätestens mit der ➤ 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz aus<br />

1941 an das Deutsche Reich. 52 Der österreichische Staat, der jede Verantwortung für die<br />

Verbrechen des NS-Regimes von sich wies, verweigerte über etliche Jahre die Entschädigung<br />

für diese diskriminierenden Abgaben. Den ehemaligen Verfolgten blieb also, wollten<br />

sie ihr Eigentum zurückerhalten, nur der Weg der Kreditaufnahme. 53 Konnte der Geschädigte<br />

den Kaufpreis nicht aufbringen, so forderte der „Erwerber“ den Verkauf des Eigentums,<br />

um den Kaufpreis zurückzuerhalten. Im Wege der öffentlichen Versteigerung erhielt auf<br />

106 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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diesem Weg der „Ariseur“ in vielen Fällen – entgegen der Absicht des Rückstellungsgesetzes<br />

– das „arisierte“ Eigentum wieder zurück. 54<br />

Eine weitere wesentliche Problematik ergab sich daraus, daß das Dritte Rückstellungsgesetz<br />

den aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch abgeleiteten Begriff des „redlichen Erwerbers“<br />

einführte, der die aus dem „arisierten“ Vermögen erwirtschafteten Gewinne einbehalten<br />

durfte. Da aber der erste „Erwerber“ zumeist wußte, daß er von einem unter Zwang handelnden<br />

Verfolgten kaufte, definierte das Gesetz den „redlichen“ Erwerb dahingehend,<br />

daß dafür zumindest die „Regeln des redlichen Verkehrs“ eingehalten worden waren. Graf<br />

meint dazu in seiner juristischen Kritik des Gesetzes, diese Bestimmung habe „ein paradoxes<br />

Flair, genauso als ob bei einem Banküberfall dann die Regeln des redlichen Verkehrs<br />

eingehalten wären, wenn der Bankräuber den Bankkassier nicht mit ‚Du‘, sondern<br />

höflich mit ‚Sie‘ anspricht.“ 55 In jedem Fall führte diese Bestimmung dazu, daß häufig der<br />

„Erwerber“ die Gewinne der letzten Jahre für sich behalten konnte.<br />

Eine Reihe von Ungerechtigkeiten bei der Durchführung des Rückstellungsgesetzes wären<br />

vermeidbar gewesen, hätte Österreich zumindest in jenen Fällen Zahlungen an die ehemals<br />

Verfolgten geleistet, in denen tatsächlich unschuldige „Erwerber“ (beispielsweise bei<br />

Weiterverkauf an Dritte oder in den Fällen der für die Anlage des Truppenübungsplatzes<br />

Allentsteig enteigneten Döllersheimer Bauern) vorhanden waren oder der Geschädigte aus<br />

anderen Gründen keine Rückstellung seines Eigentums erlangen konnte. Solche Zahlungen<br />

lehnte die Republik jedoch entschieden ab.<br />

Der Widerstand gegen das Dritte Rückstellungsgesetz und Novellierungsversuche 56<br />

Seitens der „Erwerber“, zumeist also der „Ariseure“ selbst, regte sich bereite 1948 heftiger<br />

Widerstand gegen das Gesetz. Sie konstituierten Ende 1948 einen ➤ „Verband der<br />

Rückstellungsbetroffenen“, der in einer eigenen Zeitschrift, „Unser Recht“, gegen die angeblichen<br />

Ungerechtigkeiten des Dritten Rückstellungsgesetzes mobilisierte. Aus Sicht der<br />

„Ariseure“ waren sie alle „redliche Erwerber“ gewesen, denen das Dritte Rückstellungsgesetz<br />

nicht den Schutz, der ihnen zukomme, gewähre. 57 Gleichzeitig begannen zu dieser<br />

Zeit bereits die Parlamentsparteien um die Stimmen der bei der Nationalratswahl 1949<br />

wieder wahlberechtigten Nationalsozialisten zu konkurrieren, so daß die „Rückstellungsbetroffenen“<br />

auf politische Unterstützung rechnen durften, die sich nach dem überraschenden<br />

Wahlerfolg des ➤ Verbandes der Unabhängigen (VdU) 1949 noch deutlich verstärkte,<br />

verstand sich doch der VdU als Vertretung der „Ehemaligen“ im Nationalrat. 58 Schützenhilfe<br />

erhielten „Rückstellungsbetroffene“ und VdU seit Ende 1948 seitens der ÖVP, die sich<br />

bekanntlich unmittelbar um die Stimmen der „Ehemaligen“ bemühte, während die SPÖ die<br />

Gründung des VdU als Sammelbecken für dieses Lager präferierte und letztlich auch<br />

durchsetzte.<br />

Im November 1948 berichtete die US-Legal Division von Bemühungen des Bundesministers<br />

für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, ➤ Peter Krauland, 59 um eine Novellierung<br />

des Dritten Rückstellungsgesetzes, deren Absicht es sei, „to render that law largely<br />

inoperative and to legalize possession by the aryanizers of the property“. 60 Der Bericht<br />

führte zwei wesentliche Punkte der beabsichtigten Änderung an: Der erste zielte auf die<br />

Möglichkeit einer neuerlichen Verhandlung bereits erledigter Fälle zugunsten der „Ariseure“.<br />

Der zweite wollte all jenen, die Österreich nach dem „Anschluß“ verlassen hatten und nicht<br />

zurückgekehrt waren, die Rückstellung ihres Eigentums verweigern. Damit wäre die überwältigende<br />

Mehrheit aller Vertriebenen vom Dritten Rückstellungsgesetz ausgeschlossen<br />

worden. 61 Diese Bemühungen Kraulands dürften ebenso wie die im folgenden genannten<br />

Novellierungsversuche am Widerstand der US-Besatzungsmacht und wohl auch der Briten<br />

gescheitert sein. 62<br />

Vor und unmittelbar nach den Nationalratswahlen 1949 brachten Abgeordnete der<br />

ÖVP Anträge auf Novellierung des Dritten Rückstellungsgesetzes zugunsten der „Erwerber“<br />

ein, 63 deren Inhalt von den „Rückstellungsbetroffenen“ enthusiastisch begrüßt wurde. 64<br />

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Brigitte Bailer-Galanda<br />

107<br />

Der „redliche<br />

Erwerber“


Bundesgesetz<br />

über den<br />

„Härteausgleich“<br />

in Rückstellungsverfahren<br />

Bauern aus<br />

Döllersheim<br />

blieben entschädigungslos<br />

„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“<br />

US-Hochkommissär Keyes wies in einem Brief an Bundeskanzler ➤ Figl im März 1950<br />

nachdrücklich darauf hin, daß die beabsichtigte Novellierung gegen den Artikel 44 des<br />

Entwurfes zum ➤ Staatsvertrag – Artikel 26 im Staatsvertrag 1955 – verstoße. 65 Außerdem<br />

verweigerte die SPÖ-Fraktion die Zustimmung zu dieser Novelle und schlug stattdessen<br />

die Schaffung eines „Härteausgleichs“ vor, der der „Bekämpfung und Beseitigung aller<br />

Härten, die auf Hitler und die Nazi zurückzuführen sind“, dienen sollte. 66 Noch in der letzten<br />

Sitzung des Nationalrates vor der Sommerpause brachten Abgeordnete der Regierungsparteien<br />

einen Antrag „betreffend ein Bundesgesetz über den Härteausgleich in<br />

Rückstellungsfällen und die Errichtung eines Härteausgleichsfonds“ ein. 67 Dieser Antrag<br />

vermischte die Interessen verschiedener Opfergruppen mit jenen der „Ariseure“. Während<br />

gegenüber dem Dritten Rückstellungsgesetz in Teil I und II des Entwurfs deutliche Verschlechterungen<br />

für die ehemals Verfolgten vorgesehen waren, 68 wurde in Teil III ein „Härteausgleich“<br />

u. a. für die „Erwerber“ vorgesehen, der unter anderem „gespeist werden<br />

soll aus dem erblosen Eigentum, einer Abgabe vom Erlös rückgestellten Eigentums, dessen<br />

Verkauf innerhalb eines fünfjährigen Zeitraumes nach der Rückstellung erfolgt“. 69 Aus diesem<br />

Fonds sollten neben Geschädigten, die ihre Ansprüche aufgrund des Dritten und Siebenten<br />

Rückstellungsgesetzes nicht geltend machen konnten, auch „bestimmte besonders<br />

berücksichtigungswürdige Gruppen rückstellungspflichtiger redlicher Erwerber“ entschädigt<br />

werden. Das hieß mit anderen Worten, daß sogenannte „redliche Erwerber“ „arisierten“<br />

Eigentums aus dem Eigentum der von den Nationalsozialisten ermordeten Juden entschädigt<br />

hätten werden sollen! Weiters sah der Entwurf die Auszahlung von Entschädigungen<br />

für erlittene Haftzeiten vor und stellte damit die Erfüllung einer langjährigen Forderung<br />

der Opferverbände in Aussicht. 70<br />

Die ➤ Israelitische Kultusgemeinde war nicht bereit, diesen neuerlichen Angriff auf die<br />

Rechte ihrer geschädigten Mitglieder hinzunehmen, und führte im Konzerthaus eine Protestversammlung<br />

durch; US-Hochkommissär Keyes machte Bundeskanzler Figl in einem Schreiben<br />

vom 1. September 1950 nachdrücklich darauf aufmerksam, daß dieser Entwurf sowohl<br />

der Londoner Deklaration als auch dem Entwurf des Staatsvertrages widersprach. 71<br />

Der Ministerrat beschloß am 5. September, den Antrag zurückzustellen. 72<br />

Doch die Frage einer Novellierung des Dritten Rückstellungsgesetzes blieb weiter auf der<br />

politischen Tagesordnung. 1952 unternahm die Bundesregierung einen neuerlichen Versuch.<br />

Am 17. Juli dieses Jahres beschloß der Nationalrat ein Bundesgesetz „über den Ausgleich<br />

von Härten in Rückstellungsfällen (Wiedererwerbsgesetz)“. 73 Der Text dieses Gesetzes<br />

war nach langwierigen Diskussionen aus dem Gesetzesentwurf 1950 hervorgegangen<br />

und sah unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit des Wiedererwerbs bereits rückgestellten<br />

„arisierten“ Eigentums durch den „Ariseur“ vor. Heftige Kritik rief die Bestimmung<br />

hervor, wonach bei Überschuldung des Eigentümers vor dem März 1938 keine Rückstellung<br />

zu erfolgen gehabt hätte und der „Ariseur“ daher bereits rückgestelltes Eigentum wiedererwerben<br />

hätte dürfen. 74 Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Situation Österreichs<br />

im Jahr 1938 und der infolge der antijüdischen Maßnahmen und Plünderungen noch<br />

vor dem Verkauf ruinierten Geschäfte stellte diese Bestimmung eine dramatische Verschlechterung<br />

der Rückstellungsgesetzgebung dar.<br />

Das Exekutivkomitee des ➤ Alliierten Rates beeinspruchte dieses Gesetz in seiner Sitzung<br />

am 22. 8. 1952 einstimmig, so daß es keine Rechtskraft erlangte. 75 Damit war der letzte<br />

Versuch, die Bestimmungen des Dritten Rückstellungsgesetzes zu Lasten der ehemals Verfolgten<br />

zu unterlaufen, zu Fall gebracht worden. Entschädigungslos blieben damit aber<br />

auch jene Bauern aus Döllersheim, dem heutigen Truppenübungsplatz Allentsteig, die von<br />

NS-Behörden enteignet worden waren und die dafür „arisierten“ Grundbesitz erhalten hatten.<br />

Sie waren rückstellungspflichtig und zählten damit tatsächlich zu Verlierern der Gesetzgebung.<br />

Diese Notlage auf Kosten der ehemals Verfolgten lösen zu wollen, konnte allerdings<br />

nicht angehen. Hier wäre dem österreichischen Staat die Verpflichtung zugekommen,<br />

aus staatlichen Mitteln solche Härten zu beseitigen.<br />

108 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Die nicht erfolgte Rückstellung der Wohnungen 76<br />

Nach dem „Anschluß“ 1938 wurden allein in Wien rund 60.000 Mietwohnungen ihren jüdischen<br />

Besitzern entzogen, 77 zum Teil ohne formale Kündigung des Mietvertrages. Als<br />

nach Kriegsende Verfolgte aus Konzentrationslagern oder dem Ausland zurückkehrten, verfügten<br />

sie über keinen Rechtsanspruch, ihre Wohnungen wieder zurückzuerhalten. Im Wege<br />

des Wohnungsanforderungsgesetzes 78 in Verbindung mit dem Verbotsgesetz konnten<br />

Wohnungen von Nationalsozialisten beschlagnahmt und über das Wohnungsamt wieder<br />

vergeben werden. Angesichts des nahenden Kriegsendes waren zahlreiche Nationalsozialisten<br />

in den Westen geflüchtet, ihre leerstehenden Wohnungen wurden neuerlich vermietet.<br />

Doch diese in den ersten Nachkriegsmonaten erfolgten Einweisungen führten bald zu Konflikten<br />

mit den nationalsozialistischen Vormietern, da diese nur wenig später mit Hilfe der<br />

Gerichte, die die vorläufigen Einweisungen aus dem Jahr 1945 nicht anerkannten, die<br />

Delogierung des eingewiesenen Verfolgten erzielen konnten. In anderen Fällen wiederum<br />

konnte die Ehefrau des nationalsozialistischen Mieters nachweisen, nie Mitglied der NSDAP<br />

gewesen zu sein, und auf diese Weise die Kündigung des Opfers erreichen. 79 Anfang<br />

1950 sah sich Justizminister Tschadek jedenfalls veranlaßt, die Gerichte aufzufordern, die<br />

Delogierung von Opfern nicht länger zuzulassen. 80<br />

Bereits das Dritte Rückstellungsgesetz hatte eine Regelung für die Rückstellung entzogener<br />

Miet- und Bestandsrechte, wovon neben Wohnungen auch Geschäftslokale betroffen gewesen<br />

wären, in Aussicht gestellt. 81 Ein erster Entwurf kam 1947 über Ausschußberatungen<br />

nicht hinaus und wurde angesichts der nahenden Wahlen 1949 wieder fallengelassen. 82<br />

Obschon Bundeskanzler Figl von US-Hochkommissär Keyes mehrmals aufgefordert wurde,<br />

endlich ein Gesetz zur Wohnungsrückstellung zu verabschieden, 83 zeigte sich die Bundesregierung<br />

in dieser Frage unnachgiebig. Bundesminister Tschadek bezeichnete 1950 ein<br />

solches Gesetz als „eine absolute Gefahr“, da dadurch „eine unbedingte Beunruhigung<br />

unter der Bevölkerung entstehen“ würde. 84 Ein trotzdem in diesem Jahr dem Nationalrat zugegangener<br />

Entwurf wies zahlreiche Mängel und Einschränkungen auf, die von der Israelitischen<br />

Kultusgemeinde kritisiert wurden. 85 In der folgenden Gesetzgebungsperiode wurde<br />

ein neuerlicher, dem vorhergehenden ähnlicher und wiederum ungenügender Entwurf vorgelegt,<br />

86 der abermals nicht bis zur Behandlung im Nationalrat gedieh. Aufgrund dieses<br />

Zögerns der Bundesregierung, hier in der unmittelbaren Konkurrenzsituation zwischen Opfern<br />

und Tätern zugunsten der Opfer zu entscheiden, mußten zahlreiche mittellose Rückkehrer,<br />

so sie nicht anderwärts Wohnraum erhalten konnten, über Jahre hinweg in Massenquartieren<br />

und anderen unzureichenden Unterkünften leben, während die „Ariseure“ ihre<br />

ehemaligen Wohnungen nach wie vor innehatten. Ein Memorandum des ➤ „Claims Committee“<br />

wies 1953 darauf hin, daß nach wie vor 800 Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

in „unerträglichen Untermieten oder in Rückkehrerlagern oder sogar in Obdachlosenherbergen“<br />

leben mußten. 87 Der bereits erwähnte Jurist ➤ Dr. Walther Kastner, der nach<br />

eigenen Angaben selbst in einer vormals einem Juden gehörenden Wohnung lebte, 88 stellt<br />

als Begründung für die Nicht-Verabschiedung dieses Gesetzes fest: „Diese Regelung hätte<br />

der Interessenslage tatsächlich nicht entsprochen. Es ist zu bedenken, daß in Wien 1938<br />

fast 200.000 Juden gewohnt hatten, aber gegenwärtig nur etwa 7000 Juden wieder in<br />

Wien ansässig sind.“ 89 Wieviele aus Österreich vertriebene Menschen nicht zurückkehrten,<br />

weil sie keine Möglichkeit sahen, hier wieder Wohnung und Existenz zu finden, wird sich<br />

wohl nie feststellen lassen.<br />

Weitere Maßnahmen<br />

In der zweiten Hälfte der fünfziger und zu Anfang der sechziger Jahre wurde noch eine<br />

Reihe von Gesetzen zur Erfüllung offener Entschädigungsforderungen vom Nationalrat verabschiedet.<br />

Anlaß dazu waren unter anderem die seit 1953 laufenden Verhandlungen des<br />

„Committee for Jewish Claims on Austria“ mit der österreichischen Bundesregierung sowie<br />

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Brigitte Bailer-Galanda<br />

109<br />

Massenquartiere<br />

und<br />

unzureichende<br />

Unterkünfte


„Kriegs- und<br />

Verfolgungssachschädengesetz“<br />

Erfassung des<br />

„erblosen“<br />

Vermögens<br />

„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“<br />

die Bestimmungen des Artikels 26 des Staatsvertrages, die die Republik zur Rückstellung<br />

entzogenen Eigentums verpflichteten. 90<br />

Das Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz 91 1958 sah teilweisen Ersatz für Hausrat<br />

und Wohnungseinrichtungen vor, die infolge von Kriegseinwirkungen oder politischer Verfolgung<br />

verloren gegangen waren. Entschädigung wurde aber nur bis zu einer gewissen<br />

Höhe und abhängig vom Jahreseinkommen des Geschädigten geleistet. Auf diese Weise<br />

war wiederum – so wie auch in der Opferfürsorgegesetzgebung und teilweise aufgrund<br />

der „Billigkeitserwägungen“ im Dritten Rückstellungsgesetz – eine Verschränkung von Entschädigung<br />

und sozialer Bedürftigkeit vorgenommen worden. Gleichfalls 1958 verabschiedete<br />

der Nationalrat das Gesetz zur Entschädigung für vom Deutschen Reich eingezogene<br />

Lebensversicherungen, dessen Anmeldefrist aber nur auf ein Jahr bemessen war, 92 so daß<br />

nicht in Österreich lebende Verfolgte oft erst zu spät davon erfuhren. 93<br />

Nachdem seit 1945 auf die Erfassung des erblos gebliebenen jüdischen Eigentums gedrängt<br />

worden war, die auch das Dritte Rückstellungsgesetz bereits in Aussicht gestellt<br />

hatte, wurde im Auffangorganisationsgesetz 94 die Gründung von ➤ Sammelstellen zur Erfassung<br />

des erblosen Vermögens ermordeter Juden und politisch Verfolgter bestimmt. 95<br />

Erst am 22. März 1961 verabschiedete der Nationalrat das Gesetz über den „Fonds zur<br />

Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter“. 96 Mit Hilfe dieses Fonds sollten infolge<br />

nationalsozialistischer Verfolgung erlittene Verluste an Wertpapieren, Bankkonti und<br />

Bargeld sowie Verluste infolge erzwungener Entrichtung diskriminierender Abgaben und<br />

Steuern (Judenvermögensabgabe, Reichsfluchtsteuer) entschädigt werden. Kleinere Verluste<br />

wurden zu 100 %, größere mit 48,5 %, jedoch mindestens mit öS 47.250,- entschädigt. 97<br />

Zusammenfassung<br />

Da die Republik Österreich aus außenpolitischen Opportunitätserwägungen bis zur Regierungserklärung<br />

aus dem Juli 1991 98 jede Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes<br />

dem Deutschen Reich anlastete und für sich und seine Staatsbürger leugnete, wiesen die verantwortlichen<br />

Politiker seit Kriegsende jede Verpflichtung zu Entschädigungsleistungen und<br />

„Wiedergutmachung“ strikt von sich. Daher wurde auch die Rückstellungsgesetzgebung auf<br />

jene Schäden beschränkt, in denen eine Naturalrestitution möglich war. Vor allem im Dritten<br />

Rückstellungsgesetz war aber der Rückzug des Staates aus der Verantwortung in mehrfacher<br />

Hinsicht problematisch. Die Delegation an den unmittelbaren Konflikt zwischen dem „Erwerber“<br />

und dem ehemals Verfolgten bedingte in vielen Fällen per se bereits ein Ungleichgewicht:<br />

Der zurückgekehrte „geschädigte Eigentümer“ war in vielen Fällen mittellos, benötigte<br />

die Rückstellung zur Wiederaufrichtung seiner Existenz, verfügte jedoch gleichzeitig nicht<br />

über jenes Beziehungsnetz, das dem „Erwerber“ zur Verfügung stand, den Anwaltskosten<br />

und langwierige Verfahren lange nicht im selben Ausmaß belasteten. Darüber hinaus erzeugte<br />

die staatliche Absenz tatsächliche Ungerechtigkeiten für beide Seiten. Nicht mehr<br />

auffindbares entzogenes Eigentum wurde nicht ersetzt – oder erst in den späten fünfziger<br />

Jahren – , Käufer, die wirklich nicht über die Vorgeschichte ihres Besitzes informiert waren<br />

und diesen später rückstellen mußten, gingen manches Mal dann entschädigungslos aus,<br />

wie eben einige der aus dem Gebiet von Döllersheim abgesiedelten Bauern.<br />

1 Erläuternde Bemerkungen zu dem Gesetz über die Nichtigkeit<br />

von Vermögensentziehung (3. Rückstellungsgesetz), 45. Sitzung<br />

des Ministerrates, 12. 11. 1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht,<br />

Ministerratsprotokolle, Karton 4.<br />

2 Zur Diskussion des Begriffes der „Wiedergutmachung“ siehe: Brigitte<br />

Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die<br />

Aus: Zeitgeschichte, Nr.11/12, 1993, Studien Verlag, S. 367-381.<br />

Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993, S. 12 ff.<br />

3 Siehe dazu auch die Literaturdiskussion in Bailer, a. a. O., 14 ff. sowie<br />

Literaturverzeichnis.<br />

4 Robert Knight, „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“.<br />

Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945<br />

bis 1952 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt/M. 1988.<br />

110 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


5 Die „Nürnberger Gesetze“ betrafen neben den Mitgliedern der<br />

Kultusgemeinden auch zahlreiche Menschen, die selbst keine jüdische<br />

Identität mehr hatten, sowie sogenannte „Mischlinge“, mit<br />

Juden verheiratete Personen usw.<br />

6 Dr. F. R. Bienenfeld, Dr. C. Kapralik, Draft Memorandum on Losses<br />

of Austrian Jewry, 19. 5. 1953, Nachlaß Albert Loewy, Institut für<br />

Zeitgeschichte der Universität Wien. Dieselbe Summe nennt<br />

Gustav Jellinek, Die Geschichte der österreichischen Wiedergutmachung,<br />

in: Josef Fraenkel, The Jews of Austria. Essays on their<br />

Life, History and Destruction, London 1967, S. 396.<br />

7 Gertraud Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle als Arisierungsbehörde<br />

jüdischer Betriebe, Diplomarbeit am Institut für Wirtschafts-<br />

und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien,<br />

Wien 1989, S.18 ff., S. 166.<br />

8 Zur Geschichte der Vermögensverkehrsstelle und Durchführung<br />

der „Arisierungen“ siehe Gertraud Fuchs, a. a. O.<br />

9 a. a. O., S. 166.<br />

10 Siehe dazu unter anderen: Jonny Moser, Die Verfolgung der Juden,<br />

in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Widerstand und Verfolgung in Wien 1934-1945, Wien 1975,<br />

Band 3, S. 195 ff.; Elisabeth Klamper, Die Situation der jüdischen<br />

Bevölkerung in Wien vom Ausbruch bis zum Ende des Krieges, in:<br />

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (<strong>Hrsg</strong>.),<br />

Jüdische Schicksale, Berichte von Verfolgten , Wien 1992, S. 164 ff.<br />

11 Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportationen in Wien<br />

1938-1945. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer<br />

Sozialpolitik, Wien 1975, bes. S. 28; zur Vorgangsweise<br />

der Gemeinde Wien: Herbert Exenberger; Johann Koss, Brigitte<br />

Ungar-Klein, „Kündigungsgrund Nichtarier“. Aus- und Umsiedlungen<br />

jüdischer Mieter aus Wiener kommunalen Wohnbauten in<br />

den Jahren 1938/39, Projekt P 7835-HiS, Fonds zur Förderung der<br />

wissenschaftlichen Forschung. Wien 1992.<br />

12 Stenographisches Protokoll der 14. Sitzung des Nationalrates der<br />

Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 15. 5. 1946.<br />

13 Knight, a. a. O., S. 263.<br />

14 StGBI. Nr. 10, 10. 5. 1945.<br />

15 Siehe beispielsweise Karl Renner in der 5. Kabinettsratssitzung<br />

vom 10. 5. 1945, zitiert in: Knight, a. a. O., S. 83; Dr. Alfred Migsch,<br />

Zur Versorgung der Opfer des Naziterrors. Es darf keine persönliche<br />

Bereicherung geben! Informationsdienst der Sozialistischen<br />

Partei Österreichs, Sondernummer vom 5. Juni 1945; Kommunistische<br />

Partei Österreichs (<strong>Hrsg</strong>.), Rothschild greift nach Österreich,<br />

o. J.<br />

16 Der Abgeordnete Kolb als Berichterstatter zum Nichtigerklärungsgesetz,<br />

stenographisches Protokoll der 14. Sitzung des Nationalrates<br />

der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 15. 5. 1946.<br />

17 Vgl. dazu das Memorandum der Staatskanzlei, Auswärtige Angelegenheiten:<br />

„Die außenpolitische und die völkerrechtliche Seite<br />

der Ersatzansprüche der jüdischen Naziopfer“, abgedruckt in<br />

Knight, a. a. O., insbes. S. 107.<br />

18 BGBI. 106/1946.<br />

19 Siehe dazu auch Gottfried Klein, 1938-1968. Dreißig Jahre: Vermögensentziehung<br />

und Rückstellung, in: Österreichische Juristenzeitung,<br />

24. Jahrgang, 11. Februar 1969. Zur Entwicklung aus der<br />

Sicht der Opfer siehe: Akim Lewit, Wiedergutmachung, in: Mahnruf<br />

für Freiheit und Menschenrecht. Organ des österreichischen<br />

Bundesverbandes ehemals politisch verfolgter Antifaschisten, Nr.<br />

1, 15. 11. 1946.<br />

20 BGBI. 156/1946; siehe zu dieser Entwicklung auch Der neue Weg,<br />

Nr. 41/42, 15. 11. 1946.<br />

21 In Deutschland waren sowohl Entschädigung als auch Rückstellung<br />

– dort „Rückerstattung“ – kompakter zusammengefaßt.<br />

22 Bundesgesetz über die Rückstellung entzogener Vermögen, die<br />

sich im Eigentum der Republik Österreich befinden, BGBI. 53/1947.<br />

23 Bundesgesetz über die Nichtigkeit von Vermögensentziehungen,<br />

BGBI. 54/1947.<br />

24 BM für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, Vortrag an<br />

den Ministerrat über die Rückstellung entzogener Vermögen, die<br />

sich in Verwaltung des Bundes oder eines Bundeslandes befinden<br />

(1. Rückstellungsgesetz), ZI. 11.447-1/1946. Vorgelegt bei der 26.<br />

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Brigitte Bailer-Galanda<br />

Sitzung des Ministerrates am 18. 6. 1946. Archiv der Republik, BM<br />

für Unterricht, Ministerratsprotokolle, Karton 3.<br />

25 Der neue Weg, Nr. 13/14, 15. 4. 1946; Bericht des Präsidiums der<br />

Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den<br />

Jahren 1945-1948, Wien 1948, S. 21 f.; Mahnruf für Freiheit und<br />

Menschenrecht, Nr. 2, 31. 1. 1947. Zur Geschichte des damals überparteilichen<br />

Bundesverbandes siehe Bailer, a. a. O., S. 45-52.<br />

26 Knight, a. a. O., S. 153.<br />

27 Vgl. Der neue Weg, Nr. 41/42, 15. 11. 1946; Nr. 45/46, 15. 12. 1946,<br />

Nr. 2, Anfang Februar 1947; Schreiben Ministerialrat Dr. Franz<br />

Sobek namens der Rechtskommission des Bundesverbandes vom<br />

5. 12. 1946, Archiv der SPÖ, Korrespondenz des Bundes Sozialistischer<br />

Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus, Mappe I.<br />

28 Paragraph 6 Abs. 1.<br />

29 Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, a.<br />

a. O., S. 22.<br />

30 Stenographisches Protokoll der 44. Sitzung des Nationalrates der<br />

Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 6. 2. 1947.<br />

31 Vortrag für den Ministerrat zu dem Entwurf eines Bundesgesetzes<br />

über die Nichtigkeit von Vermögensentziehungen (Drittes Rückstellungsgesetz),<br />

vorgelegt bei der 45. Sitzung des Ministerrates<br />

am 12. 11. 1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht, Ministerratsprotokolle,<br />

Karton 4.<br />

32 Der neue Weg, Nr. 13, Mitte Juli 1948; Bericht des Präsidiums der<br />

Israelitischen Kultusgemeinde Wien, a. a. O., S. 21 f.<br />

33 Draft reply to Cable Ref. No. 93346, 6 March 1947. Institut für<br />

Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, Karton<br />

Rückstellung 1947.<br />

34 BGBI. 143/1947.<br />

35 BGBI. 164/1949.<br />

36 BGBI. 199/1949.<br />

37 BGBI. 207/1949. Kurze, wenn auch mit Rücksicht auf die Biographie<br />

des Verfassers zu lesende Anmerkungen zu diesen und anderen<br />

Gesetzen finden sich in: Walther Kastner, Entziehung und<br />

Rückstellung, in: Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung<br />

und Rechtswissenschaft in Österreich unter der Herrschaft des<br />

Nationalsozialismus, Wien 1990, S. 191-225. Zur Person Kastners<br />

siehe Fußnote 44.<br />

38 Eine ausführliche Dokumentation der Problematik muß einem<br />

größeren Forschungsprojekt vorbehalten bleiben.<br />

39 Beispielsweise bei der Entscheidung, welche Erträge aus dem „arisierten“<br />

Eigentum an die Verfolgten zurückzustellen seien und in<br />

welchen Fällen der Verfolgte den Kaufpreis an den Erwerber<br />

zurückzuzahlen habe.<br />

40 Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, a.<br />

a. O., S. 21.<br />

41 Vgl. Dr. Rudolf Braun, Die Rückstellung in Gesetzgebung und Praxis,<br />

in: Die Gemeinde, Nr. 2, März 1949.<br />

42 Bericht von Abraham S. Hyman an The Commanding General,<br />

United States Forces, Austria, vom 4. 2. 1947. Institut für Zeitgeschichte<br />

der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, Karton<br />

Rückstellung 1947.<br />

43 Bundesgesetz vom 1. Februar 1946 über die Errichtung eines Bundesministeriums<br />

für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung,<br />

BGBI. 56/1946.<br />

44 Stenographisches Protokoll der 97. Sitzung des Nationalrates der<br />

Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 14. 12. 1948. Der<br />

kommunistische Abgeordnete Honner führte einige markante<br />

Fälle namentlich an. Auch Walther Kastner, als Prokurist der<br />

Kontrollbank für die „Arisierung“ von Großbetrieben zuständig<br />

gewesen, war nach dem Krieg als Fachmann für Rückstellungen<br />

ins Krauland-Ministerium geholt worden. Siehe dazu ausführlicher:<br />

Bailer, a. a. O., S. 259.<br />

45 Vgl. beispielsweise Der neue Weg, Nr. 15, Mitte August 1947; Nr.<br />

20, November 1947; Nr. 22, Anfang Dezember 1947; Weltenwende<br />

zu Vernunft und Menschlichkeit. Unabhängige demokratische<br />

Zeitschrift, Oktober 1948.<br />

46 Vgl. beispielsweise Der neue Weg, Nr. 23, Mitte Dezember 1947;<br />

Die Gemeinde, Nr. 2, März 1948; Der sozialistische Kämpfer, Nr.<br />

4/6, Juni 1950.<br />

111


„Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“<br />

47 Vgl. beispielsweise stenographisches Protokoll der 38. Sitzung des<br />

Nationalrates der Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode,<br />

8. 12. 1950. Der Abgeordnete Dr. Scheff (ÖVP) kritisierte die umständlichen<br />

Vorbedingungen für die Erlangung eines Auszuges<br />

aus dem Grundbuch, die die Dauer der Rückstellungsverfahren<br />

unnötig verlängerten.<br />

48 Dies kommt auch in Interviews mit Verfolgten oftmals zum Ausdruck.<br />

Vgl. das Interview mit „Otto Vogel“ in: Dokumentationsarchiv<br />

des österreichischen Widerstandes (<strong>Hrsg</strong>.), Jüdische Schicksale.<br />

Berichte von Verfolgten, S. 684 f.<br />

49 Statistik über den Stand der Rückstellungsverfahren von Ende Oktober<br />

1954. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß<br />

Albert Loewy, Karton Rückstellung Statistiken.<br />

50 Paragraph 6 Abs. 1 in Verbindung mit Paragraph 5 Abs. 2 des 3.<br />

Rückstellungsgesetzes.<br />

51 Juristisch fundierte Kritik an dieser Praxis siehe: Georg Graf,<br />

Arisierung und keine Wiedergutmachung. Kritische Anmerkungen<br />

zur jüngeren österreichischen Rechtsgeschichte, in: P. Muhr,<br />

P. Feyerabend, C. Wegeler (<strong>Hrsg</strong>.), Philosophie – Psychoanalyse –<br />

Emigration, Wien 1992, S. 73 ff.<br />

52 Vgl. Fuchs, a. a. O., S. 201 ff.<br />

53 Vgl. Die Gemeinde, Nr. 2, März 1948.<br />

54 Bericht Dr. F. R. Bienenfeld vom Committee for Jewish Claims on<br />

Austria, o. D. (1953), 9. Institut für Zeitgeschichte der Universität<br />

Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand.<br />

55 Graf, a. a. O., S. 72.<br />

56 Zu dieser Problematik siehe auch die Arbeit von Robert Knight, a.<br />

a. O.<br />

57 Vgl. beispielsweise „Wir klagen nicht an, sondern fordern Gerechtigkeit“,<br />

in: Unser Recht. Organ zur Wahrung der Interessen der<br />

Rückstellungs-Betroffenen, Nr. 4, 1. Jg., Dezember 1948.<br />

58 Vgl. dazu Bailer, a. a. O., S. 256 ff.<br />

59 Ab Sommer 1950 verdichteten sich die Gerüchte um Mißbrauch<br />

der Amtsgewalt und Parteienfinanzierung rund um Kraulands<br />

Tätigkeit, die zu seiner Verhaftung und mehreren Prozessen führten,<br />

wobei Krauland selbst freigesprochen, seine Mitarbeiter<br />

jedoch verurteilt wurden. Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />

Widerstandes, Österreichische Gesellschaft für Quellenkunde<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Christlich-ständisch-autoritär. Mandatare im Ständestaat<br />

1934-1938, Wien 1991, S. 133.<br />

60 Vertraulicher Bericht der Legal Division, A. Loewy, H. L. Sultan,<br />

vom 17. 11. 1948. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien,<br />

Nachlaß Albert Loewy, Karton Rückstellung 1949.<br />

61 a. a. O.<br />

62 Die Verifizierung dieser Vermutung bedingt noch weitergehende<br />

Archivrecherchen.<br />

63 Stenographisches Protokoll der 114. Sitzung des Nationalrates der<br />

Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 22. 6. 1949; der 3.<br />

Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode,<br />

23. 11. 1949. Der Entwurf sah beispielsweise vor,<br />

daß es nicht als Vermögensentziehung zu gelten habe, wenn der<br />

in jüdischem Besitz befindliche Betrieb bereits vor dem März 1938<br />

wirtschaftliche Schwierigkeiten gehabt hätte!<br />

64 Unser Recht, Folge 16, September 1949.<br />

65 Knight, a. a. O., S. 221 f.<br />

66 Der sozialistische Kämpfer, Nr. 7/8, Juli/August 1950.<br />

67 Stenographisches Protokoll der 30. Sitzung des Nationalrates der<br />

Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode, 14. 7. 1950. Zu<br />

den Details der Vorgangsweise siehe Knight, a. a. O., S. 227 f.<br />

Knight nennt irrtümlich den 13. 7. als Einbringungstag.<br />

68 Möglichkeit der Revision bereits erledigter Fälle, das Vorsehen einer<br />

Enteignungsmöglichkeit nach erfolgter Rückstellung u. a.<br />

Knight, a. a. O.; Der sozialistische Kämpfer, Folge 7/8 Juli/August<br />

1950.<br />

69 Der sozialistische Kämpfer, ebda.<br />

70 Zur Auseinandersetzung um die Haftentschädigung siehe Bailer,<br />

a. a. O., S. 62-77.<br />

71 Knight, a. a. O., S. 229 ff.<br />

72 Knight, a. a. O., S. 232 ff.<br />

73 Stenographisches Protokoll der 96. Sitzung des Nationalrates der<br />

Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode, 17. 7. 1952.<br />

74 Details finden sich: Stenographisches Protokoll der 96. Sitzung<br />

des Nationalrates, a. a. O., sowie Bericht (vermutlich der Legal<br />

Division) über Restitution Legislation in Austria, o. D., Institut für<br />

Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter<br />

Bestand.<br />

75 Vertraulicher Bericht The Problem of Internal Restitution, o. D.,<br />

Institut für Zeitgeschichte, a. a. O.<br />

76 Bei dieser Frage muß auch der Wert der Wohnungen mitberücksichtigt<br />

werden, den diese nach heutigen Maßstäben darstellen,<br />

sowie die Kosten, die den Verfolgten durch die neuerliche Notwendigkeit<br />

der Wohnraumbeschaffung nach 1945 erwuchsen.<br />

77 Siehe Fußnote 11.<br />

78 StGBI, 138/1945, vom 22. 8. 1945.<br />

79 Siehe dazu unter anderen: Der sozialistische Kämpfer, Nr. 7/8,<br />

Juli/August 1950.<br />

80 Neues Österreich, 19. 1. 1950.<br />

81 Paragraph 30 des 3. Rückstellungsgesetzes.<br />

82 Bericht der Legal Division „Present status of Restitution Legislation<br />

in Austria“ vom 27. 10. 1948. Institut für Zeitgeschichte der<br />

Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand.<br />

83 Knight, a. a. O., S. 215 ff., S. 221 f., S. 236 f.<br />

84 Knight, a. a. O., S. 233.<br />

85 Dr. Rudolf Braun, Das 8. Rückstellungsgesetz. Bemerkungen zur<br />

Regierungsvorlage. Institut für Zeitgeschichte der Universität<br />

Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand. Das Rückstellungsgesetz<br />

für Miet- und Bestandsrechte wurde vorerst als<br />

5. Rückstellungsgesetz angekündigt, aufgrund des Aufschubs<br />

wäre es das 8. Rückstellungsgesetz gewesen.<br />

86 Schreiben des Rechtsbüros der Israelitischen Kultusgemeinde Wien<br />

an das Bundesministerium für soziale Verwaltung, 13. 10. 1953.<br />

Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert<br />

Loewy, ungeordneter Bestand.<br />

87 Vereinigter Exekutivausschuß für jüdische Forderungen an Österreich,<br />

Memorandum über Ansprüche aus dem Titel entzogener<br />

Wohnungen, 1. 7. 1953. Institut für Zeitgeschichte der Universität<br />

Wien, Nachlaß Albert Loewy.<br />

88 Gespräch der Autorin mit Dr. Walther Kastner, Tonbandprotokoll<br />

im Privatbesitz von Dr. Gabriele Anderl.<br />

89 Walther Kastner, Entziehung und Rückstellung, in: U. Davy et al.<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung und Rechtswissenschaft<br />

in Österreich unter der Herrschaft des Nationalsozialismus,<br />

Wien 1990, S. 196.<br />

90 Siehe dazu Dietmar Walch, Die jüdischen Bemühungen um die<br />

materielle Wiedergutmachung durch die Republik Österreich,<br />

Wien 1971; Bailer, a. a. O., S. 77-93.<br />

91 BGBI, 127/1958 vom 25. 6. 1958. Zur Vorgeschichte siehe Bailer, a.<br />

a. O., S. 83 ff.<br />

92 BGBI, 130/1958 vom 26. 6. 1958. Die Anmeldefrist endete mit 30.<br />

6. 1959.<br />

93 Vgl. Albert Sternfeld, Betrifft: Österreich. Von Österreich betroffen,<br />

Wien 1990, S. 206 ff.<br />

94 BGBI, Nr. 73/1957 vom 13. 3. 1957.<br />

95 Zur Tätigkeit der Sammelstellen siehe den Bericht von Dr. Georg<br />

Weis, Sammelstelle A, B. Schlußbericht (1957-1969); Walch, a. a.<br />

O., S. 111-138.<br />

96 BGBI, Nr. 100/1961 vom 22. 3. 1961.<br />

97 Maßnahmen der Republik Österreich zugunsten bestimmter<br />

politisch, religiös und abstammungsmäßig Verfolgter seit 1945,<br />

hrsg. v. Bundespressedienst, Wien 1986 (Österreich-Dokumentationen,<br />

9). Zur Vorgeschichte des Fonds siehe Bailer, a. a. O. Zum<br />

Vergleich des Geldwertes: die durchschnittliche Alterspension<br />

eines Angestellten betrug 1961 S 1500.-.<br />

98 Bundeskanzler Dr. Vranitzky erklärte vor dem Nationalrat, Österreich<br />

müsse sich „zur Mitverantwortung für das Leid, das zwar<br />

nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über<br />

andere Menschen und Völker gebracht haben“, bekennen. Zitiert<br />

nach: Salzburger Nachrichten, 9. 7. 1991.<br />

112 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


REHABILITIERUNG DER JUDEN ODER MATERIELLE WIEDERGUTMACHUNG – EIN VERGLEICH<br />

FRANK STERN<br />

Sechs Millionen Morde kann man nicht wiedergutmachen, Milliarden geraubten Vermögens<br />

nicht wirklich rückerstatten. Den Überlebenden ist nichts anzudienen, was ihrem Leben<br />

ohne Hitler, ohne den Nationalsozialismus, ohne das deutsche Gas entsprechen könnte.<br />

Insofern läuft der jahrzehntelange Disput über die sogenannte Wiedergutmachung im<br />

Widerspruch zu zahlreichen Veröffentlichungen auf eine einfache Tatsache hinaus: Es kann<br />

keine Wiedergutmachung für die Verbrechen des Dritten Reiches geben, genausowenig<br />

wie die Vertreibung der Juden aus Spanien vor fünfhundert Jahren, die das Schicksal der<br />

europäischen Judenheit für lange Jahrhunderte prägte, irgendwie durch nachträgliche Maßnahmen<br />

gelindert oder rückgängig gemacht werden könnte.<br />

Die Einzigartigkeit der Verbrechen Nazi-Deutschlands an den Juden Europas entzieht<br />

sich den vereinfachenden Kategorien juristischen Denkens. Ich möchte daher nicht den in<br />

der Bundesrepublik üblichen Aufzählungen, wieviel D-Mark denn nun schon seit 1952 an<br />

die Juden und den Staat Israel gezahlt worden seien, folgen oder den in Österreich<br />

üblichen Zahlenreihen, wieviel Rückstellungsanträgen denn nun entsprochen worden sei.<br />

Rückerstattung, Rückstellung und Entschädigungen sind nach 1945 in der Bundesrepublik<br />

Deutschland und in Österreich nur zum Teil und nur gegen große Widerstände erfolgt.<br />

Angesichts der historischen Dimensionen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik<br />

kann es hier bis heute nur materielle Annäherungen geben, und die Peinlichkeit von Argumentationsweisen,<br />

die Verfolgung, Raub und Massenmord mit Geldsummen aufrechnen,<br />

möchte ich dahingestellt sein lassen. Worum es mir geht, ist die Frage, warum es weder in<br />

der politischen Kultur Deutschlands noch der Österreichs nach 1945 etwas gegeben hat,<br />

was man über materielle Leistungen hinaus als umfassende Rehabilitierung der Juden<br />

bezeichnen kann.<br />

Betrachten wir zunächst Überlegungen, wie sie im Hinblick auf diesen Problemkomplex<br />

von jüdischer Seite seit Beginn der antijüdischen Politik des Dritten Reiches angestellt wurden.<br />

Daran anschließend möchte ich dann in zwei weiteren Punkten die konkrete Politik<br />

der Rückstellung/-erstattung und der Wiedergutmachung nach 1945 sowie die „Kehrseite<br />

der Wiedergutmachung“, die negativen individuellen Folgen für viele der Betroffenen, skizzieren.<br />

Dabei soll das Schwergewicht nicht auf den an Zahl zunehmenden Veröffentlichungen<br />

liegen, die mitunter minutiös den politischen, rechtlichen und diplomatischen Entscheidungsprozeß<br />

darstellen, der in der Bundesrepublik Deutschland im Unterschied zu Österreich<br />

bereits seit 1952 zu den sogenannten Wiedergutmachungsleistungen führte. Es ist oftmals<br />

ein Problem solcher entscheidungsorientierter Studien, daß sie weder die Konzeption<br />

der Wiedergutmachung in Frage stellen noch die politisch-kulturellen Bedingungen des Umgangs<br />

der Nachkriegsdeutschen und Nachkriegsösterreicher mit jüdischer Vergangenheit<br />

und Gegenwart berücksichtigen. 1<br />

Umfassende Rehabilitierung oder materielle Leistungen<br />

Fragen der Reparationen, der Rückstellung/-erstattung, der Wiedergutmachung waren von<br />

jüdischer Seite bereits vor 1939 Gegenstand von Überlegungen und wurden auf Treffen<br />

jüdischer Repräsentanten in den Kriegsjahren zunehmend thematisiert. 1943 publizierte<br />

Siegfried Moses, der 1949 der erste Staatskontrolleur (Ombudsmann) Israels wurde, eine<br />

Schrift unter dem Titel „Die Wiedergutmachungsforderungen der Juden“, in der er die politische<br />

Arbeit zur Einflußnahme auf die Gestaltung der Entschädigungsregelung als vordringlich<br />

bezeichnete. 2 Im Unterschied zu allen bekannten Formen von Wiedergutmachung<br />

handle es sich, so Siegfried Moses, um eine grundlegend neue Frage, die aus dem Charakter<br />

des Nationalsozialismus und daraus resultiere, daß es „ein Krieg der Demokratie gegen<br />

den Faschismus“ sei. 3<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

113


Das „Londoner<br />

Abkommen“ 1943<br />

„Wiedergutmachung“<br />

als<br />

Prüfstein für die<br />

Demokratisierung<br />

Wiedergutmachung – Ein Vergleich<br />

Die Alliierten und auch zahlreiche Exilregierungen beschäftigten sich mit der Frage des<br />

organisierten deutschen Raubzuges durch Europa. Rückerstattungen, Reparationen und Entschädigungen<br />

wurden in einem internationalen Abkommen Anfang 1943 in London zum<br />

Gegenstand gemacht und begleiteten die Zerschlagung des Nationalsozialismus und die<br />

Gestaltung der europäischen Nachkriegsordnung. Führende jüdische Persönlichkeiten<br />

brachten im internationalen Rahmen das jüdische Interesse an Rückstellung/-erstattung und<br />

Reparationen zum Ausdruck. In öffentlichen Aktivitäten und Kontakten zu alliierten und<br />

deutschen Organen der sich herausbildenden jüdischen Gemeinden und Organisationen<br />

war diese Frage ab 1945 ein ständiges, mit Vehemenz und Selbstverständlichkeit vorgetragenes<br />

Thema innerhalb der besetzten Reste des Dritten Reiches. Die deutschen und österreichischen<br />

Verwaltungsstellen sowie die Militärregierungen waren somit von Anfang an<br />

mit diesen Forderungen konfrontiert. Unterschiedliche Verordnungen und Gesetze wurden<br />

in den einzelnen Besatzungszonen erlassen, am weitestgehenden 1949 in der amerikanischen<br />

Zone in Deutschland, insgesamt aber ohne den berechtigten Forderungen der Juden<br />

in ausreichender Weise zu entsprechen. 4<br />

Typischerweise wurden diese Gesetze, auch auf Bundesebene, in den folgenden Jahrzehnten<br />

ständig verändert, tausende Verfolgte fielen immer wieder durch die Maschen<br />

dieser gesetzlichen Regelungen. In Österreich gab es noch zusätzliche Widerstände, da<br />

„gerade die zahlreichen Rückstellungen von österreichischen ➤ ‚Ariseuren‘ an ehemalige<br />

österreichische Juden die These der Opferrolle auf geradezu frappierende Weise widerlegen“<br />

mußten. 5 In den Nationalratsdebatten zum Rückstellungsgesetz war denn auch eher<br />

zu vernehmen, daß Österreich nichts gutzumachen habe, ja daß im Gegenteil an Österreich<br />

viel gutzumachen sei. Argumentationen, die in Deutschland vornehmlich aus dem<br />

nationalistisch-rechtsextremen Lager kamen, schienen in Österreich öffentlich konsensfähig. 6<br />

Im Oktober 1946 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel mit dem Titel „Wo<br />

bleibt die Wiedergutmachung?“, in dem es unter anderem hieß:<br />

„Man sollte annehmen, daß die Wiedergutmachung an den von den Nazis seit 1933<br />

verfolgten Juden als eine der vordringlichsten inneren Pflichten jedes einzelnen Deutschen<br />

betrachtet wird. Leider aber ist es noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden, daß die<br />

Opfer des politischen und gleichzeitig auch wirtschaftlichen Terrors der Jahre 1933-1945<br />

entschädigt werden. (...) Für dieses Leid kann es eigentlich keine Wiedergutmachung<br />

geben. Aber selbst das Erreichbare, das Menschenmögliche – es wird unterlassen (...). Was<br />

aber niemals durch Beschlüsse der Staatsautorität allein erbracht werden kann, auch nicht<br />

durch ein Wiedergutmachungsgesetz, ist die psychologische Bereitwilligkeit des deutschen<br />

Durchschnittsmenschen zur Wiedergutmachung, in seinem Rahmen. Aber das Gefühl für<br />

die Pflicht zur Wiedergutmachung ist noch nicht geboren. (...) Hier mangelt es am sittlichen<br />

Gefühl, an dem aus dem Inneren kommenden Rechtsbewußtsein, zu sehr ist das Recht in<br />

den Jahren der Hitlerdiktatur gebeugt worden. Die Frage der Wiedergutmachung an den<br />

Juden wird zu einem tieferen deutschen Problem, nämlich, ob Deutschland wieder zu einem<br />

Rechtsstaat wird. (...) Deutschland bemüht sich, das Vertrauen der Welt wiederzugewinnen.<br />

Seine Bestrebungen zum wirtschaftlichen Neuaufbau nach einem totalen Zusammenbruch<br />

finden die Achtung der Umwelt. Wenn dieses zurückkehrende Vertrauen und die allmählich<br />

wiedergewonnene Achtung nicht beeinträchtigt, sondern zur Sympathie erhoben werden<br />

sollen, dann muß auch der Frage der Wiedergutmachung an den Juden viel größeres<br />

Augenmerk zugewendet werden als bisher. Nicht mit Unrecht darf man dieses Problem als<br />

den Prüfstein der deutschen Demokratie bezeichnen.“ 7<br />

Gegenüber allem späteren Verständnis von materieller Entschädigung und Wiedergutmachung<br />

ist die hier formulierte Position umfassender und grundsätzlicher. Der Inhalt<br />

dessen, was bis heute als Wiedergutmachung verstanden wird, ist nicht mit dem ursprünglich<br />

damit verbundenen Inhalt auf jüdischer Seite identisch. Wiedergutmachung war eine<br />

ethische, moralische, rechtliche, politische und materielle Forderung, die primär die umfassende<br />

Rehabilitierung der Juden in Deutschland zum Inhalt hatte. Die Wiedergutmachung,<br />

so verstanden, war von einer notwendigen grundlegenden Entnazifizierung und<br />

114 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Demokratisierung nicht zu trennen. Der ökonomische „Zeitgeist“, der bereits 1946 spürbar<br />

war, reduzierte diesen Kontext in den Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik auf<br />

die materielle Seite zur moralischen Absicherung nicht etwa einer Rehabilitierung der<br />

Juden, sondern ganz im Gegenteil zur außenpolitischen Rehabilitierung der Deutschen,<br />

was ja ebenfalls in dem zitierten Artikel angeklungen war. Der Begriff Wiedergutmachung<br />

bezog sich in der deutschen Diskussion schnell auf eine außenpolitische Dimension, indem<br />

er materielle Leistungen an den Staat Israel einbezog und diese materielle Leistung mit<br />

einem Deutschland zu erteilenden moralischen Kredit verband.<br />

Dies war in Österreich so nicht der Fall. Im Nachkriegs-Österreich ging es um die „unmittelbare<br />

Abgeltung vermögenswerter Schäden aus der NS-Zeit, wie Rückgabe arisierten<br />

Eigentums, Abgeltung von Verdienst und ähnlichem“. 8 Daß hierbei außerordentlich restriktiv<br />

verfahren wurde, ja die Rückstellung faktisch immer weiter zurückgedrängt wurde, lag nicht<br />

zuletzt daran, daß die ersten ➤ Opferfürsorgegesetze von 1945 und 1947 Opfer des vornationalsozialistischen<br />

➤ Ständestaates und des Nationalsozialismus gleichsetzten, die besondere<br />

Rolle der antijüdischen Maßnahmen verkannten und eine besondere Verpflichtung<br />

gegenüber den Juden negierten. Im Herbst 1945 beklagten sich Wiener Juden, „daß sie<br />

als ➤ Displaced Persons in Wien leben mußten, während ihre eigenen Häuser und Wohnungen<br />

immer noch von Nazis bewohnt würden“. 9 Die österreichische Gesetzgebung bewegte<br />

sich insgesamt bis 1961 auf der Ebene der Entschädigungsgesetze der Bundesrepublik<br />

Deutschland. 10 Eine Mitschuld des österreichischen Volkes, aus der sich eine Pflicht zur<br />

Wiedergutmachung ergeben hätte, wurde definitiv abgelehnt. 11 Robert Knight faßt dies<br />

pointiert zusammen, wenn er betont: „Eine Bereitschaft, Wiedergutmachung zu zahlen, hätte<br />

die ‚Opferthese‘ des österreichischen Staates unterminiert.“ 12 Antisemitische Kontinuitäten,<br />

überwiegende Ablehnung der Rückerstattung jüdischen Eigentums und jüdischer Forderungen<br />

bei gleichzeitiger Verstaatlichung – wie es hieß – „herrenlosen Vermögens“ sowie die<br />

sich verändernden internationalen Konstellationen paarten sich mit innenpolitischem Druck.<br />

Bei den verschiedenen Gesetzen wurden nur allzuoft die Ariseure bevorzugt, wurde in den<br />

Debatten nicht selten die „relative Anständigkeit“ der österreichischen Nutznießer jüdischen<br />

Eigentums betont. 13 Von einer weiterzufassenden Wiedergutmachungs-Konzeption war hier<br />

überhaupt nicht die Rede. Diesen Bedeutungsunterschied gilt es, zunächst zu beachten.<br />

Rehabilitierung von Deutschland/Österreich und die Verschleppung kollektiver und<br />

individueller Entschädigung<br />

Der außenpolitische Berater und Vertraute Adenauers, Herbert Blankenhorn, berichtet, daß<br />

im Oktober/November 1949 Gespräche mit dem Kanzler stattgefunden hätten, „in<br />

welcher Weise es möglich sein würde, das Verhältnis des deutschen Volkes zum jüdischen<br />

Volk und zum Staat Israel auf eine neue Grundlage zu stellen“. 14 Blankenhorn betont, „daß<br />

der neue deutsche Staat in der Welt Vertrauen, Ansehen und Glaubwürdigkeit nur wiedergewinnen<br />

werde, wenn die Bundesregierung und das Bundesparlament (...) sich von der<br />

Vergangenheit distanziert und durch eine eindrucksvolle materielle Wiedergutmachungsleistung<br />

dazu beiträgt, das unglaubliche Ausmaß an erlittener materieller Not zu erleichtern.<br />

(...) Ein solcher Akt echter Wiedergutmachung sollte zur Überwindung der unvorstellbaren<br />

Bitternis dienen, die das nationalsozialistische Verbrechen bei den Juden in aller Welt und<br />

auch bei allen Gutgesinnten hervorgerufen hat. Er sollte ferner auch den Sinn haben, dem<br />

deutschen Volk die Furchtbarkeit der Vergangenheit und die Notwendigkeit einer radikalen<br />

Umkehr bewußt zu machen.“ 15<br />

Das Motiv materiellen Abgeltens der Verbrechen des Dritten Reiches ist mehr als deutlich.<br />

Zugleich konnte der Beraterstab des Bundeskanzlers hier bewußt an die Nöte des jungen<br />

israelischen Staates anknüpfen, der vor schwierigen ökonomischen und sicherheitspolitischen<br />

Problemen stand und an schnellen materiellen Hilfeleistungen interessiert war. Allerdings dauerte<br />

es zwei Jahre, bis zum September 1951, bis der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland<br />

diesen Willensakt vollzog. Nun könnte man sagen, daß es für die junge Republik<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

115<br />

Frank Stern


Erste Verhandlungen<br />

zwischen<br />

der BRD und<br />

Israel 1951 –<br />

„Globalentschädigung“<br />

Wiedergutmachung – Ein Vergleich<br />

zwischen November 1949 und September 1951 Wichtigeres gab als die Wiedergutmachung,<br />

daß der ökonomische und politische Aufstieg seine ersten Früchte bringen mußte, daß<br />

kein relevanter Druck in dieser Frage gegeben oder daß in der Bevölkerung keine ausreichende<br />

Basis für umfangreiche Wiedergutmachungsleistungen vorhanden war. Doch eine derartige<br />

Basis war auch 1951, während der Wiedergutmachungs-Verhandlungen, oder zum Zeitpunkt<br />

der Ratifizierung des ➤ Luxemburg-Abkommens 1952 nicht vorhanden. Wie ist also die<br />

zeitliche Verzögerung zwischen Adenauers allgemeiner Bereitschaftserklärung und der politischen<br />

Umsetzung zu erklären, will man nicht einzig und allein das Zögern der israelischen Regierung,<br />

in Verhandlungen mit der deutschen Regierung zu treten, als Grund anführen.<br />

Der erste Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Hendrik van Dam,<br />

übermittelte im Sommer 1950 der israelischen Regierung ein Gutachten zum „Problem der<br />

Reparationen und Wiedergutmachung für Israel“, das zwar in der Folgezeit keine wichtige<br />

Rolle spielte, aber zentrale Aspekte der deutschen Situation und der zeitlichen Verzögerung<br />

charakterisierte:<br />

„Die ‚Wiedergutmachung‘ – bevor sie zu einem schwierigen Problem des Rechtes wird – ist<br />

ein Problem der Moral und der Politik. Das gilt für beide Teile, das deutsche Volk und das<br />

jüdische Volk. (...) Die Erkenntnis der moralischen Pflicht, die besonders in den ersten Jahren<br />

nach der Kapitulation empfunden wurde, besteht auch heute noch bei einer Anzahl maßgebender<br />

Deutscher. Jedoch wird die Neigung, hieraus Konsequenzen zu ziehen – vor allem<br />

durch die Schaffung der notwendigen Gesetzgebung –, schwächer und schwächer. Die Zeit<br />

arbeitet gegen die Wiedergutmachung, wie gegen die Verfolgung der Menschlichkeitsverbrecher<br />

und der Denazifizierung. Das in politische Handlung umzusetzende Gefühl der moralischen<br />

Verpflichtung erlahmt, wie auch die Besorgnis vor einer Kritik der Besatzungsmächte.<br />

Es bleiben im wesentlichen die realistischen Gedankengänge politischer und wirtschaftlicher<br />

Zweckmäßigkeit. (...) Der von politischen und wirtschaftlichen Motiven diktierte Wunsch, zu<br />

einer Bereinigung des Wiedergutmachungskomplexes zu kommen, die unliebsame Nazi-<br />

Erbschaft abzuschütteln, wird noch für eine beschränkte Zeitdauer eine Rolle spielen.“ 16<br />

Van Dam hob hervor, daß im Rahmen der politischen Entwicklung das Werben um die Deutschen,<br />

die zunehmende Übertragung von Funktionen an die Bundesrepublik und die Ablehnung<br />

jeglicher Einmischung von außen durch die Deutschen die Verhandlungsposition von Verfolgtenorganisationen<br />

schwächten. Die Ost-West-Konfrontation wurde in allen Fragen der Politik<br />

spürbar, in der Haltung gegenüber Deutschland vollzog sich ein Bedeutungswandel. Dennoch<br />

bestand die amerikanische Seite auf den moralischen Implikationen. Van Dam betonte:<br />

„Bei aller Würdigung der Konsequenzen der Politik der Westmächte gegenüber Deutschland<br />

(...) besteht dennoch ein Interesse der Vereinigten Staaten an der Durchführung der<br />

Wiedergutmachung, wie das auch vom ➤ Hohen Kommissar John McCloy wiederholt erwähnt<br />

wurde. Ferner ist ein gewisses Alibi der amerikanischen Politik für das Aufgeben der<br />

Denazifizierung und die Kollaborierung erwünscht. Ein derartiges Gegengewicht könnte<br />

die Wiedergutmachung, insbesondere aber die Reparationsleistung für Israel sein.“ 17<br />

Van Dam bezog sich auf wiederholte Äußerungen von McCloy, der 1950 die Wiedergutmachung<br />

als Prüfstein der Demokratie bezeichnet hatte. Ohne den amerikanischen Druck<br />

auf die deutsche Bundesregierung würde es wahrscheinlich eine im materiellen Sinne letztendlich<br />

positive Entscheidung nicht gegeben haben. Einen derartig relevanten Druck hat es<br />

von seiten der US-Behörden auf die österreichische Regierung nicht gegeben, obwohl der<br />

US-Hochkommissar in Österreich, Geoffrey Keyes, mehrfach in Briefen an Bundeskanzler<br />

➤ Leopold Figl das Problem der Rückerstattung und materiellen Absicherung der überlebenden<br />

Juden angesprochen hatte. In Zusammenhang mit dem Versuch der österreichischen<br />

Regierung, ein sogenanntes „Härteausgleichsgesetz“ zugunsten der Ariseure zu verabschieden,<br />

schrieb Keyes am 1. September 1950 u. a., daß die geplante Maßnahme „begründete<br />

Zweifel aufwirft, ob Ihre [die österreichische] Regierung sich der internationalen<br />

Reaktion bewußt ist, die durch solche Handlungen geschaffen wird. Sollten Sie sich dessen<br />

bewußt sein, so muß angenommen werden, daß Ihre Regierung an der Berichtigung der<br />

nationalsozialistischen Ungerechtigkeiten nicht mehr interessiert ist und nunmehr beabsichtigt,<br />

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einiges von der guten Arbeit, die sie seit 1945 geschaffen hat, rückgängig zu machen.“ 18<br />

Daraufhin wurde der Gesetzesentwurf fallengelassen, eine umfassende Regelung kam<br />

dennoch nicht zustande. Erst mit dem ➤ Staatsvertrag 1955 wurde teilweise den individuellen<br />

Ansprüchen der Überlebenden und ihrer Kinder entsprochen. Man mag es als eine Spätwirkung<br />

des Anschlusses bezeichnen, daß nach einem völlig unzureichenden Beginn in Form<br />

eines Hilfsfonds umfassendere Zahlungen an einzelne Personen erst erfolgten, nachdem die<br />

Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des Abkommens von Bad ➤ Kreuznach von<br />

1961 größere Summen in einen österreichischen „Wiedergutmachungstopf“ zu zahlen begann.<br />

Eine globale Regelung, die den Staat Israel miteingeschlossen hätte, gab es auch<br />

dann nicht. Der außenpolitische Druck, insbesondere von amerikanischer Seite, entsprach<br />

nicht dem auf die Bundesrepublik Deutschland, die sich der Wiedergutmachung als eines<br />

Instruments der Westintegration zu bedienen wußte. Abgesehen davon war Österreich<br />

auch nicht im selben Ausmaß wie die junge Bundesrepublik Deutschland in der Konfrontation<br />

mit dem Kommunismus als wichtiger europäischer Junior-Partner vorgesehen. Die USA<br />

und auch England und Frankreich machten sich für eine österreichische Wiedergutmachungsleistung<br />

unter anderem deshalb nicht stark, weil sie ein stabiles Österreich wollten,<br />

und die Sowjetunion ihrerseits war mehr an einem neutralen Österreich interessiert. 19<br />

Im Juni 1950 war der Korea-Krieg ausgebrochen, die Konfrontation zwischen Ost und<br />

West hatte sich verschärft. Adenauer, einen möglichen deutschen Militärbeitrag vor Augen,<br />

drängte in einem Aide-Mémoire an die Hohen Kommissare auf eine „Revision des Besatzungsstatuts“.<br />

20 Letztendlich ging es der Bundesregierung um die Überwindung des Potsdamer<br />

Abkommens und zunehmend um die Rehabilitierung für die durch die Entnazifizierung<br />

betroffenen Deutschen. Souveränität durch Westintegration und Wiederbewaffnung, was<br />

die Rehabilitierung der Wehrmacht einschloß, waren Kernpunkte sowohl des sich entwickelnden<br />

Nationalbewußtseins als auch der offiziellen Regierungspolitik.<br />

Zum Hintergrund des Problems der Wiedergutmachung gehört neben der außenpolitischen<br />

Dimension ebenso die innenpolitische Dynamik der Jahre 1948 bis 1952. Soziale<br />

Unsicherheit und über 1,5 Millionen Arbeitslose beschäftigten die Öffentlichkeit. ➤ Marshall-<br />

Plan und Umerziehung zur Demokratie bildeten eine merkwürdige Synthese im öffentlichen<br />

Bewußtsein. Weder in Deutschland noch in Österreich gehörte eine „jüdische Frage“ zu<br />

den zentralen Themen der Tagespolitik. In der Österreich-Politik der westlichen Alliierten<br />

herrschte spätestens seit 1946 die „Fiktion, daß alle Österreicher unschuldig waren“. 21 Und<br />

was konnte mithin von einem „Opfer Hitlers“ als Wiedergutmachung erwartet werden?<br />

Antisemitische Kontinuitäten und weit verbreitete Aversionen gegen die jüdischen Displaced<br />

Persons bestimmten die privaten und halb-öffentlichen Diskurse mehr als das von manchen<br />

Politikern – wobei dies in Deutschland eher der Fall war – zur Schau getragene schlechte<br />

Gewissen. Die materiellen Nöte waren bestimmend, nicht die Notwendigkeit, die ➤ Arisierung<br />

im Rahmen eines Programms umfassender Demokratisierung rückgängig zu machen<br />

oder gar globale Wiedergutmachung zu leisten.<br />

Ralf Dahrendorf sprach im Rückblick von der damit zusammenhängenden „Ökonomisierung<br />

der verhaltensleitenden Wertvorstellungen durch die ganze deutsche Gesellschaft“. 22<br />

McCloy bemerkte für die Monate nach der Gründung der Bundesrepublik 1949, daß die<br />

Bemühungen um eine Neuorientierung der Bevölkerung auf einige Schwierigkeiten, ja sogar<br />

Widerstand stießen. In Westdeutschland, so McCloy, wären Nationalismus und nationalistische<br />

Gruppen aktiver geworden als zur Zeit der Kontrolle durch die Militärregierung.<br />

In einer Rede in Washington, Januar 1950, summierte McCloy unter den wichtigsten Aufgaben<br />

amerikanischer Politik in Deutschland, darauf zu bestehen, „daß die Opfer Hitlers<br />

oder deren Erben gerecht und vorurteilslos behandelt werden“. Im Februar kam er in einer<br />

Rede in Stuttgart ausführlich auf diesen Punkt zu sprechen und betonte, daß das Unrecht an<br />

den Verfolgten „mit aller Gerechtigkeit anerkannt und vorbehaltlos in Ordnung gebracht<br />

werden“ müsse. 23 Dem entsprach auch die Haltung des US-Hochkommissars in Österreich.<br />

Zugleich ergaben Umfragen durch die amerikanische Hochkommission (HICOG) einige<br />

neue Fakten hinsichtlich vorhandener Vorurteile und nationalistischer Tendenzen. Betrachtet<br />

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117<br />

Frank Stern<br />

Ost-West-Konflikt<br />

Demokratisierung<br />

oder<br />

„Normalisierung“?


„Wiedergutmachung“<br />

an den<br />

ehemaligen<br />

Nationalsozialisten<br />

Ende des<br />

Besatzungsstatuts<br />

Wiedergutmachung – Ein Vergleich<br />

man einige der Umfrageergebnisse, so präsentiert sich folgendes Bild der öffentlichen<br />

Meinung in hiermit zusammenhängenden Fragen im Übergang zu den fünfziger Jahren:<br />

44 Prozent hielten einige Rassen für mehr geeignet zum Regieren als andere. 34 Prozent<br />

hielten einige Rassen für minderwertiger als andere. 28 Prozent meinten, daß ein Jude,<br />

dessen Eltern und Großeltern in Deutschland geboren und aufgewachsen waren, kein richtiger<br />

Deutscher sei. Die meisten Befragten, die eine deutsche Nationalität für Juden der<br />

dritten Generation ablehnten, waren unter dreißig, Flüchtlinge und Vertriebene, unregelmäßige<br />

Kirchgänger der katholischen und der protestantischen Konfession und hatten niedriges<br />

<strong>Bildung</strong>sniveau sowie geringen sozialen Status. 24<br />

Derartige Umfrageergebnisse stellten mithin eine eindrucksvolle Bestätigung der nach<br />

1949 zunächst vorhandenen Vermeidungsstrategie Adenauers und der österreichischen<br />

Regierung dar, nämlich das Thema Juden nicht zu einem innenpolitischen Topos zu machen,<br />

die Diskussion darüber eben eher „in die Länge zu ziehen“.<br />

Im Dezember 1950 erließ der Bundestag Richtlinien zum Abschluß der Entnazifizierung,<br />

in denen es hieß: „Die Beendigung der Entnazifizierung soll die Periode der schematischen<br />

Bewertung ganzer Personengruppen wegen ihrer Zugehörigkeit zu Organisationen oder<br />

Einrichtungen der nationalsozialistischen Herrschaft abschließen.“ 25<br />

Am 11. Mai 1951 beschloß der Bundestag das 131er Gesetz. Ca. 150.000 Beamte<br />

und Angestellte, ehemalige Wehrmachts- und Arbeitsdienstangehörige erhielten ihre vollen<br />

Versorgungsansprüche zurück und konnten erneut in den Staatsdienst eintreten. Bereits vorher<br />

war eine Lastenausgleichsregelung für die ca. 13 Millionen Vertriebenen beschlossen<br />

worden. Im Juni berichtete Die Welt von einem „Wettrennen um die Beendigung der Entnazifizierung“,<br />

26 in dem es um die Wiedereinsetzung von Beamten ging. Entnazifizierungsakten<br />

wurden symbolisch verbrannt, das große Aufatmen begann. In Österreich wiederum<br />

hatte man sich schon längst nonchalant von den alliierten Entnazifizierungsbestrebungen<br />

verabschiedet. Bereits 1948 waren die „minderbelasteten“ Nazis amnestiert worden. 27<br />

Lediglich die sowjetischen Besatzungsbehörden zeigten sich hier anfänglich hartnäckiger.<br />

Aber wie in Deutschland konnte man ja schlicht die Zone wechseln. Bei den Wahlen<br />

1948/49 in Westdeutschland und in Österreich ging es allen Parteien um die Stimmen der<br />

Ehemaligen. Die Entnazifizierung war definitiv gescheitert, die Integration der vormaligen<br />

Nazis in die beiden politischen Kulturen in vollem Gange. Kritik daran wurde zwar<br />

geäußert, blieb letztlich aber wirkungslos. Derartige Entwicklungen beschäftigten die internationale<br />

Presse, beeinflußten Publikationen und Diskussionen zur Frage der Wiedergutmachung,<br />

bestimmend war jedoch längst die Ost-West-Konfrontation geworden. Die ➤ Containment-Politik<br />

entpuppte sich letztlich auch als eine Politik des Containment der Entnazifizierung<br />

und in Österreich ebenfalls der Wiedergutmachung.<br />

Im März 1951 hatte die israelische Regierung in einer Note an die vier Siegermächte<br />

Wiedergutmachungs-Forderungen formuliert.<br />

Nach langem Zaudern erfolgte dann endlich die vielzitierte Erklärung des deutschen<br />

Bundeskanzlers vom 27. September 1951, in der er Verhandlungen mit Israel anbot. Zuvor<br />

hatten die Außenminister der drei Westmächte in Washington beschlossen, daß das Besatzungsstatut<br />

durch einen Generalvertrag abgelöst werden sollte, der parallel mit einem<br />

Vertrag über einen deutschen Verteidigungsbeitrag in Kraft treten sollte. Wenige Tage nach<br />

der Erklärung über die Bereitschaft zur Wiedergutmachung begannen die Verhandlungen<br />

zwischen Bundeskanzler und Hohen Kommissaren über das Ende des Besatzungsstatuts.<br />

Werfen wir einen Blick auf die Erklärung des deutschen Bundeskanzlers vom September<br />

1951. Sie liest sich in all ihrer Kühle und Nichtbetroffenheit wie eine Pflichtübung, eine Reaktion<br />

auf die außenpolitischen Erfordernisse, da – so Adenauer – in der „Weltöffentlichkeit“<br />

„Zweifel laut geworden“ seien, ob die Bundesrepublik „das Verhältnis der Juden zum deutschen<br />

Volke auf eine neue und gesunde Grundlage stellen“ wolle. Nicht etwa ein Schuldoder<br />

Verantwortungsbewußtsein, antisemitische Vorkommnisse und nationalistische Tendenzen<br />

bildeten den Auftakt der Erklärung, sondern außenpolitische Erwägungen. Adenauer<br />

zitierte als positiven Beleg für die „Einstellung der Bundesrepublik zu ihren jüdischen Staats-<br />

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ürgern“ den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes, nach dem jeder, „insbesondere jeder<br />

Staatsbeamte“, „jede Form rassischer Diskriminierung von sich zu weisen“ habe. Daß<br />

gerade zahlreiche ehemalige DPs staatenlos, mithin nicht Staatsbürger waren, blieb in allen<br />

späteren Würdigungen dieser Rede unbeachtet. Adenauer erklärte für die Bundesregierung<br />

die Bereitschaft, mit „Vertretern des Judentums und des Staates Israel (...) eine Lösung des<br />

materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen“. 28 Die Aussagen dieser Erklärung<br />

blieben relativ allgemein, dienten mehr der Exkulpierung der überwiegenden Mehrheit des<br />

deutschen Volkes als dem konkreten Bekenntnis einer Schuld oder Verantwortung. Vom Völkermord<br />

und seinen Folgen kein Wort, die begangenen Verbrechen haben kein Subjekt, sind<br />

allenfalls im Namen des deutschen Volkes begangen worden. Fehlende individuell Berechtigte<br />

auf der einen Seite, Kriegsopfer, Flüchtlinge, Vertriebene auf der anderen Seite. Derartige<br />

Redeformen wird man in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik finden. Liest man dagegen<br />

in den Bundestagsdebatten dieser Monate die außerordentlich konkreten Benennungen,<br />

wer welche Deutschen wo vertrieben hatte, wie es Flüchtlingen ging, vor allem aber<br />

welch grausames Schicksal die deutschen Kriegsgefangenen erlitten, so wird der distanzierte<br />

Charakter dieser Erklärung noch deutlicher. Diese Haltung deckte sich letztlich auch mit der<br />

politischen und emotionalen Distanz in den Aussagen österreichischer Politiker.<br />

So wie in der Phase unmittelbar nach dem Mai 1945 unter der Oberhoheit der Besatzungsmacht<br />

das Verhältnis von Deutschen und Juden und der Kampf gegen den Antisemitismus<br />

der Eingriffe von ➤ OMGUS bedurfte, existierte jetzt zwei Jahre nach der Gründung<br />

der Bundesrepublik und sechs Monate nach der Note der Regierung des Staates Israel über<br />

die Wiedergutmachung eine Art Moratorium zwischen Wiedergutmachungsfrage und<br />

Souveränität durch Westintegration.<br />

Eine analoge Entwicklung für Österreich ist nicht zu verzeichnen. Die Konzeption von<br />

Österreich als „erstes Opfer Hitlers“, der Konsens über Österreichs Neutralität und die Verhandlungen<br />

über den Staatsvertrag verschoben einen wie auch immer formulierten Anspruch<br />

der überlebenden Juden auf Rehabilitierung oder des Staates Israel auf Rückstellung/-erstattung<br />

und Wiedergutmachung in den Bereich der Bedeutungslosigkeit. Das<br />

österreichische schlechte Gewissen bedurfte keiner materiellen Tilgung, es war schlicht nicht<br />

vorhanden, da es politisch nicht erforderlich war. Als Antwort auf Forderungen internationaler<br />

jüdischer Organisationen nach dem Abkommen mit der Bundesrepublik Deutschland<br />

an Österreich antwortete die österreichische Regierung, Österreich sei als von Deutschen<br />

besetztes Land staatsrechtlich nicht zu Leistungen verpflichtet und trage auch keine moralische<br />

Verantwortung, da die Verbrechen an den Juden von den Deutschen ausgegangen<br />

seien. 29 Erst nach einigem Druck von seiten des State Department in Washington und des<br />

Foreign Office in London war die österreichische Regierung überhaupt zu Verhandlungen<br />

bereit. 30 Ein ➤ Committee for Jewish Claims on Austria wurde gegründet, aber Israel entzog<br />

sich 1952 diesen Verhandlungen mit der voreiligen Erklärung, es habe keine Forderungen<br />

gegenüber Österreich, und folgte damit der Politik der westlichen Alliierten. 31 Die Erwägungen<br />

in Washington hinsichtlich der perspektivischen Stellung Österreichs in der damit<br />

verbundenen Stabilität des Staates hatten sich durchgesetzt. Die These von „Österreich als<br />

erstem Opfer“ war international in diesem Fall bestimmender als der berechtigte Anspruch,<br />

den die Regierung des Staates Israel hätte geltend machen können. Zudem wollte die israelische<br />

Regierung offensichtlich nicht Probleme mit dem ökonomisch viel potenteren Vertragspartner<br />

Bundesrepublik schaffen, der ja mit dem Abkommen gerade eine generelle Verantwortung<br />

übernommen hatte. Dies alles schwächte die Position des Claims Committee.<br />

Nahum Goldmann berichtet, daß Bundeskanzler ➤ Julius Raab beim ersten Treffen mit Vertretern<br />

des Claims Committee schlicht feststellte, daß „sich die Juden und Österreich in der<br />

gleichen Lage befänden, beide seien Opfer des Nazismus“. 32<br />

Die Verhandlungen zogen sich zäh in die Länge, die Vorstellungen der österreichischen<br />

Regierung widersprachen den Forderungen des Claims Committee, 1956 wurde endlich<br />

ein Hilfsfonds zur Hilfeleistung für politisch Verfolgte, die im Ausland ihren Wohnsitz hatten,<br />

eingerichtet. Im Juni 1959 kündigte Österreich in einem Schreiben an England, Frankreich<br />

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119<br />

Frank Stern<br />

Die österreichische<br />

Opferthese und<br />

die Verhandlungen<br />

mit dem Claims<br />

Committee


„Wiedergutmachung“<br />

und<br />

Westintegration<br />

Wiedergutmachung – Ein Vergleich<br />

und die USA die Einrichtung eines Fonds für Opfer des Nazi-Regimes an, die aus religiösen<br />

oder rassischen Gründen verfolgt worden waren. Allerdings verabschiedete der Nationalrat<br />

kein entsprechendes Budget. 33 Erst 1961, als die Bundesrepublik Deutschland finanziell<br />

zu Hilfe eilte, erfolgte dies. Zahlungen an Israel hat es jedoch nicht gegeben.<br />

Die DDR als zweiter Nachfolgestaat des Dritten Reiches wiederum entzog sich nach anfänglichen,<br />

aber unzureichenden Angeboten jeglicher Verpflichtung einer Wiedergutmachung<br />

und beschränkte sich auf höhere Pensionen und individuelle Sonderleistungen für die<br />

Opfer des Faschismus. Auf die Forderungen Israels von 1951 hat die DDR nie reagiert. 34<br />

Vormals arisiertes Vermögen wurde im Rahmen der sozialistischen Gesellschaftspolitik verstaatlicht<br />

und bildet heute einen Kernpunkt der seit der Herstellung der Einheit Deutschlands<br />

neu aufbrechenden Wiedergutmachungsproblematik. Dabei geht es um das sogenannte<br />

dritte Drittel an Wiedergutmachung, das 1952 offen gelassen wurde.<br />

Am 10. September 1952 war das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland<br />

einerseits sowie dem Staat Israel und der ➤ Conference on Jewish Material Claims against<br />

Germany andererseits in Luxemburg unterzeichnet worden. 35 Die politische Funktion der<br />

„Vereinbarung mit dem Weltjudentum“ für Adenauer kommentiert dessen Biograph Hans-<br />

Peter Schwarz ironisch mit der Bemerkung: „Mit dem Heiligenschein des Wiedergutmachungsabkommens<br />

versehen, kann er sich im Frühjahr 1953 auf die ‚United States‘ begeben,<br />

um die erste Reise nach Amerika anzutreten.“ 36 Nach dem Selbstgefühl der Regierenden<br />

und auch der sozialdemokratischen Opposition hatte die Bundesrepublik die von US-<br />

Hochkommissar McCloy geforderte Feuerprobe bestanden. Die Wiedergutmachung und<br />

der Kalte Krieg ermöglichten die Westintegration.<br />

Für die Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre kann mithin als Motto der spätere<br />

ironische Titel eines Theaterstückes von Rolf Schneider gelten: „Wiedergutmachung oder<br />

Wie man einen verlorenen Krieg gewinnt.“ Nachsatz: Da Österreich ja keinen Krieg verloren<br />

zu haben scheint, benötigte es auch keine Wiedergutmachung zur Herstellung des<br />

internationalen moralischen Kredits. Das hier treffende Motto wurde vor einigen Jahren in<br />

einer ORF-Talkshow gegeben, als eine Beteiligte ausrief: „Wir sind alle unschuldige Täter.“ 37<br />

Spricht man im Rückblick über Wiedergutmachung und den Kontext materieller Leistungen<br />

gegenüber den Juden, so stellt sich natürlich die Frage, inwieweit die Wiedergutmachung<br />

in der Tat eine Abkehr von antisemitischen Traditionen und ein neues Verhältnis zu<br />

den Juden bedeutete, das auf einer unmißverständlichen Anerkennung der kollektiven<br />

Schuld und Verantwortung basierte. Anders gesagt, hatte sie im öffentlichen Bewußtsein<br />

der frühen fünfziger Jahre den Stellenwert, den sie Jahrzehnte später einzunehmen scheint?<br />

1951 führte HICOG eine Umfrage durch, mit der „German Opinions on Jewish Restitution<br />

and Some Associated Issues“ ermittelt wurden:<br />

„(...) a majority of the West German people disclaimed not only any general guilt for the<br />

misdeeds of the Third Reich, but also any general responsibility of the German citizenry for<br />

rectifying the wrongs that were committed in their name. (...) A large proportion of those who<br />

voiced support for Jewish aid (...) were revealed on attitude-test queries to possess distinctly<br />

unfavorable orientations toward the Jews. Taking the findings all together, the indication is<br />

inescapable that despite the two out of three who professed approval of Jewish restitution, the<br />

majority of West Germans appear to have the kind of adverse attitudes toward the Jews<br />

which either make them outright opponents of restitution, or if verbally approving, highly<br />

doubtful supporters of any measures that might be taken to actually implement such aid.“ 38<br />

Die Wiedergutmachungsdebatte war hinsichtlich der inneren Einstellung der Bevölkerung<br />

völlig konsequenzlos, bestätigte eher noch antisemitische Meinungen. Das wird durch die<br />

Antworten auf die auf S. 125 dargestellte Frage der HICOG-Umfrage aufschlußreich bestätigt.<br />

Weitere Umfrageergebnisse zeigten, daß die Zustimmung zur Unterstützung für Juden<br />

keine Garantie für fehlenden Antisemitismus war. Immer wieder stößt man bei der Auswertung<br />

solcher Umfragen, bei der Analyse von Reaktionen auf Juden betreffende Geschehnisse<br />

auf diesen Zusammenhang. Die pro-jüdischen und philosemitischen Erklärungen<br />

und Verhaltensweisen, soweit sie öffentlich sind, erfolgen oftmals über einer tieferen Schicht<br />

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MEINUNGSUMFRAGE DES FEDERAL GOVERNMENT 39<br />

von Meinungen und Einstellungen, die ein Konglomerat von traditionellen und neuen antijüdischen<br />

oder antisemitischen Elementen darstellen. Das erklärt sowohl das Zögern der<br />

Bundesregierung zu Beginn ihrer ersten Legislaturperiode in dieser Grundfrage des westdeutschen<br />

Selbstverständnisses als auch die dann folgende Vehemenz, mit der von der<br />

Tribüne des Parlaments und für die internationale Öffentlichkeit, unter der oft Washington<br />

und das Judentum verstanden wurden, ein philosemitisches Bekenntnis abgelegt wurde. Im<br />

engeren Kreise sah das dann schon anders aus.<br />

In einer der Sitzungen auf höchster Regierungsebene in Bonn, die in der Regel von<br />

Adenauer geleitet wurden, bemerkte Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU): „Wenn die<br />

Juden Geld wollen, sollen es die Juden selbst aufbringen, indem sie eine ausländische Anleihe<br />

zeichnen.“ 40 Das „erste Opfer Hitlers“, die Republik Österreich, blickte hingegen eher nach<br />

Bonn, von wo die Millionen kommen sollten; vor der Frage jüdischen Eigentums stand die<br />

Frage deutschen Eigentums und der von den Deutschen ins Altreich heimgeführten österreichischen<br />

Werte. In völliger Verdrehung historischer Tatsachen wurde österreichisches Eigentum,<br />

das – der Opferthese folgend – deutsch geworden war, jetzt dem arisierten Eigentum gleichgesetzt.<br />

41 Damit erschien Österreich auch materiell als Opfer Hitlers. Wenn überhaupt, so<br />

dachte man in der Bevölkerung, war Wiedergutmachung an den Österreichern zu leisten.<br />

In Westdeutschland zeigte die Tatsache, daß allenfalls elf Prozent der Bundesbürger das<br />

Wiedergutmachungsabkommen befürworteten, ja 44 Prozent es rundheraus als überflüssig<br />

bezeichneten, daß hier nicht die Glaubwürdigkeit des neuen Deutschland, sondern einzig<br />

die der politischen Entscheidungsträger in einer zweifellos entscheidenden außenpolitischen<br />

Situation demonstriert worden war. 42 Diese außenpolitische Demonstration hatte<br />

jedoch ein innenpolitisch relativierendes Nachspiel. Als das Vertragswerk im Bundestag am<br />

18. März 1953 ratifiziert wurde, stimmten von 358 Abgeordneten 238 mit Ja, 34 mit<br />

Nein und 86 enthielten sich der Stimme. Die wesentliche Unterstützung erhielt die Gesetzesvorlage<br />

von der sozialdemokratischen Opposition, die geschlossen dafür stimmte, zahlreiche<br />

Abgeordnete der Regierungsparteien enthielten sich.<br />

Die Bindung der gesamten Wiedergutmachungsthematik an die sich aus dem Kalten Krieg<br />

ergebenden Bemühungen um eine Westintegration der Bundesrepublik fehlte in Österreich.<br />

Hier hatten, wie die von Robert Knight herausgegebenen Protokolle der Sitzungen des österreichischen<br />

Bundeskabinetts so eindrucksvoll zeigen, fehlende Sensibilität und antisemitische<br />

Kontinuität jegliche grundsätzliche Wiedergutmachungsregelung von vornherein verhindert.<br />

Die Betonung der Opferrolle Österreichs diente den Legitimationsbestrebungen des nachnationalsozialistischen<br />

Staates und mündete in den Versuch, „das Opfer der österreichischen<br />

Bevölkerung auf eine Ebene mit dem der Juden“ zu stellen. 43 Ein Schuldbekenntnis im<br />

Namen des österreichischen Volkes erfolgte erst zu Beginn der neunziger Jahre, nachdem<br />

Waldheim-Affäre und öffentliche – auch internationale – Entrüstung über den immer spürbarer<br />

werdenden Antisemitismus eine regierungsamtliche Reaktion erforderlich machten.<br />

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121<br />

Frank Stern<br />

„As you know, the Federal Government is trying to provide for those who suffered damage through the war or<br />

the Third Reich. Which of these groups should, in your opinion, receive such help and which should not?“<br />

Should receive help Should not No opinion<br />

War-widows and orphans 96% 1% 3%<br />

People who suffered damage through bombing 93% 3% 4%<br />

Refugees and Expellees<br />

Relatives of people executed because of participation in<br />

90% 6% 4%<br />

attempt on Hitler’s life on July 20th, 1944 73% 13% 14%<br />

Jews who suffered through Third Reich and war 68% 21% 11%<br />

Quelle: HICIG, Report No. 113, 5.12.1951; vgl. Anna J. and Richard L. Merritt,<br />

Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 1949–1955, Urbana 1980, S 146f.


Die Praxis der<br />

„Wiedergutmachung“<br />

Wiedergutmachung – Ein Vergleich<br />

Die „Kehrseite der Wiedergutmachung“<br />

Die geforderte Wiedergutmachung auf der Ebene der Rückerstattung und Entschädigung<br />

wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einem komplizierten bürokratischen Zahlungsvorgang<br />

von seiten des Staates. Materielle Leistungen in diesem Rahmen halfen bei<br />

der Überwindung sozialer Nöte, auch die teilweise Rückgabe oder Entschädigung arisierten<br />

Besitzes ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Art und Weise der bürokratischen<br />

Abwicklung hatte aber auch – was hier nur angedeutet werden kann – ihre neuen jüdischen<br />

Opfer, die staatliche Bürokratie erneut ihre „Judenfrage“.<br />

Anträge wurden verschleppt, administrative Schikanen eingebaut, die den Antragstellern<br />

sowohl in Deutschland als auch in Österreich die Last der Anspruchsbegründung und der<br />

konkreten Nachweise von Schäden auferlegten. Gesundheitsschäden, Minderung der<br />

Erwerbstätigkeit mußten mit Gutachten bewiesen werden, der bloße Aufenthalt in Konzentrations-<br />

und Arbeitslagern galt nicht als ausreichend. Die Kausalität hatten und haben die<br />

Betroffenen nachzuweisen. 44 Und darüber kann auch die nahezu unüberschaubare Fülle<br />

von Gesetzen und Gesetzesänderungen nicht hinwegtäuschen. Die zwei wichtigen Studien<br />

von Christian Pross und Helga und Hermann Fischer-Hübner beschreiben denn auch detailliert<br />

die „Kehrseite der Wiedergutmachung“ in der Bundesrepublik Deutschland, eben den<br />

„Kleinkrieg gegen die Opfer“.<br />

„Nach oft jahrelangem Spießrutenlauf zwischen Paragraphen, Vorschriften, Gutachten<br />

und Sachbearbeitern war mancher Verfolgte so eingeschüchtert, daß er sich mit jeder<br />

noch so dürftigen Abfindung zufriedengab.“ 45 Zu oft stand den „staatlichen Unrechtshandlungen<br />

und ihren unübersehbaren Folgen (...) eine die Höhe des Schadenausgleichs begrenzende<br />

gesetzliche Regelung gegenüber. Niemand konnte mit einem nahezu vollen<br />

Ausgleich des ihm angetanen staatlichen Unrechts rechnen, am wenigsten die, die persönliche<br />

Verluste und gesundheitliche Schäden erlitten hatten.“ Nicht wenige Antragsteller<br />

empfanden diese erneute „Behandlung“ durch die Nachfolgebehörden des Dritten Reiches<br />

als „Wiederholung des Verfolgungserlebnisses“. 46 Nicht selten waren die Beamten, Juristen,<br />

Ärzte und Gutachter „die gleichen, die vor 1945 auch in öffentlichen Behörden,<br />

Ämtern und Kliniken tätig waren. Die mit der Begutachtung beauftragten, teils beamteten<br />

Ärzte waren oft nicht unbeteiligt an ➤ Euthanasiemaßnahmen und Zwangssterilisationen.“<br />

Die Antragsteller waren entwürdigenden Prozeduren ausgesetzt, minutiöse Nachweise<br />

und Zeugen wurden verlangt, nicht wenige Überlebende resignierten oder durchlebten<br />

psychisch die Hölle der Lager erneut. Der Psychiater Kurt Eissler faßte dies 1963 in der<br />

Frage zusammen: „Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei<br />

ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?“ 47 Die Diskriminierung der<br />

Opfer wurde so mit anderen Mitteln fortgesetzt. Die Psychiaterin Barbara Vogt-Heyder<br />

beschreibt die bundesdeutsche Wiedergutmachungspraxis folgendermaßen: „Es kommt zu<br />

einer Neuauflage der Verfolgung. Opfer werden zu Bittstellern degradiert, und ihr schweres<br />

Verfolgungsschicksal wird nicht verstanden und daher auch nicht entsprechend gewichtet<br />

und gewürdigt.“ 48<br />

Ist die sogenannte Wiedergutmachung nun ein beendigtes Kapitel deutscher und österreichischer<br />

Zeitgeschichte? Die Antwort muß verneint werden. Es hat Jahre gedauert, bis<br />

schließlich überdeutlich geworden ist, daß eine Entschädigung für die Opfer des Nationalsozialismus<br />

noch lange nicht abzuschließen ist. Es sei nur an die Zehntausende zählenden<br />

Zwangsarbeiter des Dritten Reiches im Altreich oder in Österreich oder an die Sinti und<br />

Roma, die Homosexuellen und Zwangssterilisierten erinnert (...). 49 Die materiellen Schäden,<br />

die das Dritte Reich verursacht hat, sind nicht wiedergutzumachen, von den physischen und<br />

psychischen Schäden an den direkten Opfern und den Nachfolgeschäden auch an den<br />

Kindern der Überlebenden ganz zu schweigen.“ 50<br />

Eine umfassende moralische, gesellschaftliche und kulturelle Rehabilitierung der Juden hat<br />

es nach 1945 in keinem der drei Nachfolgestaaten des Dritten Reiches gegeben. Auch<br />

dies ein später Erfolg Hitlers?<br />

122 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


1 Vgl. u. a. Ludolf Herbst/Constantin Goschler (<strong>Hrsg</strong>.), Wiedergutmachung<br />

in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989,<br />

darin insbesondere Walter Schwarz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen<br />

Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland.<br />

Ein Überblick, S. 33-54, sowie den eher den Charakter eine Debatte<br />

über Quellenauslegung tragenden Artikel: Kai von Jena, Versöhnung<br />

mit Israel? Die deutsch-israelischen Verhandlungen bis<br />

zum Wiedergutmachungsabkommen von 1952, in: Vierteljahrshefte<br />

für Zeitgeschichte 34 (1986), Heft 4, S. 457 f.; Constantin<br />

Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten<br />

des Nationalsozialismus 1945-1954, München 1992; Michael<br />

Wolffsohn, Die Wiedergutmachung und der Westen – Tatsachen<br />

und Legenden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu Das<br />

Parlament, B 16-17/87, 18. 4. 1987, S. 19 f.; ders., Das deutsch-israelische<br />

Wiedergutmachungsabkommen von 1952 im internationalen<br />

Zusammenhang, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36<br />

(1988), S. 691 f. Eine in aller Kürze ausgezeichnete Darstellung der<br />

amerikanischen Position findet sich bei Thomas Alan Schwartz,<br />

America’s Germany. John McCloy and the Federal Republic of Germany,<br />

Cambridge 1991, S. 175 f. Für Österreich vgl. Gustav Jelinek,<br />

Die Geschichte der österreichischen Wiedergutmachung, in: Josef<br />

Fraenkel (<strong>Hrsg</strong>.), The Jews of Austria: Essays on their Life, History,<br />

and Destruction, London 1967; Dietmar Walch, Die jüdischen<br />

Bemühungen um die materiellen Wiedergutmachungen durch die<br />

Republik Österreich (Veröffentlichungen des Historischen Instituts<br />

der Universität Salzburg 1), Wien 1971; Robert Knight, Restitution<br />

and Legitimacy in Post-War Austria 1945-1953, in: Leo Baeck Institute<br />

Yearbook XXXVI (1992), S. 413 f.<br />

2 Vgl. Rolf Vogel (<strong>Hrsg</strong>.), Der deutsch-israelische Dialog. Dokumentation<br />

eines erregenden Kapitels deutscher Außenpolitik. Teil 1,<br />

Politik, Bd. 1, München 1987, S. 3 f.<br />

3 Ebd., S. 12.<br />

4 Vgl. Walter Schwarz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen<br />

Unrechts, in: Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland, S. 33 f. sowie Hans-Dieter Kreikamp, Zur<br />

Entstehung des Entschädigungsgesetzes der amerikanischen Besatzungszone,<br />

in: ebd., S. 61 f.<br />

5 Robert Knight (<strong>Hrsg</strong>.), „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“<br />

– Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung 1945-<br />

52 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt/M. 1988, S. 43; vgl.<br />

auch Rudolf Bienenfeld, Restitution and Compensation in Austria,<br />

Association of Jewish Refugees in Great Britain, Bulletin VI, Dezember<br />

1952, S. 1 f.<br />

6 Vgl. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 44.<br />

7 Süddeutsche Zeitung, 11.10.1946.<br />

8 Vgl. den Beitrag von Brigitte Bailer-Galanda: Die Maßnahmen der<br />

Republik Österreich für die Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus-Wiedergutmachung.<br />

In: Sebastian Meissl u.a. (<strong>Hrsg</strong>.), verdrängte<br />

Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich<br />

1945-1955, Wien 1986, S. 138. Zur Diskussion um den Begriff vgl.<br />

Yeshayahu A. Jelinek, Israel und die Anfänge der Shilumim, in:<br />

Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland, S. 119 f.<br />

9 Thomas Albrich, Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge<br />

1945-1948, Innsbruck 1987, S. 94.<br />

10 Vgl. hierzu Brigitte Bailer, Gleiches Recht für alle? Die Behandlung<br />

von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus durch die Republik<br />

Österreich, in: Rolf Steininger (<strong>Hrsg</strong>.), Der Umgang mit dem Holocaust.<br />

Europa – USA – Israel. Wien/Köln/Weimar 1994, S. 183-197.<br />

11 Vgl. hierzu Agnes Blänsdorf, Zur Konfrontation mit der NS-Vergangenheit<br />

in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich, in: Aus Politik<br />

und Zeitgeschichte, Beilage zu Das Parlament, B 16-17/87,<br />

18.4.1987, S. 15 f.<br />

12 Robert Knight, Restitution and Legitimacy in Post-War Austria<br />

1945-1953, in: Leo Baeck Institute Year Book XXXVI (1992), S. 416.<br />

13 Ebd., S. 426.<br />

14 Zit. n. Vogel, Der deutsch-israelische Dialog, S. 18 f.<br />

15 Herbert Blankenhorn, Verständnis und Verständigung. Blätter eines<br />

politischen Tagebuchs 1949-1979, Frankfurt/M. 1980, S. 138.<br />

16 Hendrik van Dam, zit. n. Vogel, Der deutsch-israelische Dialog, S.19f.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

123<br />

Frank Stern<br />

17 Ebd., S. 25.<br />

18 Zit. n. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 230.<br />

19 Vgl. Bruce F. Pauley, The USA and the Jewish Question in Austria, in:<br />

Leo Baeck Institute Year Book XXXVI (1992), S. 492.<br />

20 Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg 1876-1952, Stuttgart<br />

1986, Seite 840.<br />

21 Der US-Diplomat Martin Herz, zit. n. Knight, „Ich bin dafür …“ S. 34.<br />

22 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland,<br />

München 1965, S. 470 f.<br />

23 John McCloy, Ansprachen des amerikanischen Hochkommissars für<br />

Deutschland, Washington, D. C., 23. 1. 1950, Stuttgart, 6. 2. 1950.<br />

24 Vgl. HICOG, Information Services Division, Opinion Survey Report<br />

No. 1, 30. 12. 1949; vgl. Anna J. and Richard L. Merritt, Public<br />

Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 1949-<br />

1955, Urbana 1980, S. 53 f.<br />

25 Zit. n. Klaus-Jörg Ruhl (<strong>Hrsg</strong>.), „Mein Gott, was soll aus Deutschland<br />

werden?“ Die Adenauer-Ära 1949-1963, München 1985, S. 334.<br />

26 Die Welt, 14. 6. 1951.<br />

27 Vgl. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 50.<br />

28 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenografische<br />

Berichte. 1. Wahlperiode 1949-1953, Bonn 1949 f., S. 6697 f.<br />

29 Vgl. Blänsdorf, S. 15, hier zit. n. Jelinek, S. 395 f.<br />

30 Vgl. Pauley, S. 492.<br />

31 Vgl. Nana Sagi, German Reparations. A History of the Negotiations,<br />

Jerusalem 1980, S. 205.<br />

32 Nahum Goldmann, Mein Leben als deutscher Jude, Frankfurt/M.<br />

1980, S. 449.<br />

33 Vgl. Sagi, S. 211.<br />

34 Vgl. hierzu Angelika Timm, Der Streit um Restitution und Wiedergutmachung<br />

in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in:<br />

Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1992), Heft 10/11;<br />

Blänsdorf, S. 16 f.<br />

35 Vgl. Ron Zweig, German Reparations and the Jewish World: A<br />

History of the Claims Conference, London 1987.<br />

36 Hans-Peter Schwarz, S. 905.<br />

37 Vgl. Ruth Wodak/Peter Nowak/Johanna Pelikan/Helmut Gruber/<br />

Rudolf de Cillia/Richard Mitten, „Wir sind alle unschuldige Täter“ –<br />

Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt/M.<br />

1990, S. 266.<br />

38 HICOG, Report No. 113, 5. 12. 1951; Vgl. Merritt, S. 146f.<br />

39 Quelle: HICOG, Information Services Division, Opinion Survey<br />

Report No. 113, 5. 12. 1951, NA.Rg. 260.<br />

40 Zit. n. Jena, S. 472.<br />

41 Vgl. Knight, „Post-War ...“, S. 424.<br />

42 Vgl. Norbert Frei, Die deutsche Wiedergutmachungspolitik<br />

gegenüber Israel im Urteil der öffentlichen Meinung der USA, in:<br />

Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland, S. 215-230; Wolffsohn, Globalentschädigung für Israel<br />

und die Juden? Adenauer und die Opposition in der Bundesregierung,<br />

in: ebd., S. 161-190.<br />

43 Vgl. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 58.<br />

44 Vgl. Brigitte Bailer-Galanda, Maßnahmen S. 144<br />

45 Christian Pross, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer,<br />

Frankfurt/M. 1988, S. 294.<br />

46 Helga und Hermann Fischer-Hübner (<strong>Hrsg</strong>.), Die Kehrseite der<br />

„Wiedergutmachung“. Das Leiden von NS-Verfolgten in den Entschädigungsverfahren,<br />

Gerlingen 1990, S. 31.<br />

47 So der Titel seines Aufsatzes in: Psyche 17 (1963), S. 241 f., Nachdruck<br />

in: Hans M. Lohmann (<strong>Hrsg</strong>.), Psychoanalyse und Nationalsozialismus.<br />

Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas,<br />

Frankfurt/M. 1984.<br />

48 Barbara Vogt-Heyder, Einige Gedanken zur deutschen Wiedergutmachung,<br />

in: Dierk Jülich (<strong>Hrsg</strong>.), Geschichte als Trauma. Festschrift<br />

für Hans Keilson zu seinem 80. Geburtstag, Frankfurt/M. 1990, S. 65.<br />

49 Vgl. hierzu Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches<br />

Unrecht. Öffentliche Anhörung des Innenausschusses<br />

des deutschen Bundestages am 24. Juni 1987, Bonn 1987.<br />

50 Vgl. William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom,<br />

Frankfurt/M. 1980.<br />

Aus: Frank Stern, Rehabilitierung der Juden oder materielle Wiedergutmachung – ein Vergleich, in: Rolf Steininger<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – Israel – USA, Böhlau Verlag, Wien 1994, S. 167-182.


Interview mit Georg Graf<br />

„Lücken in der Gesetzgebung“<br />

In welchem Ausmaß wurden bisher Fragen zu Enteignung und Rückstellung in<br />

Österreich erforscht?<br />

Graf: Die Fragen sind in sehr unterschiedlichem Ausmaß erforscht worden. Es hat in den<br />

letzten Jahren sehr viel an historischer Forschung zu diesem Thema stattgefunden, die juristische<br />

Aufarbeitung der Gerichtsverfahren, die nach 1945 stattgefunden haben, steht<br />

aber zu einem Großteil noch aus.<br />

Aus welchen Gründen haben sich RechtshistorikerInnen bisher so wenig mit dem<br />

Thema Enteignung – Rückstellung befaßt?<br />

Das ist eine sehr schwierige Frage, die ich nicht konkret beantworten kann. Sicherlich war<br />

es so, dass in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg viele Leute teilweise selbst von dieser<br />

Thematik betroffen waren und daher kein sonderliches Interesse daran hatten sich damit zu<br />

befassen. Irgendwie war man froh, dass die Sache „vorbei“ ist, und hat daher auch kaum<br />

wissenschaftlichen Ehrgeiz entwickelt.<br />

Bestand im Fall von allgemeinen Kriegsschäden, also von Bombenopfern,<br />

von Plünderungen, Vertreibungen ein Anspruch auf Entschädigung?<br />

Ja, es gab eigene Gesetze, wie zum Beispiel das ➤ „Kriegs- und Verfolgungs-Sachschädengesetz“<br />

(KVSG) vom 25. Juni 1958 über die Gewährung von Entschädigungen für durch<br />

Kriegseinwirkung oder durch politische Verfolgung erlittene Schäden an Hausrat und an zur<br />

Berufsausübung erforderlichen Gegenständen. Dieses Gesetz behandelte NS-Opfer und<br />

Kriegsopfer grundsätzlich gleich. Allerdings waren Personen, die über ein Jahreseinkommen<br />

von mehr als öS 72.000 verfügten, von Ansprüchen nach dem KSVG ausgeschlossen.<br />

Insofern galt hier ebenso wie im ➤ Opferfürsorgegesetz (OFG) das Fürsorge- und nicht das<br />

Entschädigungsprinzip.<br />

Lässt sich auch etwas über die Praxis sagen? Wurde das Gesetz auch in Anspruch<br />

genommen, wurden Ansprüche gestellt?<br />

Es wurden Ansprüche gestellt, aber wie die konkrete Praxis ausgesehen hat, das wird einer<br />

der Punkte sein, zu denen die Historikerkommission nähere Aufschlüsse oder nähere<br />

Erkenntnisse erarbeiten wird.<br />

Angesichts der Geschichte der Rückstellungen in der Zweiten Republik lässt sich<br />

eindeutig ein Widerspruch zwischen der Aktivität des Gesetzgebers, d.h. der<br />

Verabschiedung einer Vielzahl einschlägiger Gesetze, und den darauf basierenden<br />

Behördenentscheidungen, die eher auf eine Unterbindung und Erschwernis<br />

tatsächlicher Rückstellungen hinweisen, feststellen. Woraus erklärt sich diese<br />

Diskrepanz zwischen Gesetz und Praxis, worin liegt diese begründet?<br />

Dafür sind sehr viele Faktoren maßgebend. Zu differenzieren ist zwischen dem Bereich der<br />

124 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


genuinen Rückstellung, das heißt Fällen, in denen sich zwei Privatpersonen gegenübergestanden<br />

haben, und dem Bereich, den man eher mit dem Begriff der Entschädigung bezeichnen<br />

könnte, zum Beispiel im Bereich des Sozialversicherungsrechts. Bei Letztgenannten war<br />

es so, dass interessanter Weise die befassten Behörden oftmals die Einstellung vertreten haben,<br />

möglichst wenig bezahlen zu wollen. Da ist ein Sparsamkeitsgrundsatz in ganz absurdem<br />

Kontext verwendet worden. Was die Rückstellungen betrifft, muss man sagen, dass bereits<br />

die Gesetze selber Anlaß für Probleme gegeben haben. Es sind doch einige Fragen offengeblieben,<br />

die sich der Gesetzgeber hätte überlegen müssen. Einige Fragen sind im Gesetz<br />

nicht gelöst gewesen und in der Folge haben dann die Richter oftmals Entscheidungen getroffen,<br />

die für den Rückstellungspflichtigen günstiger als für den Rückstellungswerber waren. 1<br />

Betrachtet man die Praxis, lässt sich dann tatsächlich von Rückstellungen sprechen ?<br />

Ja, sicherlich. Wenn man sich die veröffentlichte Judikatur anschaut, wenn man mit Anwälten<br />

spricht, die damals involviert waren, haben natürlich Rückstellungen stattgefunden. Die<br />

Frage ist nur, ob in dem Ausmaß, in dem Vermögensentziehungen stattgefunden haben,<br />

wirklich auch Rückstellungen erfolgt sind oder ob es da Diskrepanzen gibt.<br />

Worin liegt der Unterschied zwischen den ersten beiden Rückstellungsgesetzen vom<br />

26.7.1946 und 6.2.1947 und dem 3. Rückstellungsgesetz vom Herbst 1947, das das<br />

wichtigste, aber gleichzeitig auch das umstrittenste war?<br />

Das ist eigentlich ein technischer Unterschied gewesen. Das 1. Rückstellungsgesetz regelte<br />

jene Fälle, in denen Eigentum durch das Deutsche Reich aufgrund typischer nationalsozialistischer<br />

Gesetze, wie zum Beispiel der ➤ 11. und ➤ 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz,<br />

entzogen worden war und sich nun in der Verwaltung der Republik Österreich befand. Das<br />

2. Rückstellungsgesetz regelte Fälle entzogenen Eigentums, das sich nunmehr aufgrund Verfalls<br />

im Eigentum der Republik befand. Im 3. Rückstellungsgesetz, das war quasi das Generalrückstellungsgesetz,<br />

sind auch jene Sachen erfasst worden, die jetzt Privatpersonen innegehabt<br />

haben, das betraf etwa die ganzen entzogenen Unternehmen, und deswegen war<br />

es das Gesetz, zu dem es dann die meisten Verfahren gegeben hat. Noch ein Unterschied<br />

ist vielleicht für Nichtjuristen interessant: Beim 1. und 2. Rückstellungsgesetz hat die Rückstellung<br />

in Verwaltungsverfahren stattgefunden, das heißt, man hat sich an die Verwaltungsbehörde<br />

gewandt. Daher waren die Verfahren problemloser als die nach dem 3. Rückstellungsgesetz,<br />

weil jene vor Gericht abgewickelt wurden. Man hat wirklich gegen denjenigen,<br />

der „arisiert“, also Vermögen entzogen hat oder das entzogene Vermögen in seinem<br />

Besitz gehabt hat, prozessieren müssen. Denn nach der Vermögensentziehungsanmeldeverordnung<br />

vom Herbst 1946 war jemand auch zur Vermögensanmeldung verpflichtet, der<br />

nicht direkt Vermögen entzogen, sondern von jemandem käuflich erworben hat, der seinerseits<br />

das Vermögen entzogen hat.<br />

Ein Grundsatz des 3. Rückstellungsgesetzes lautete, dass die Rückstellung zwischen<br />

zwei Privaten nicht zu Lasten des Staates gehen dürfe. Hat dieser Rückzug des<br />

Staates, etwa mit der Begründung, nicht Rechtsnachfolger des NS-Staates zu sein,<br />

die Möglichkeit der Rückstellung in der Praxis erschwert?<br />

Ja, weil dadurch bestimmte Probleme, die durch die Mitwirkung des Staates leichter lösbar<br />

gewesen wären, nur sehr schwer lösbar geworden sind, vor allem in den häufigsten Fällen<br />

von Vermögensentzug, in denen der Käufer nicht über direkte Gewaltanwendung den Besitz<br />

erzwungen hat, sondern bei denen ein Vertrag abgeschlossen wurde und der Käufer<br />

viel zu wenig bezahlt hat. Der Verkäufer hat meistens einen Großteil des Geldes gar nicht<br />

gesehen, weil dieser vom Deutschen Reich unter den verschiedensten Titeln, wie z.B.<br />

➤ Reichsfluchtsteuer und Sühneabgabe eingezogen wurde; das war Geld, das an den<br />

Staat geflossen ist. Und jetzt hat sich bei der Rückabwicklung natürlich die Frage gestellt,<br />

wer den Schaden dieses verlorenen Geldes trägt. Der Staat hat sich dafür nicht verantwortlich<br />

erklärt, und so blieb nichts anderes übrig, als entweder dem Rückstellungswerber die<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Interview mit Georg Graf<br />

125


Lücken in der Gesetzgebung<br />

Kosten aufzuerlegen oder dem Rückstellungspflichtigen. Eigentlich ungerecht, weil der<br />

➤ „Ariseur“ hat ja bezahlt, aber der Rückstellungswerber hat das Geld nie gesehen; in diesen<br />

Fällen wäre sicher die Lösung leichter gewesen, wenn der Staat etwas bezahlt hätte.<br />

Wie hat das dann in der Praxis ausgesehen, zu welchen Lasten ist es<br />

in der Regel gegangen?<br />

Das ist relativ uneinheitlich gehandhabt worden. Ich habe mir die veröffentlichte Judikatur<br />

einmal angesehen, da haben sich eigentlich Entscheidungen in beide Richtungen gefunden.<br />

Es hat welche gegeben, die eher den Rückstellungspflichtigen belastet haben, aber natürlich<br />

auch eine Reihe von Entscheidungen, die zu Lasten der Rückstellungswerber gegangen<br />

sind.<br />

Zum Zweck der Rückstellungen wurden eigene Kommissionen eingesetzt.<br />

Wann und von wem wurden diese Kommissionen eingesetzt?<br />

Welche Kommissionen gab es, und wie haben sie gearbeitet?<br />

Bezüglich des 3. Rückstellungsgesetzes war das Verfahren dreistufig aufgebaut, das heißt,<br />

es hat eine erste, zweite und dritte Instanz gegeben. Die dritte Instanz war die oberste<br />

Rückstellungskommission beim Obersten Gerichtshof, und dadurch waren die Rückstellungsverfahren<br />

dem normalen Ablauf eines Zivilverfahrens wirklich sehr angenähert, weil es dort<br />

auch dieses dreistufige Verfahren gibt. Im Gesetz selber hat es Regeln gegeben, die eine<br />

bestimmte Anzahl von Richtern, aber auch Laienrichter vorgesehen haben. Man hat sich also<br />

um eine halbwegs ausgewogene Besetzung bemüht, doch es hat dann auch immer wieder<br />

Streitigkeiten darüber gegeben. Das wird auch einer der Punkte sein, den die Historikerkommission<br />

näher untersuchen wird.<br />

Auf welcher Rechtsgrundlage sind diese Kommissionen verfahren?<br />

Die Rechtsgrundlage waren teilweise die Rückstellungsgesetze und sonst subsidiär die allgemeinen<br />

Bestimmungen des österreichischen Außerstreitrechts.<br />

Gab es personelle, strukturelle und organisatorische Kontinuitäten zwischen einerseits<br />

den einst zuständigen Behörden für die Enteignung und den mit der Rückstellung<br />

betrauten Stellen nach 1945, wenn man etwa an die ➤ Vermögensverkehrsstelle<br />

denkt, diverse Magistratsabteilungen oder das ➤ Krauland-Ministerium?<br />

Das ist eine Frage, für deren Beantwortung sicher primär Historiker zuständig sind. Es gibt<br />

aber einen sehr prominenten Fall, der diese Kontinuitäten recht gut verdeutlicht: Walther<br />

➤ Kastner, der nach 1938 für die ➤ „Arisierungen“ in der Kontrollbank zuständig war und<br />

nach 1945 in Form eines Konsulentenvertrages für das Krauland-Ministerium gearbeitet<br />

hat. Die Pikanterie, die dann noch dazukommt, liegt allerdings darin, dass im Rahmen<br />

einer großen Veranstaltung der Universität Wien Ende der achtziger Jahre, zu „Recht im<br />

Nationalsozialismus“ Walther Kastner eingeladen wurde, einen Beitrag über Rückstellung<br />

und Arisierung zu verfassen. Er hat dann natürlich ein sehr positives Bild gezeichnet. Das<br />

ist ein Einzelfall, und man darf von Einzelfällen nicht generalisieren, aber wie ich von Kollegen<br />

gehört habe, hat es mehrere solche Fälle gegeben.<br />

Betrachtet man die Details der Rückstellungspraxis: Wie wurde zum Beispiel bei<br />

Firmen, die in ehemals jüdischem Besitz standen, verfahren? Die einen wurden<br />

„arisiert“, ein Großteil wurde liquidiert oder durch stillen Boykott lahmgelegt,<br />

aufgelöst. Gab es in solchen Fällen Entschädigungszahlungen?<br />

Nein, das war ja eines der Probleme. Der Grundsatz der Rückstellungsverfahren war, daß<br />

eben das, was heute noch vorhanden ist, zurückgegeben werden muss. Aber bei jüdischen<br />

Unternehmen, bei denen die „Ariseure“ eine Stillegung oder Auflösung oftmals sinnvoller<br />

fanden, etwa zur Ausschaltung der Konkurrenz, war nichts da, was zurückgegeben hätte<br />

werden können. Da hat keine Rückstellung stattgefunden.<br />

126 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Gab es in solchen Fällen Anträge von ehemaligen BesitzerInnen, die dann<br />

abschlägig beurteilt wurden?<br />

Nach der Logik der Gesetze konnten eigentlich gar keine Anträge mehr gestellt werden.<br />

Man musste erst jemanden finden, der die Sache, die einem entzogen worden war, innegehabt<br />

hat, und den konnte man dann klagen. Der Inhalt der Klage war, das zurückzugeben,<br />

was entzogen worden war. Das hat in den Fällen nicht gegriffen, in denen Unternehmen<br />

nicht mehr da waren. Daher gab es gar niemanden mehr, an den sich ein jetzt möglicherweise<br />

aus dem Exil Zurückgekehrter hätte wenden können. Da hätte es nur über staatliche<br />

Entschädigungszahlungen Abhilfe gegeben, aber die hat es in diesen Fällen nicht gegeben.<br />

Wie wurde mit Gewinnen aus „arisierten“ und weitergeführten Betrieben verfahren?<br />

An und für sich waren diese Gewinne herauszugeben, aber die Rechtsprechung hat schon<br />

aufgrund gesetzlicher Vorgaben zwischen sogenannten „redlichen“ und „unredlichen Ariseuren“<br />

differenziert. Zur Erklärung, was diese Unterscheidung bedeutet: Der „redliche Ariseur“<br />

war nach der Rechtsprechung der, der ein Vermögen in einer Weise entzogen hat,<br />

das ihn rückstellungspflichtig machte, der aber sonst die Regeln des „redlichen Verkehrs“,<br />

wie es im Gesetz formuliert wurde, eingehalten hat. Die Gerichte haben darunter verstanden,<br />

dass der ehemalige Käufer ungefähr einen damals marktüblichen Preis bezahlt hat,<br />

wobei der marktübliche Preis natürlich auch keine objektive Größe darstellte. Oder ob der<br />

Käufer vielleicht vom Verkäufer frei ausgesucht und ihm nicht aufgezwungen wurde. Das<br />

waren die Zugänge, mit denen man hier operiert hat, und wenn jemand in diesem Sinn<br />

„redlich“ war, dann durfte er die Gewinne behalten.<br />

Und wie sah das in der Praxis der Rückstellungen aus, gab es den Verfahren zufolge<br />

überwiegend „redliche“ Erwerber, oder war das nur ein geringer Teil?<br />

Darüber werden sich erst Aussagen treffen lassen, wenn wir die Akten wirklich untersucht<br />

haben. Denn bisher lässt sich nur die veröffentlichte Judikatur beurteilen, aber die wird<br />

oder wurde ja deswegen veröffentlicht, weil es da um Fälle gegangen ist, die schwierige<br />

Rechtsfragen behandelt haben. Das ist aber nicht repräsentativ für die Frage, wie viele<br />

waren „redliche“, wie viele waren „unredliche“ Erwerber. Man wird sich wirklich die Verfahren<br />

ansehen müssen, soweit sie noch dokumentiert sind.<br />

Wie wurde in Bezug auf die Rückstellung von Wohnungen und die Aberkennung<br />

des Mietrechtes verfahren? Es hat ja sehr lange Zeit keine entsprechende Regelung<br />

für Wohnungsrückstellungen gegeben. Worin liegen die Gründe dafür?<br />

Da hat es nie eine Regelung gegeben. Es war so, dass die Regierung zwar einen Gesetzesentwurf<br />

erstellt hat, der das Problem dieser entzogenen Mietrechte regeln sollte, nur hat<br />

man sich dann nicht getraut oder ganz bewusst nicht dazu entschlossen, dieses Gesetz<br />

auch durchzubringen. Denn das Problem lag darin, dass in den Wohnungen jetzt natürlich<br />

wieder Leute wohnten, die man hätte hinauswerfen müssen. Das war ganz einfach ein zu<br />

heißes Eisen, und daher ist hier keinerlei Wiedergutmachung oder Rückstellung erfolgt. Das<br />

betrifft das Problem der Mietrechte. Wenn jemand natürlich eine Eigentumswohnung besessen<br />

hat oder ein Haus, das konnte er schon zurückbekommen. Aber wenn die Mietrechte<br />

entzogen waren, dafür hat es keine gesetzliche Regelung gegeben. Das ist besonders tragisch<br />

oder sagen wir besonders schwierig, weil in Österreich die Position des Mieters eine<br />

sehr starke ist. Nach dem Mietrechtsgesetz ist man in Österreich fast unkündbar und hat einen<br />

starken Schutz, was die Höhe des Mietzinses betrifft. Der Verlust solcher Mietrechte ist<br />

daher für die betroffenen Leute schon schwerwiegend gewesen.<br />

Sachwerte, Wohnungseinrichtungen, Schmuck – wurde das zurückgestellt?<br />

Für die Praxis der Rückstellung stellte es ein enormes Problem dar, dass die Sachen nicht mehr<br />

vorhanden oder nicht mehr auffindbar waren. Das heißt, da war auch wieder niemand zu finden,<br />

der sie innegehabt hat, und aus diesem Grund ist dann oftmals keine Rückstellung erfolgt.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Interview mit Georg Graf<br />

127


Lücken in der Gesetzgebung<br />

Wie wurde in Fällen von Vermögensentzug aufgrund sogenannter<br />

„wilder Arisierungen“ verfahren?<br />

Die „wilden Arisierungen“ sind an und für sich auch wie andere Vermögensentziehungen<br />

behandelt worden, nur bestand das Problem natürlich darin, dass hier oftmals die Beweislage<br />

eine schlechtere war.<br />

Noch einmal eine Frage zur Rückstellung von Betrieben: Wurde der Betrieb in der<br />

Regel zurückgestellt, oder haben sich ehemaliger „Verkäufer“ und „Käufer“ auf<br />

eine finanzielle Summe geeinigt? Ist eine Entschädigung in Form von<br />

Geldzahlungen geleistet worden, oder ging es tatsächlich um die Rückstellungen<br />

an den ursprünglichen Besitzer?<br />

Dazu muss man etwas weiter ausholen. Das 3. Rückstellungsgesetz hat die Möglichkeit vorgesehen,<br />

dass dann, wenn das Unternehmen sehr verändert wurde, der Anspruch des Rückstellungswerbers<br />

nur ein Geldanspruch sein konnte. Das heißt, dass er Anspruch auf eine<br />

Entschädigung, aber nicht auf das Unternehmen selbst hatte. Jetzt war es natürlich eine<br />

große Frage, und dazu gibt es auch einiges an Judikatur, wann das Unternehmen so verändert<br />

worden ist, dass es nicht mehr in natura zurückgestellt werden musste. Davon zu unterscheiden<br />

ist ein anderer Punkt: In vielen Fällen war es für den Rückstellungswerber natürlich<br />

vernünftiger, zum Beispiel wenn er nicht nach Österreich zurückkehren wollte, einen Vergleich<br />

zu schließen und quasi eine Zahlung entgegenzunehmen. Doch inwieweit oder in<br />

welchem Umfang Verfahren auf diese Weise durch Vergleich abgeschlossen wurden, wird<br />

auch ein Punkt sein, der in der Historikerkommission genauer untersucht werden wird.<br />

Der Terminus „redlicher Erwerb“ wurde bereits erwähnt, aber auch der Terminus der<br />

„freien Verfügung“ kommt in Rückstellungsprozessen immer wieder vor.<br />

Was ist darunter zu verstehen?<br />

Vor allem ist es um das Problem gegangen, das wir schon angesprochen haben, nämlich um<br />

die Frage der Gelder, die dem NS-Staat zugeflossen sind, wie beispielsweise Sühneabgabe<br />

oder Reichsfluchtsteuer. Nach der Regelung zum Beispiel des 3. Rückstellungsgesetzes musste<br />

der Rückstellungswerber nur jene Gelder zurückstellen, die ihm zur „freien Verfügung“ überlassen<br />

wurden. Der Begriff der „freien Verfügung“ bezieht sich rein formal darauf, ob der Erwerber<br />

den Kaufpreis zu irgendeinem Zeitpunkt bar auf die Hand erhalten hat; ob der danach<br />

faktisch frei darüber verfügen konnte, wurde als irrelevant angesehen. Jetzt hätte man<br />

das natürlich so deuten können, dass wenn sich der NS-Staat das Geld geholt hat, der heutige<br />

Rückstellungswerber es nicht zur freien Verfügung bekommen hat. Da haben die Gerichte<br />

eine gewisse Tendenz entwickelt, den Begriff „freie Verfügung“ sehr liberal auszulegen, und<br />

es gibt Entscheidungen, denen zufolge Gelder, die sich der NS-Staat sofort als Reichsfluchtsteuer<br />

geholt hat, insofern zur freien Verfügung standen, als damit eine sichere Flucht ins<br />

Ausland ermöglicht wurde. Das waren teilweise sehr zynische Argumentationen, aber man<br />

wird sich anschauen müssen, inwieweit das repräsentative Entscheidungen sind.<br />

Und was passiert in eindeutig nachgewiesenen Fällen von Enteignungen, wenn<br />

aber der enteignete Besitzer zum Beispiel nicht mehr lebt, an wen ging dann das<br />

geraubte Vermögen? Konnten die neuen Besitzer oder die Enteigner dann das<br />

Vermögen legal behalten oder illegal durch Unterlassen von Selbstanzeige?<br />

Naja, es ist so, dass auch die Erben rückstellungsberechtigt, also rückforderungsberechtigt<br />

waren, allerdings nicht alle Erben. Die Menge der Personen, die nach österreichischem<br />

ABGB erbberechtigt wären, ist größer als die, die nach dem 3. Rückstellungsgesetz anspruchsberechtigt<br />

waren. Um ein Beispiel zu geben: Ein Onkel des Erblassers ist nach ABGB<br />

berechtigt, nach dem 3. Rückstellungsgesetz konnte er jedoch nur unter der Voraussetzung<br />

Ansprüche geltend machen, wenn er in der Hausgemeinschaft des Erblassers lebte. Aber es<br />

war doch ein recht weiter Kreis Anspruchsberechtigter, so dass mit dem Tod desjenigen,<br />

dem Vermögen entzogen wurde, die Frage der Rückstellung nicht beendet war. Das Problem<br />

128 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


war natürlich, dass die Erben oftmals nicht auffindbar waren bzw. nicht gewusst haben,<br />

dass hier wirklich Ansprüche zu stellen wären. Bezüglich solcher Vermögenschaften hat es<br />

an und für sich gesetzliche Regelungen gegeben. Es ist vorgesehen gewesen, dass entzogenes<br />

Vermögen, das nicht zurückbegehrt wurde, in einen Fonds, zu den sogenannten ➤ Sammelstellen<br />

kommt. Diese Sammelstellen sind in den fünfziger Jahren eingerichtet worden, um<br />

das gesamte Sammelstellenvermögen, das nicht beansprucht wurde, auf bedürftige Opfer<br />

des Nationalsozialismus aufzuteilen. Das Problem oder die große Frage ist, inwieweit<br />

tatsächlich alles entzogene und nicht zurückreklamierte Vermögen dort gelandet ist.<br />

Und was passierte dann mit sogenanntem „erblosen“ Vermögen?<br />

Idealerweise ist es zu den Sammelstellen gekommen und dann verteilt worden, das heißt,<br />

das Vermögen wurde verwertet, und die Gelder sind dann ausbezahlt worden. Da hat es<br />

ganz genaue Regelungen gegeben, wie etwa das ➤ 4. Rückstellungsgesetz vom Mai 1961<br />

über die Erhebung von Ansprüchen der Auffangorganisationen auf Rückstellung von Vermögen<br />

nach der Rückstellungsgesetzgebung. In diesem Gesetz wurden den Sammelstellen<br />

die Berechtigung gegeben, Ansprüche nach der Rückstellungsgesetzgebung, die von den<br />

Betroffenen bisher nicht erhoben worden waren, geltend zu machen. Besonders wichtig ist<br />

das Auffangorganisationsgesetz, weil aufgrund dieses Gesetzes die Sammelstellen gegründet<br />

wurden, die wiederum auf eine Verpflichtung im ➤ Staatsvertrag zurückgeführt wurden.<br />

Weiters gab es das Gesetz über die Aufteilung der Mittel der Sammelstellen von 1962 und<br />

schließlich das Sammelstellenabgeltungsgesetz aus 1966. Der Gesetzgeber war da nicht<br />

unaktiv.<br />

Wie umfangreich ist die Rückstellungsgesetzgebung, wie viele Gesetze sind es circa,<br />

und in welchem Zeitraum sind sie verabschiedet worden?<br />

Rückstellungsgesetze im engen Sinn gab es sieben Stück, aber wenn man alle Gesetze, die<br />

in diesem Umfeld angesiedelt sind, zusammenzählt, wird man auf – ich würde sagen – 40<br />

bis 50 Gesetze kommen. Im Arbeitsprogramm der Historikerkommission haben wir versucht,<br />

das möglichst umfassend darzustellen. Die Gesetzgebung reicht größtenteils bis in<br />

die sechziger Jahre zurück. Es gibt aber auch noch entsprechende Gesetze aus den neunziger<br />

Jahren, zum Beispiel das ➤ Bundesgesetz vom 4.12.1998 über die Rückgabe von<br />

Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen. Bestimmte Probleme wurden<br />

eigentlich erst jetzt geregelt.<br />

Angaben über das Ausmaß der Vermögensentziehung während des Nationalsozialismus<br />

sind meistens sehr vage oder differieren sehr stark. Lassen sich zum<br />

heutigen Zeitpunkt eindeutige Aussagen treffen, oder sind erst die Ergebnisse der<br />

Historikerkommission abzuwarten?<br />

Die Historiker operieren mit Zahlen, die aber wirklich nur ganz grobe Schätzungen darstellen<br />

und furchtbar weit auseinander liegen. Eines der Ziele der Historikerkommission ist es,<br />

hier zu genaueren Zahlen zu kommen. Ob das möglich sein wird, wird man sehen, weil<br />

sich sehr schwierige Bewertungsfragen stellen. Ich muss sagen, ich glaube, dass man eher<br />

skeptisch sein muss, dass man wirklich zu absoluten Zahlen wird kommen können.<br />

Welche anderen gesellschaftlichen Gruppen, außer der jüdischen, wurden in<br />

der NS-Zeit noch systematisch enteignet? Wurden sie in der Rückstellungsgesetzgebung<br />

berücksichtigt?<br />

Ja, es hat andere Gruppen gegeben, beispielsweise politisch Verfolgte. Die Rückstellungsgesetze<br />

haben für alle gegolten. Das heißt für alle, denen Vermögen entzogen wurde, insoweit<br />

hat es hier eine Gleichbehandlung gegeben. Es wird interessant sein, einmal näher zu untersuchen,<br />

ob vielleicht bestimmte Gruppen ihre Sachen schneller zurückbekommen haben als<br />

andere. Beispielsweise hat die katholische Kirche, der ja auch sehr viel entzogen wurde, ihre<br />

Sachen sehr schnell zurückbekommen.<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Interview mit Georg Graf<br />

129


Lücken in der Gesetzgebung<br />

Lässt sich aufgrund der heutigen Aktenlage ein einigermaßen vollständiges Bild der<br />

Enteignungen und Rückstellungen von der Historikerkommission erforschen?<br />

Wir sind optimistisch, dass das mit Hilfe moderner Forschungsmethoden möglich sein wird,<br />

obwohl Akten, zum Beispiel Rückstellungsakten, in gewissem Umfang vernichtet wurden. Es<br />

hat vielfach das Bewusstsein gefehlt, dass es sich um sehr wichtige Akten handelt, man hat<br />

diese aufgrund von Platzmangel vernichtet, skartiert.<br />

Die Aktenlage konzentriert sich auf Wien, oder wird man in anderen Bundesländern<br />

auch suchen müssen?<br />

Man wird überall suchen. Es gibt auch in den anderen Bundesländern Akten, aber der<br />

Großteil des Vermögensentzugs hat sich in Wien abgespielt. Das dürften ungefähr 90 %<br />

gewesen sein.<br />

Lässt sich ungefähr sagen, welcher Prozentsatz von Akten skartiert wurde?<br />

Das lässt sich noch nicht abschätzen. Das wird ein Aufgabengebiet der Historikerkommission<br />

sein.<br />

Univ.-Prof. Dr. Georg Graf, Jurist, ist Professor am Institut für<br />

österreichisches und europäisches Privatrecht an der Universität Salzburg<br />

und ständiger Experte der Historikerkommission.<br />

1 Vgl. Erika Weinzierl, Oliver Rathkolb/Siegfried Mattl/Rudolf E.<br />

Ardelt: Richter und Gesellschaftspolitik. Symposion, Justiz und<br />

Zeitgeschichte am 12./13. Oktober 1995 in Wien. Studienverlag,<br />

Innsbruck 1997 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann<br />

Instituts für Geschichte und Gesellschaft Band 28).<br />

130 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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DER NS-KUNSTRAUB<br />

Der<br />

Mauerbachfonds<br />

Während des Nationalsozialismus wurden rund 8000<br />

Objekte, vorwiegend Kunstgegenstände, Bilder, Plastiken,<br />

Möbel, Teppiche und Geschirr aus jüdischem<br />

Privatbesitz geraubt, deren frühere BesitzerInnen<br />

bzw. ihre Nachkommen nach dem Krieg nicht mehr<br />

eruiert werden konnten.<br />

1956 hatten die Alliierten in Österreich sichergestellte<br />

Kulturgüter der österreichischen Regierung mit der<br />

Auflage übergeben, deren EigentümerInnen oder<br />

ErbInnen ausfindig zu machen. Seither wurden rund<br />

10.000 Objekte zurückerstattet.<br />

Die restlichen 8000 Objekte wurden in der Kartause<br />

Mauerbach untergebracht. Die Kartause, die nach<br />

1945 als Obdachlosenasyl diente, wurde 1961 nach der<br />

Auflösung des unter Kaiser Joseph II. gegründeten<br />

Religionsfonds der Republik Österreich übereignet. Ab<br />

1979 übernahm die Bundesgebäudeverwaltung die<br />

bauliche Umgestaltung und Verwaltung. Seit 1994 ist<br />

das Bundesdenkmalamt einziger Gebäudenutzer.<br />

Aufgrund des von 1995 novellierten 2. Kunst- und<br />

Kulturbereinigungsgesetzes wurde die ➤ Israelitische<br />

Kultusgemeinde Österreich Eigentümerin des „Mauerbach-Schatzes“.<br />

Dieser wurde am 29. und 30. Oktober 1996 im Museum<br />

für angewandte Kunst in Wien durch das Auktionshaus<br />

Christie’s versteigert.<br />

Rund 155 Millionen Schilling wurden bei dieser<br />

Auktion ersteigert. Dieser Erlös wird nun vom Bundesverband<br />

der Israelitischen Kultusgemeinden<br />

Österreichs, der Arbeitsgemeinschaft der Opfer- und<br />

➤ KZ-Verbände und Widerstandskämpfer Österreichs<br />

an bedürftige Opfer des Nationalsozialismus und<br />

deren Hinterbliebene verteilt. Davon wurden 12%<br />

zur Verteilung an nicht-jüdische Opfer des NS-Regimes<br />

übernommen, unter der Voraussetzung, dass diese<br />

Personen bisher keine Leistungen aus dem Nationalfonds<br />

der Republik Österreich erhalten haben. Die<br />

verbleibenden 88% wurden dem Zweck der Unterstützung<br />

bedürftiger jüdischer Überlebender im Inund<br />

Ausland gewidmet. Für diese Personen stellen<br />

bereits von der Republik Österreich erhaltene Leistungen<br />

keinen Ausschließungsgrund für eine Berücksichtigung<br />

dar, ebensowenig die Zuerkennung<br />

einer Leistung durch den Nationalfonds.<br />

Unter dem Namen „Mauerbach-Fonds“ wird der für<br />

bedürftige jüdische Überlebende und ihre Nachkommen<br />

bestimmte Erlös von einem Steering Committee<br />

verwaltet, dem Vertreter des Central Committee of<br />

Jews from Austria in Israel, des ➤ Committee for<br />

Jewish Claims on Austria, der ➤ World Jewish Restitution<br />

Organisation und des ➤ World Jewish Congress<br />

angehören.<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Die Geschichte<br />

enteigneter Kunstgegenstände<br />

Die Beschlagnahme zweier Bilder von Egon Schiele<br />

während einer Ausstellung der Sammlung Leopold<br />

Anfang Jänner 1998 in New York mit dem Verdacht<br />

auf „Raubgut“ löste in Österreich eine heftige Debatte<br />

über den Verbleib von Kunstwerken, die zwischen<br />

1938 und 1945 enteignet worden waren, in<br />

österreichischen Museen aus.<br />

Es wurde rasch deutlich, dass sich trotz der in der unmittelbaren<br />

Nachkriegszeit erlassenen Rückstellungsgesetze<br />

und auch teilweise erfolgter Rückstellungen<br />

heute noch immer viele während der NS-Zeit enteignete<br />

Kunstgegenstände im Besitz österreichischer<br />

Bundesmuseen befinden.<br />

Um zu klären, auf welchem Weg diese Kunstschätze in<br />

den Besitz des Bundes gelangten und wer die rechtmäßigen<br />

BesitzerInnen dieser Objekte sind, wurde von<br />

der Bundesministerin für Unterricht und kulturelle<br />

Angelegenheiten Elisabeth Gehrer im Februar 1998<br />

eine Kommission für Provenienzforschung im Bundesdenkmalamt<br />

und in den Bundesmuseen eingerichtet.<br />

Diese Kommission begann in den folgenden Monaten<br />

mit der Feststellung der Herkunft mehrerer<br />

tausend Kunstgegenstände in den österreichischen<br />

Bundesmuseen.<br />

Ein im Dezember 1998 erlassenes Bundesgesetz sollte<br />

die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den österreichischen<br />

Bundesmuseen und Sammlungen regeln,<br />

die entweder „im Zuge von Verfahren nach dem Ausfuhrverbotsgesetz<br />

zurückbehalten wurden und als<br />

‚Schenkungen‘ oder ‚Widmungen‘ in den Besitz der<br />

österreichischen Museen und Sammlungen eingegangen<br />

sind“, oder die „zwar rechtmäßig in das<br />

Eigentum des Bundes gelangt sind, jedoch zuvor<br />

Gegenstand eines Rechtsgeschäftes gewesen sind, das<br />

nach den Bestimmungen des so genannten Nichtigkeitsgesetzes<br />

aus dem Jahre 1946 nichtig ist“, bzw.<br />

„die trotz Durchführung von Rückstellungen nicht an<br />

die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger<br />

von Todes wegen zurückgegeben werden<br />

konnten und als herrenloses Gut in das Eigentum des<br />

Bundes übergegangen sind“.<br />

Im Dezember 1998 wurde außerdem ein Rückgabe-<br />

Beirat eingesetzt, der den Wirtschaftsminister, den<br />

Verteidigungsminister und die Kulturministerin in der<br />

Frage der Rückstellung von Kunstobjekten an rechtmäßige<br />

BesitzerInnen bzw. deren ErbInnen zu beraten<br />

hat.<br />

Im Februar 1999 legte der Beirat einen ersten Bericht<br />

vor über im Bundesbesitz befindliche Kunstschätze der<br />

Rothschild-Sammlung, die in der Folge zurückgestellt<br />

wurden. Weitere Rückstellungen enteigneter Kunstobjekte<br />

sollen noch im Laufe des Jahres 1999 erfolgen.<br />

131


Interview mit Hannah Lessing<br />

„Bei uns werden alle berücksichtigt“<br />

Wie ist die Gründung des ➤ Nationalfonds zustande gekommen, auf wessen<br />

Initiative und Betreiben hin?<br />

Lessing: Geredet hat man schon lange darüber, aber plötzlich ist alles sehr rasch ins Laufen<br />

gekommen. In einem Club 2, 1988, hat ➤ Albert Sternfeld gemeint, dass wir in zehn Jahren<br />

immer noch kein Resultat haben werden. Man hat schon damals dauernd danach gefragt,<br />

wann jetzt endlich etwas passiert. 1991 hat Franz Vranitzky in einer Rede von geplanten<br />

Aktivitäten gesprochen, die Grünen haben 1992, 1993 ebenfalls Forderungen in dieser<br />

Richtung gestellt. Sicher ist Sternfeld ein Faktor und ebenfalls die Friedensinitiative von<br />

➤ Döllersheim, als man überlegt hat, wie es zu bewerkstelligen ist, dass man einfach allen<br />

Opfern irgendwie hilft. Warum es dann plötzlich wirklich zu der Fünf-Parteien-Einigung gekommen<br />

ist, ist relativ unklar. Aber es waren dann im Parlament alle so weit, dass sie gesagt<br />

haben, jetzt machen wir das. Es haben sich nur die Grünen wegen der gesetzlich festgesetzten<br />

Höhe der Summe, die ausbezahlt werden soll, nicht einverstanden erklärt. Hinzu<br />

kam noch, dass die Präambel zum Gesetz, in der die Mitschuld der Österreicher an NS-<br />

Verbrechen anerkannt wurde, abgelehnt worden ist, hauptsächlich von der ÖVP.<br />

Worin liegen die Zielsetzungen und zentralen Aufgaben des Fonds?<br />

Durch die Errichtung des Nationalfonds soll die moralische Mitverantwortung und das Leid,<br />

das den Menschen in Österreich durch den Nationalsozialismus zugefügt wurde, anerkannt<br />

werden und den Opfern in besonderer Weise Hilfe zukommen, wobei wir natürlich wissen,<br />

dass das zugefügte Leid nicht wieder gut gemacht werden kann. Das ist wirklich eine der<br />

Hauptzielsetzungen des Fonds. Aus der Sicht der Mitarbeiter des Fonds war neben der materiellen<br />

Geste, die uns vom Gesetz vorgegeben ist, entscheidend, dass dieser Versöhnungsversuch<br />

wesentlich stärker im Vordergrund steht. Darum der Parteienverkehr, die Möglichkeit, bei<br />

uns zu reden, zu weinen, zu brüllen, zu schreien, die Möglichkeit, uns immer anzutreffen, telefonisch,<br />

per Fax, persönlich. Ich habe auf meinen Dienstreisen Kontakt mit den Menschen<br />

gesucht, bei Veranstaltungen mit mehr als 700 Leuten, das ist wirklich wichtig für uns. Ich<br />

sag’s auch immer wieder in Vorträgen, dass ich meine, dass der Fonds von unserer Seite, von<br />

den Mitarbeitern und auch nach der Auffassung von Nationalratspräsident Fischer, ein Versuch<br />

der Versöhnung ist. Und wir sind wirklich jeden Tag erstaunt, wie gut unsere Arbeit ankommt,<br />

wie die Leute reagieren, dass sie froh sind, dass man überhaupt mit ihnen spricht! Es<br />

ist beschämend, aber so ist es. Und auf dieser Basis arbeiten wir heute weiter.<br />

Für welche Opfergruppen ist der Fonds zuständig und für welche nicht?<br />

Einerseits gibt es das Gesetz, das 70.000 Schilling pro Person für alle Opfer des Nationalsozialismus<br />

vorsieht, und andererseits, was aus diesem Gesetz gemacht worden ist auf der<br />

menschlichen Ebene: der Versuch der Versöhnung, Brücken zu schlagen, den Leuten wirklich<br />

zeigen, dass wir da sind, dass wir ihre Anliegen ernst nehmen. Im Gegensatz zur ➤ MA<br />

12 1 sind bei uns alle Opfergruppen berücksichtigt, d.h. auch die Homosexuellen, die Zeu-<br />

132 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


gen Jehovas und die sogenannten „Asozialen“. Das sind die großen Gruppen, die bei der<br />

MA 12 nicht berücksichtigt sind. Bei den „Asozialen“ haben wir z.B. einen sehr schönen Erfolg<br />

gehabt: Wir haben im Nationalfonds die ehemaligen „Kinder vom ➤ Spiegelgrund” 2<br />

anerkannt. Sie sind dann in der Folge auch von der MA 12 anerkannt worden. Diese Kinder<br />

bekommen heute eine Opferrente. Das einzige Problem, das ich noch sehe, ist, dass die<br />

Opfer vielleicht noch nicht wirklich realisiert haben, ist, dass sie in der Opferfürsorge weiterhin<br />

nicht unter dem anerkannt sind, als was sie damals verfolgt wurden, nämlich als sogenannte<br />

„Asoziale“. Sie wurden jetzt unter die Gruppe der Behinderten gefaßt, was wirklich<br />

absurd ist. Sie sind vielleicht behindert aus diesen „Heimen“ herausgekommen, nachdem sie<br />

z.B. mit Schwefel gespritzt worden sind, aber sie sind damals als „Asoziale“ verfolgt und interniert<br />

worden. Ich weiß, dass es immer wieder an verschiedenen Opfervertretungen scheitert;<br />

besonders die Freiheitskämpfer sagen, „Asoziale sind eben Verbrecher“. Es ist ein Faktum,<br />

dass zwischen den Opfergruppen immer wieder solche Streitigkeiten bestehen, und ich<br />

versuche mich so wenig wie möglich einzumischen. Aber in puncto Recht muß hier einfach<br />

etwas geschehen. Hier geht es um wirkliche Opfer, die in Kinder-KZs waren. Denen muss<br />

man helfen, und jetzt haben die meisten eben eine Opferrente. Das sind Opferrenten für Invalidität<br />

etc. Sie haben nicht nur die ➤ Amtsbescheinigung 3 für Emigration oder für Verfolgung,<br />

sondern es wurde anerkannt, dass der Spiegelgrund einem KZ gleichzustellen ist. Das<br />

ist zwar wenig, trotzdem haben sie jetzt teilweise wirklich eine wesentliche Verbesserung ihrer<br />

Lebensqualität. Viele dieser Menschen haben es nie geschafft, ein wirkliches Leben aufzubauen,<br />

viele von ihnen waren später HilfsarbeiterInnen, sind heute fast alle MindestrentnerInnen.<br />

Ein weiterer Unterschied ist, dass die MA 12 die Witwen von Opfern immer schon<br />

anerkannt hat. Wir haben das erst vor zwei Jahren gemacht, weil es bei uns immer es hieß:<br />

nur direkt Betroffene. Ich habe das immer ein bißchen seltsam gefunden, denn ich möchte<br />

nicht wissen, wie das ist, in einem kleinen Dorf zu leben, wenn der Mann damals etwa als<br />

Widerstandskämpfer hingerichtet wurde und keine Lebensmittelkarten da waren. Aber im<br />

Allgemeinen ist es eher so, dass bei uns mehr anerkannt ist als bei der MA 12. Das sind<br />

ganz zwei verschiedene Einrichtungen. In der MA 12 bekommen erstens nur österreichische<br />

Staatsbürger einen ➤ Opferausweis oder eine Amtsbescheinigung, und nur Amtsbescheinigungsbesitzer<br />

bekommen eine Opferrente. Die Opferfürsorge hat mehr als 40 Novellen erlebt,<br />

z.B. waren ➤ Shanghai und Mauritius lange Zeit nicht als ➤ Getto anerkannt usw. Das<br />

Opferfürsorgegesetz ist ja immer stückerlweise erweitert worden.<br />

Wer leistet die Arbeit des Fonds? Wie sieht die personelle Zusammensetzung aus?<br />

Repräsentiert wird der Fonds von einem Kuratorium, das sind 21 Mitglieder, dem u.a. die<br />

drei Nationalratspräsidenten, der Bundeskanzler, der Vizekanzler, der Außenminister, VertreterInnen<br />

der einzelnen Parlamentsfraktionen und anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen,<br />

kulturellen und wissenschaftlichen Lebens Österreichs angehören, sowie VertreterInnen<br />

der betroffenen Opfer (u.a. Erika Weinzierl, Paul Grosz, ehemaliger Präsident der Israelitischen<br />

Kultusgemeinde, Superintendentin Gertraud Knoll und Weihbischof Helmut Krätzl).<br />

Das Personal besteht aus einer Generalsekretärin, zwei Referentinnen, einer Juristin, einer<br />

Büroleiterin, die das Sekretariat mit drei Sekretärinnen leitet, und sechs WerkstudentInnen.<br />

Ihre Aufgabe liegt im Parteienverkehr sowie in der Bearbeitung und Prüfung der Fragebögen,<br />

die ich dann nur mehr überblicksmäßig kontrollieren muss.<br />

Wie macht sich der Fonds seiner Zielgruppe bekannt, im In- und Ausland?<br />

Wir haben keine Inserate geschaltet, sondern zum Glück in den Medien sehr gute Verbündete<br />

gefunden, es ist ja auch unter Anführungszeichen eine „schöne Geschichte, weil wir<br />

sind sehr stolz auf das, was wir tun“ – spät, aber doch. Ich war viel im Fernsehen, und es<br />

stand auch viel in den Zeitungen. Immer wieder zu bestimmten Anlässen, z.B. am 5. Mai,<br />

aus Anlass des „Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer<br />

des Nationalsozialismus“. Immer wieder haben sich dann doch ehemalige Opfer gemeldet.<br />

Einerseits, weil sie vorher von uns nicht gewusst haben, oder andererseits, weil sie bisher<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Interview mit Hannah Lessing<br />

133


Bei uns werden alle berücksichtigt<br />

NATIONALFONDS DER REPUBLIK ÖSTERREICH FÜR OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS<br />

Am 1. Juni 1995 wurde im Nationalrat das Bundesgesetz<br />

über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer<br />

des Nationalsozialismus verabschiedet.<br />

Repräsentiert wird der Nationalfonds von einem 21köpfigen<br />

Kuratorium, dem u.a. die drei Nationalratspräsidenten,<br />

der Bundeskanzler, der Vizekanzler, der Außenminister,<br />

Vertreter der einzelnen Parlamentsfraktionen<br />

und anerkannte Persönlichkeiten aus dem öffentlichen,<br />

kulturellen und wissenschaftlichen Leben sowie VertreterInnen<br />

der Betroffenen angehören.<br />

Zur Generalsekretärin des Fonds wurde Frau Mag. Hannah<br />

Lessing ernannt, die in Zusammenarbeit mit weiteren<br />

acht MitarbeiterInnen und mehreren WerkstudentInnen<br />

die Aufgaben des Fonds, wie Bearbeitung der Anträge,<br />

Öffentlichkeitsarbeit, Personenverkehr, Recherche etc.,<br />

durchführt.<br />

Das Ziel des Fonds liegt darin, die moralische Mitverantwortung<br />

Österreichs an den nationalsozialistischen<br />

Verbrechen anzuerkennen und die besondere Verantwortung<br />

gegenüber den Opfern zum Ausdruck zu bringen.<br />

Somit sind die Leistungen des Fonds vor allem auch als<br />

moralische Geste zu verstehen.<br />

Die Leistungen des Fonds – primär einmalige Geldleistungen<br />

zwischen 70.000 und 210.000 Schilling – werden<br />

insbesondere an Personen im In- und Ausland vergeben,<br />

die bisher keine oder nur eine völlig unzureichende<br />

Leistung durch die Opferfürsorge erhalten, die in besonderer<br />

Weise der Hilfe bedürfen oder bei denen eine<br />

Unterstützung aufgrund ihrer Lebenssituation, z.B. bei<br />

Krankheit, gerechtfertigt erscheint. Dazu gehören Personen,<br />

die aus politischen Gründen, aus Gründen der<br />

Abstammung, Religion, Nationalität, der sexuellen Orientierung,<br />

aufgrund einer körperlichen oder geistigen<br />

Behinderung oder aufgrund des Vorwurfes der sogenannten<br />

„Asozialität“ verfolgt wurden, die auf andere<br />

Weise Opfer typisch nationalsozialistischen Unrechts<br />

geworden sind oder das Land verlassen haben, um einer<br />

solchen Verfolgung durch das nationalsozialistische<br />

Regime zu entgehen.<br />

Bis 31. Dezember 1998 erfolgten rund 25.000 Auszahlungen<br />

an Opfer des Nationalsozialismus oder deren<br />

Hinterbliebene.<br />

Weiters kann der Fonds auch Projekte unterstützen,<br />

die den Opfern des Nationalsozialismus zugute kommen<br />

oder der wissenschaftlichen Erforschung des Nationalsozialismus<br />

und des Schicksals seiner Opfer dienen, an<br />

das nationalsozialistische Unrecht erinnern oder das<br />

Andenken der Opfer wahren.<br />

nicht wollten oder kein Interesse hatten, doch dann haben sie sich trotzdem dafür entschieden.<br />

Im Ausland haben wir uns durch meine Reisen bekannt gemacht. Ich war bis jetzt in<br />

Australien, Amerika, Israel, Frankreich und England. Da habe ich auch sehr viele Pressekonferenzen<br />

und Fernsehinterviews gegeben. In Israel war es ein Vorteil, dass ich Hebräisch<br />

spreche und daher auch die Menschen überzeugen konnte, dass man uns „vertrauen“<br />

kann. Die Vertrauensbasis ist für uns sehr wichtig.<br />

Gibt es eine Zusammenarbeit mit anderen in- und ausländischen<br />

Organisationen und Verbänden?<br />

Ja, einerseits natürlich mit den Vertretungsbehörden, Botschaften und Konsulate helfen uns<br />

sehr. Zu manchen Ländern ist der Kontakt besonders intensiv, zum Beispiel zu England und<br />

zu Israel. Dort gibt es auch eine gute Sozialabteilung, und die kümmern sich um Staatsbürgerschaften<br />

und Pensionen und sind wirklich sehr bemüht, Amerika auch, also zu den drei<br />

großen Ländern, wo heute noch viele betroffene Menschen leben. Im Inland arbeiten wir mit<br />

allen Opfervertretungen zusammen, eben mit den verschiedenen Roma-Organisationen, mit<br />

den ➤ KZ-Verbänden und Freiheitskämpfer-Verbänden, mit der ➤ Kultusgemeinde, mit den<br />

ZeugInnen Jehovas usw. Wir sind natürlich sehr intensiv mit den verschiedenen Ämtern in<br />

Kontakt, mit der ➤ MA 61, 4 ➤ MA 8 5 und MA 12, die die Vorakten haben. Die Opfer sind<br />

aber auch untereinander anscheinend sehr in Kontakt. Gerade in Südamerika haben wir eigentlich<br />

kaum recherchieren müssen, wir haben gleich am Anfang enorm viele Anfragen bekommen.<br />

Die Frage ist jetzt, ob wir glauben, dass noch irgendwo jemand sitzt, den wir nicht<br />

gefunden haben. Wir haben aber etwa in Argentinien z.B. 400 Antragsteller, sie sind sowohl<br />

über die Botschaften als auch über die jüdischen Kultusgemeinden organisiert, es sind<br />

ja hauptsächlich jüdische Opfer im Ausland. Dort wüssten die Konsulate und die Botschaften<br />

vermutlich, wenn sie jemanden noch nicht gefunden hätten. Ein Land, das problematisch ist,<br />

ist höchstwahrscheinlich England, weil dort zum Teil viele sehr kleine Kinder mit Kindertransporten<br />

hinübergekommen sind, die ihre Eltern im KZ verloren haben und von englischen<br />

Familien aufgenommen wurden. Sie haben ihre österreichischen und ihre jüdischen Wurzeln<br />

134 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


verloren. Sie werden sich in keiner jüdischen Zeitung angesprochen fühlen und erkennen,<br />

dass es jetzt einen Fonds gibt, der für sie zuständig ist. Es kommt darauf an, in welchem<br />

Bewusstsein diese Kinder aufgewachsen sind und ob sie von ihren Pflegeeltern darüber informiert<br />

wurden, dass sie jüdische Kinder sind, die geflohen und eigentlich Österreicher sind.<br />

Wie man sie erreichen könnte, weiß ich bis heute nicht. Wir werden sicher jetzt einmal versuchen,<br />

mit der Pensionsversicherung Listen zu vergleichen. Wir haben jetzt noch AntragstellerInnen<br />

dazu bekommen, weil sich manche aufgrund des ➤ Mauerbach-Fonds an die Kultusgemeinde<br />

gewendet haben, die bisher bei uns nicht erfasst waren. Wir haben sie dann angeschrieben<br />

und gefragt, ob wir ihnen irgendwelche Unterlagen zukommen lassen können<br />

usw. Da versuchen wir wirklich auch weiterhin aktiv zu bleiben.<br />

Wie viele Anträge sind pro Jahr vom zur Verfügung stehenden Personal zu bearbeiten?<br />

Im ersten Jahr, im Oktober 95, da haben wir 200 Anträge bearbeitet, aber im nächsten<br />

Jahr waren es über 8000, je nach Budget eben. Im 96er Jahr haben wir 600 Millionen voll<br />

ausgeschöpft mit über 8000 Anträgen, im 97er Jahr ebenfalls, 1998 haben wir 500 Millionen<br />

voll ausgeschöpft. Das waren 7000 Anträge.<br />

Wie sieht der Kontakt zwischen den AntragstellerInnen und dem Fonds aus?<br />

In den ersten Monaten haben wir zwei volle Postsäcke pro Tag erhalten – zehn Kilo schwer.<br />

Wir haben an die 200 bis 300 Anträge pro Tag hereinbekommen. Daher haben wir im ersten<br />

Monat auch überhaupt niemandem bestätigen können, dass sein Antrag da ist. Wir haben<br />

von acht Uhr früh bis zwei Uhr nachts durchgearbeitet, weil wir auch nicht bereit waren,<br />

jede Woche nur 100 Fragebögen auszuschicken. Wir hatten am Anfang 10.000 Adressen,<br />

und an die haben wir innerhalb von einer Woche alle Fragebögen geschickt. Und so sind<br />

sie dann auch zurückgekommen. Im ersten Jahr ein geringer Teil, 1996 und 1997 waren<br />

dann die intensivsten Jahre. Das Geld ist aber trotzdem auch so bemessen worden, dass<br />

man überlegt hat: Wie viele MitarbeiterInnen gibt es, wie viele Anträge könnt ihr bewältigen<br />

bei dieser MitarbeiterInnenzahl? Wissend, dass wir nicht zwei Milliarden innerhalb eines<br />

Jahres bekommen werden, hat man es einfach vernünftig aufgeteilt. 600 Millionen pro Jahr<br />

ist nicht wenig. 1998 waren es 500 Millionen, und jetzt sind es 150 Millionen, weil natürlich<br />

weniger Anträge eintreffen. Nochmals zurück zum Kontakt mit den AntragstellerInnen:<br />

Wie gesagt, je nachdem, wo sie leben oder ob sie gerade in Wien auf Urlaub sind, können<br />

sie hierher kommen, viermal in der Woche von 9 bis 12, Montag bis Donnerstag. Meistens<br />

erzählen sie einfach ihre Geschichte, der Fragebogen ist ja relativ schnell ausgefüllt, aber<br />

wir haben die Erfahrung gemacht, dass die meisten Leute dann doch sehr gern eine halbe<br />

Stunde bis Stunde einfach reden. Sie wollen reden, und sie kommen auch immer wieder, der<br />

Kontakt ist rege. Diese Menschen brauchen einfach eine Anlaufstelle für ihre Sorgen, und wir<br />

waren eben die erste Anlaufstelle, und wir sind bereit, diese Menschen mit all ihren Sorgen<br />

und Krankheiten einfach so zu nehmen, wie sie sind, und wirklich da zu sein für sie. Denn<br />

dieser Kontakt macht den Unterschied. Wir wollen jetzt z.B. eine Aktion starten, dass wir in<br />

jedem Fragebogen die letzte Wohnadresse raussuchen, den Betroffenen dieses Haus fotografieren<br />

und das Foto schicken. Ich weiss, dass viele Leute immer noch von ihrem alten Haus<br />

träumen. Es sind einfach so kleine Sachen, die kosten nicht viel, sind kein großer, nur ein<br />

bißchen Mehraufwand und wieder eine Kontaktaufnahme. Wir sehen oft, dass Menschen,<br />

denen wir geschrieben haben, sehr positiv reagieren und sich freuen, dass es nicht nur mit<br />

den 70.000 Schilling endet, sondern, dass wir sie weiter informieren. Das ist der Kontakt,<br />

der meiner Meinung nach sehr wichtig ist. Wir sind natürlich auch öfter damit konfrontiert,<br />

dass wir etwas ausgelöst haben, das wir nicht kontrollieren und schon gar nicht heilen<br />

können. In solchen Fällen versuchen wir irgendwie, die Leute dazu zu überreden, sich im<br />

➤ ESRA 6 oder im PSD 7 zu organisieren. Denn manchmal gibt es wirklich Zusammenbrüche.<br />

ESRA ist für uns eine sehr wichtige Institution. Dort besteht die Möglichkeit zu Einzel- oder<br />

Gruppentherapie auf Krankenschein, und es gibt mittlerweile eine eigene Gruppe für die<br />

„Kinder vom Spiegelgrund“; wir machen dort auch unsere Supervision.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Interview mit Hannah Lessing<br />

135


Bei uns werden alle berücksichtigt<br />

Wie erfolgen Antragstellung auf etwaige Entschädigungszahlungen (Betreuung,<br />

Fristen, Verfahrensdauer) und deren Bearbeitung?<br />

Der Fragebogen ist relativ einfach auszufüllen. Die Betreuung erfolgt wie gesagt im Parteienverkehr<br />

oder telefonisch oder andernfalls durch die Botschaften oder Konsulate, die auch beim<br />

Ausfüllen helfen. Einreichfristen gibt es keine. Die Verfahrensdauer hängt vom Alter und vom<br />

Krankheitszustand der Antragsteller ab. Wir haben bis jetzt nach Altersgruppen ausbezahlt,<br />

d.h. wenn zum Beispiel jetzt, wo wir den Geburtsjahrgang 1942 auszahlen, ein/e 1917 Geborene/r<br />

einreicht, wird sein/ihr Antrag natürlich sofort bearbeitet. Wenn wir alle Unterlagen<br />

haben, wird er/sie in der nächsten Komiteesitzung bearbeitet. Komiteesitzungen gibt’s im Prinzip<br />

alle sechs Wochen, und dann dauert es meistens aufgrund der langwierigen Bankwege<br />

noch einmal acht Wochen, bis der/die Antragsteller/in sein/ihr Geld erhält. Prinzipiell kann<br />

die Frist jedoch sehr kurz sein. Aber es kann auch sein, dass ein/e 1944 Geborene/r im Dezember<br />

1995 bei uns eingereicht hat, der/die gesund ist und kein Sozialfall und daher nicht<br />

vorzuziehen ist. Er/sie kommt eben erst jetzt an die Reihe. Die Verfahrensdauer kann also datumabhängig<br />

sein oder auch nicht, je nachdem, ob wir die entsprechenden Dokumente finden.<br />

Wir haben teilweise Fälle, die seit einem Jahr in der Recherche sind. Das betrifft Menschen,<br />

die überhaupt keine Dokumente mehr haben, die aus Dörfern stammen, wo alle Archive<br />

zerstört worden sind, wo wir einfach nach Anhaltspunkten suchen, um diese Geschichte<br />

plausibel zu rekonstruieren. Einen Fall, der nicht durchgehend dokumentierbar ist, versuchen<br />

wir über intensive Recherchen zumindest plausibel zu machen. Falls kein Amt mehr Unterlagen<br />

zur Verfügung hat, geben wir nicht auf, sondern wir machen die absurdesten Recherchen und<br />

suchen mit den Antragstellern zusammen nach Anhaltspunkten, wo wir weitersuchen könnten.<br />

Ein Beispiel für ausgefallene Recherchen: Wir konnten anhand der Jahrbücher des Wiener Eislaufvereins<br />

nachweisen, dass eine Dame damals dort aktives Mitglied war, also auch ihren<br />

Wohnsitz in Wien hatte. Wir akzeptieren aber auch Straßenbahnkarten, die manche aufgehoben<br />

haben. Es sind hauptsächlich WerkstudentInnen, die diese Recherchen machen.<br />

Worin liegen die speziellen Probleme in der Praxis der Bearbeitung von Anträgen?<br />

Wenn ein/e Antragsteller/in auch nach mehrmaligen Rückfragen nicht bereit ist, uns mit Anhaltspunkten<br />

irgendwie entgegenzukommen, dann lehnen wir das nach einem Jahr oder<br />

zwei Jahren ab. Manchmal kann eine Recherche schon ein, zwei Jahre laufen. Aber<br />

irgendwann einmal muss der Akt fertig gemacht werden, weil es auch keinen Sinn hat,<br />

wenn wir einfach keine Anhaltspunkte finden. Wir brauchen zum Beispiel den Namen der<br />

Eltern oder den genauen Geburtsort, damit wir uns an die entsprechenden Archive wenden<br />

können. Wenn man uns keine Geburtsdaten und Namen gibt, können wir nichts machen.<br />

Und das ist nicht böswillig, wir können es einfach nicht. Schwierig ist es auch, wenn die Leute<br />

zu alt oder zu krank sind oder sich nicht mehr erinnern können. Ihre Kinder sind aber meistens<br />

sehr kooperativ. Häufig genügen auch zwei Zeugenaussagen, um eine Darstellung<br />

plausibel zu machen. Es ist aber manchmal wirklich schwierig, denn wenn jemand 95 Jahre<br />

alt ist, ist auch die Anzahl an ZeugInnen schon sehr gering. Aber es ist nicht so, dass wir in<br />

solchen Fällen prinzipiell ablehnen oder abgelehnt haben. Von insgesamt 28.000 eingereichten<br />

Anträgen wurden bis jetzt 1600 abgelehnt. Wobei sehr viele dieser Ablehnungen<br />

daraus resultieren, dass die Antragsteller gar nicht anspruchsberechtigt sind, wie jemand,<br />

der/die 1965 geboren ist und mit Spätfolgen argumentiert, oder ein Wehrmachtssoldat, der<br />

meint, er sei ein Opfer gewesen, oder jemand, dem man 1942 sein Motorrad geklaut hat.<br />

Wird bei Zahlungen zwischen einzelnen Opfergruppen unterschieden?<br />

Bei uns gibt es keine Unterscheidung zwischen den Opfergruppen. Bei mir gibt es kein rotes<br />

J, keinen schwarzen oder roten Winkel. 70.000 Schilling für jeden, und wer Sozialfall ist,<br />

kann bis zum Dreifachen bekommen. Der Sinn des Nationalfonds war, dass man dieses Mal<br />

gesagt hat, es soll eine Direkthilfe sein, und daher ist das Geld nicht für Organisationen bestimmt.<br />

Es wird zwar durch Projekte, die wir unterstützen, auch etwas an Organisationen gezahlt,<br />

aber prinzipiell galt immer die Maxime der Individualzahlungen. Und ich glaube, auch<br />

136 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


deswegen ist der Fonds so gut angekommen, weil das die erste Organisation ist, die wirklich<br />

Individualzahlungen macht, wo das Geld wirklich zum Opfer direkt aufs Konto kommt. Österreich<br />

hat zwar viele Projekte unterstützt, in Israel Altersheime ausgebaut usw., aber das kam<br />

nicht den einzelnen Opfern zugute. Wir haben aber von Anfang an wirklich immer betont,<br />

dass es eine symbolische Geste für alle Opfer sein soll. Wir bewerten kein Leid, das ist auch<br />

nicht möglich, etwa jenes derer, die im KZ waren, derer, die jetzt wieder die österreichische<br />

Staatsbürgerschaft erhalten haben, die durch die Amtsbestätigung ihr Leid bescheinigt bekommen<br />

haben. Also ich finde es fürchterlich, und ich glaube auch nicht, dass man etwas<br />

machen kann. Es ist nämlich aufgrund der Erfahrung, die wir hier gemacht haben, öfter zu<br />

sehen gewesen, dass jemand, der das KZ zum Beispiel überlebt hat, recht gut damit umgehen<br />

kann und eigentlich dadurch sehr stark geworden ist, dass aber andere Menschen an<br />

der Emigration zerbrochen sind. Man kann einfach nicht beurteilen, wer mehr gelitten hat.<br />

Wie sieht das Verhältnis zwischen den Antragstellungen und den<br />

tatsächlichen Zahlungen aus?<br />

Insgesamt sind ca. 28.000 Fragebögen eingelangt, Zahlungen sind bis 25. April ca.<br />

25.881 erfolgt. Ja, wir haben 30.000 Adressen im Computer. Es passiert auch, dass sich<br />

einige Leute gemeldet haben, die keinen Anspruch haben, das wird sich erst herausstellen.<br />

Wir sammeln einfach Adressen und bekommen immer wieder neue Namen.<br />

Wie viele Opfer konnten bisher erfasst werden, wie viele Opfer sind Ihrer Einschätzung<br />

nach noch nicht vom Fonds erfasst? In welchem Ausmaß sind die Anträge<br />

in den Jahren seit der Gründung des Nationalfonds 1995 zurückgegangen?<br />

Erstens besteht die Frage, wen definieren wir jetzt als Opfer, welche Gruppen sind bisher<br />

noch nicht berücksichtigt, welche sind noch nicht vom Gesetz gedeckt? Zum Beispiel gibt es<br />

eine benachteiligte Gruppe, die wir vielleicht jetzt aufnehmen werden: alle aus Deutschland<br />

Geflohenen, die 1933 nach Österreich gekommen sind. Sie waren deutsche Staatsbürger,<br />

sind in ein deutschsprachiges Land geflohen und 1938 weiter vertrieben worden.<br />

Diese Gruppe ist weder bei uns erfasst noch in der deutschen Opferfürsorge. Aber es ist<br />

fast unmöglich einzuschätzen, wieviele dieser Menschen noch nicht erfasst sind. Einerseits<br />

jene, die noch nicht vom Nationalfonds wissen, das, glaube ich, sind aber eher wenige, jene,<br />

die nicht wollen, das sind sicher noch ein paar, aber auch nicht viele, weil wir sehr viel<br />

Überzeugungsarbeit geleistet haben. Wir haben uns nicht einfach damit zufriedengegeben<br />

– „wer sich nicht meldet, will nicht“ –, sondern wir haben wirklich Aufrufe gemacht. Auch<br />

im Fernsehen über „Hallo Austria, hallo Vienna“, dreimal bis jetzt. Wie viele nach dem<br />

Gesetz Anspruchsberechtigte gar nicht eingereicht haben, ist relativ unklar, aber wir schätzen,<br />

dass es so um die 1000 sind. Wir haben am Anfang Hunderte von Anträgen pro Tag<br />

erhalten, jetzt sind es ca. 20 in der Woche, das ist aber nicht wenig. Auch in Österreich<br />

haben sich jetzt noch sehr viele Hinterbliebene gemeldet.<br />

Wie sind die Zahlungen des Fonds zu verstehen, als Entschädigungsleistung, als<br />

Wiedergutmachung, als fürsorgerische Maßnahme, als „moralische Geste“,<br />

als „Tropfen auf dem heißen Stein“?<br />

In unseren Papieren, Vorträgen usw. wird nie von Wiedergutmachung oder Entschädigung<br />

gesprochen. Es ist eine symbolische, moralische Geste der Republik. Wir waren immer ehrlich<br />

und haben gesagt, es ist nicht als Entschädigung oder als Wiedergutmachung zu<br />

sehen, weil auch nichts wieder gut gemacht werden kann und weil auch eine Million mir<br />

meine Großmutter nicht aus Auschwitz zurückbringt. Es war das, was zu der Zeit an Budgetmitteln<br />

möglich war, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen und ihnen doch<br />

ein wenig zu helfen. Es gibt wirklich genügend Menschen, für die 70.000 Schilling wahnsinnig<br />

viel Geld ist. Und wenn jemand wirklich sozial bedürftig ist – wie zum Beispiel ein<br />

Mann, der viele Jahre querschnittgelähmt ist, in einem Haus wohnt, in dem es keinen Aufzug<br />

gibt, und jetzt sind in Israel die Betreuungsstunden zurückgeschnitten worden und er<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Interview mit Hannah Lessing<br />

137


Bei uns werden alle berücksichtigt<br />

wird nicht mehr betreut, er sitzt jetzt einfach nur mehr in seiner Wohnung und kann sich mit<br />

dem, was er hat, keine Hilfe leisten –, jetzt unterstützen wir ihn als Sozialfall, um irgendwie<br />

den Bau eines Aufzuges zu ermöglichen. Wenn ein Aufzug dort ist, dann ist seine Lebensqualität<br />

um 1000 Prozent gestiegen. Das sind eben die Sachen, die wir versuchen. Das ist<br />

dann schon mehr als eine moralische Geste, aber es ist auf keinen Fall Wiedergutmachung<br />

oder Entschädigung. Und natürlich ist es ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn man bedenkt,<br />

zu welchen Ergebnissen höchstwahrscheinlich die Historikerkommission kommen<br />

wird, bezüglich dessen, was alles geraubt worden ist.<br />

Wird der Nationalfonds in Zukunft mögliche Zahlungen an ehemalige ZwangsarbeiterInnen<br />

übernehmen?<br />

Alles ist startbereit. Ich habe hier bereits Adressen von fast allen Überlebenden in Russland,<br />

mit Angaben der Bauern, wo sie gearbeitet haben, von wann bis wann etc. Natürlich bin<br />

ich mit der Organisation in der Russischen Föderation in Kontakt, ebenso mit der Ukraine.<br />

Es ist uns jetzt mit Hilfe der Grünen und der Liberalen gelungen, das Gesetz zu ändern, so<br />

dass wir von jedem Rechtsträger Geld annehmen dürfen, ohne vertraglich verpflichtet zu<br />

sein, nur an die jeweiligen Opfergruppen, die er mir definiert, auszuzahlen. Allerdings<br />

wird das unter Umständen Einzel- oder ➤ Sammelklagen gegen diese Firmen nicht verhindern<br />

können. Das ist meiner Meinung nach der größte Problempunkt. Ein weiterer entscheidender<br />

Grund für die Verzögerung liegt auch darin, dass jetzt Wahlzeit (Herbst 1999) ist.<br />

Es ist nicht sehr populär, in Zeiten von Sparpaketen Milliarden von Schillingen an frühere<br />

Zwangsarbeiter zu zahlen. Meiner Meinung nach wird die Regierung trotzdem einen<br />

Großteil dessen zahlen müssen. Die Firmen werden nicht bis zu fünf Milliarden aufbringen<br />

können. Ich rechne mit über 100.000 Überlebenden. Wenn jeder 35.000 Schilling<br />

bekommt, dann haben wir 3,5 Milliarden, mit administrativen Kosten usw. kommen wir auf<br />

4 Milliarden. Ich glaube nicht, dass die großen Firmen das allein aufbringen können. Die<br />

kleinen Firmen schon gar nicht, es darf nicht existenzbedrohend sein für eine Firma, das<br />

Ganze hat keinen Sinn, wenn dann Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen.<br />

Ein Großteil der ZwangsarbeiterInnen war in der Landwirtschaft tätig,<br />

wer zahlt für diesen Bereich?<br />

Zwar laufen die Klagen über die Landwirtschaftskammer, aber trotzdem wird der Staat<br />

zahlen müssen. Und ich glaube, das ist sozusagen der Bremsfaktor. Ich versuche das jetzt in<br />

der Öffentlichkeit so darzustellen, dass es kein Wahlkampfthema sein müsste, wenn man den<br />

Fonds mit dieser Gesetzesänderung den Firmen als Instrument der Verteilung anbietet. Dann<br />

wäre schon einmal ein Anfang gemacht. Ich kann die Schuld einer Firma nicht bemessem<br />

und ich werde das auch nicht tun. Ich werde jedes Geld annehmen, und da bin ich mir nicht<br />

zu schade und sage einfach: „Danke schön, ich werde es verteilen.“ Weil jeder Groschen,<br />

den wir erhalten, kommt den Opfern zugute. Ob das jetzt die Schuld der Firma wett macht,<br />

ist für mich nicht so wichtig. Der Fonds ist ein reines Verteilungsinstrument und eine Anlaufstelle<br />

für die Opfer. Und je mehr Geld ich habe, desto mehr kann ich den Opfern helfen.<br />

1 Magistratsabteilung 12: Sozialamt der Stadt Wien, inkl. Opferfürsorgereferat;<br />

in den Bundesländern liegt die Zuständigkeit bei<br />

den Sozialreferaten der einzelnen Bezirkshauptmannschaften bzw.<br />

der Bezirksämtern; die Tätigkeit sowohl der MA 12 als auch der Sozialreferate<br />

der Länder basiert auf dem Opferfürsorgegesetz.<br />

2 „Am Spiegelgrund”: Auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalt<br />

„Am Steinhof“ waren während der NS-Zeit drei Einrichtungen zur<br />

Internierung von Kindern und Jugendlichen untergebracht; siehe<br />

dazu den Artikel von Jana Müller, „Kinder und Jugendliche als<br />

Opfer der NS-Verfolgung“, in diesem Band.<br />

3 Vgl. den Text von Brigitte Bailer-Galanda, „Die Maßnahmen der Re-<br />

Mag. Hannah Lessing ist Generalsekretärin des<br />

„Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“<br />

publik Österreich für die Widerstandskämpfer und Opfer des<br />

Faschismus – Wiedergutmachung“, in diesem Band.<br />

4 Magistratsabteilung 61: Staatsbürgerschafts- und Personenstandsangelegenheiten.<br />

5 Magistratsabteilung 8: Wiener Stadt- und Landesarchiv.<br />

6 ESRA: Initiative zur psychosozialen, sozialtherapeutischen und soziokulturellen<br />

Integration; ein Beratungs- und Behandlungszentrum für<br />

psychosoziale Probleme und Krankheitsbilder, die durch das Holocaustbzw.<br />

Entwurzelungs-Syndrom bedingt sind. Ambulanz/Beratung: 1020<br />

Wien, Tempelgasse 5 A; Tageszentrum: 1020 Wien, Haidgasse 1.<br />

7 PSD: Psychosozialer Dienst der Stadt Wien.<br />

138 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

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Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


„ICH BIN DAFÜR, DIE SACHE IN DIE LÄNGE ZU ZIEHEN“<br />

ROBERT KNIGHT<br />

Auszug aus dem Protokoll der 132. Ministerratssitzung<br />

vom 9. November 1948 (unter Verschluß<br />

gehalten): Fonds aus erblosem Vermögen<br />

Punkt 12 der TO, lit. a): Fonds für Judenvermögen.<br />

BM Dr. Zimmermann berichtet anhand der Beilage C<br />

über das Begehren amerikanischer Kreise nach Schaffung<br />

eines Fonds für verarmte jüdische Rückwanderer.<br />

BK: „Wer will das Wort?”<br />

BM Kraus: „Im Vortrag steht, daß ungeachtet der<br />

nach der Verfassung geltenden Gleichberechtigung<br />

diese Maßnahmen gelten sollen. Ich weiß aber nicht,<br />

wie gerade jetzt eine Rasse besondere Privilegien bekommen<br />

soll. Andere, die nicht weggingen, bekommen<br />

keine Unterstützung, die Juden aber sollen eine<br />

solche erhalten. Ich weiß, daß die Landwirtschaft bereits<br />

im Jahre 46 ein großes Aufbaugesetz sich geschaffen<br />

hat. Da aber die Juden Mittel und Fonds bekommen<br />

sollen, die wir selbst nicht bekommen, ist die<br />

Verwirklichung dieser Gesetze bis jetzt noch nicht<br />

möglich gewesen. 1 Wichtige Aufgaben wie Instandsetzungen<br />

von Schulen und Spitälern usw. können wir<br />

nicht aufgeben. Ich stimme diesem beabsichtigten<br />

Projekt nicht zu.”<br />

BM Übeleis: „Die Bundesbahnen haben 82 Mill. unbezahlte<br />

Rechnungen liegen.” 2<br />

BM Dr. Krauland: „In Wien leben derzeit 9000 Juden.<br />

Ihre Lage ist ärmlich. Die Angelegenheit ist außerdem<br />

auch als staatspolitische zu werten. Daß ihnen geholfen<br />

werden soll, soll nicht bestritten bleiben, wenn es<br />

notwendig ist. Man muß aber auch auf den Eindruck<br />

im In- und Ausland rechnen. Man muß auch mit dem<br />

Einfluß der Juden in Amerika rechnen, und dieser Einfluß<br />

oder Eindruck muß erwogen werden. Ich will mit<br />

meinen Ausführungen nur das Bild ergänzen.”<br />

BM Dr. Kolb: „Von dem Reichtum hat Österreich<br />

nichts und das Unrecht, das den Juden zugefügt wurde,<br />

hat Österreich nicht zugefügt. Österreich und das<br />

Großdeutsche Reich, das ist ein Unterschied.” 3<br />

➤ BM Helmer: „Was den Juden weggenommen wurde,<br />

kann man nicht auf die Plattform ‚Großdeutsches<br />

Reich‘ bringen. Ein Großteil fällt schon auf einen Teil<br />

unserer lieben Mitbürger zurück. Das ist eine Feststellung,<br />

die den Tatsachen entspricht. Aber auf der anderen<br />

Seite muß ich sagen, daß das, was im Antrag steht,<br />

richtig ist. Ich sehe überall nur jüdische Ausbreitung<br />

wie bei der Ärzteschaft, beim Handel vor allem in Wien.<br />

Eine Separataktion kann man aber nicht durchführen.<br />

Die Sache ist aber auch eine politische. Auch den Nazis<br />

ist im Jahre 1945 alles weggenommen worden, und wir<br />

sehen jetzt Verhältnisse, daß sogar der nat. soz. Akademiker<br />

auf dem Oberbau arbeiten muß.”<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

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Aus den Ministerratsprotokollen 1945–1952<br />

BM Dr. Krauland: „Morgen fährt ➤ Trobe nach Amerika,<br />

und da heißt es, was soll geschehen, welche Antwort<br />

erhält er?”<br />

BM Helmer: „Wir leben nicht mehr im Jahre 1945. Die<br />

Engländer bekämpfen jetzt die Juden; die Amerikaner<br />

haben auch ihre Verpflichtungen nicht eingehalten.<br />

Schon die Grausamkeiten der Juden im Palästina-<br />

Krieg haben ihr Echo gefunden. Der Trobe ist auch<br />

mit Vorsicht zu genießen. Ich wäre dafür, daß man die<br />

Sache in die Länge zieht. Bedenken Sie, so müßte<br />

man ihm sagen, wir müssen auf verschiedene Dinge<br />

Rücksicht nehmen. Es gibt schon Leute, die das verstehen.<br />

Die Juden werden das selbst verstehen, da sie<br />

im klaren darüber sind, daß viele gegen sie Stellung<br />

nehmen. Man sollte ihm ganz einfach sagen, wir werden<br />

schon schauen.”<br />

BM Dr. Krauland: „Der gleiche Antrag wurde schon<br />

vor 1/2 Jahr eingebracht.”<br />

BK: „Dem Antrag wird die Zustimmung im Ministerrat<br />

nicht gegeben. Es ist schwer, woher wir die Mittel aufbringen<br />

sollen. Im Parlament den Antrag vorzubringen,<br />

hätte nur innen- und außenpolitische Schwierigkeiten<br />

zur Folge. Außerdem würde hier ein Gegensatz,<br />

eine schwere Lage zu den Nationalsozialisten<br />

geschaffen werden. Auch ein Nein können wir uns<br />

heute nicht leisten. Wir müssen sagen, daß wir momentan<br />

in Budgetberatungen stecken. Wir erklären,<br />

lassen Sie uns Zeit, damit wir unser Budget in Ordnung<br />

bringen und sehen, wo und wie wir Ihnen<br />

helfen können. Diese Erklärung können wir Trobe<br />

geben, und dann muß man schauen, ob wir nicht in<br />

Amerika mehr Mittel aufbringen können.”<br />

Aus: Robert Knight: „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu<br />

ziehen.“ Die Wortprotokolle der österreichischen<br />

Bundesregierung 1945–1952 über die Entschädigung der Juden,<br />

Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1988, S. 195–202<br />

1 Vgl. BGBl. Nr. 175 vom 26. Juli 1946 über Beihilfen zum Wiederaufbau<br />

kriegsbeschädigter land- und forstwirtschaftlicher<br />

Betriebe (Landwirtschaftliches Wiederaufbaugesetz).<br />

Außer dem von Trobe erwähnten Betrag von 400.000 Schilling<br />

ist dem Autor keine weitere finanzielle Unterstützung<br />

der Kultusgemeinde durch die Regierung bekannt.<br />

2 Der Budgetvoranschlag vom 27. Oktober sah Ausgaben von<br />

6.089,422.100 Schilling und Einnahmen von 6.090,789.900<br />

vor, so daß ein kleiner Überschuß von 1,347.800 Schilling<br />

aufschien. Der außerordentliche Aufwand für Wiederaufbau<br />

und Investitionen umfaßte Ausgaben von 1.422,250.300<br />

Schilling. Aus dem ERP Counterpart Fonds wurden für die<br />

erste Jahreshälfte 1949 1,7 Milliarden Schilling bereitgestellt,<br />

u. a. für die Elektrifizierung und andere Investitionen<br />

der Bundesbahn eine Zuwendung von 218,930.000 Schilling.<br />

3 Vgl. Kolbs Rede im Nationalrat zum Nichtigkeitserklärungsgesetz<br />

vom 15. Mai 1946.<br />

139


Interviews mit<br />

Mitgliedern der<br />

Historikerkommission<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Historikerkommission<br />

Im Herbst 1998 wurde vom Bundeskanzler, dem Vizekanzler, den Präsidenten des Bundesrats<br />

und des Nationalrats eine Kommission eingesetzt mit dem Mandat, den Vermögensentzug<br />

auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw.<br />

Entschädigungen der Republik Österreich seit 1945 zu untersuchen. Damit reagierte die<br />

österreichische Regierung auf in- und ausländische Forderungen nach einer vollständigen Aufklärung<br />

über den tatsächlichen Umfang der Beraubung verschiedener Bevölkerungsgruppen,<br />

insbesondere aber der jüdischen Bevölkerung, durch das nationalsozialistische Regime in<br />

Österreich und über das Ausmaß und die Praxis der Rückstellungen in der Zweiten Republik.<br />

Die seit dem Herbst 1996 durch ➤ Sammelklagen aus den USA geweckte internationale<br />

Aufmerksamkeit bezüglich der Rolle zunächst der schweizerischen, dann auch der deutschen<br />

und der österreichischen Banken im Umgang mit ➤ „Raubgold“ und sogenannten<br />

„nachrichtenlosen“ Bankkonten sowie der Konflikt um die rechtmäßigen EigentümerInnen<br />

von Gemälden und anderen Kunstobjekten, die sich heute im Eigentum der Republik Österreich<br />

befinden, haben wesentlich dazu beigetragen, dass nun verschiedene staatliche Institutionen<br />

ihre Vergangenheit im Zusammenhang mit diesen Fragen erforschen lassen. So<br />

überprüft etwa die Anfang 1998 beim Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten<br />

eingerichtete ➤ Kommission für Provenienzforschung die tatsächliche Herkunft<br />

von in Bundesmuseen befindlichen Objekten; einige Objekte bzw. Teile von Sammlungen<br />

wurden bereits an ihre rechtmäßigen BesitzerInnen bzw. ErbInnen zurückgestellt.<br />

Neben der Frage des Vermögensentzugs durch die Enteignung von Firmen, Geschäften,<br />

Wohnungen, Mobiliar, durch den Einzug von Bankkonten, den Verfall von Versicherungsund<br />

Pensionsleistungen etc. wird von der Kommission auch das Ausmaß der während des<br />

Nationalsozialismus zum größten Teil von zivilen AusländerInnen geleisteten Zwangsarbeit<br />

untersucht. Auch einige österreichische Unternehmen haben zur Untersuchung ihrer Firmengeschichte<br />

zwischen 1938 und 1945 Forschungsteams beauftragt.<br />

Die österreichische Historikerkommission besteht aus sechs Mitgliedern und drei ständigen<br />

ExpertInnen: ao. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner, Mag. Dr. Brigitte Bailer-Galanda,<br />

Gen.-Dir. Hon.-Prof. Dr. Lorenz Mikoletzky, Dr. Bertrand Perz, ao. Univ.-Prof. Dr. Roman<br />

Sandgruber, Dr. Robert Knight, ao. Univ.-Prof. Dr. Georg Graf, o. Univ.-Prof. Dr. Karl Stuhlpfarrer,<br />

Prof. DDr. h.c. Alice Teichova. Rund zwanzig wissenschaftliche MitarbeiterInnen<br />

werden für die konkrete Forschungsarbeit der nächsten zwei Jahre hinzugezogen.<br />

Obwohl die Einsetzung einer Historikerkommission von vielen Seiten als notwendiger<br />

Schritt zur vollständigen Aufklärung des Vermögensentzugs begrüßt wurde, hat sie aber<br />

auch Kritik hervorgerufen, etwa hinsichtlich der Gewährleistung der Unabhängigkeit ihrer<br />

Forschung und hinsichtlich dessen, ob konkrete Rückstellungen und Entschädigungen an die<br />

Opfer von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Erforschung abhängig gemacht – und<br />

damit wieder um ein paar Jahre verzögert – werden sollen.<br />

In Interviews mit Clemens Jabloner, dem Vorsitzenden der Historikerkommission, Bertrand<br />

Perz, einem Mitglied der Kommission, und Karl Stuhlpfarrer, einem der drei ständigen ExpertInnen<br />

der Kommission, sollen sowohl die Aufgaben und Zielsetzungen der Historikerkommission<br />

dargestellt als auch die Problematik solcher Kommissionen diskutiert werden.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

141


Interview mit Clemens Jabloner<br />

„Wir liefern historische Fakten“<br />

Warum werden in Österreich heute – mehr als 50 Jahre nach dem Ende der<br />

nationalsozialistischen Herrschaft – Fragen um Rückstellungen und Entschädigungsleistungen<br />

öffentlich diskutiert?<br />

Jabloner: Das hat mehrere Gründe. Zum einen gibt es eine Bewusstseinsänderung, zumindest<br />

bei den meinungsbildenden Schichten in Österreich. Man will, dass das Land<br />

möglichst unbelastet von seiner Vergangenheit in das nächste Jahrhundert gehen kann.<br />

Außerdem gibt es neu erschlossene Quellen, ein neues Interesse an zeitgeschichtlicher<br />

Forschung, und es gibt eine geänderte Einstellung auch bei den Opfergruppen. Insbesondere<br />

bei den vertriebenen und ausgeraubten Juden war es so, dass sie nach dem<br />

Krieg oft einfach froh waren, überlebt zu haben, oder mit Österreich überhaupt nichts zu<br />

tun haben wollten. Es ist jetzt erst die nächste Generation, die sich hier stärker artikulieren<br />

kann.<br />

Warum wurde die Historikerkommission eingesetzt?<br />

Das Ziel der Historikerkommission ist es, den gesamten Komplex Vermögensentzug auf dem<br />

Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen<br />

sowie wirtschaftliche und soziale Leistungen der Republik Österreich ab 1945 zu<br />

erforschen und darüber zu berichten. Im Wesentlichen sind das drei große Themenbereiche,<br />

nämlich die Formen der Beraubung, besonders die ➤ „Arisierung“ zwischen 1938 und<br />

1945, zweitens das Rückstellungswesen, also die Frage, was die Republik Österreich nach<br />

1945 getan hat, um die Opfer zu entschädigen oder Vermögen rückzustellen, und drittens<br />

als eigener Themenkomplex die Problematik der Zwangsarbeiter.<br />

Um welche Opfergruppen geht es, wer war davon betroffen?<br />

Die Opfergruppen sind vielfältiger, als es zunächst scheinen mag. Es sind in erster Linie die<br />

Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, es sind die Slowenen und Sloweninnen in Österreich,<br />

aber auch die Angehörigen bestimmter religiöser Gruppen wie die Zeugen Jehovas, Homosexuelle<br />

und weitere Gruppen, die ich jetzt vielleicht nicht vorstellig genannt habe, und<br />

die Zwangsarbeiter.<br />

Werden auch die „TäterInnen“, das heißt diejenigen, die vom Vermögensentzug<br />

profitiert oder ihn durchgeführt haben, Gegenstand der Forschung sein?<br />

Man muß klarstellen, dass die Historikerkommission kein Gericht ist. Sie untersucht nicht<br />

Einzelfälle in dem Sinn, dass am Ende ein gerichtliches Urteil steht. Sie wird sich aber sehr<br />

wohl auch mit der Frage auseinanderzusetzen haben, wer denn die Profiteure dieser Entzugsmaßnahmen<br />

waren, und wieviel von diesem Vermögen heute noch in den Händen der<br />

Profiteure oder eben ihrer Nachfolger ist.<br />

142 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Wie sieht die Aktenlage aus, nachdem ja in den vergangenen Jahren beispielsweise<br />

bei den zuständigen Gerichten Rückstellungsakten teilweise skartiert,<br />

also vernichtet worden sind?<br />

Ja, die Archivlage ist unübersichtlich. Das heißt, der erste Schritt des Forschungsprojekts besteht<br />

darin, zunächst einmal den Zustand und die Vollständigkeit der Archive zu überprüfen.<br />

Es kann durchaus sein, dass Gerichtsakten schon skartiert sind, besonders aus dem<br />

Oberlandesgerichtssprengel Wien. Man wird erst sehen, ob es noch genug Akten gibt;<br />

man kann aber zum Beispiel auch über sekundäre Quellen, etwa über Rechtsanwaltskanzleien,<br />

an Akten herankommen.<br />

Wie ist der Archivzugang der Mitglieder und MitarbeiterInnen der Historikerkommission<br />

auf Länder- und Bundesebene geregelt?<br />

Auf Bundesebene ist der Zugang zum Staatsarchiv voll gewährleistet, und das wird auch in<br />

einem Gesetz Niederschlag finden, dem Bundesarchivgesetz. 1 Wir sind davon geleitet,<br />

dass bei allen anderen öffentlichen Archiven, besonders bei den Ländern und Städten, gleiche<br />

Einsichtsmöglichkeiten bestehen werden. Ein gewisses Problem sind private Archive.<br />

Hier überlegen wir uns vor allem, diese Archive, beispielsweise Firmenarchive, Bankenarchive<br />

etc., besser unter Schutz zu stellen, damit keine Akten vernichtet werden können. 2<br />

Wir gehen aber grundsätzlich davon aus, dass man uns doch sehr entgegenkommen wird.<br />

Für uns ist es auch wichtig, dass in vielen privaten Bereichen ja komplementäre historische<br />

Forschungen schon in Gang sind. Das entbindet uns zwar nicht von der Verpflichtung zu<br />

forschen, aber wir können zunächst diese Forschungsergebnisse überprüfen, und wenn sie<br />

wissenschaftlich in Ordnung sind, kann man auf sie verweisen.<br />

Wo bestehen forschungsmäßig die größten Lücken?<br />

Das kann ich als Nichthistoriker nicht beantworten, weil es bereits Teil der wissenschaftlichen<br />

Arbeit ist, sich darüber einen Überblick zu verschaffen. Was man erst nach und nach<br />

erkennt, ist, in welcher Weise das Naziregime auch ein wirtschaftliches Unternehmen war.<br />

Diese Zusammenhänge sind nie richtig in den Blickpunkt gekommen. Der relativ kompliziert<br />

organisierte Raub, die Ausbeutung – das soll durch die Forschungsarbeit der Historikerkommission<br />

klarer werden.<br />

Worin liegt der Unterschied zwischen der Historikerkommission und den von<br />

Ministerien oder Firmen eingesetzten Forschungsteams?<br />

Die Historikerkommission hat einen sehr umfassenden Auftrag, der gewissermaßen alles<br />

überwölbt. Die ➤ Provenienzkommission im Unterrichtsministerium beschäftigt sich im Speziellen<br />

mit Bildern, das Dorotheum beschäftigt sich mit seiner eigenen Geschichte, die Postsparkasse<br />

mit ihrer usw. Wir haben vor allem auch in den Blick zu nehmen, wie die Rechtslage<br />

nach 1945 in Österreich war. Uns interessieren weniger spektakuläre Einzelfälle, so<br />

interessant und wichtig sie auch sein mögen, sondern uns interessiert der Blick auf den kleinen<br />

Mann, auf die kleine Frau, auf die vielen Namenlosen, die das wenige, was sie hatten,<br />

verloren haben und denen das dann nicht zurückgegeben wurde. Das ist eine andere<br />

Art des Zugangs als der Zugang, das Schicksal eines berühmten Gemäldes zu erforschen.<br />

Von Seiten der Politik ist mit dem Forschungsauftrag die Erwartung verbunden,<br />

dass damit konkrete Entscheidungsgrundlagen für noch ausstehende<br />

Rückstellungen und Entschädigungen geschaffen werden.<br />

Das ist eine sehr ambivalente Sache. Die Historikerkommission bewegt sich auf einem<br />

schmalen Grat. Man muss vor allem dem Vorwurf von Opferseite begegnen, ein weiteres<br />

Instrument zur Verzögerung zu sein. Viele der Betroffenen sind ja schon sehr alt. Ich kann<br />

nur bei jeder sich bietenden Gelegenheit betonen, dass man, um rechtspolitische Schritte<br />

zu setzen, nicht die Ergebnisse der Historikerkommission abwarten muss. Natürlich wird<br />

sich danach ein vollständigeres Bild ergeben, wird man manches sehen, was man jetzt<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Interview mit Clemens Jabloner<br />

143


Wir liefern historische Fakten<br />

noch nicht sieht. Aber vieles weiß man auch jetzt schon, als Beispiel haben wir immer die<br />

Frage der Zwangsarbeit genannt. Es gibt aktuelle Forderungen, zum Beispiel des polnischen<br />

Zwangsarbeiterverbandes, und denen könnte man entsprechen, ohne dass man jetzt<br />

die letzten Details weiß. Zumindest steht die Historikerkommission dem nicht entgegen. Wie<br />

auch umgekehrt wir nicht von unserem Forschungsauftrag entbunden sind, wenn irgendwo<br />

eine Vereinbarung über Entschädigungszahlungen erfolgt. Hier muss eine genaue Trennlinie<br />

zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischem Handeln gezogen werden.<br />

Konkrete Entschädigungen hängen also nicht vom Endbericht der<br />

Historikerkommission ab?<br />

Nicht in dem Sinne, dass die politische Ebene sagen könnte, wir tun jetzt bis zum Jahr<br />

2002 nichts und warten die Ergebnisse der Kommission ab. Es gibt kein Hindernis, in einen<br />

ernsthaften Dialog mit den Opfergruppen einzutreten. Aber mit dem Endbericht der Kommission<br />

werden wir ein sicherlich klareres, vollständigeres Bild über den Vermögensentzug<br />

und das Ausmaß von Rückstellungen und Entschädigungen in Österreich erhalten.<br />

Sie haben bereits betont, dass die Rolle der Historikerkommission nicht die eines<br />

Gerichts ist. Aber werden nicht trotzdem finanzielle Entschädigungen anhand des<br />

Endberichts der Kommission diskutiert werden?<br />

Nein, das wird überhaupt nicht diskutiert, sondern wir liefern historische Fakten, die bis zu<br />

einem gewissen Grad für sich sprechen, und können damit vielleicht Entscheidungsprozesse<br />

in Gang setzen. Aber es gehört nicht zu unserer Aufgabe, irgendwelche Empfehlungen<br />

abzugeben.<br />

Wie sehen Sie die Rolle der politisch Verantwortlichen in Fragen der Rückstellung<br />

und Entschädigung?<br />

Ich glaube, dass im Augenblick ein aufgeschlossenes Klima herrscht, dass das Interesse der<br />

politischen Ebene nicht bloß ein vorgespiegeltes ist, um Zeit zu gewinnen, sondern ernst gemeint<br />

ist. Wenn ich nicht dieses Gefühl gehabt hätte, hätte ich den Vorsitz in der Historikerkommission<br />

auch nicht übernommen.<br />

Kann man trotzdem von einem Spannungsfeld von Politik, Rechtsprechung und<br />

historischer Forschung sprechen?<br />

Rechtsprechung spielt hier weniger eine Rolle, weil es die heute in diesem Bereich nicht<br />

gibt. Aber es gibt sicher ein Spannungsverhältnis zwischen politischer Entscheidung und<br />

historischer Forschung und ein gewisses Dilemma, aus dem ich auch nicht heraushelfen<br />

kann. Ich weiß, dass viele Opfer alt sind und auf die Klärung dieser Fragen warten. Wir<br />

haben aber als wissenschaftliche Kommission einen gewissen Standard einzuhalten, und<br />

gerade wenn ein so großer Themenkomplex bearbeitet werden soll, dauert das eine gewisse<br />

Zeit. Das geht nicht von heute auf morgen. Das ist ein gewisses Dilemma, mit dem<br />

man leben muss.<br />

Wann soll der Endbericht der Kommission vorliegen?<br />

Er soll im Laufe des Jahres 2002 vorliegen, das heißt die Forschungen werden im Jahr<br />

2001 fertig sein, und das Jahr 2002 dient dann der redaktionellen Bearbeitung und der<br />

Abgabe des Endberichts. Die reine Forschungsdauer ist ca. zweieinhalb Jahre, was ohnehin<br />

nicht lang ist.<br />

Kann man dann mit Vorliegen des Endberichts davon sprechen, dass die historische<br />

Forschung zu diesem Themenkomplex abgeschlossen sein wird?<br />

Das kann man in keiner Weise sagen. Der Forschungsgegenstand ist so weit gefasst, dass<br />

auch die Historikerkommission eine wohlbegründete, aber letztlich auch pragmatische Entscheidung<br />

treffen musste und muss zugunsten gewisser Schwerpunkte. Es kann nicht alles<br />

144 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


und es kann nicht alles gleich tiefgehend erforscht werden. Auch nach der Historikerkommission<br />

wird es genug Raum geben für die historische Forschung. Außerdem ist die<br />

Kommission auf den Vermögensaspekt beschränkt, wir beschäftigen uns also zum Beispiel<br />

nicht mit der Frage der Gewaltausübung und nicht mit der Diskriminierung als solcher.<br />

Welche Folgen wird Ihrer Meinung nach die Arbeit der Historikerkommission haben<br />

– sowohl für die Opfer als auch im Umgang mit der Vergangenheit, mit der NS-Zeit?<br />

Ich denke, dass wir vor allem einen Beitrag zur Aufklärung und zur Information leisten. Ich<br />

erhoffe mir, dass daraus dann auch etwas gemacht wird, zum Beispiel für die Schulen, und<br />

dass Akzente gesetzt werden für die zukünftige historische Forschung. Das sind die zentralen<br />

Punkte. Die rechtliche Ebene ist dann eine Frage der Politik. Ich denke, die Fakten<br />

werden für sich sprechen und werden – wenn das auch entsprechend medial aufbereitet<br />

wird – eine Zugkraft haben.<br />

1 Das Interview mit ao. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner wurde im Mai<br />

1999, noch vor der Behandlung der Gesetzes- bzw. Novellierungsvorschläge<br />

im Nationalrat geführt. Die Novellierung des Denkmalschutzgesetzes<br />

[Bundesgesetz vom 25. September 1923, BGBl. Nr. 533/1923,<br />

betreffend Beschränkungen in der Verfügung über Gegenstände von<br />

geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung (Denkmalschutzgesetz<br />

– DMSG) in der Fassung der Bundesgesetze BGBl. Nr.<br />

92/1959 (EGVG-Novelle), 167/1978, 406/1988 und 473/1900] wurde am<br />

18. Juni 1999 mit den Stimmen der ÖVP und SPÖ in dritter Lesung angenommen<br />

und liegt derzeit im Bundesrat zur Beschlussfassung. Das<br />

Bundesarchivgesetz wurde am 13. Juli 1999 mit den Stimmen aller<br />

Parteien im Nationalrat beschlossen und liegt derzeit ebenfalls im<br />

Bundesrat zur Beschlußssfassung. Im Bundesarchivgesetz wird erstmals<br />

die Archivierung von und der Zugang zu Archivgut des Bundes<br />

per Gesetz geregelt. Der Zugang ist künftig 30 Jahre nach der letzten<br />

Bearbeitung der Akten möglich, in Ausnahmefällen nach 50 Jahren.<br />

Dies gilt grundsätzlich auch für Akten von Unternehmen mit<br />

mindestens 50%iger Bundesbeteiligung. Die Archivierung und der<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Interview mit Clemens Jabloner<br />

Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner ist Präsident<br />

des Verwaltungsgerichtshofes und Vorsitzender<br />

der Historikerkommission<br />

Zugang zu Archivgut bezüglich Landes-, Gemeinde- und Privatarchiven<br />

wird durch dieses Gesetz jedoch nicht geregelt.<br />

2 In der Novelle zum Denkmalschutzgesetz war es für die Historikerkommission<br />

zentral, dass durch Verordnung – und nicht wie bisher<br />

nur durch Bescheid – bestimmte Archivalien vorläufig unter Denkmalschutz<br />

gestellt und daher nicht vernichtet werden können. Diese<br />

Art der Unterschutzstellung darf nur für Archivalien erfolgen, die<br />

bei Unternehmungen zu Zeiten angefallen sind, in denen diesen<br />

Unternehmungen aufgrund Anzahl und/oder Art der Beschäftigten,<br />

Umfang und/oder Art der Geschäftstätigkeit oder Beteiligung der<br />

öffentlichen Hand besondere politische oder wirtschaftliche Bedeutung<br />

zukam und das Vorliegen der für die Unterschutzstellung erforderlichen<br />

Fakten aufgrund des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes<br />

zumindest wahrscheinlich ist. Das öffentliche Interesse an<br />

der Erhaltung dieser Archivalien gilt solange als gegeben, als das<br />

Österreichische Staatsarchiv nicht auf Antrag einer Partei oder von<br />

Amtswegen eine bescheidmäßige Entscheidung über das tatsächliche<br />

Vorliegen des öffentlichen Interesses getroffen hat.<br />

145


Interview mit Karl Stuhlpfarrer<br />

„Wir müssen tun, was schon vor 30 Jahren hätte<br />

geschehen sollen“<br />

Warum werden in Österreich heute – mehr als 50 Jahre nach Ende der<br />

nationalsozialistischen Herrschaft – wieder Diskussionen über Entschädigung und<br />

Rückstellungen für NS-Opfer geführt?<br />

Stuhlpfarrer: Erstens, weil nicht alles rückgestellt und in vielen Bereichen nicht entschädigt<br />

wurde – die Mietenfrage 1 ist dafür ein klassisches Beispiel. Zweitens sind diese Fragen<br />

nicht vollständig aufgearbeitet worden, und jede Generation wirft die alten Fragen, die<br />

nicht aufgearbeitet wurden, noch einmal auf.<br />

Lassen sich die von den Regierungen bzw. Unternehmen Österreichs,<br />

der Schweiz und Deutschlands eingesetzten Kommissionen und Forschungsteams<br />

in ihrem Auftrag und in ihrer Arbeitsweise vergleichen, oder bestehen<br />

national große Unterschiede?<br />

Ein Unterschied ist, dass diese drei Staaten in unterschiedlicher Weise in den Massenmord<br />

und die Beraubung von Juden und Angehörigen anderer Völker verwickelt waren. Der zweite<br />

Unterschied ist, dass die historischen Ereignisse, die historischen Tatsachen in diesen drei<br />

Ländern, wenn wir die DDR einmal beiseite lassen, in unterschiedlicher Weise geschichtskulturell<br />

verarbeitet worden sind, am intensivsten und mit den einträglichsten Wirkungen in<br />

der Bundesrepublik Deutschland, sehr viel zögerlicher und lückenhafter in Österreich und in<br />

der Schweiz, dort wurde die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit auch durch Mythenbildung<br />

verhindert: in Österreich durch den Opfermythos, in der Schweiz durch den Neutralitätsmythos.<br />

Und das Dritte ist, dass die schweizerische und die österreichische Historikerkommission<br />

ganz unterschiedliche Aufgaben haben. Die österreichische Kommission hat<br />

eine sehr präzise und sehr eng gestellte Aufgabe. Die Schweiz hat zwar einen spezifischen<br />

Ausgangspunkt, nämlich die Frage des ➤ Raubgoldes, gewählt. Darüber hinaus hat die<br />

Schweizer Kommission aber den Auftrag, sozusagen den Gesamtkomplex der Geschichte<br />

der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und während der Nazi-Deutschland-Periode<br />

aufzuarbeiten und dazu Stellung zu nehmen. Das halte ich für eine wichtige Sache – das ist<br />

in Österreich nicht geschehen, es bleibt hier für die Forschung also noch vieles offen.<br />

Der Auftrag an die österreichische Historikerkommission lautet, den Vermögensentzug<br />

in Österreich während der NS-Zeit und Rückstellungen und Entschädigungen nach<br />

1945 zu untersuchen. Welche Opfergruppen waren davon betroffen?<br />

Es geht hauptsächlich um die jüdische Bevölkerung, die in Österreich gelebt hat, die als<br />

jüdische Bevölkerung durch die ➤ Nürnberger Rassengesetze kategorisiert wurde, und es<br />

geht um die Zwangsarbeiter. Das sind die beiden wichtigsten Gruppen, auch in der Anzahl<br />

der betroffenen leidtragenden Personen. Dann geht es um kleinere Gruppen, die mehr oder<br />

weniger stark betroffen sind. Eine relativ kleinere Gruppe ist zum Beispiel die slowenische<br />

in Kärnten. Eine andere Gruppe, die auch relativ klein, aber besonders stark betroffen ist,<br />

sind zum Beispiel die Roma.<br />

146 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Warum wurden andere Gruppen von Geschädigten des Nationalsozialismus bzw.<br />

des Zweiten Weltkriegs, zum Beispiel Bombenopfer oder die als Folge des Krieges<br />

Vertriebenen, nicht in den Arbeitsauftrag der Kommission einbezogen?<br />

Die Vertriebenen und die deutsch- und anderssprachigen Minderheiten hauptsächlich aus<br />

den nord- und südosteuropäischen Nachbarstaaten Österreichs sind im Auftrag der Historikerkommission<br />

nicht enthalten, da er sich auf den Vermögensentzug in Österreich beschränkt.<br />

Er bezieht sich nicht auf den Vermögensentzug heute in Österreich lebender Personen,<br />

die außerhalb Österreichs durch Einwirkung der Nationalsozialisten Vermögensverluste<br />

erlitten haben. Deswegen ist die Frage der deutschsprachigen Minderheiten, die<br />

aus den nord- und südosteuropäischen Nachbarstaaten Österreichs geflüchtet sind oder<br />

vertrieben wurden – entweder noch von der ➤ SS oder dann nach Kriegsende von den<br />

neuen Regimes in den ostmitteleuropäischen Ländern –, eine Frage, die vor allem in diesen<br />

Ländern diskutiert werden sollte und muss. Das heißt nicht, dass das nicht Gegenstand der<br />

historischen Forschung sein soll, aber es ist nicht Gegenstand des Auftrags der österreichischen<br />

Historikerkommission.<br />

Hatten Bombenopfer und Vertriebene in Österreich Anspruch auf Entschädigung?<br />

Was die Vertriebenen betrifft, ist das Grundproblem ein staats- und völkerrechtliches. Die<br />

österreichische Bundesregierung ist jetzt bereit, Mitverantwortung von Österreichern an<br />

NS-Verbrechen anzuerkennen. Sie ist jedoch nicht bereit, die seit 1945 eingenommene<br />

Position aufzugeben, dass Österreich ab März 1938 als Staat nicht mehr existiert hat und<br />

als solcher auch nicht am Krieg beteiligt war. Deswegen ist die Frage der Entschädigung<br />

von Vertriebenen nicht Gegenstand der Überlegungen der Republik Österreich und ihrer<br />

Repräsentanten. Seit 1945 ist viel dazu gesagt worden, um diesen Standpunkt zu untermauern.<br />

Man könnte auch einiges dagegen sagen, besonders was die Bundesländer<br />

betrifft, die sich ja nicht – mit Ausnahme des Burgenlands und Vorarlbergs 2 – aufgelöst<br />

haben. Die Frage der Vermögensverluste der deutsch- und anderssprachigen Vertriebenen<br />

muß in einer anderen Weise diskutiert werden. Diese Frage kann man nicht an Österreich<br />

adressieren. Bei der Historikerkommission geht es darum – und das ist die Hauptsache –,<br />

wo die Vermögen geraubt worden sind. Das ist zum größten Teil eben hier in Österreich,<br />

das heißt auf dem Gebiet des heutigen Österreich, und hier wiederum vor allem in Wien.<br />

Das ist das Zentrum der Problematik, und das muss zuerst und in aller Intensität bearbeitet<br />

werden – ohne dass man das andere vergisst. Das zweite ist die Frage der Bombenopfer.<br />

Das ist ein schwieriges Problem, weil sich Bomben nicht um Schuldige und Unschuldige<br />

kümmern, nicht um Kollaborateure und um Widerstandskämpfer, um das breiteste Spektrum<br />

zu nennen. Bombenschäden sind eine Kriegsfolge, die nicht aus einer direkten, intentionalen<br />

Aktion des Naziregimes entstanden ist. Mittelbar natürlich schon, indem das Naziregime<br />

auf Kriege angewiesen war und durch den Krieg die Bomben evoziert hat. Es ist aber<br />

keine direkte Aktion, wie etwa die Enteignungsaktion des Naziregimes als Staat, oder<br />

auch das, was als geduldete Aktion unmittelbar nach der NS-Machtübernahme in Österreich<br />

im März 1938 geschehen ist. Das heißt nicht, dass man das nicht untersuchen soll,<br />

jedoch nicht im Rahmen dieses Auftrags der Historikerkommission. Ein drittes Problem sind<br />

die deutsch- und anderssprachigen Umsiedler im weitesten Sinn, z. B. jeden aus Südtirol.<br />

Da ist es schon schwierig festzustellen, wo der Vermögensentzug stattgefunden hat, ob im<br />

Ausland oder in Österreich. Auch das ist ein wichtiges, aber kein prioritäres Problem. Wir<br />

haben eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Kapazität an Forschern, eine bestimmte Summe<br />

Geld. Da muss man ganz einfach eine Reihung treffen: Das Vorrangige macht man zuerst<br />

und das andere, wie ich hoffe, danach.<br />

Sie sind ständiger Experte der Historikerkommission. Was heißt das, und was ist<br />

Ihre Aufgabe in der Kommission?<br />

Ich möchte zunächst deutlich sagen, dass ich hier nicht für die Historikerkommission<br />

spreche, sondern nur für mich persönlich. Ich gehe davon aus, dass ein Widerspruch<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Interview mit Karl Stuhlpfarrer<br />

147


Was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen<br />

bestand zwischen der Auffassung der Auftraggeber, die Zahl der Kommissionsmitglieder<br />

auf sechs zu beschränken, und der Notwendigkeit, ein breiteres Forschungsfeld abzudecken.<br />

Deswegen war die Historikerkommission der Auffassung, dass drei Experten hinzugezogen<br />

werden sollen – und das sind ein Jurist, eine Wirtschaftshistorikerin und ich.<br />

Ich habe im Wesentlichen über drei Themen gearbeitet, die sich direkt mit den Forschungsfragen<br />

der Kommission beschäftigen. Das eine ist die Frage der Verfolgung und<br />

Entrechtung der Juden, dann über die Kärntner Slowenen und über die Umsiedlung der<br />

Südtiroler.<br />

Was sind die Ziele, was ist das Erkenntnisinteresse der Kommission? Geht es in<br />

erster Linie darum, den Umfang von Vermögensentziehung und Rückstellung zu<br />

erfassen? Geht es um die Analyse des nationalsozialistischen Systems der<br />

Bereicherung, oder geht es um die Perspektive der Opfer?<br />

Hier gibt es zwei wichtige Aspekte. Der eine ist, den Umfang des Raubs festzustellen, wer<br />

beraubt worden ist und durch wen, und schließlich auch festzustellen, ob die Rückgabe<br />

des geraubten Vermögens oder die Entschädigung für alle diese Gruppen gleichmäßig<br />

oder unterschiedlich gehandhabt wurde. Das ist, glaube ich, ein wichtiges Erkenntnisziel.<br />

Das ist auch wichtig für die Einschätzung der gesellschaftlichen Situation von Beginn an<br />

durch die ganze Zweite Republik. Und das Zweite ist meiner Meinung nach das Vermittlungsinteresse<br />

der Historikerkommission, und nicht nur der Kommission, sondern aller<br />

Historiker, die zu diesem Themenbereich arbeiten. Das ist, wenn man so will, ein aufklärerischer<br />

Impetus: Deutlich zu machen, oder um es einmal umgekehrt zu sagen, unmöglich<br />

zu machen zu leugnen, dass die nationalsozialistische Beraubung und die Verzögerungen<br />

und Ungerechtigkeiten bei der Restitution geschehen sind. Das ist ja noch<br />

immer nicht Allgemeingut, das ist in der österreichischen Geschichtskultur bislang nicht<br />

verankert. Diese Geschichtskultur oder dieses kollektive Geschichtsbewusstsein zu verändern,<br />

ist immer auch eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft und ihrer Vermittlungsanstrengungen.<br />

Die Historikerkommission hat zunächst den Auftrag, den Themenkomplex<br />

Vermögensentzug, Zwangsarbeit, Rückstellung und Entschädigung zu erforschen.<br />

Es gibt von Seiten der Politik darüber hinaus die Erwartung, dass sie damit konkrete<br />

und endgültige Entscheidungsgrundlagen für ausstehende Rückstellungen und<br />

Entschädigungen schaffen könnte. Kann und will die Kommission das?<br />

Die Historikerkommission wird keine Einzelfälle untersuchen, und wenn, nehmen wir an, die<br />

Republik Österreich beispielsweise die Zwangsarbeiter entschädigen will, so würde ich<br />

sagen, soll sie einen Gesetzesvorschlag als Regierungsvorlage oder Initiativantrag ins Parlament<br />

einbringen, in dem steht: Jeder, der Zwangsarbeit geleistet hat, ist zu entschädigen.<br />

Dann geht es um die Definition dessen, was Zwangsarbeit heißt, um den Nachweis, dass<br />

es in Österreich geschehen ist, und um die Summe, die bezahlt werden soll. Dafür braucht<br />

man keine Historikerkommission, sondern so etwas wie eine Organisation, die das überprüft<br />

und auszahlt.<br />

Konkrete Rückstellungen und Entschädigungen werden also nicht von den<br />

HistorikerInnen bzw. von der Forschung der Historikerkommission abhängen?<br />

Nicht als Einzelfälle. Aber es ist sicher eine Aufgabe der Historikerkommission, zur Frage<br />

der Zwangsarbeiter zu differenzieren, was als Zwangsarbeit gewertet werden kann und<br />

muss. Es wird auch ihre Aufgabe sein, in den einzelnen Projekten festzustellen, wie die<br />

realen Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter und Arbeiterinnen etwa in der<br />

Industrie oder in der Landwirtschaft waren, und das wird sicher einen Beitrag zur<br />

Entschädigungsfrage leisten. Aber von Seiten der Politik die grundsätzliche Bereitschaft auszudrücken:<br />

„Wir sind bereit, diesen Menschen eine Entschädigung zu zahlen“, das ist<br />

immer möglich. Und das sollte auch möglichst bald geschehen.<br />

148 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Wie sehen Sie die Rolle der politisch Verantwortlichen im Zusammenhang mit<br />

Rückstellungen und Entschädigungszahlungen?<br />

Das hängt davon ab, wie sie agieren. Wenn sie rückstellen und entschädigen, sehe ich ihre<br />

Rolle positiv. Wenn sie es nicht vollständig tun, dann tun sie das, was die Republik seit<br />

1945 getan hat.<br />

Wie verortet sich die Historikerkommission in dem Spannungsfeld – einerseits<br />

wissenschaftliche Forschung, andererseits ein politischer Auftrag? Entsteht daraus<br />

nicht auch für die HistorikerInnen eine problematische Situation?<br />

Als Wissenschaftler sehe ich das Problem in zwei Dingen. Das eine ist, dass die Kommission<br />

missbraucht werden kann, um etwas zu verzögern. Dagegen hat sich die Kommission<br />

aber immer explizit ausgesprochen. Das zweite ist, dass die Frage der Analyse der NS-<br />

Periode in Österreich und ihres Fortwirkens nach 1945 natürlich in diesem eng gefassten<br />

Forschungsauftrag nur teilweise dargestellt werden kann. Die Frage der Partizipation der<br />

Österreicher, des Landes, die Frage der Transformation der Gesellschaft, der Fortdauer der<br />

Ideologie wird nicht direkt durch die Kommission bearbeitet, ist aber mindestens ebenso<br />

wichtig. Das ist kein Vorwurf – weder an die Kommission noch an die Auftraggeber. Ich<br />

begreife diese Kommission wirklich als Chance, wichtige Fragen zu bearbeiten. Die Möglichkeit,<br />

dass sie von Politikern in anderer Weise instrumentalisiert werden kann, besteht<br />

wie bei allen anderen Kommissionen und Unternehmungen dieser Art auch. Das eine ist<br />

die Hinausschiebestrategie, das zweite ist, dass man sagt, es ist einseitig, weil es eben<br />

primär die Vermögensverluste von Juden nach den Nürnberger Rassengesetzen betrifft. Das<br />

dritte ist, dass es als Alibi für das Ausland benützt wird nach dem Motto: „Wir tun eh alles.<br />

Wir haben jetzt eine Historikerkommission eingesetzt, und das genügt schon.“ So wie das<br />

auch immer wieder im Laufe der Zeit nach 1945 passiert ist. Aber mit dem Risiko arbeitet<br />

man immer. Wir haben ja jahrzehntelang unter forschungsmäßig schlechten Bedingungen<br />

gearbeitet, und damals hat uns niemand zugehört. Zum Beispiel, als ich 1974 in dem Sammelband<br />

über das historische Judentum meinen ersten Artikel zu dieser Frage publiziert habe,<br />

3 da gab es eine große Pressekonferenz, ein riesiges Interesse, und das hat, glaube ich,<br />

drei Tage gedauert, und dann war Schluss. Obwohl dieses Buch als Antwort auf eine Serie<br />

in der Kronen Zeitung gedacht war, die Viktor Reimann geschrieben hat. Das war auch der<br />

Grund, warum die Pressekonferenz so groß war, darüber hinaus war das öffentliche Interesse<br />

aber praktisch gleich Null. Und dann kam die Fernsehserie „Holocaust“, und es gab<br />

wieder ein riesiges Interesse und große Emotionen, aber das dauerte nicht lange. Dann<br />

kam das Gedenkjahr 1988 mit vielen Veranstaltungen und Diskussionen – da war das<br />

öffentliche Interesse schon etwas größer und ausdauernder. Man muss es also immer wiederholen,<br />

man muss repetitiv vorgehen, wie Lernprozesse eben sind. Und manchmal wird<br />

es gehört und manchmal nicht. Jetzt gibt es eine Chance, dass viel gehört wird, und diese<br />

Chance muss man nützen.<br />

Wie unabhängig können Kommissionen sein, die von der Regierung oder auch<br />

von Firmen, von Banken und Konzernen eingesetzt werden? Können daraus<br />

nicht auch Loyalitätskonflikte für die ForscherInnen entstehen?<br />

Bei Firmen weiß ich es nicht oder noch nicht. Bei der Historikerkommission habe ich jedenfalls<br />

nicht größere Probleme mit Loyalitätskonflikten als als pragmatisierter Beamter oder<br />

Universitätsprofessor. Und die habe ich bis jetzt immer ganz gut ausgehalten. Es hat mir<br />

auch niemand etwas getan. Man kann in diesem Land kontrovers sein, ohne dass einem<br />

gleich irgendetwas Dramatisches passiert. Das Übliche, was einem passieren kann, ist,<br />

dass man nicht gehört wird. Nicht einmal ignorieren – das ist die Strategie des Landes<br />

Österreich.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Interview mit Karl Stuhlpfarrer<br />

149


Was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen<br />

Welche Konsequenzen ergeben sich für die historische Forschung aus der<br />

gegenwärtigen „Konjunktur“ der Zeitgeschichte durch die Einsetzung von<br />

Kommissionen und Forschungsteams und durch den gestiegenen<br />

Einfluss auf aktuelle gesellschaftspolitische Debatten?<br />

Das sehe ich nicht nur positiv, denn das Geld, das jetzt in diese Kommission und, wie ich<br />

schon oft genug gesagt habe, mit gutem Grund hineingeht, das fehlt woanders. Es werden<br />

jetzt nicht mehr Zeitgeschichteprojekte gefördert werden als vorher. Der zweite Punkt ist,<br />

dass durch die Aufgabenstellung ein bestimmtes Paradigma der Forschung forciert wird,<br />

und alle anderen müssen sich sehr viel mehr anstrengen, um Fundraising zu betreiben und<br />

Ähnliches. Es hat schon auch eine starke Sogwirkung, die andere Bereiche, also ich möchte<br />

nicht sagen: schädigt, aber zumindest die notwendige Förderung verlangsamt.<br />

Könnte man jetzt zugespitzt fragen: Wird die historische Forschung durch diese<br />

Kommissionen monopolisiert und institutionalisiert?<br />

Nein, das glaube ich nicht. Es gibt genügend Leute, die nicht in der Kommission sind, und<br />

sogar die, die in der Kommission sind, arbeiten nicht nur an diesen Fragen weiter. Ich selbst<br />

beschränke mich in meiner Forschung und Lehre in der Zukunft nicht nur auf den Gegenstand<br />

des Auftrags der Kommission. Ich gebe zu, es wird ein gewisser Druck – also ich rede jetzt<br />

von mir als Person – auf mir liegen, die Gewichtung zugunsten dieses einen Feldes zu verlagern.<br />

Es gibt aber genügend andere Leute, die auf anderen Feldern weiter arbeiten. Was ich<br />

mir wünsche, ist, dass diese Leute gute Projekte kriegen, dass diejenigen, die im Ministerium<br />

und anderswo dafür zuständig sind, begreifen, dass Zeitgeschichte etwas kostet. Vor allem<br />

dann, wenn man die neuen Medien – ein Feld, das ich für mindestens ebenso wichtig halte –<br />

berücksichtigt. Für mich ist das Dramatische, dass wir in der Situation sind, etwas machen zu<br />

müssen, was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen und hätte geschehen können, und<br />

was damals nicht geschehen ist. Wir müssen etwas nachholen, und das lastet auf uns. Deswegen<br />

können wir andere Dinge nicht tun, die wir heute tun könnten, wenn das andere schon<br />

geschehen wäre. Aber trotzdem muss es getan werden. Dieser time lag ist aber nicht nur ein<br />

Problem der Forschung, sondern der Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins.<br />

Welche Auswirkungen werden Ihrer Meinung nach die Arbeiten der<br />

Historikerkommission auf den Umgang mit der Vergangenheit, auf das kollektive<br />

Geschichtsbewusstsein und auf der anderen Seite für die Opfer des<br />

Nationalsozialismus haben?<br />

Was die Leidtragenden betrifft, hoffe ich, dass sie endlich ihre Vermögen restituiert bekommen,<br />

und dass sie entschädigt werden, auch wenn das nicht alles ist. Was die Historiker betrifft,<br />

hoffe ich, dass es nicht dabei bleibt, dass sie einen Endbericht schreiben, ihn publizieren<br />

und sich dann verabschieden, sondern dass sie dann mit der Arbeit beginnen, die ebenso<br />

wichtig ist, nämlich mit der Vermittlungsarbeit. Das läuft über die Medien und über die Institutionen<br />

der Sozialisation, also von der Schule über die Erwachsenenbildung, Lehrerfortbildung<br />

usw. Und das ist ein langer und anstrengender Prozess. Aber ich bin zuversichtlich, dass das<br />

gelingen wird, die Situation ist heute ja schon viel besser als vor zehn Jahren.<br />

1 Zur Frage der noch während der NS-Zeit gekündigten jüdischen<br />

MieterInnen und der nach 1945 nicht rückgestellten Mietwohnungen<br />

siehe Kapitel 1 und 4.<br />

2 Im Zuge der Umstrukturierung der Verwaltung Österreichs nach<br />

dem Anschluss im März 1938 wurden in der „Ostmark“ sieben<br />

Reichsgaue errichtet, die mit wenigen Ausnahmen im Wesentlichen<br />

den Grenzen der bisherigen Bundesländer entsprachen: Das<br />

Burgenland wurde geteilt, das nördliche Burgenland wurde in den<br />

Gau „Niederdonau“, das südliche Burgenland in den Gau „Steier-<br />

Univ.-Prof. Dr. Karl Stuhlpfarrer ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte der<br />

Universität Wien und ständiger Experte der Historikerkommission.<br />

mark“ eingegliedert. Die Bundesländer Tirol und Vorarlberg wurden<br />

zum Gau „Tirol-Vorarlberg“ zusammengefasst. Der Gau „Niederdonau“<br />

umfasste gegenüber dem Bundesland Niederösterreich<br />

zusätzlich Teile der besetzten südmährischen Gebiete, jedoch nicht<br />

Wien.<br />

3 Karl Stuhlpfarrer, Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung<br />

in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, in: Das österreichische<br />

Judentum. Voraussetzungen und Geschichte, red. v.<br />

Nikolaus Vielmetti, Wien/München 1974, S. 141-164.<br />

150 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


„Was jetzt passiert, wäre vor 15 Jahren noch<br />

undenkbar gewesen“<br />

Interview mit Bertrand Perz<br />

Warum werden in Österreich heute, mehr als 50 Jahre nach Ende der<br />

nationalsozialistischen Herrschaft, wieder Diskussionen um Entschädigungen<br />

und Rückstellungen geführt?<br />

Perz: Das hat viele Faktoren, innen- und außenpolitische und zeitliche, etwa die Generationenabfolge<br />

und damit verbunden die Nähe oder Distanz der Generationen zum Nationalsozialismus.<br />

Zur Vorgeschichte der Historikerkommission hat sicher sehr stark eine internationale<br />

Entwicklung außerhalb Österreichs beigetragen.Es gibt in Europa seit längerem eine<br />

Diskussion über den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Dazu kommt, dass seit 1989<br />

diese Diskussion nicht mehr entlang des Ost-West-Konflikts abläuft, sondern dass man jetzt<br />

offener diskutiert über Kollaboration, über den Umgang der einzelnen Staaten, seien es besetzte,<br />

neutrale oder am Nationalsozialismus beteiligte Länder, mit den jeweils involvierten<br />

gesellschaftlichen Gruppen nach 1945. Das heißt, sowohl mit den Kollaborateuren als<br />

auch mit den Leuten, die im Widerstand waren, und mit den Leuten, denen ihr Vermögen<br />

geraubt wurde. Diese europaweite Diskussion, für die die Schweiz in den letzten Jahren ein<br />

Paradebeispiel ist durch die Einsetzung von Historikerkommissionen und durch hitzige<br />

öffentliche Debatten über ihre Vergangenheit, hängt auch mit den ➤ Sammelklagen zusammen.<br />

Dieses Rechtsinstrument, das es seit den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten<br />

gibt und das die Möglichkeit bietet, dass mehrere Dutzend oder hunderte Personen eine<br />

gemeinsame Klage einreichen können, wird seit zwei oder drei Jahren auf den Bereich der<br />

Entschädigung für Holocaust-Opfer angewandt. Die Sammelklagen haben die generelle<br />

Tendenz, nämlich die historische Debatte auf eine Rechtsfrage und auf eine ökonomische<br />

Frage zu verschieben, enorm beschleunigt. Die ökonomische Frage bzw. der ökonomische<br />

Druck mittels Rechtsstreit hat eine Debatte über die NS-Vergangenheit in einer Weise<br />

erzwungen, wie sie vorher nie stattgefunden hat. Es gab sie zwar, aber sie war nie so tiefgehend,<br />

hat selten so weite Kreise der Gesellschaft erfasst wie jetzt. Der zweite Faktor ist<br />

ein innenpolitischer: Im Fall der Historikerkommission war es so, dass die ➤ Israelitische<br />

Kultusgemeinde eine Kommission zur Untersuchung der Enteignungen und Rückstellungen<br />

gefordert und dabei aber sehr vorsichtig agiert hat, indem sie gesagt hat, es geht nicht um<br />

Geld, sondern um Bewusstmachung. Und diese Forderung nach Aufklärung in Kombination<br />

mit der für die Regierung sich überschlagenden Entwicklung seit dem Sommer 1998, als<br />

plötzlich Sammelklagen gegen eine Reihe von österreichischen Unternehmen gerichtet<br />

wurden, hat eine enorme Dynamik bekommen. Das sind auslösende Faktoren, aber natürlich<br />

stellt sich heute überhaupt die Frage des Verhältnisses zum Nationalsozialismus. Die<br />

Generation, die jetzt klagt, sind Leute, die schon sehr alt sind, die nicht mehr beruflich aktiv<br />

oder politische Entscheidungsträger, sondern die in Pension sind. Ich denke, das ist jetzt die<br />

letzte Debatte, bevor es ein rein historisches Ereignis wird, bevor niemand mehr lebt, der<br />

den Nationalsozialismus bewusst oder aktiv erlebt hat. Und schließlich gibt es auch eine<br />

Dynamik, die aus den Reaktionen der jeweils betroffenen Länder entsteht und wie dieses<br />

Thema dort diskutiert wird, das hat natürlich einen Verstärkungseffekt.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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151


Vor 15 Jahren noch undenkbar<br />

Warum wurde die Historikerkommission eingesetzt?<br />

Wie die Entscheidungsbildung in der Regierung und im Parlament im Detail verlaufen ist,<br />

weiß ich nicht. Mit ausschlaggebend war sicherlich auch, dass die beklagten Unternehmen<br />

zu den größten österreichischen Unternehmen gehören wie die VOEST oder die Bank Austria.<br />

Und da es bei den eingeklagten Summen nicht um Kleinigkeiten geht, waren vermutlich<br />

die Regierung und auch das Parlament, im Wesentlichen SPÖ und ÖVP, der Meinung,<br />

dass man hier etwas tun muss. Dazu kam noch die Frage der Entschädigung für Zwangsarbeiter,<br />

vor allem ein polnischer Verband ehemaliger Zwangsarbeiter ist 1998 in dieser<br />

Frage aktiv geworden. Und man hat dann einfach geschaut, wie andere Länder mit diesen<br />

Forderungen umgehen. Ich glaube, es hätte in Österreich keine Historikerkommission gegeben,<br />

wenn es nicht in der Schweiz schon vorher eine solche Kommission gegeben hätte.<br />

Da hat man gesehen, welche Möglichkeiten der Schadensbegrenzung es gibt, die Schweiz<br />

war quasi dafür das Vorbild. Im November oder Dezember 1997 fand außerdem statt, die<br />

➤ Londoner „Raubgold-Konferenz“, auf der schon eine Reihe involvierter Staaten Bericht<br />

erstattet haben über ihre Rolle beim Handel mit Raubgold. Auch Österreich ist dort aufgetreten,<br />

hatte aber noch keinen Bericht vorzulegen. Im Dezember 1998 fand dann die<br />

➤ Washingtoner Konferenz über geraubtes Gut bezüglich des Holocaust – „Holocaust Era<br />

Assets“ – statt, und dort legten ungefähr 40 oder 50 Staaten Berichte vor. Das hat eine<br />

enorme Dynamik bekommen, die auch mit den Sammelklagen zu tun hat und mit der Rolle<br />

der Vereinigten Staaten in diesem ganzen Prozess, die manche Staaten loben, manche<br />

tadeln, aber immer positiv verstärkend nach dem Motto „Alle sollen jetzt etwas tun, ihre<br />

Vergangenheit aufarbeiten“. Auch in anderen Ländern gibt es inzwischen die Überlegung,<br />

diese Fragen durch Kommissionen zu regeln und zu hoffen, dass die Kommissionen ein<br />

Stück weit auch die Politik entlasten im Sinne von „Man tut ja etwas, und man gibt die<br />

notwendige Expertise in Auftrag.“ Ich denke, diese internationale Dynamik hat auch für die<br />

österreichische Entscheidung bezüglich einer Historikerkommission eine große Rolle<br />

gespielt.<br />

Welche Bedeutung hat der Status einer Kommission auf ihr Mandat und auf ihre<br />

Kompetenzen im Vergleich zu herkömmlichen Forschungsprojekten?<br />

Bei herkömmlichen Forschungsprojekten muss man grundsätzlich zwischen einer Antragsund<br />

einer Auftragsforschung unterscheiden. Die Arbeit der Kommission fällt in den Bereich<br />

von Auftragsforschung, wenn man das Ganze jetzt nur auf der Forschungsebene sieht. Der<br />

Unterschied zur herkömmlichen Forschung ist natürlich groß, Forschungen im historischen<br />

Bereich sind letztlich immer an Universitäten oder ähnliche Forschungsinstitutionen angebunden<br />

und in der Regel Antragsforschungen, also selbst konzipierte und eingereichte<br />

Projekte. Der zentrale Punkt bei der Antragsforschung ist die Einreichung und die Genehmigung<br />

des Projektes, das Endergebnis ist zunächst vergleichsweise weniger wichtig, à la<br />

longue natürlich schon. Bei einer Historikerkommission ist das Ergebnis alles, eine Kommission<br />

wird zu einem bestimmten, klar definierten Ziel eingesetzt. Das ist reine Auftragsforschung.<br />

Ein zweiter, vielleicht noch wichtigerer Punkt ist das Verhältnis von Auftraggebern<br />

und Auftragnehmern. Man muss dabei zwischen verschiedenen Kommissionen unterscheiden.<br />

Es gibt, auch in anderen Ländern, Kommissionen, die von Regierungen eingesetzt sind<br />

oder von Parlamenten, es gibt aber wesentlich mehr Kommissionen, die von Firmen oder<br />

von privaten Rechtsträgern eingesetzt werden, die speziell für diese Rechtsträger forschen.<br />

Bezüglich der Frage der Abhängigkeit kann man natürlich sagen, dass jede Institution, die<br />

eine Kommission einsetzt, damit bestimmte Interessen verbindet, das ist klar. Die Frage ist<br />

nur, welche Interessen das konkret sind und was das für den Erkenntnisprozess der jeweiligen<br />

Kommission oder des Untersuchungsteams bedeutet. Da gibt es Unterschiede in Bezug<br />

auf das Naheverhältnis zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern, auf die Frage von<br />

Abgrenzung, Freiheit, Spielräumen. Wenn wir eine Firma nehmen wie zum Beispiel die<br />

Deutsche Bank oder eine andere Bank, die Historiker beauftragt, ihre Firmengeschichte<br />

unter einem bestimmten Aspekt zu untersuchen, dann will sie damit natürlich einerseits eine<br />

152 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Art Expertise haben und wissen, was damals wirklich geschehen ist, – woher sollen die heutigen<br />

Vorstandsmitglieder einer Bank das auch wissen? Dann geht es bei Unternehmen auch<br />

sehr stark um Imagefragen, das gilt für die deutschen Unternehmen wie für die schweizerischen<br />

und auch für die österreichischen, die Forschungsteams eingesetzt haben. Ein Problem<br />

dabei ist, dass in dem Moment diejenigen, die diese Fragen erforschen, das sind in<br />

erster Linie Historiker, aber auch Ökonomen und Juristen, enorm aufgewertet werden, weil<br />

sie jetzt gefragt sind. Gleichzeitig kann es dann aber sehr schnell wieder eine Abwertung<br />

der historischen Forschung geben, wenn eine Firma sagt: „Das Wichtigste für uns ist, dass<br />

es nicht zu einem Prozess kommt, weil wir den nicht durchstehen.“ Ein Prozess dauert unter<br />

Umständen fünf Jahre, das wäre für das Image eines Unternehmens so schädlich, dass nicht<br />

der Prozess und die eventuellen Zahlungen das Problem sind, sondern der drohende Imageverlust.<br />

Daher versuchen manche Firmen jetzt, sich bereits im Vorfeld eines solchen Verfahrens<br />

zu vergleichen, ohne die historischen Ergebnisse abzuwarten. Die Rechtsabteilungen<br />

sind gezwungen zu verhandeln, während gleichzeitig noch historische Untersuchungen<br />

laufen. Auf dieser Ebene gibt es also sofort wieder die Entwertung der historischen Forschung,<br />

sie ist quasi nur auf einer Imageebene wichtig. Trotzdem ist es meiner Meinung<br />

nach gut, dass die historischen Fakten auf den Tisch kommen. Das andere Problem ist die<br />

Frage der Abhängigkeit. In dem Moment, wo eine Firma beklagt ist, ist das, was ein Team<br />

von geschichtswissenschaftlich ausgebildeten Leuten herausfindet, unmittelbar rechtsrelevant.<br />

Als der „Goldbericht“, ein Zwischenbericht der ➤ Bergier-Kommission, veröffentlicht<br />

wurde, hat sofort am nächsten Tag, ich glaube, es war Ed Fagan oder ein anderer Anwalt,<br />

die Schweizer Nationalbank geklagt. In dem Moment ist man als Historiker natürlich nicht<br />

mehr außerhalb dieses politischen Spiels, auch wenn man versucht, draußen zu bleiben. Es<br />

könnte zum Beispiel durchaus sein, dass eine Firma sagt, sie möchte, dass ein Bericht erst<br />

zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht wird. Damit muss man dann als Wissenschaftler<br />

in irgendeiner Weise umgehen. Andererseits ist es auch ganz interessant zu beobachten,<br />

dass die Firmen, vor allem die deutschen Firmen in der Regel sehr renommierte Wissenschaftler<br />

für diese Projekte engagieren, vor dem Hintergrund der Imageüberlegung, dass es<br />

nämlich überhaupt nichts nützt, jemanden die Untersuchung machen zu lassen, der nur in<br />

den Verdacht kommt, er könnte von der Firma abhängig sein, denn das wäre rausgeschmissenes<br />

Geld. Es geht also vielfach gar nicht um die unmittelbare Rechtsrelevanz, sondern es<br />

geht vor allem um das Image. Und da ist es sehr wichtig zu signalisieren, dass man unabhängig<br />

forscht. Auf der Ebene von Regierungskommissionen ist das ein bisschen anders.<br />

Die Schweiz hat zum Beispiel eine Kommission, die relativ unabhängig ist. Sie hat einen<br />

großen Spielraum, weil es ein eigenes Gesetz gibt für diese Kommission und weil der<br />

Rechtsrahmen so gesteckt ist, dass sie mehr oder weniger unabhängig von den Auftraggebern<br />

agieren kann. Das heißt natürlich nicht, dass es von den Auftraggebern her nicht<br />

auch Überlegungen geben wird, wie man möglichen Schaden von der Schweiz abwälzen<br />

kann. Aber unmittelbar auf die Forschungsergebnisse der Kommission hat die Bundesversammlung<br />

keinen Einfluss.<br />

Sie sind nicht nur Mitglied der österreichischen Historikerkommission, sondern auch<br />

Mitarbeiter der Bergier-Kommission. Welche Unterschiede gibt es zwischen den von<br />

den Regierungen der Schweiz bzw. Österreichs eingesetzten Historikerkommissionen?<br />

Wenn man die Historikerkommissionen in der Schweiz und in Österreich vergleicht, dann<br />

ist sicher der auffälligste Unterschied, dass in der Schweiz die Kommission anders entstanden<br />

ist als in Österreich. Das hat viele Gründe, zum einen gab es einen enormen Schock, in<br />

der Schweiz, weil sie von ihrem Selbstverständnis her mit dem Nationalsozialismus nichts<br />

zu tun hatte und plötzlich, auch von innen her, so massiv mit diesen Fragen konfrontiert<br />

wurde. Die Schweiz wurde in einem unheimlichen Tempo von der Geschichte eingeholt,<br />

wenngleich man auch sagen muss, dass die Schweiz schon in den letzten zehn Jahren begonnen<br />

hat, intensiver über ihr Selbstbild zu diskutieren. Aber der Schock war sicher groß,<br />

und das ist auch mit als Grund anzusehen für die weitreichenden Kompetenzen, die der<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Interview mit Bertrand Perz<br />

153


Vor 15 Jahren noch undenkbar<br />

Bergier-Kommission per Gesetz eingeräumt wurden, zum Beispiel im uneingeschränkten Zugang<br />

zu allen Archiven, auch zu Privatarchiven, was ja rechtlich nicht ganz einfach ist.<br />

Außerdem gibt es in der Schweiz einen klaren Auftraggeber: die Bundesversammlung, also<br />

das Parlament. In Österreich ist der Auftraggeber demgegenüber ein kompliziertes Zwitterwesen<br />

zwischen Parlament und Regierung, bzw. Kanzler, Vizekanzler, Präsident des Nationalrates,<br />

Präsident des Bundesrates – also eine komplizierte Konstruktion, die im Parlament<br />

budgetiert wird, gleichzeitig sind die Auftraggeber aber zum Teil in der Regierung. Außerdem<br />

gibt es keine eigene gesetzliche Regelung für die Kommission, sondern quasi nur ein<br />

Mandat von Seiten der Auftraggeber. Wenn man das Procedere mit der Schweiz vergleicht,<br />

ist die Position der Kommission also etwas unklarer. Die Frage, wie abhängig eine<br />

solche Kommission von den Auftraggebern ist, ist deshalb auch sofort gestellt worden.<br />

Wenn man zum Beispiel das Schweizer Modell gewählt hätte, wäre eine derartige Diskussion<br />

vermeidbar gewesen.<br />

Wie lassen sich die beiden Kommissionen in Bezug auf den<br />

Forschungsauftrag vergleichen?<br />

Als Mitarbeiter der Bergier-Kommission darf ich laut Vertrag über die Kommission keine<br />

Auskünfte geben. Das heißt, ich darf zur Bergier-Kommission nicht öffentlich Stellung nehmen,<br />

weder zu ihrer internen Gebarung noch zu ihren Aktivitäten. Daran sieht man auch<br />

schon das Verhältnis von Kommissionen und ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, dass<br />

nämlich die Kommissionen versuchen, nach außen ein einheitliches Gesamtbild zu zeigen.<br />

Im Unterschied zur „normalen“ historischen Forschung, wo man in Eigenverantwortung<br />

publiziert und an die Öffentlichkeit geht und die Ergebnisse auf Tagungen präsentiert, ist in<br />

diesem Fall der Forschungs- und Publikationsprozess sehr institutionalisiert. Das ist auch<br />

verständlich, weil die Idee bzw. das Ziel ja die Beantwortung bestimmter vorgegebener<br />

Fragen ist, und man kann diese Fragen intern nicht wirklich ausdiskutieren, wenn man<br />

dabei sofort ständig von den Medien widergespiegelt wird. Damit käme man sofort auf<br />

eine Ebene der Verbreitung von Informationen, die viel zu schnell ist für das wissenschaftliche<br />

Arbeiten.<br />

Trotzdem kann ich etwas zum Unterschied der beiden Kommissionen sagen. Der offensichtlichste<br />

Unterschied ist die historische Ausgangssituation der beiden Länder, die Schweiz<br />

war in der NS-Zeit ein neutraler Staat, aber auch eine zentrale Finanz- und Rüstungswirtschaftsdrehscheibe<br />

für das Dritte Reich und insoweit in seinen wirtschaftlichen Beziehungen<br />

für den ganzen europäischen Raum, aber auch für den Handel mit den Alliierten, für die<br />

Nachrichtenflüsse der Alliierten etc. in der NS-Zeit massgeblich. Daher ist das Forschungsfeld<br />

der Kommission in der Schweiz so angelegt, dass es letztlich um diese internationalen<br />

Beziehungen geht, mit dem Schwerpunkt auf den wirtschaftlichen Beziehungen der<br />

Schweiz zum Dritten Reich. Das ist sehr komplex, weil die Kapitalflüsse, der Goldhandel<br />

etwa, zwischen den Alliierten und den Achsenmächten verlief. Dazu gehören auch Devisengeschäfte<br />

zwischen den neutralen und den nichtneutralen Ländern, und alles, was im<br />

weiteren Sinne noch damit zusammenhängt, etwa die Flüchtlingspolitik der Schweiz, weil<br />

daran auch wieder Geldfragen hängen, z.B. Lösegelderpressungen, wenn man Juden aus<br />

dem Dritten Reich hat ausreisen lassen und dafür hohe Beträge in Devisen wollte. All diese<br />

Dinge sind großteils über die Schweiz abgewickelt worden, und insofern ist das Untersuchungsfeld<br />

der Schweizer Kommission sehr weit gefasst.<br />

Die österreichische Situation stellt sich demgegenüber ganz anders dar. Hier geht es ja<br />

nicht unmittelbar um die Frage der Involvierung Österreichs in das Dritte Reich, die ist ja<br />

offensichtlich, sondern es geht ganz stark um die Frage, wie in der Nachkriegszeit mit<br />

dem, was in der NS-Zeit passiert ist, umgegangen wurde. Die Frage des Umgangs nach<br />

1945 verweist aber natürlich auch auf die Zeit davor. Man muss feststellen, was nach wie<br />

vor ausgeblendet wird, zuwenig bewusst ist bzw. von der Forschung bislang nicht bearbeitet<br />

worden ist. Der Hauptansatz ist die Geschichte der Zweiten Republik, und die NS-<br />

Zeit ist die Voraussetzung, um sie zu verstehen. Das ist einerseits eine eingeschränktere<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Fragestellung, weil es ja „nur“ um Vermögensentzug im ganz strengen Sinne geht, gleichzeitig<br />

ist es ein enorm weites Feld, weil damit wiederum sehr vieles zusammenhängt. Das<br />

Problem dabei ist, dass die ganze Frage des Vermögensentzugs auf dem Gebiet der Republik<br />

Österreich von einem sozusagen „virtuellen Raum“ ausgeht, da Österreich als Staat damals<br />

nicht existiert hat, im Unterschied zur Schweiz, die ein klar definierter Nationalstaat<br />

mit klaren Grenzen war, die sich seitdem nicht geändert haben. Allein diese Abgrenzungsgeschichte<br />

ist sehr kompliziert.<br />

Die zentralen Fragestellungen der beiden Kommissionen sind also in diesem Sinne sehr unterschiedlich,<br />

letztlich geht es bei beiden aber ganz stark um ökonomische Perspektiven.<br />

Die Umrechnung der NS-Zeit in Geldwerte – also was ist verloren gegangen, was wurde<br />

jemandem genommen, was wurde nicht zurückgegeben – ist sicher eine neue Tendenz in<br />

der historischen Forschung und im öffentlichen Interesse an der NS-Zeit. Es ist interessant,<br />

dass das jetzt nach 50 Jahren das Hauptthema ist – forschungspolitisch muss man ja immer<br />

auch fragen, was mit dieser eingeschränkten Fragestellung eigentlich verdeckt wird und<br />

was nicht gefragt wird.<br />

Steht die österreichische Historikerkommission vor bestimmten Problemen, sei es<br />

die begrenzte zeitliche Dauer der Forschung oder auch der Archivzugang?<br />

Die begrenzte zeitliche Forschungsdauer haben wir uns selbst gewählt. Es ist sinnvoll, auch<br />

in der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit und der Auftraggeber, so etwas nicht zu lange<br />

hinzuziehen. Es gibt ja daneben auch noch die normalen Forschungseinrichtungen, und die<br />

sollen weiterhin ihre Forschungen machen. Die Kommission kann nicht Ersatz für die Forschungseinrichtungen<br />

eines Landes werden, sondern sie kann nur auf einer bestimmten Ebene<br />

versuchen, bestimmte Fragestellungen zu beantworten. Sie kann nicht die Untersuchung<br />

aller möglichen Phänomene leisten, die sicherlich auch zu untersuchen wären, sondern sie<br />

kann einzelne Fallstudien machen und einen Überblick über bestimmte Problemkomplexe<br />

geben. Beispielsweise können wir nicht alle ➤ „Arisierungsfälle“, die es in Österreich gab,<br />

untersuchen, was ja manchmal ein bisschen die Erwartung an die Kommission ist.<br />

Ein zentrales Problem unserer Arbeit ist vielmehr die Archivsituation, weil zwar geregelt ist,<br />

dass auf der Ebene der Bundesarchive alle Materialien, die wir brauchen, einsehbar sind.<br />

Auf der Ebene der Länder wird das vermutlich auch ohne Probleme gehen, soweit der momentane<br />

Stand ist, vielleicht wird es mit dem einen oder anderen Bundesland etwas schwieriger<br />

sein, aber grundsätzlich wird es gehen. Das Problem sind vielmehr die privaten Archive,<br />

im Bereich der ➤ „Arisierung“ sind das zum Beispiel die Archive der Großbanken, die<br />

dabei eine maßgebliche Rolle gespielt haben, also CA und Länderbank, die jetzt im Besitz<br />

der Bank Austria sind. Wie weit da Bereitschaft besteht, uns Zugang zu ihren Akten zu gewähren,<br />

ist noch nicht klar. Ebenso bei den Sozialversicherungen, da geht es zum Beispiel<br />

um Sozialversicherungsdaten der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, usw. Da sind<br />

wir momentan vom guten Willen dieser Unternehmen abhängig, im Gegensatz zur<br />

Schweiz, wo der Zugang eben gesetzlich gewährleistet ist. Das andere Problem, das man<br />

natürlich in der Zeitgeschichtsforschung immer hat, ist, dass viele Akten weg sind, dass sich<br />

jetzt zum Beispiel herausstellt, dass ein ganz erheblicher Teil der Akten der Rückstellungskommissionen<br />

weggeworfen wurde, bis in die jüngste Zeit herauf. Das ist schon ein gravierendes<br />

Problem von der Aktenlage her. In anderen Bereichen wird es dagegen nicht so<br />

schwierig sein, etwa festzustellen, wie viele Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen hat<br />

es wo gegeben, das lässt sich alles eruieren. Bei Fallstudien kann es allerdings auch Probleme<br />

geben mit der Aktenlage in lokalen und regionalen Archiven.<br />

Wie geht man im Forschungsprozess mit der lückenhaften Quellenlage, z.B. bei<br />

Rückstellungsakten, um?<br />

Das kann ich im Detail noch nicht sagen. Die Rückstellungsfrage ist auch nicht mein Arbeitsfeld,<br />

dazu gibt es innerhalb der Kommission andere Experten und Expertinnen. Aber<br />

grundsätzlich muss man natürlich viel Phantasie aufwenden, wie man trotz des Fehlens von<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Interview mit Bertrand Perz<br />

155


Vor 15 Jahren noch undenkbar<br />

Unterlagen über Einzelfälle zu Gesamteinschätzungen kommen kann. Man muss zum Beispiel<br />

nach Ersatzdaten suchen, wenn ich die Unterlagen der Rückstellungskommissionen<br />

nicht habe, wird eine Analyse der konkreten Rückstellungspraxis in den Verfahren aber<br />

trotzdem schwierig sein. Das heißt, wir werden auch vor der Situation stehen, dass bestimmte<br />

Fragen zwar vielleicht von den Randbereichen her, etwa durch das Archiv eines<br />

beteiligten Anwalts, zu beleuchten sind, aber nicht von den zentralen Institutionen her. Das<br />

kann durchaus passieren, und das wäre ja auch ein Ergebnis. Ich halte es aber grundsätzlich<br />

für wichtig, dass jetzt eine Diskussion über das Archivgesetz in Gang gekommen ist<br />

und dass es eine Sensibilisierung gibt hinsichtlich des Umgangs mit Archivmaterial, dass<br />

z.B. private Archive ihre Akten nicht einfach wegwerfen dürfen. Über das Bundesarchivgesetz<br />

werden erstmals klare Abgaberegelungen für Akten geschaffen, die es ja bis jetzt<br />

nicht gab. Die Ministerien konnten mit ihren Akten ja mehr oder weniger nach eigenem<br />

Gutdünken verfahren. Diese Fragen werden jetzt etwas besser geregelt, was ansich dem<br />

normalen Standard eines demokratischen Rechtsstaates entspricht. Die Archivierung von<br />

Behördenvorgängen hat ja letztlich mit Fragen der Demokratie und des Rechtsstaates zu<br />

tun. Das gilt nicht nur für die NS-Zeit, sondern es geht grundsätzlich darum, dass auch<br />

Vorgänge der Nachkriegszeit und auch das, was gegenwärtig passiert, systematisch dokumentiert<br />

wird, damit später bei politischen Diskussionen über bestimmte Phasen der jüngeren<br />

Zeit anhand von Akten und anderen Quellen auch klare Urteile, Perspektiven etc.<br />

entwickelt werden können. Das halte ich für ganz wesentlich.<br />

Worin liegt das spezifische Erkenntnisinteresse der Historikerkommission?<br />

Geht es primär darum, den Umfang von Vermögensentzug und Rückstellungen zu<br />

erfassen, oder geht es auch um eine Analyse des nationalsozialistischen Systems der<br />

Bereicherung oder um die Perspektive der Opfer?<br />

Der Auftrag der Kommission ist auf der einen Seite relativ offen. Es geht um den gesamten<br />

Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich, das umfasst auch den Vermögensvorenthalt,<br />

d.h. Lohnvorenthalt gegenüber Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen,<br />

und Entschädigung und Rückstellung. Es ist eine Frage der Interpretation, was das im<br />

Konkreten bedeutet. Wenn man es von der Diskussion im Vorfeld der Kommission aus betrachtet,<br />

stand auf der politischen Ebene sicher ganz stark im Vordergrund, dass man eine<br />

Expertise zur Frage der „Arisierungen“ und der Zwangsarbeit wollte. Interessant ist, dass<br />

man das nicht explizit in den Auftrag hineingeschrieben hat, vermutlich gab es da eine<br />

gewisse Scheu zu schreiben, dass man wissen will, was Juden und in Österreich weggenommen<br />

worden ist. Man hat stattdessen eine sehr neutrale Formulierung gewählt. Insoweit<br />

war es für die Kommissionsmitglieder eine sehr ungewohnte Situation, dass die Politik<br />

einen Rahmen vorgibt, der eigentlich sehr viel Interpretationsspielraum läßt. Den „gesamten<br />

Vermögensentzug“ zu untersuchen, ist natürlich enorm komplex, und daher ging es uns<br />

hauptsächlich darum, die Grenzen dieses Themenkomplexes festzulegen, diese Frage von<br />

den Grenzen her zu diskutieren. Fällt zum Beispiel auch ein Raubüberfall im Nationalsozialismus<br />

unter „Vermögensentzug“? Wie definiert man die territorialen Grenzen des „Gebietes<br />

der Republik Österreich“? Was ist zum Beispiel, wenn jemand mit einem Teil seines<br />

Geldes nach Prag flüchtete, dort von der ➤ Gestapo verhaftet und ihm das Geld dort abgenommen<br />

wurde, und er wurde vielleicht sogar wieder nach Österreich deportiert oder<br />

auch nicht. War das Vermögensentzug in Österreich oder nicht? Was ist, wenn Österreicher<br />

den Freihafen von Triest ausgeräumt und die Waren nach Österreich gebracht<br />

haben, war das Vermögensentzug in Österreich oder nicht? Man kann also viele thematische<br />

Grenzen diskutieren. Ein anderer Punkt ist, dass man viel über den Charakter des<br />

NS-Systems wissen muss, um die Komplexität der Beraubungsvorgänge überhaupt zu verstehen.<br />

Ich muss natürlich auch wissen, wie der Handlungsspielraum und der Erwartungshorizont<br />

der potentiellen Opfer gegenüber der Beraubung war. Wie haben sie sich verhalten,<br />

was wurde ihnen dann weggenommen und in welcher Weise? Zum Beispiel die Frage<br />

der Entscheidung österreichischer Juden, zu emigrieren oder nicht, bei der ➤ Vermögens-<br />

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verkehrsstelle oder dann später bei der ➤ Zentralstelle für jüdische Auswanderung das<br />

ganze Vermögen anzugeben oder zu sagen, „Ich gebe nicht das ganze Vermögen an,<br />

riskiere aber, dass ich nicht ausreisen darf, weil die NS-Behörden vermuten, ich habe<br />

noch irgendwo was versteckt, und das rücke ich nicht heraus. Kann auch sein, ich habe<br />

nichts mehr, aber das glauben sie mir nicht.“ Diese Überlegungen – wie verhalte ich mich,<br />

wann gehe ich, wann ist der richtige Zeitpunkt, oder schicke ich nur meine Kinder ins Ausland<br />

und bleibe selbst da? – hängen in hohem Maße von der Einschätzung des Charakters<br />

des NS-Regimes durch die Opfer selbst ab. Das heißt, die Perspektive der Opfer und<br />

ihre Erfahrungen spielen eine wesentliche Rolle zum Verständnis bestimmter Vorgänge der<br />

Beraubung. Denn die Beraubungsinstitutionen entwickelten zwar einen systematischen<br />

Plan der völligen Beraubung der jüdischen Bevölkerung, aber sie „reagierten“ natürlich<br />

auch auf das Verhalten ihrer potentiellen Opfer, die beiden Seiten sind verschränkt miteinander.<br />

Das gilt ein Stück weit auch für die Zwangsarbeit, wenn vielleicht auch nicht in<br />

dem starken Ausmaß, aber wenn man etwa die Reaktion des Regimes auf Schwangerschaften<br />

der „Ostarbeiterinnen“, nämlich die Einrichtung von „Ostarbeiterinnen-Entbindungsheimen“<br />

betrachtet, oder die Frage von sexuellen Kontakten zwischen Deutschen<br />

und Ausländern, also die sogenannten „Rassenschande“-Geschichten, Arbeitsflucht, Verweigerung,<br />

bei all diesen Fragen müssen immer auch die Erfahrungen und Reaktionen der<br />

Betroffenen berücksichtigt werden und wie wiederum NS-Behörden auf das Verhalten der<br />

Betroffenen reagierten. Das hat aber seine Grenzen, wir schreiben nicht die NS-Geschichte<br />

im Sinne einer Systemanalyse und auch keine Erfahrungsgeschichte der Betroffenen in der<br />

NS-Zeit. Vom Auftrag der Kommission her steht im Vordergrund die Frage, was wurde den<br />

Leuten in welcher Weise weggenommen, und welche Form von Zwang wurde auf sie ausgeübt?<br />

Die Idee der Auftraggeber der Kommission ist sicherlich, ein relativ umfassendes<br />

Bild auch von den Größenordnungen des Vermögensentzugs und der Zwangsarbeit zu<br />

vermitteln. Es geht primär um „handfeste“ Daten, festzustellen, es gab so und so viele<br />

Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, so und so viele leben wahrscheinlich noch,<br />

und was das bedeutet.<br />

Was sagen Sie zu der von manchen Kollegen und Kolleginnen geäußerten Kritik,<br />

solche Kommissionen würden nur positivistische Geschichtsschreibung 1 betreiben?<br />

Ich stimme der Ansicht zu, dass die Projekte der Kommission methodisch nicht speziell innovativ<br />

sind, das ist aber auch nicht die Idee einer Kommissionsarbeit. Das ist ähnlich wie bei<br />

Gerichtsgutachten. Wenn man Gerichtsgutachten erstellt, dann geht es nicht um methodisch<br />

innovative Verfahren, sondern da geht es darum, mit den vorhandenen methodischen und<br />

theoretischen Möglichkeiten unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Fragen zu beantworten.<br />

Dass das zum Teil auch dem Vorwurf entspricht, positivistisch zu sein, verstehe ich<br />

ein Stück weit. Natürlich läßt die Fragestellung nach dem Vermögensentzug für einen<br />

großen Teil der Fragen, die in der Zeitgeschichtsforschung auch gestellt werden, keinen<br />

Platz, aber es ist eben schwierig, von der Politik zu erwarten, dass die Fragen noch einmal<br />

anders gestellt werden. Das bedeutet ja nicht, dass man methodisch vollkommen naiv an<br />

die Dinge herangehen muss.<br />

Wozu werden die Ergebnisse, die im Rahmen der Historikerkommission erarbeitet<br />

werden, letztlich dienen? Werden sie eine Grundlage für Entschädigungszahlungen<br />

und Rückstellungen sein?<br />

Von den vier Auftraggebern, also Bundeskanzler, Vizekanzler, Bundes- und Nationalratspräsident,<br />

her ist es sicher stark als politische Handlungsanleitung oder als Legitimation für<br />

politisches Handeln intendiert. Man will eine Expertise haben, die politisches Handeln legitimiert,<br />

um nach außen zu vertreten, warum man dieses und jenes tut. Es geht aber auch<br />

um eine Bewusstmachung bestimmter Vorgänge, die in Österreich während des Nationalsozialismus<br />

passiert sind, und die meines Erachtens nach viel zuwenig aufgearbeitet sind.<br />

Es gibt immerhin bis heute kein Standardwerk und nicht einmal einen ordentlichen<br />

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Interview mit Bertrand Perz<br />

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vor 15 Jahren noch undenkbar<br />

Überblick über das Thema „Arisierung“ in Österreich. Ein Problem in diesem Zusammenhang<br />

ist aber die Frage, ob die Kommission ein Alibi ist, um politisches Handeln zu verzögern,<br />

bis der Endbericht der Kommission vorliegt. Ein Stück weit haben Kommissionen<br />

natürlich diesen Verzögerungseffekt. In dem Moment, wo ich eine Kommission beauftrage,<br />

kann man ja auf der politischen Ebene sagen: „Wir tun ja etwas. Man kann uns nicht vorwerfen,<br />

wir tun nichts, es passiert ja eh was.“ Für mich war es deshalb ganz wichtig, und<br />

das war auch in der Kommission die Meinung, explizit zu sagen, die Regierung, aber<br />

auch das Parlament können vom jetzigen Kenntnisstand her schon bestimmte Dinge machen,<br />

zum Beispiel überlegen, einen Fonds für Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen<br />

einzurichten, und sie können auch beginnen, an bestimmte Gruppen, wo die Sachlage<br />

eindeutig ist, zu zahlen. Wenn wir draufkommen, man will jetzt drei Jahre überhaupt<br />

nichts machen, und die Kommission ist nur dazu da, das drei Jahre lang hinauszuzögern,<br />

dann wird es natürlich ziemlich schwierig für uns. In dem Fall müsste man sich überlegen,<br />

ob man diese Arbeit weiter macht. Ich würde aber sagen, realistischerweise kann man<br />

solche Entscheidungen vor den Nationalratswahlen im Oktober 1999 nicht erwarten, weil<br />

diese wahrscheinlich eher von den Intervallen unmittelbar bevorstehender Wahlen abhängen<br />

als von der Frage der Finanzierbarkeit von Entschädigungen. Für die Politik sind diese<br />

Milliarden ja nicht ein Problem als Summe an sich.<br />

Welche Konsequenzen ergeben sich Ihrer Meinung nach aus der gegenwärtigen<br />

Konjunktur der Zeitgeschichte, etwa durch den steigenden Einfluss von<br />

Kommissionen, einerseits auf den Forschungsbereich und andererseits auf<br />

gesellschaftlicher Ebene?<br />

Für die Forschung unmittelbar ist es so, dass mehr Geld da ist als sonst, jetzt speziell für die<br />

Zeitgeschichte. Langfristig besteht aber das Problem und die Gefahr, dass man nach dieser<br />

Kommission sagt, jetzt haben wir so viel Geld für die NS-Forschung ausgegeben, jetzt ist<br />

Schluss. Das hängt ein bisschen mit der Verwechslung von Kommission und Gericht zusammen,<br />

dass also die öffentlichen Zuschreibungen ganz stark dahin gehen, es handle sich<br />

hier sozusagen um ein Gerichtsverfahren mit einem abschließenden Urteil. Die Geschichtswissenschaft<br />

will ja gerade nicht diesen Abschluss, sondern entwirft eine von vielen möglichen<br />

Perspektiven auf Vergangenheit. Das Gericht will demgegenüber aber den Abschluss<br />

mit einem klaren Urteil und Konsequenzen. Das Urteil soll eindeutig sein und eben keine<br />

anderen Perspektiven erlauben. Und diese Verwechslung zwischen Gericht und Geschichtswissenschaft<br />

kann auch dazu führen, dass man dann sagt: „Jetzt haben wir das eh erledigt,<br />

das ist jetzt festgeschrieben, und alle anderen Perspektiven sind sowieso nicht wichtig<br />

in Bezug auf den Nationalsozialismus, das fördern wir nicht mehr.“<br />

Die Folgen für das kollektive Bewusstsein sind schwer einzuschätzen. Wenn man sich zum<br />

Beispiel die Entwicklung in der Schweiz anschaut, kann man pessimistisch sein und sagen,<br />

durch die Bergier-Kommission und durch die Volcker-Kommission gab es ein massives<br />

Ansteigen des Antisemitismus, zumindest der öffentlichen antisemitischen Äußerungen mit den<br />

klassischen Zuschreibungen: „Die Juden wollen unser Geld“, „die Ostküste“ oder die ganzen<br />

Klischees, die dann immer kommen. Welche langfristigen Folgen das hat, ist wirklich schwer<br />

zu sagen. Ein anderer Aspekt ist, dass diese ganze Debatte in der Schweiz in gewisser<br />

Weise auch ein Ende dieser Schweiz-Zentriertheit befördert. Die Schweiz ist nicht mehr der<br />

Sonderfall in der europäischen Landschaft, als der sie sich selbst jahrzehntelang gesehen hat.<br />

Wie das in Österreich sein wird, ist schwer zu sagen. Ich finde es zumindest erstaunlich, dass<br />

man mit der Einrichtung der Historikerkommission schon relativ weit weg ist vom langjährigen<br />

offiziellen Opfermythos Österreichs. Was jetzt passiert, dass zum Beispiel über Zahlungen<br />

öffentlich zumindest nachgedacht wird, das wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen.<br />

Ob das politisch und gesellschaftlich in Österreich langfristig mehr Bewusstsein schafft in<br />

Bezug auf die Vergangenheit, lässt sich noch nicht abschätzen. Das kann man zwar hoffen,<br />

aber wenn man manche Reaktionen sieht, die auf die Frage der finanziellen Entschädigung<br />

oder der Rückstellungen kommen, muss man da trotzdem auch skeptisch bleiben.<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Welche Bedeutung kann Ihrer Meinung nach die Arbeit der Historikerkommission<br />

für die Opfer des Nationalsozialismus, für die Leidtragenden haben?<br />

Das ist schwer zu sagen, weil es für einzelne Opfergruppen und für einzelne Personen<br />

sicher sehr unterschiedlich ist. Es gibt einerseits die Gruppe von Personen, die nie etwas<br />

bekommen hat und die auch auf Grund ihrer jetzigen sozioökonomischen Situation froh ist,<br />

irgendwas zu bekommen und die es vielleicht wie ein unerwartetes „Geschenk“ sieht, jetzt<br />

nach so vielen Jahren doch noch so etwas wie eine Entschädigung zu bekommen. Es gibt<br />

aber auch Gruppen, für die der finanzielle Aspekt nicht wichtig ist, sondern die das als<br />

symbolische Anerkennung sehen. Andere fühlen sich aber auch verhöhnt durch diese Überlegungen<br />

– „Wieviel ist an wen zu zahlen?“ –, weil ihr Leid ja nicht wieder gut zu machen,<br />

nicht mit einer bestimmten Summe zu entschädigen ist. Und es gibt sicher auch Leute, die<br />

nicht an diese Vergangenheit erinnert werden wollen und deshalb nichts mehr damit zu tun<br />

haben wollen. Insofern kann man nicht pauschal von den Konsequenzen für die Opfer des<br />

Nationalsozialismus sprechen. Grundsätzlich geht es bei der ganzen Diskussion aber nicht<br />

um „Gnadenakte“ der Republik oder der Firmen. Einerseits geht es um Rechtsansprüche<br />

von Menschen, denen etwas weggenommen bzw. vorenthalten wurde, andererseits um<br />

eine Entschädigung für den Zwang und das ihnen zugefügte Leid.<br />

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Interview mit Bertrand Perz<br />

Dr. Bertrand Perz ist Univ.-Lektor am<br />

Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und<br />

Mitglied der Historikerkommission<br />

1 Mit dieser Kritik ist eine Geschichtsschreibung gemeint,<br />

die sich in erster Linie auf das Sammeln und Beschreiben<br />

von Quellen/Daten beschränkt, ohne die Auswahl der Daten<br />

und die Daten selbst kritisch zu hinterfragen.<br />

159


DIE ARCHIVE ÖFFNEN SICH<br />

Die Erforschung der Firmen- und Bankengeschichte<br />

während der NS-Zeit<br />

Neben der Historikerkommission haben mittlerweile<br />

auch einige österreichische Unternehmen mit der Erforschung<br />

ihrer Vergangenheit während der NS-Zeit begonnen.<br />

Österreichische Banken wie die P.S.K. und die Erste<br />

Bank haben Forschungsteams beauftragt, die Konten<br />

und Depots ehemaliger jüdischer KundInnen ausfindig<br />

zu machen. Unternehmen wie die VA Stahl und VA Tech<br />

als Nachfolgefirmen der verstaatlichten Industrie lassen<br />

die Geschichte der „Hermann-Göring-Werke“, aus denen<br />

die VOEST nach 1945 hervorgingen, und der bei ihnen<br />

beschäftigten ZwangsarbeiterInnen erforschen, ebenso<br />

zum Beispiel der Verbund und die Lenzing AG.<br />

Einige Unternehmen haben auf die Ankündigung von<br />

Sammelklagen hin eine baldige Entschädigungsregelung<br />

für ehemalige ZwangsarbeiterInnen in Aussicht gestellt<br />

bzw. versucht, auf dem Weg des Vergleichs eine Lösung<br />

mit den Betroffenen zu finden.<br />

Dass für die Unternehmen die wissenschaftliche Erforschung<br />

der Firmengeschichte in der NS-Zeit eng mit konkreten<br />

Zahlungen an die Opfer und deren Hinterbliebene<br />

verknüpft ist, zeigt sich am Beispiel der P.S.K., deren<br />

Forschungsprojekt schon relativ weit fortgeschritten ist:<br />

Im März 1998 wurde vom Vorstand der P.S.K. ein Historikerteam<br />

unter der Leitung von Univ.-Doz. DDr. Oliver<br />

Rathkolb eingesetzt, das eine umfassende Dokumentation<br />

erstellen sollte als mögliche Entscheidungsgrundlage<br />

für freiwillige Kompensationen für ehemalige KundInnen<br />

bzw. deren Nachkommen. Im Oktober 1998 wurde<br />

ein erster Zwischenbericht im Internet veröffentlicht<br />

(➤ Internet-Adressen S. 182), in dem die Unternehmensgeschichte<br />

des „Postsparkassenamts“ zwischen 1938 und<br />

1945 und die nationalsozialistische Praxis der Vermögensberaubung<br />

und -kontrolle dargestellt wird.<br />

Die Veröffentlichung einer Liste von rund 7000 namentlich<br />

aufgeführten Scheckkonten, Sparbüchern, Wertpapierdepots,<br />

die vom NS-Regime geplündert und kontrolliert<br />

wurden, soll zur Ausforschung von Anspruchsberechtigten<br />

führen. Bis jetzt wurden ca. 2000 Anträge<br />

von Nachkommen oder anderen Verwandten der ehemaligen<br />

jüdischen KundInnen gestellt. Diese Anträge<br />

werden ebenfalls vom Forschungsteam bearbeitet:<br />

Scheckkonten und andere Vermögenswerte beim ehemaligen<br />

„Postsparkassenamt“ werden den AntragstellerInnen<br />

zugeordnet und die Höhe der Beträge sowohl<br />

im März 1938 als auch im April 1945 recherchiert.<br />

Um die de facto Enteignung zu verschleiern, plünderten<br />

die NS-Behörden die Konten jüdischer Kunden nicht vollständig,<br />

sondern beließen kleine Restbeträge.<br />

Die P.S.K. zahlt an berechtigte AntragstellerInnen, das<br />

heißt Nachkommen oder andere Verwandte, einen Betrag<br />

in der Höhe des Kontostandes von April 1945 aus,<br />

zumindest aber öS 1200.<br />

Diese Auszahlungen sind in den Fällen, in denen die<br />

Recherche abgeschlossen ist, bereits erfolgt.<br />

Bis Ende 1999 sollen ein Endbericht und außerdem eine<br />

umfassende Datenbank über die Konten, Sparbücher,<br />

Depots und Schrankfächer und biographischen Daten<br />

der vorwiegend jüdischen Opfer der nationalsozialistischen<br />

Beraubung erstellt werden.<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Glossar<br />

Abgeltungsfondsgesetz<br />

Das am 22. März 1961 erlassene Bundesgesetz,<br />

womit Bundesmittel zur<br />

<strong>Bildung</strong> eines Fonds zur Abgeltung<br />

von Vermögensverlusten politisch<br />

Verfolgter zur Verfügung gestellt<br />

werden, war aufgrund der Forderungen<br />

des ➤ Claims Committee und einer<br />

Bestimmung des Staatsvertrages<br />

erlassen worden, konnte jedoch erst<br />

nach Abschluß des ➤ Kreuznacher<br />

Abkommens mit der BRD im Juni<br />

1961 in Kraft treten, weil es an die finanzielle<br />

Beteiligung der BRD geknüpft<br />

worden war. Anspruchsberechtigt<br />

waren „rassisch“ oder religiös<br />

Verfolgte für erlittene Vermögensverluste<br />

an Bankkonten, Bargeld,<br />

Zahlungen diskriminierender<br />

Abgaben ( ➤ Reichsfluchtsteuer u.a.).<br />

Kleinere Vermögensverluste (bis zu<br />

47.250 Schilling) wurden zu 100 %<br />

entschädigt, größere mit 48,5%, aber<br />

mind. mit 47.250 Schilling.<br />

Alliierter Rat<br />

bzw. Alliierter Kontrollrat: In Deutschland<br />

und in Österreich gebildetes Organ<br />

der Besatzungsmächte. In Österreich<br />

wurde der Alliierte Rat auf der<br />

Grundlage des am 4. Juli 1945 von<br />

den Alliierten in London beschlossenen<br />

1. Kontrollabkommens über<br />

Österreich am 9. Juli 1945 eingerichtet.<br />

Der Rat, bestehend aus vier ➤<br />

Hochkommissaren, übte oberste Regierungsgewalt<br />

aus. Entscheidungen<br />

mussten einstimmig getroffen werden,<br />

jede Besatzungsmacht hatte Vetorecht.<br />

Der Rat legte in der Deklaration<br />

vom 9. Juli auch die Besatzungszonen<br />

fest. Das 2. Kontrollabkommen<br />

über Österreich vom 28. Juni<br />

1946 räumte der Provisorischen Regierung<br />

größere Kompetenzen ein,<br />

regelte den freizügigen Reiseverkehr<br />

zwischen den Zonen und erlaubte<br />

die Aufnahme diplomatischer Beziehungen<br />

zu Regierungen der Vereinten<br />

Nationen.<br />

Alte Kämpfer<br />

Viele der sogenannten „alten<br />

Kämpfer“ waren Soldaten, die sich<br />

nach dem Ende des Ersten Weltkriegs<br />

Frontkämpferverbänden und<br />

später der NSDAP anschlossen. Als illegale<br />

Parteigenossen nahmen viele<br />

der „alten Kämpfer“ am nationalsozialistischen<br />

Juliputsch 1934 teil. Die<br />

Übernahme nationalsozialistischer<br />

Herrschaft in Österreich stellte für<br />

die vielfach arbeitslosen und von sozialer<br />

Deklassierung bedrohten, bis<br />

1938 auch gerichtlich verfolgten illegalen<br />

Nationalsozialisten die Möglichkeit<br />

dar, über Protektion durch<br />

die Partei zu Ansehen und Vermögen<br />

zu gelangen. Sie wurden etwa<br />

bei ➤ „Arisierungen“ protegiert, in<br />

der Gewährung von „Arisierungsdarlehen“<br />

sowie in der Zuweisung von<br />

Kleinbetrieben und Handelsgesellschaften.<br />

Viele der „Alten Kämpfer“<br />

bereicherten sich als ➤ „Ariseure“.<br />

Altmann, Karl (1904 –1960)<br />

KPÖ-Politiker, 1945–1947 Bundesminister<br />

für Elektrifizierung und Energiewirtschaft,<br />

schied als letzter kommunistischer<br />

Politiker aus der Regierung<br />

aus.<br />

Am Spiegelgrund<br />

Auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalt<br />

➤ „Am Steinhof“ in Wien<br />

befanden sich in der NS-Zeit drei<br />

Einrichtungen, in denen Kinder und<br />

Jugendliche interniert wurden: eine<br />

Kinderfachabteilung, eine Jugenderziehungsanstalt<br />

und eine Arbeitsanstalt<br />

für „asoziale“ Mädchen und<br />

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Frauen. 1940–1942 standen die<br />

Kinderfachabteilung (am 24. 7.1940<br />

eröffnet) und das Jugenderziehungsheim<br />

unter dem Namen „Wiener<br />

städtische Jugendfürsorgeanstalt<br />

Am Spiegelgrund“ in einer administrativen<br />

Einheit. 1942 erfolgte<br />

die Trennung in die „Heilpädagogische<br />

Klinik Am Spiegelgrund/Wiener<br />

Nervenklinik für Kinder“ und das<br />

„Wiener städtische Erziehungsheim<br />

Am Spiegelgrund“. Viele der inhaftierten<br />

Kinder und Jugendlichen<br />

wurden Opfer medizinischer Versuche,<br />

von Vergiftung, ➤„Euthanasie“<br />

und Zwangssterilisation.<br />

Am Steinhof<br />

1907 eröffnete „Landes- und Pflegeanstalt<br />

für Geistes- und Nervenkranke<br />

für Wien und Niederösterreich“<br />

im 14. Wiener Gemeindebezirk. Sie<br />

war damals die größte psychiatrische<br />

Anstalt Europas und erlangte aufgrund<br />

der modernen architektonischen<br />

Gestaltung Vorzeigecharakter.<br />

Die bauliche Struktur in Form einzelner<br />

Pavillons bestimmte das pflegerische<br />

Konzept. Die gesamte Anlage<br />

umfaßte drei Anstaltsbereiche: eine<br />

Heilanstalt, eine Pflegeanstalt sowie<br />

ein Sanatorium. Das Sanatorium<br />

wurde 1921 in eine Lungenheilstätte<br />

umgewandelt. In der NS-Zeit wurden<br />

die PatientInnen vielfach Opfer der<br />

➤ Euthanasieaktion „T4“.<br />

Amtsbescheinigung<br />

Nach dem ➤ Opferfürsorgegesetz<br />

wurde die Amtsbescheinigung jenen<br />

Opfern des Nationalsozialismus ausgestellt,<br />

die aufgrund von Gutachten<br />

der zuständigen behördlichen Sozialund<br />

Gesundheitsämter als fürsorgebedürftig<br />

anerkannt wurden. Primär<br />

war jedoch nach 1945 nur politischen<br />

161


Glossar<br />

Opfern des Nationalsozialismus der<br />

Erhalt einer Amtsbescheinigung vorbehalten.<br />

Der Besitz einer Amtsbescheinigung<br />

ermöglichte den Bezug<br />

einer Opferrente. ➤ Opferausweis.<br />

Arierparagraph<br />

1933 erlassene Bestimmung, die die<br />

Mitgliedschaft von „Nichtariern“,<br />

das heißt Juden und Jüdinnen, Sinti<br />

und Roma und anderen Gruppen, in<br />

deutschen Parteien, Verbänden, Vereinen<br />

etc. verbot. Vorläufer der ➤<br />

Nürnberger Rassengesetze.<br />

Ariseur<br />

Die unmittelbar nach dem Anschluss<br />

einsetzenden spontanen Enteignungen,<br />

die sogenannten „wilden Arisierungen“<br />

von Geschäften und gewerblichen<br />

Betrieben wurden durch<br />

vielfach selbsternannte „Kommissare“<br />

begonnen. Die planmäßige<br />

Durchführung der Enteignungen<br />

sollten die Praxis der „wilden Arisierungen“<br />

im Nachhinein legalisieren<br />

und künftig kontrollieren. Die ➤ Vermögensverkehrsstelle<br />

(VVST) bestellte<br />

neue, eigens dafür ausgewählte<br />

„kommissarische Verwalter“.<br />

Ab Februar 1939 setzte die VVST für<br />

die noch bestehenden jüdischen<br />

Unternehmen sogenannte „Treuhänder“<br />

ein, um deren ➤ „Arisierung“<br />

oder Auflösung vorzubereiten. Für<br />

die zahlreichen Stillegungen von Betrieben<br />

im Handels- und Gewerbebereich<br />

berief die VVST sog. „Abwickler“.<br />

Die Misswirtschaft der frühen<br />

„wilden Arisierungen“ zeigte sich<br />

auch bei den „Abwicklern“, zumal<br />

die Betriebsliquidierungen vielfach<br />

die Möglichkeiten zu eigener Bereicherung<br />

boten.<br />

Arisierung<br />

Der Terminus „Arisierung“ bezeichnet<br />

die Enteignung der gesamten<br />

jüdischen Bevölkerung. Nach planlosen,<br />

gesetzlich nicht geregelten<br />

„wilden Arisierungen“ unmittelbar<br />

nach der nationalsozialistischen<br />

Machtübernahme erfolgte die systematische<br />

Enteignung von Geschäften<br />

und Firmen über Zwangsverkauf, Betriebsstillegungen<br />

oder den Entzug<br />

von Gewerbekonzessionen durch die<br />

Nationalsozialisten. Neben dem Ziel<br />

der Verdrängung der Juden und Jüdinnen<br />

aus der Wirtschaft sollte über<br />

die Enteignung von Häusern, Wohnungen,<br />

Grundstücken, Wertpapieren<br />

und Privatvermögen auch die systematische<br />

Verdrängung der jüdischen<br />

Bevölkerung aus allen Bereichen<br />

des öffentlichen Lebens forciert<br />

werden.<br />

Arisierungsauflage<br />

Der ➤ „Ariseur“ hatte neben dem<br />

festgesetzten ➤ Kaufpreis an den<br />

Staat eine „Arisierungsauflage“ als<br />

Prämie für die günstigen Kaufbedingungen<br />

zu entrichten.<br />

Arisierungsfonds<br />

Zur Unterstützung nationalsozialistischer<br />

Kaufwerber von zur „Arisierung“<br />

bestimmten Geschäfte und Betrieben<br />

wurde ein Fonds gegründet,<br />

der den KaufwerberInnen „Arisierungskredite“<br />

genehmigte. Finanziert<br />

wurden diese Kredite aus den Gewinnen<br />

bereits enteigneten jüdischen<br />

Vermögens, durch die Differenz zwischen<br />

dem tatsächlichen ➤ Sachwert<br />

eines Betriebes und dem Verkaufswert,<br />

der dafür bezahlt wurde.<br />

Auschwitz-Erlass<br />

Befehl Heinrich Himmlers vom 16.<br />

Dez. 1942, alle „Zigeuner“, die sich<br />

noch im „Reich“ befanden, in das<br />

Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau<br />

zu deportieren und dort zu<br />

ermorden. Ausgenommen werden<br />

sollten davon die wenigen als „reinrassig“<br />

(„arisch“) klassifizierten „Zigeuner“,<br />

sozial angepasst lebende<br />

„Zigeuner“ und jene, die kriegswichtig<br />

waren, entweder in der Wehrmacht<br />

oder als ZwangsarbeiterInnen<br />

in der Rüstungsindustrie. Sie sollten<br />

jedoch zwangssterilisiert werden.<br />

Bergier-Kommission<br />

Die „Unabhängige Expertenkommission<br />

Schweiz – Zweiter Weltkrieg“<br />

wurde im Dezember 1996 von der<br />

Bundesversammlung (dem Parlament)<br />

der Schweiz eingesetzt mit<br />

dem Auftrag, „Umfang und Schicksal<br />

der vor, während und unmittelbar<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg in die<br />

Schweiz gelangten Vermögenswerte“<br />

zu untersuchen. Das betrifft u.a.<br />

den Goldhandel, Verflechtungen<br />

schweizerischer Industrie- und Handelsunternehmen<br />

mit der nationalsozialistischen<br />

Wirtschaft und die<br />

schweizerische Flüchtlingspolitik.<br />

Den Vorsitz der Kommission führt<br />

der Schweizer Wirtschaftshistoriker<br />

Jean-François Bergier, neben vier<br />

weiteren schweizerischen Mitgliedern<br />

sind auch die internationalen<br />

ExpertInnen Sybil Milton, Saul Friedlaender,<br />

Wladyslaw Bartoszewski<br />

und Harold James Mitglieder der<br />

Kommission. Die Kommission hat<br />

weitreichende Befugnisse, etwa uneingeschränkten<br />

Aktenzugang zu<br />

sämtlichen öffentlichen und privaten<br />

Archiven in der Schweiz.<br />

Blutorden<br />

Dieser Orden, die höchste Auszeichnung<br />

im NS-Staat, wurde ab 1933<br />

verliehen, zunächst nur an Teilnehmer<br />

des Hitler-Putsches 1923, ab<br />

1938 auch an andere Parteimitglieder,<br />

die für ihre Beteiligung an der<br />

Bewegung zumindest eine Gefängnisstrafe<br />

erhalten hatten.<br />

Breitner, Hugo (1873–1946)<br />

Finanzstadtrat im Roten Wien. Breitner<br />

entwickelte eine eigene Finanzund<br />

Steuerpolitik, um ein von der sozialdemokratischen<br />

Stadtverwaltung<br />

entwickeltes umfassendes Sozialprogramm<br />

sicherzustellen. Die Maßnahmen<br />

lagen in der Umwandlung von<br />

fixen indirekten Steuern in direkte<br />

Steuern nach sozialen Gesichtspunkten,<br />

einem weitgehenden Verzicht<br />

auf staatliche Kreditnahme, einer sozial<br />

gerechten Wohnbausteuer zur<br />

Entlastung proletarischer und kleinbürgerlicher<br />

Schichten, der Einführung<br />

diverser Luxussteuern und dem<br />

Verzicht auf Profit bei städtischen<br />

Betrieben und Unternehmungen.<br />

Bund der politisch Verfolgten –<br />

Österreichischer Bundesverband<br />

Im September 1946 schlossen sich<br />

der ➤ KZ-Verband und zahlreiche,<br />

auch in den Bundesländern tätige<br />

Komitees zur Betreuung der KZ-<br />

Überlebenden zum „Bund der politisch<br />

Verfolgten“ zusammen. Vertreten<br />

waren Mitglieder der SPÖ, der<br />

ÖVP, der KPÖ und auch die sogenannten<br />

„Abstammungsverfolgten“.<br />

Der „Bund politisch Verfolgter“ galt<br />

als offizielle Interessenvertretung<br />

aller Opfer des Nationalsozialismus.<br />

Am 8. März 1948 löste Innenminister<br />

➤ Oskar Helmer den „Bund“ mit<br />

162 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Zustimmung der Regierungsparteien<br />

auf. In der Folge entstanden drei<br />

parteinahe Organisationen der politisch<br />

Verfolgten.<br />

Bund Deutscher Mädel<br />

Ab 1930 eigene Organisation der<br />

➤ Hitlerjugend (HJ) für 14- bis<br />

21-jährige Mädchen, wobei die 17bis<br />

21-jährigen in der angegliederten<br />

Organisation „Glaube und Schönheit“<br />

erfasst waren. Der BDM diente<br />

der sportlichen Ertüchtigung sowie<br />

der ideologischen Schulung der<br />

Mädchen zu künftigen Müttern<br />

einer „genetisch gesunden“ Nachkommenschaft.<br />

Bundesentschädigungsgesetz (BEG)<br />

Das BEG der Bundesrepublik<br />

Deutschland wurde 1953 zunächst als<br />

Bundesergänzungsgesetz erlassen,<br />

eine aufgrund erheblicher Mängel<br />

notwendige Novellierung führte<br />

1956 zum eigentlichen Bundesentschädigungsgesetz.Entschädigungsberechtigt<br />

sind nach dem BEG die<br />

aus Gründen politischer Gegnerschaft,<br />

der Rasse, des Glaubens oder<br />

der Weltanschauung Verfolgten des<br />

Nationalsozialismus. Wesentliche<br />

Unterschiede zur österreichischen<br />

➤ Opferfürsorgegesetzgebung sind<br />

der Entschädigungs- und nicht der<br />

Fürsorgegrundsatz, Entschädigung in<br />

Form von Renten, wobei auch ein<br />

Großteil der Vertriebenen Anspruch<br />

auf Renten hat, während die aus<br />

Österreich Vertriebenen nur einmalige<br />

Zahlungen aus den ➤ Hilfsfonds<br />

erhielten. Insgesamt waren im Vergleich<br />

zu Österreich mehr Opfer anspruchsberechtigt,<br />

und sie erhielten<br />

auch höhere Entschädigungen. Allerdings<br />

sind auch die Regelungen des<br />

BEG sehr kompliziert und wurden<br />

teilweise heftig kritisiert, z.B. dass<br />

sich die Höhe der Rentenbezüge<br />

nach dem früheren Einkommen der<br />

Opfer richtete. Anträge konnten zudem<br />

nur bis zum 31.12. 1969 gestellt<br />

werden, seitdem sind nur einmalige<br />

Entschädigungszahlungen aus dem<br />

1980 geschaffenen Härtefonds möglich.<br />

Ähnlich wie im österreichischen<br />

OFG wurden einige Gruppen von<br />

Verfolgten im BEG benachteiligt, wie<br />

etwa Roma und Sinti, oder überhaupt<br />

davon ausgenommen wie<br />

Homosexuelle, Zwangssterilisierte,<br />

„Euthanasieopfer“, „Asoziale“ und<br />

kommunistische WiderstandskämpferInnen,<br />

die nach 1945 in der KPD<br />

aktiv waren. Keine Entschädigung haben<br />

außerdem osteuropäische Überlebende<br />

erhalten, sofern sie nicht bis<br />

Ende 1965 in ein nichtkommunistisches<br />

Land emigrierten. Die große<br />

Gruppe der ausländischen ZwangsarbeiterInnen<br />

ist nach dem BEG ebenfalls<br />

nicht anspruchsberechtigt.<br />

Bundesgesetz über die Nichtigkeit von<br />

Rechtsgeschäften und sonstigen<br />

Rechtshandlungen, die während der<br />

deutschen Besetzung Österreichs<br />

erfolgt sind<br />

Das Gesetz vom 15. Mai 1946 erkannte<br />

gemäß der ➤ Londoner Deklaration<br />

von 1943 alle Rechtsgeschäfte<br />

und Rechtshandlungen bezüglich<br />

Vermögensentzug und Entzug<br />

von Vermögensrechten, die<br />

während der deutschen Besetzung<br />

Österreichs ohne die „innere Zustimmung“<br />

der Leidtragenden erfolgten,<br />

als nichtig. Die Geltendmachung der<br />

Ansprüche der Leidtragenden sollte<br />

in späteren Verordnungen geregelt<br />

werden. ➤ Rückstellungsgesetze.<br />

Bundesgesetz über die Rückgabe<br />

von Kunstgegenständen aus den<br />

österreichischen Bundesmuseen<br />

und Sammlungen<br />

Am 4. Dezember 1998 beschlossenes<br />

Gesetz, das die Rückgabe von Kunstund<br />

Kulturgegenständen regelt, die<br />

„im Zuge von Verfahren nach dem<br />

Ausfuhrverbotsgesetz zurückbehalten<br />

wurden und als ‚Schenkungen‘<br />

oder ‚Widmungen‘ in den Besitz der<br />

österreichischen Museen und Sammlungen<br />

eingegangen sind“, die zwar<br />

rechtmäßig in den Besitz der Museen<br />

gelangten, die aber vorher „Gegenstand<br />

eines Rechtsgeschäftes gewesen<br />

sind, das nach den Bestimmungen<br />

des so genannten Nichtigkeitsgesetzes<br />

aus dem Jahre 1946 nichtig<br />

ist“, und „Kunst- und Kulturgegenstände,<br />

die trotz Durchführung von<br />

Rückstellungen nicht an die ursprünglichen<br />

Eigentümer oder deren<br />

Rechtsnachfolger von Todes wegen<br />

zurückgegeben werden konnten und<br />

als herrenloses Gut in das Eigentum<br />

des Bundes übergegangen sind“.<br />

Ferner wurde die Einsetzung eines<br />

Rückgabe-Beirats veranlasst.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

163<br />

Glossar<br />

Bundesministerium für Vermögenssicherung<br />

und Wirtschaftsplanung<br />

➤ Krauland-Ministerium.<br />

Bürckel, Josef<br />

Gauleiter von Rheinland-Pfalz (später<br />

Westmark), wurde am 13. März<br />

1938 zum „Reichskommissar für die<br />

Wiedervereinigung Österreichs mit<br />

dem Deutschen Reich“ ernannt (bis<br />

31. März 1940), gleichzeitig ab Mai<br />

1939 „Reichsstatthalter der Ostmark“<br />

und Gauleiter von Wien. Am<br />

2. August 1940 wurde er Leiter der<br />

Zivilverwaltung in Lothringen. Sein<br />

Nachfolger wurde Baldur von Schirach<br />

(ab 1931 Reichsjugendführer<br />

der HJ).<br />

Chelmno (Kulmhof)<br />

In diesem Ort war das erste nationalsozialistische<br />

Vernichtungslager und<br />

wurde als Zentrum für die Ermordung<br />

der Juden und Jüdinnen des 70<br />

km entfernten Gettos von Lodz konzipiert.<br />

Nach heutigen Schätzungen<br />

wurden im Lager Chelmno 152.000<br />

bis zu 300.000 Menschen ermordet,<br />

darunter Juden und Jüdinnen aus<br />

den Gemeinden der Umgebung, deportierte<br />

Juden und Jüdinnen aus<br />

Österreich, Deutschland, der Tschechoslowakei<br />

sowie ab 1942 polnische<br />

und sowjetische Kriegsgefangene.<br />

Claims Committee<br />

„Committee for Jewish Claims on<br />

Austria“, eine 1952 in New York gegründete<br />

Dachorganisation der 23<br />

Organisationen der ➤ Claims Conference<br />

und der Organisation vertriebener<br />

österreichischer Juden und<br />

Jüdinnen, dem „ World Council of<br />

Jews from Austria“. Das Claims Committee<br />

setzte im Mai 1953 einen Exekutivausschuss<br />

unter Vorsitz von ➤<br />

Nahum Goldmann ein, der die Verhandlungen<br />

mit der österreichischen<br />

Regierung führen sollte. Die zentralen<br />

Forderungen des Claims Committee<br />

waren die Beseitigung der Diskriminierung<br />

der vertriebenen jüdischen<br />

Bevölkerung, die individuelle<br />

Entschädigung für erlittene Vermögensverluste,<br />

Regelungen bezüglich<br />

des „erblosen Vermögens“ und der<br />

spezifischen Forderungen der ➤ Israelitischen<br />

Kultusgemeinde. Die Verhandlungen<br />

begannen Ende Juni 1953<br />

und zogen sich mit verschiedenen


Zwischenergebnissen bis 1960/61 hin.<br />

Ein Ergebnis der jahrelangen Verhandlungen<br />

– die Ansprüche auf Entschädigung<br />

und Vermögensrückstellung<br />

wurden bereits im Artikel 26<br />

des ➤ Staatsvertrages festgehalten –<br />

war die Einrichtung von ➤ Sammelstellen<br />

zur Erfassung des „erblosen<br />

Vermögens“ und die Einrichtung<br />

eines ➤ Hilfsfonds.<br />

Claims Conference<br />

„Conference on Jewish Material<br />

Claims Against Germany“, am 26.<br />

Oktober 1951 in New York gegründete<br />

Dachorganisation verschiedener<br />

internationaler jüdischer Organisationen,<br />

die unter dem Vorsitz<br />

des WJC-Präsidenten ➤ Nahum Goldmann<br />

in den Jahren 1951/52 mit der<br />

bundesdeutschen Regierung Verhandlungen<br />

über Entschädigungszahlungen<br />

an Israel und an einzelne<br />

Opfer der NS-Verfolgung führte. Die<br />

Verhandlungen führten zum ➤ Luxemburger<br />

Abkommen vom 10. September<br />

1952. Seitdem besteht die<br />

Claims Conference als Organisation<br />

zur Sicherung von Geldern für die<br />

Rehabilitation und Umsiedlung jüdischer<br />

Opfer des Naziterrors. Die<br />

Claims Conference ist Mitglied der<br />

1992 gegründeten ➤ World Jewish<br />

Restitution Organization.<br />

Class Action<br />

➤ Sammelklage.<br />

Glossar<br />

Containment-Politik<br />

Eindämmungspolitik, 1946/47 vom<br />

amerikanischen Diplomaten und<br />

Berater G. F. Kennan entworfene<br />

außenpolitische Strategie gegen die<br />

Ausdehnung des sowjetischen Einflussbereiches<br />

durch westliche Bündnispolitik,<br />

Militär- und Wirtschaftshilfe,<br />

z.B. durch das Europäische<br />

Wiederaufbau-Programm (ERP) und<br />

die NATO.<br />

Deutsche Arbeitsfront (DAF)<br />

Am 10. Mai 1933 nach dem Verbot<br />

der Gewerkschaften gegründete<br />

Einheitsorganisation „aller schaffenden<br />

Deutschen“. Der Zusammenschluss<br />

von ArbeiterInnen, Angestellten<br />

und UnternehmerInnen in<br />

einer einzigen Organisation sollte<br />

eine reibungslose Umsetzung nationalsozialistischer<br />

Wirtschaftspolitik<br />

und eine bessere Kontrolle über den<br />

gesamten Produktionsprozess gewährleisten.<br />

Aufgrund ihrer hohen<br />

Mitgliederzahl (ca. 23 Mio. Mitglieder)<br />

und der Mitgliedsbeiträge<br />

konnte die DAF unter dem Reichsleiter<br />

Robert Ley auch eine Reihe von<br />

Wirtschaftsunternehmen, u.a. Wohnungsbau-<br />

und Siedlungsgesellschaften,<br />

Banken, Versicherungen, Druckereien,<br />

finanzieren.<br />

Deutsches Jungvolk<br />

Das DJ als Teilorganisation der ➤ Hitlerjugend<br />

(HJ) erfasste die zehn- bis<br />

14-jährigen Buben. Der Eintritt in<br />

den DJ erfolgte schuljahrgangsweise<br />

am Geburtstag Hitlers. Nach der Beendigung<br />

ihrer Dienstzeit im DJ wurden<br />

die Buben (wiederum an Hitlers<br />

Geburtstag) in die eigentliche HJ<br />

überwiesen.<br />

Displaced Persons (DPs)<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg befanden<br />

sich ca. 10 Millionen Menschen<br />

auf der Flucht bzw. außerhalb ihrer<br />

Heimatländer, z.B. in den befreiten<br />

Konzentrationslagern; sie wurden<br />

als Displaced Persons bezeichnet. In<br />

Österreich waren es etwa eine Million<br />

fremdsprachige und ca. 600.000<br />

deutschsprachige DPs, darunter die<br />

Überlebenden der Konzentrationslager,<br />

die ausländischen ZwangsarbeiterInnen<br />

und die aus ihren Ländern<br />

vertriebenen und geflüchteten Menschen.<br />

Sie wurden in großen Lagern<br />

untergebracht. Für die meisten DPs,<br />

auch für die jüdischen Überlebenden,<br />

waren die alliierten Besatzungsmächte<br />

und die ➤ UNRRA zuständig,<br />

die die Versorgung und Vorbereitung<br />

der Repatriierung der DPs<br />

übernahmen. Für deutschsprachige<br />

DPs waren österreichische Behörden<br />

verantwortlich.<br />

Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />

Widerstandes (DÖW)<br />

Das DÖW ist ein Archiv, dessen<br />

Schwerpunkte auf Widerstand und<br />

Verfolgung 1934–1945, Exil, NS-Verbrechen<br />

(insbesondere Holocaust)<br />

sowie Rechtsextremismus nach 1945<br />

liegen. Weiters ist das DÖW auch eine<br />

Forschungseinrichtung für Projekte<br />

zu den genannten Schwerpunkten.<br />

Neben der Zusammenarbeit<br />

mit universitären und außeruni-<br />

versitären Forschungseinrichtungen,<br />

HistorikerInnen, ZeitzeugInnen,<br />

Schulen, Bereichen der Erwachsenenbildung<br />

sowie der Veranstaltung<br />

von Tagungen, Symposien, Ausstellungen<br />

und der Publikation einer<br />

eigenen Zeitschrift und Schriftenreihe<br />

hat das DÖW auch eine demokratiepolitische<br />

Funktion.<br />

Döllersheim<br />

Zum Zwecke der Landbeschaffung<br />

für einen eigenen Truppenübungsplatz<br />

wurde im Dezember 1938 mit<br />

der Entsiedelung von Ortschaften<br />

um das Gebiet von Döllersheim in<br />

Niederösterreich begonnen. Im Auftrag<br />

der „Deutschen Ansiedlungsgesellschaft“<br />

sollten den ca. 7000<br />

AussiedlerInnen als Entschädigung<br />

neue Wirtschaftshöfe in der Umgebung,<br />

aber auch in anderen Reichsgebieten<br />

zugeteilt werden. Nach<br />

dem Krieg wurde der Truppenübungsplatz<br />

als deutsches Eigentum<br />

angesehen und besetzt. Nach<br />

dem Abzug der Alliierten aus Niederösterreich<br />

forderten viele der<br />

ehemals Ausgesiedelten entweder<br />

eine Entschädigung oder die Möglichkeit,<br />

wieder zurückzukehren.<br />

Die Rückstellungsfrage war insofern<br />

problematisch, als es unterschiedliche<br />

Gruppen von ehemaligen Eigentümern<br />

gab: Familien, die sich<br />

1938 geweigert hatten, ihren Besitz<br />

zu verkaufen, die keinen Kaufvertrag<br />

unterzeichneten und daher<br />

zwangsenteignet und vertrieben<br />

wurden. Eine andere Gruppe ehemaliger<br />

DöllersheimerInnen hatte<br />

1938 unter Druck dem Verkauf zugestimmt,<br />

war aber mit „arisiertem“<br />

Besitz entschädigt worden,<br />

der inzwischen zurückerstattet werden<br />

musste. Andere Döllersheimer<br />

erhielten Besitz in Südböhmen und<br />

Südmähren und wurden nach<br />

Kriegsende von dort vertrieben.<br />

Nach langen Verhandlungen über<br />

eine landwirtschaftliche Nutzung<br />

des Truppenübungsplatzes sowie eine<br />

Rückkehr der AussiedlerInnen<br />

ging der Truppenübungsplatz in<br />

den Besitz des österreichischen Bundesheeres<br />

über.<br />

Ebensee<br />

Das Konzentrationslager Ebensee<br />

wurde am 18. November 1943 als<br />

164 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Außenlager des Konzentrationslagers<br />

Mauthausen in Oberösterreich<br />

errichtet, um KZ-Häftlinge beim Bau<br />

von Tunnels für die geplante unterirdische<br />

Verlagerung einer Raketenversuchsanlage<br />

als Zwangsarbeitskräfte<br />

einzusetzen. Die Häftlinge<br />

kamen u.a. aus der Sowjetunion,<br />

aus Polen, Ungarn, Jugoslawien,<br />

Frankreich, Belgien, Luxemburg. Die<br />

ersten jüdischen Häftlinge kamen<br />

im Juni 1944 nach Ebensee, ihre<br />

Zahl nahm mit mehreren Gefangenentransporten<br />

Anfang 1945 weiter<br />

zu. Sie hatten schlechtere Lebensbedingungen<br />

als andere Häftlinge und<br />

daher auch eine höhere Todesrate.<br />

Die Forcierung des Tunnelausbaus<br />

und die damit verbundene Überbelegung<br />

des Lagers führten zu einer<br />

wesentlichen Verschlechterung der<br />

Bedingungen im Lager, allein im<br />

April 1945 starben über 3000 Häftlinge.<br />

Am 5. Mai verließen der Lagerkommandant<br />

und die SS-Wachmannschaften<br />

Ebensee, ihr Versuch,<br />

zuvor die noch lebenden Häftlinge<br />

durch einen Sprengsatz im Tunnel<br />

umzubringen, schlug fehl, da sich<br />

die Häftlinge weigerten, in den Tunnel<br />

zu gehen. Das Lager Ebensee<br />

wurde am 6. Mai von amerikanischen<br />

Truppen befreit.<br />

Eichmann, Adolf (1906–1962)<br />

Bereits zu Zeiten des Verbots der Nationalsozialisten<br />

in Österreich schloß<br />

sich Eichmann 1933 der „Österreichischen<br />

Legion“, einer Einheit der ➤<br />

SS für emigrierte Nationalsozialisten<br />

in Bayern, an. Nach militärischer<br />

Ausbildung versah er seinen Dienst<br />

im Lager Dachau. Eichmann war im<br />

Wesentlichen für die Vertreibung<br />

der Juden und Jüdinnen aus Europa<br />

zuständig. Über die Gründung der<br />

➤ „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“<br />

in Wien im August 1938<br />

wickelten Eichmann und sein Büro<br />

die Auswanderung der Juden und<br />

Jüdinnen aus Europa ab. Entscheidende<br />

Schritte lagen in der Verschlechterung<br />

der wirtschaftlichen Lage für<br />

die jüdische Bevölkerung, zunehmenden<br />

Terroraktionen sowie der<br />

Kontrolle der jüdischen Gemeinden<br />

durch erzwungene Zusammenarbeit.<br />

Nach dem Wiener Vorbild wurden<br />

weitere Auswanderungsstellen in<br />

Böhmen und Mähren, Prag und<br />

Berlin gegründet. 1939 wurde Eichmann<br />

Leiter des „Umsiedlerreferates“<br />

in der ➤ Gestapo und spielte in<br />

der Folgezeit eine zentrale Rolle bei<br />

der Vertreibung der Juden und Jüdinnen<br />

aus Polen. Nach dem Auswanderungsverbot<br />

für Juden und<br />

Jüdinnen 1941 übernahm Eichmanns<br />

Büro die Organisation der Deportationen<br />

in polnische Vernichtungslager.<br />

Nach dem Krieg floh er mit Hilfe<br />

des Vatikans nach Argentinien, wo<br />

er 1960 vom israelischen Geheimdienst<br />

aufgegriffen wurde. Nach einem<br />

Prozess in Jerusalem wurde<br />

Eichmann am 1. 6.1962 gehängt.<br />

ESRA<br />

Initiative zur psychosozialen, sozialtherapeutischen<br />

und soziokulturellen<br />

Integration. ESRA ist ein Behandlungs-<br />

und Beratungszentrum<br />

für Menschen mit psychosozialen<br />

Problemen und Krankheitsbildern,<br />

die durch Erlebnisse während des<br />

Holocaust sowie durch Entwurzelung<br />

aufgrund von Flucht und Vertreibung<br />

bedingt sind. Opfer des Nationalsozialismus<br />

haben die Möglichkeit<br />

zu Einzel- und Gruppentherapien,<br />

ambulanter Beratung, medizinischer<br />

und psychologischer Betreuung.<br />

Euthanasie<br />

Auf der Basis der ➤„Nürnberger<br />

Rassengesetze“ sowie des ➤ „Gesetzes<br />

zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“<br />

wurde von den Nationalsozialisten<br />

ein eigenes Programm<br />

zur Vernichtung, wie sie es nannten,<br />

„lebensunwertem Leben“ ausgearbeitet.<br />

Der Begriff „lebensunwertes<br />

Leben“ war ein sehr breit gefächerter:<br />

Er inkludierte geistig oder körperlich<br />

behinderte Kinder und Erwachsene,<br />

politische GegnerInnen,<br />

sogenannte „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“;<br />

all jene, die dem Ideal<br />

der „deutschen Herrenrasse“ nicht<br />

entsprachen, wurden in eigenen Anstalten<br />

interniert, zwangssterilisiert<br />

oder in Konzentrationslager deportiert.<br />

Ab 1939 wurde in eigenen<br />

Euthanasieanstalten mit der Tötung<br />

geistig und körperlich behinderter<br />

Kinder begonnen. Später folgte die<br />

unter „Sterbehilfe“ getarnte Tötung<br />

von InsassInnen von Heil- und Pflegeanstalten<br />

mittels Injektionen,<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Giftspritzen, aber auch durch Gas.<br />

Insgesamt wurden etwa 30 „Kinderfachabteilungen“<br />

geschaffen, wie<br />

etwa ➤ „Am Spiegelgrund“ in Wien,<br />

aber auch ehemalige Heil- und Pflegeanstalten<br />

wurden zu Euthanasieanstalten<br />

umfunktioniert, wie etwa<br />

➤ Hartheim bei Linz.<br />

Euthanasieaktion „T4“<br />

Im Oktober 1939 befahl Hitler<br />

die Ausweitung der „Euthanasie-Aktion“<br />

auf InsassInnen von Heil- und<br />

Pflegeanstalten im gesamten Reichsgebiet.<br />

Das Programm wurde unter<br />

der Bezeichnung „T4“ weitergeführt,<br />

benannt nach der Berliner<br />

Adresse Tiergartenstraße 4, wo die<br />

Zentrale untergebracht war. Insgesamt<br />

existierten sechs T4-Anstalten:<br />

Grafenegg in Württemberg, Brandenburg<br />

und ➤ Hartheim bei Linz ab<br />

Jänner 1940, Sonnenstein bei Pirna<br />

seit April 1940, Bernburg an der Saale<br />

ab September 1940 und Hadamar<br />

bei Limburg ab Jänner 1941. Die PatientInnen<br />

dieser Anstalten wurden<br />

in Gaskammern mittels Kohlenmonoxid<br />

ermordet. Offiziell wurde nach<br />

Bekanntwerden das T4-Programm<br />

am 3.8.1941 eingestellt. Die Ermordung<br />

durch Gas wurde nun von den<br />

T4-Spezialisten in den ➤ Vernichtungslagern<br />

realisiert. Die Ermordung<br />

der HeiminsassInnen wurde aber<br />

auch nach der offiziellen Beendigung<br />

dezentral weitergeführt bzw. wurden<br />

viele der InsassInnen in Vernichtungslager<br />

deportiert und ermordet.<br />

Figl, Leopold (1902–1965)<br />

ÖVP-Politiker, war von 1938–1943 im<br />

KZ Dachau und 1944–1945 im KZ<br />

Mauthausen inhaftiert, 1945 Landeshauptmann<br />

von Niederösterreich,<br />

Mitbegründer der ÖVP, Staatssekretär<br />

der Provisorischen Regierung<br />

unter Karl Renner, 1945–1953 Bundeskanzler,<br />

1953–1959 Bundesminister<br />

für Äußeres, Mitunterzeichner<br />

des Staatsvertrages, 1959–1961<br />

Erster Präsident des Nationalrats,<br />

1962–1965 Landeshauptmann von<br />

Niederösterreich.<br />

Fischböck, Hans<br />

Nach dem „Anschluss“ im März 1938<br />

Leiter des Ministeriums für Wirtschaft<br />

und Arbeit (ehemals Ministerium<br />

für Handel und Vekehr).<br />

165<br />

Glossar


Glossar<br />

Die Abteilungen und Referate des<br />

Ministeriums arbeiteten eng mit<br />

der ➤ Vermögensverkehrsstelle<br />

(VVST) zusammen und wirkten an<br />

der Planung der Ausschaltung der<br />

jüdischen Bevölkerung aus der<br />

österreichischen Wirtschaft entscheidend<br />

mit.<br />

Generalamnestie für ehemalige<br />

NationalsozialistInnen<br />

Das vom ➤ Verband der Rückstellungsbetroffenen<br />

heftig geforderte<br />

Gesetz wurde am 14. März 1957 erlassen.<br />

Damit wurden u.a. das<br />

Kriegsverbrechergesetz und noch<br />

bestehende Berufsverbote für ehemalige<br />

NationalsozialistInnen aufgehoben<br />

und die Rückgabe von beschlagnahmten<br />

Kleingärten und<br />

Möbeln möglich. NS-Opfer, die diese<br />

Kleingärten und Möbel – gegen eine<br />

Miete – von der Stadt Wien bekommen<br />

hatten, mussten sie nun<br />

wieder zurückgeben oder an die<br />

ehemaligen NationalsozialistInnen<br />

eine Ablöse zahlen.<br />

Generalgouvernement<br />

Das „Generalgouvernement für die<br />

besetzten polnischen Gebiete“ wurde<br />

am 26. Oktober 1939 als eigenständiges<br />

Verwaltungsgebiet errichtet<br />

und umfasste die Teile Polens, die<br />

von Deutschland besetzt, aber nicht<br />

unmittelbar dem „Reich“ angeschlossen<br />

worden waren. Generalgouverneur<br />

war Hans Frank. Das Generalgouvernement<br />

war in die Distrikte<br />

Krakau, Warschau, Radom und Lublin<br />

unterteilt. Im Sommer 1941, bei Beginn<br />

des Angriffs auf die Sowjetunion,<br />

kam der Distrikt Galizien hinzu.<br />

Insgesamt lebten im Generalgouvernement<br />

zu diesem Zeitpunkt ca. 17<br />

Millionen Menschen. Polen wurde<br />

von den Nationalsozialisten als Arbeitskräftereservoir<br />

des Reiches betrachtet,<br />

zahlreiche Zwangsarbeitslager<br />

wurden errichtet, in denen insbesondere<br />

auch die jüdische Bevölkerung<br />

Zwangsarbeit leisten musste.<br />

Gesetz über die Bestellung von<br />

öffentlichen Verwaltern und<br />

Aufsichtspersonen<br />

Das Gesetz vom 10. Mai 1945 regelte<br />

die Einsetzung von Verwaltern für<br />

öffentliche Unternehmen, die Gegenstand<br />

von Rückstellungsverfah-<br />

ren wurden, durch das Bundesministerium<br />

für Vermögenssicherung und<br />

Wirtschaftsplanung ➤ Krauland-Ministerium.<br />

Gesetz über die Erfassung „arisierter“<br />

und anderer im Zusammenhang mit<br />

der nationalsozialistischen Machtübernahme<br />

entzogener Vermögenschaften<br />

Das erste für Fragen der Rückstellungen<br />

wichtige Gesetz wurde bereits<br />

am 10. Mai 1945 erlassen. In § 2<br />

wurde festgelegt, dass die Anmeldung<br />

entzogenen Vermögens durch<br />

die derzeitigen BesitzerInnen, also<br />

in vielen Fällen durch die ➤ „Ariseure“<br />

selbst, zu erfolgen hatte. Zwar<br />

war die Nichtanmeldung strafbar,<br />

dennoch war diese Anmelderegelung<br />

für die enteigneten Opfer<br />

zweifellos problematisch. Die Verordnung<br />

zur eigentlichen Umsetzung<br />

dieses Gesetzes wurde erst<br />

ein Jahr später, erlassen.<br />

Gesetz zur „Verhütung erbkranken<br />

Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933<br />

Dieses Gesetz, das in Österreich am<br />

1.1.1940 in Kraft trat, bildete die<br />

Grundlage für die vom NS-Regime<br />

durchgeführte Zwangssterilisierung<br />

von sogenannten „Erbkranken“ (geistig<br />

behinderte, schizophrene, an<br />

Epilepsie leidende, blinde und gehörlose<br />

oder schwer körperlich behinderte<br />

Menschen, aber auch Alkoholiker).<br />

Gesetz zur Wiederherstellung des<br />

Berufsbeamtentums<br />

Aufgrund des Gesetzes vom 7. April<br />

1933 konnten „nichtarische“, v.a.<br />

jüdische, und „politisch unzuverlässige“<br />

BeamtInnen, z.B. ZeugInnen<br />

Jehovas, aus dem Staatsdienst entlassen<br />

werden.<br />

Gestapo<br />

Von den Nationalsozialisten errichtete<br />

„Geheime Staatspolizei“, die<br />

zunächst nur in Preußen, später im<br />

ganzen Reichsgebiet eingesetzt wurde.<br />

1933 erfolgte die offizielle Gründung,<br />

und ➤ Hermann Göring übernahm<br />

als Chef der politischen Polizei<br />

die Zuständigkeit für die Staatspolizei.<br />

1934 wurden innerhalb der Gestapo<br />

eigene Judenreferate gegründet.<br />

Im Laufe der NS-Herrschaft erlangte<br />

die Gestapo immer stärkeren<br />

Einfluss und erweiterte systematisch<br />

ihre Handlungsspielräume. Die primäre<br />

Aufgabe lag in der Überwachung,<br />

Kontrolle und Ausforschung<br />

politischer GegnerInnen des NS-Regimes,<br />

demzufolge auch Kontrolle<br />

über die Polizei und Organisation<br />

der Konzentrationslager sowie Organisation<br />

von Terroraktionen gegen<br />

Juden und Jüdinnen und andere<br />

„Staatsfeinde“. 1939 wurde die Gestapo<br />

mit der Sicherheitspolizei (Sipo),<br />

dem ➤ Sicherheitsdienst (SD)<br />

zum ➤ Reichssicherheitshauptamt<br />

(RSHA) zusammengeschlossen, auch<br />

die Grenzpolizei wurde ihrer Leitung<br />

unterstellt. Sie übernahm entscheidende<br />

Funktionen bei der<br />

„Endlösung“ der Judenfrage. Die<br />

Gestapo operierte ohne gesetzliche<br />

Basis und Verordnungen, sondern<br />

führte ihre Maßnahmen im Zuge des<br />

NS-Gesamtauftrags durch.<br />

Getto<br />

Ursprünglich ein Stadtteil oder eine<br />

Straße, in der ausschließlich Juden<br />

und Jüdinnen wohnten. Dieser Bereich<br />

war von anderen Teilen einer<br />

Stadt abgegrenzt. Der Ausdruck<br />

„Getto“ wurde in Venedig geprägt,<br />

wo 1516 die jüdische Bevölkerung<br />

gezwungen war, in ein abgeschlossenes<br />

Viertel, das „Getto Nuovo“, zu<br />

ziehen. Ziel war es, die Kontakte<br />

zwischen Juden und Christen und<br />

deren ökonomische Aktivitäten einzuschränken.<br />

Davon zu unterscheiden<br />

sind allerdings die nationalsozialistischen<br />

Gettos in besetzten Gebieten,<br />

die nicht als Wohngebiete konzipiert<br />

wurden, sondern als Übergangsstadium<br />

im Verlauf der „Endlösung<br />

der Judenfrage“. Juden und<br />

Jüdinnen wurden wie in Lagern interniert,<br />

bewacht und vom NS-Regime<br />

in ihren Lebensgewohnheiten<br />

kontrolliert und dominiert. Nach<br />

Kriegsbeginn wurden in den größten<br />

Städten Osteuropas Gettos errichtet,<br />

als Übergang bis zur Deportation in<br />

Konzentrationslager. Die meisten BewohnerInnen<br />

der Gettos wurden in<br />

Vernichtungslagern ermordet, nur<br />

ein kleiner Teil kam während der<br />

Endphase des Krieges in Konzentrations-<br />

oder Arbeitslager.<br />

Gildemeester-Auswanderungs-<br />

Hilfsaktion<br />

Über die Möglichkeit der Ausreisebe-<br />

166 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


schaffung für die wohlhabende jüdische<br />

Bevölkerung sollte gleichzeitig<br />

deren Enteignung und Verdrängung<br />

aus dem Wirtschaftsleben forciert<br />

werden. Durch die Ausreisebewilligung<br />

unter totalem Vermögensverlust<br />

wurde gleichzeitig auch die Ausreise<br />

mittelloser Juden und Jüdinnen<br />

finanziert. Im April 1938 begann der<br />

Holländer Frank van Gheel Gildemeester<br />

mit der Organisierung der Auswanderungsaktionen.<br />

Nach diesem<br />

Vorbild gründete ➤ Adolf Eichmann<br />

im August 1938 die ➤ „Zentralstelle<br />

für jüdische Auswanderung“.<br />

Goldmann, Nahum (1894–1982)<br />

Geboren in Litauen, kam 1900 mit<br />

seinem Eltern nach Deutschland, wo<br />

er Rechts-, Geschichtswissenschaften<br />

und Philosophie studierte, seit 1918<br />

in der zionistischen Bewegung tätig,<br />

ab 1929 Herausgeber der „Enzyklopaedia<br />

Judaica“. 1933 Emigration,<br />

1935–1940 Vertreter der ➤ Jewish<br />

Agency beim Völkerbund in<br />

Genf, 1949–1978 Präsident des<br />

➤ World Jewish Congress und in den<br />

fünfziger Jahren Vorsitzender der<br />

➤ Claims Conference und des<br />

➤ Claims Committee.<br />

Göring, Hermann (1893–1956)<br />

Schloss sich bereits 1922 der NSDAP<br />

an und wurde noch im selben Jahr<br />

Chef der SA. Nach der Beteiligung<br />

am missglückten Novemberputsch<br />

der Nationalsozialisten 1923 floh er<br />

nach Österreich, wo er sich bis 1927<br />

aufhielt. 1928 wurde er Abgeordneter<br />

der NSDAP im Deutschen Reichstag,<br />

1932 Reichstagspräsident,<br />

Reichskommissar für Luftfahrt und<br />

das preußische Innenministerium. Im<br />

April 1933 stieg er zum Ministerpräsidenten<br />

und Innenminister Preußens<br />

auf. Göring war aktiv am Aufbau der<br />

➤ Gestapo beteiligt sowie Oberbefehlshaber<br />

der Luftwaffe. 1936 übernahm<br />

er die Verantwortung für die<br />

wirtschaftliche Planung des „Reiches“,<br />

den sog. ➤ Vierjahresplan.<br />

1939 wurde er von Hitler zu seinem<br />

Stellvertreter ernannt und ein Jahr<br />

später zum Reichsmarschall des<br />

Großdeutschen Reiches erhoben. Als<br />

Zuständiger für die Wirtschaft des<br />

Landes war er maßgeblich für die Beschlagnahmung<br />

jüdischen Vermögens<br />

sowie die geplante ➤ „Arisie-<br />

rung“ verantwortlich. Er gründete<br />

die ➤ „Reichszentrale für jüdische<br />

Auswanderung“ 1939 in Berlin nach<br />

dem Vorbild ➤ Eichmanns in Wien<br />

sowie eine Treuhandstelle zur Verwaltung<br />

entzogenen jüdischen Vermögens.<br />

Wegen Niederlagen der<br />

Luftwaffe und zunehmenden Differenzen<br />

zu Hitler wurde Göring gegen<br />

Ende des Krieges aus allen<br />

Ämtern und aus der NSDAP ausgeschlossen.<br />

Er wurde bei Prozessen<br />

gegen Hauptkriegsverbrecher vor<br />

dem Internationalen Militärtribunal<br />

in Nürnberg zum Tode verurteilt.<br />

Am Tag vor der Hinrichtung, am<br />

15.10.1946, vergiftete er sich.<br />

Haager Landkriegsordnung (LKO)<br />

1907 erlassenes, zum internationalen<br />

Völkergewohnheitsrecht zählendes<br />

Recht, das auch für das Deutsche<br />

Reich bis 1939 Geltung hatte. Die<br />

LKO legt unter anderem die Behandlung<br />

von Kriegsgefangenen im<br />

Kriegsfall fest und garantiert der Bevölkerung<br />

eines besetzten Gebietes<br />

eine Reihe von Rechten, z. B. den<br />

Schutz des Privateigentums, Verbot<br />

der Deportation der Bevölkerung<br />

und Verbot der Zwangsarbeit.<br />

Hartheim<br />

1889 von Fürst Camillo Heinrich Starhemberg<br />

gegründetes Asyl für „arme<br />

Schwach- und Blödsinnige“. Ab Februar<br />

1940 wurde die „Kinder- und<br />

Pflegeanstalt Hartheim“ in der Nähe<br />

von Linz in das ➤ Euthanasieprogramm<br />

„T4“ der Nationalsozialisten<br />

aufgenommen, und es wurde mit der<br />

Tötung von geistig oder körperlich<br />

behinderten Kindern begonnen.<br />

Aber auch als „asozial“ deklarierte<br />

Personen sowie andere InsassInnen<br />

von Heil- und Pflegeanstalten, etwa<br />

vom ➤ „Steinhof“ in Wien, und ausgesonderte<br />

Häftlinge des KZs Mauthausen<br />

wurden nach Hartheim gebracht<br />

und mittels Giftgas getötet<br />

und im Krematorium verbrannt.<br />

Helmer, Oskar (1887–1963)<br />

SPÖ-Politiker, 1945–1959 Innenminister<br />

und stellvertretender Vorsitzender<br />

der SPÖ.<br />

Heydrich, Reinhard (1904–1942)<br />

Chef der Sicherheitspolizei (Sipo)<br />

und des SD, später des Reichssicher-<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

heitshauptamtes (RSHA). Er war eine<br />

Schlüsselfigur bei der Planung und<br />

Durchführung der antijüdischen Politik<br />

der Nationalsozialisten, ab 1934<br />

Leiter der Gestapo in Preußen und<br />

des SD, wo er eigene „Referate für<br />

Judenangelegenheiten“ errichtete.<br />

Auf der Basis von ➤ Gestapo und ➤<br />

RSHA wurde er zum Vollstrecker der<br />

nationalsozialistischen Judenpolitik.<br />

Der Befehl zur Konzentrierung der<br />

polnischen Juden und Jüdinnen und<br />

die Errichtung von Judenräten 1939<br />

erfolgte durch ihn. Weiters befehligte<br />

er Massendeportationen und Pogrome.<br />

Ob die Durchführung der<br />

„Endlösung“ auch auf einen Befehl<br />

Heydrichs zurückzuführen ist, ist umstritten.<br />

1941 wurde er stellvertretender<br />

Reichsprotektor des Protektorats<br />

Böhmen und Mähren. Er starb 1942<br />

bei einem Anschlag tschechischer<br />

WiderstandskämpferInnen in Prag.<br />

Hilfsfonds<br />

Der „Fonds zur Hilfeleistung an politisch<br />

Verfolgte, die ihren Wohnsitz<br />

und ständigen Aufenthalt im Ausland<br />

haben“ wurde am 18. Jänner<br />

1956 beschlossen. Seine Einrichtung<br />

war im Wesentlichen ein Ergebnis<br />

der Verhandlungen des Claims Committee<br />

mit der österreichischen Bundesregierung.<br />

Der mit 550 Mio.<br />

Schilling (zahlbar in elf Jahresraten<br />

ab 1955) dotierte Fonds sollte den<br />

Opfern der nationalsozialistischen<br />

Verfolgung zugute kommen, die<br />

im bisherigen Opferfürsorgegesetz<br />

noch nicht berücksichtigt worden<br />

waren, v.a. den jüdischen Vertriebenen.<br />

Weitere Voraussetzung für eine<br />

einmalige Zuerkennung von<br />

5000 bis 30.000 Schilling – je nach<br />

Schwere der Verfolgung bzw. der<br />

gesundheitlichen Schäden – waren<br />

der Besitz der österreichischen<br />

Staatsbürgerschaft am 13. März<br />

1938 bzw. der mindestens zehnjährige<br />

ständige Wohnsitz in Österreich<br />

vor dem 13. März 1938 und<br />

die Antragstellung binnen eines<br />

Jahres bis zum 11. Juni 1957. Der<br />

Fonds konnte seine Auszahlungen<br />

an ca. 30.000 AntragstellerInnen bereits<br />

1962 abschließen bzw. wurde<br />

nach der Ausweitung und Aufstockung<br />

als „Neuer Hilfsfonds“<br />

gemäß dem ➤ Kreuznacher Abkommen<br />

bis 1964 weitergeführt.<br />

167<br />

Glossar


Glossar<br />

Himmler, Heinrich (1900–1945)<br />

Reichsführer SS, Chef der ➤ Gestapo<br />

und der Waffen SS, Reichsinnenminister<br />

von 1934-45. Er trat bereits in<br />

den frühen zwanziger Jahren in die<br />

➤ SS ein, wurde 1929 deren Leiter<br />

und 1934 stellvertretender Chef der<br />

Gestapo. Als Reichsführer SS und<br />

Chef der deutschen Polizei übte er<br />

Kontrolle über die gesamte Polizei<br />

aus und erlangte Macht zum Ausbau<br />

des Polizeiapparates und des Systems<br />

der Konzentrationslager. In seiner<br />

Funktion als „Reichskommissar für<br />

die Festigung des deutschen Volkstums“<br />

1939 war er maßgeblich an<br />

Plänen für die Vernichtung der jüdischen<br />

Bevölkerung sowie an der<br />

Neuordnung des deutschen „Lebensraumes“,<br />

etwa durch Umsiedlungsaktionen<br />

im besetzten Polen, beteiligt.<br />

Nach der Übernahme des Postens<br />

des Chefs der Sicherheitspolizei<br />

und des SD nach ➤ Heydrichs Tod<br />

1942 war er maßgeblicher Motor in<br />

der Durchführung der „Endlösung“.<br />

Seine Stellung als Reichsinnenminister<br />

1943 und als Befehlshaber des<br />

Ersatzheeres 1944 verweisen auf seinen<br />

zunehmenden Machtzuwachs.<br />

Das Vertuschen des Massenmords sowie<br />

der Befehl zu seiner Einstellung<br />

im November 1944 sollte erste Friedensverhandlungen<br />

Himmlers mit<br />

den Alliierten ermöglichen. Infolgedessen<br />

wurde er von Hitler aller Ämter<br />

enthoben. Nach dem Krieg versuchte<br />

er unter falschem Namen zu<br />

flüchten und wurde von britischen<br />

Soldaten gefasst. Am 23.5. beging er<br />

Selbstmord, noch bevor er als Hauptkriegsverbrecher<br />

vor Gericht gestellt<br />

werden konnte.<br />

Hitlerjugend<br />

a) Jugendorganisation der NSDAP,<br />

entstanden 1926 aus dem „Jungsturm<br />

Adolf Hitler“, einem 1922 gegründeten<br />

Ableger der SA. Die HJ<br />

war zunächst nur für Knaben, ab<br />

1928 auch für Mädchen zugelassen.<br />

Als Reichsjugendführer übernahm<br />

Baldur von Schirach 1931 den<br />

reichseinheitlichen Befehl über die<br />

Organisation der NS-Jugendverbände.<br />

Die Organisationsstruktur<br />

der HJ folgte dem militärischem<br />

Muster sowie der Ausrichtung nach<br />

einem hierarchischen Führer-Gefolgschaftsprinzip.<br />

Eingeteilt wur-<br />

den die verschiedenen Organisationen<br />

einerseits nach Geschlecht und<br />

Alter und andererseits je nach<br />

Größe in Schar, Gefolgschaft,<br />

Stamm und Bann. Durch Auflösung<br />

und Verbot aller anderen Jugendverbände<br />

– die katholischen Jugendorganisationen<br />

waren bis 1938 zugelassen<br />

– wurde die NS-Jugendarbeit<br />

1936 monopolisiert. Disziplinierung,<br />

körperliche Ertüchtigung sowie<br />

die Aufzucht einer „Menschenreserve“<br />

nach rassenpolitischen Kriterien<br />

waren die Erziehungsziele<br />

der HJ. b) Die HJ umfaßte als Teilorganisation<br />

der NS-Jugendverbände<br />

die 14- bis 18-jährigen Burschen.<br />

Mit 18 Jahren wurden diese in die<br />

Partei bzw. ihre Gliederungen überwiesen<br />

oder nach einem Jahr<br />

„Reichsarbeitsdienst“ in die Wehrmacht<br />

übernommen.<br />

Hochkommissar/Hoher Kommissar<br />

Ab Juli 1945 stellten die vier Oberbefehlshaber<br />

der Besatzungsmächte<br />

USA, UdSSR, Großbritannien und<br />

Frankreich als Hochkommissare den<br />

➤ Alliierten (Kontroll-)Rat in Österreich.<br />

Dieser trat unter wechselndem<br />

Vorsitz monatlich in Wien zusammen.<br />

International Refugee Organization<br />

(IRO)<br />

Die internationale Flüchtlingsorganisation<br />

übernahm am 1. Juli 1947 die<br />

Aufsichtsfunktion der ➤ UNRRA bezüglich<br />

der ➤Displaced Persons, verwaltete<br />

Spenden und organisierte<br />

die Versorgung der DPs und ihre Ansiedlung<br />

in alten und neuen Heimatländern.<br />

Israelitische Kultusgemeinde (Wien)<br />

Im Staatsgrundgesetz von 1867 wurde<br />

den jüdischen BürgerInnen erstmals<br />

volle Glaubens- und Gewissensfreiheit<br />

gewährt. Zu den Hauptaufgaben<br />

der Kultusgemeinde zählten<br />

religiöse und kulturelle Belange, die<br />

Errichtung und Erhaltung von Synagogen,<br />

die Versorgung Alter und<br />

Kranker. Dafür erhielt sie das Recht,<br />

von ihren Mitgliedern Steuern und<br />

Gebühren einzuheben. Nach dem<br />

Anschluss vom 12. März 1938 wurde<br />

die Kultusgemeinde aufgelöst. Im<br />

Mai 1938 wurde sie wiedergegründet,<br />

war aber unmittelbar der SS<br />

und der Gestapo unterstellt. Mit der<br />

Gründung der ➤ „Zentralstelle für<br />

jüdische Auswanderung“ wurde die<br />

IKG massiv für die Zwecke der ➤ SS<br />

missbraucht. Am 1. November 1942<br />

wurde die IKG durch den „Ältestenrat“<br />

ersetzt. Vor 1938 hatte die IKG<br />

Wien 200.000 Mitglieder, nach 1945<br />

lebten in Wien weniger als 5000 Juden<br />

und Jüdinnen. 1945 wurde die<br />

IKG rekonstituiert, bis 1949 wuchs<br />

die Mitgliederzahl auf ca. 11.000 an.<br />

Die IKG richtete verschiedene Stellen<br />

für die überlebenden Opfer des<br />

Nationalsozialismus ein, u.a. ein<br />

Wohnungs-, ein Wanderungs-, ein<br />

Gesundheits- und ein Wiedergutmachungsreferat.<br />

Jewish Agency (JA)<br />

Seit 1948 JA für Israel. Die JA wurde<br />

1921 als Organisation der Zionistischen<br />

Weltorganisation (ZWO) gegründet,<br />

1929 durch die Aufnahme<br />

von Nichtzionisten erweitert. Die JA<br />

verstand sich als Interessenvertretung<br />

der in Palästina lebenden Juden<br />

bei der britischen Mandatsregierung<br />

und vor dem Völkerbund,<br />

ab 1947 vor den Vereinten Nationen.<br />

Waren bereits ab 1933 viele Juden<br />

und Jüdinnen überwiegend aus<br />

Ost-, Südost- und Mitteleuropa in<br />

Palästina eingewandert, so versuchte<br />

die JA später über private Spenden,<br />

Spenden von landwirtschaftlichen<br />

Siedlungen und Institutionen<br />

Rettungsmaßnahmen für verfolgte<br />

europäische Juden und Jüdinnen zu<br />

finanzieren. Ihre Tätigkeit reichte<br />

über die Erstellung von Einreisevisa<br />

für jüdische Kinder aus besetzten<br />

Ländern Europas und die Finanzierung<br />

von Transporten bis zu ersten<br />

finanziellen Unterstützungen für ImmigrantInnen.<br />

Allerdings stellte die<br />

von den Briten festgesetzte Einwanderungsquote<br />

(➤ englisches Weißbuch)<br />

eine erhebliche Einschränkung<br />

für die Aufnahme von Verfolgten<br />

dar. Nach der Gründung Israels (15.<br />

Mai 1948) wurde die JA in Zusammenarbeit<br />

mit der ZWO zum Bindeglied<br />

zwischen Israel und den in<br />

der Diaspora lebenden Juden und<br />

Jüdinnen. Die ZWO-JA leistete finanzielle<br />

Unterstützung und förderte<br />

die soziale Integration, errichtete<br />

Aufnahmelager und hebräische<br />

Schulen etc. Im In- und Ausland bie-<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


tet die ZWO-JA zahlreiche Kulturund<br />

<strong>Bildung</strong>sprogramme für Juden<br />

und Jüdinnen in der Diaspora an.<br />

Joint Distribution Committee (JDC)<br />

Eigentlich „American Jewish Joint<br />

Distribution Committee“, kurz<br />

„Joint“ genannt. Die Organisation<br />

wurde 1914 als überseeische Wohlfahrtsorganisation<br />

gegründet und<br />

konzentrierte sich ab 1933 auf die<br />

Unterstützung der jüdischen Bevölkerung<br />

in Deutschland und in den<br />

von Deutschland besetzten Gebieten<br />

Ost- und Westeuropas, etwa<br />

durch Spenden für Kranken- und<br />

Waisenhäuser, Nahrungsmittel, für<br />

die Emigration und zum Teil auch<br />

für den bewaffneten jüdischen Widerstand.<br />

Nach dem Krieg war das<br />

JDC die wichtigste jüdische Hilfsorganisation<br />

für jüdische Überlebende.<br />

Es betreute die jüdischen ➤ Displaced<br />

Persons (DPs) in den Lagern<br />

in Deutschland, Österreich und anderen<br />

europäischen Ländern, finanzierte<br />

Nahrungsmittel, Kleidung,<br />

Berufsausbildung und organisierte<br />

nach der Ausrufung des Staates Israel<br />

im Mai 1948 den Transport jüdischer<br />

AuswanderInnen. Das JDC<br />

nahm auch an der ➤ Claims Conference<br />

und dem ➤ Claims Committee<br />

teil.<br />

Judenvermögensabgabe<br />

Nach der im April 1938 verordneten<br />

Vermögensanmeldung für Juden<br />

und Jüdinnen betreffend Vermögenswerte<br />

über 5000 RM mussten<br />

20 % des angemeldeten Vermögens<br />

als von den Nazis so genannte Judenvermögensabgabe<br />

an den NS-<br />

Staat gezahlt werden.<br />

Jungmädel (JM)<br />

Teilorganisation in der ➤ HJ für zehnbis<br />

14-jährige Mädchen, deren Organisation<br />

der des ➤ DJ (Deutsches<br />

Jungvolk) parallel lief.<br />

Kastner, Walther (1902–1994)<br />

Jurist, während der NS-Zeit u.a. in<br />

der Österr. Kontrollbank tätig und<br />

zuständig für Fragen im Zusammenhang<br />

mit ➤ „Arisierungen“, nach<br />

dem Krieg von Bundesminister Krauland<br />

als Berater für das ➤ Ministerium<br />

für Vermögenssicherung und<br />

Wirtschaftsplanung engagiert.<br />

Kaufpreis<br />

Durch Prüfung der ➤ Vermögensverkehrsstelle<br />

festgesetzter Preis für<br />

den „Kauf“ jüdischer Geschäfte, der<br />

dem/der ursprünglichen EigentümerIn<br />

zugestanden wurde. Dieser lag<br />

allerdings erheblich unter dem Verkehrswert<br />

und wurde auf Sperrkonten<br />

eingezahlt, d.h. die festgesetzte<br />

Summe stand den ehemaligen EigentümerInnen<br />

nicht zu Verfügung.<br />

Kinderübernahmsstelle (KÜST)<br />

Die KÜST wurde 1925 im Rahmen eines<br />

groß angelegten Ausbaus der<br />

Kinder- und Jugendfürsorge auf Initiative<br />

Julius Tandlers gegründet.<br />

Die KÜST war eine zentrale Schaltstelle<br />

im Rahmen der Wiener Jugendfürsorge.<br />

Neben der Registrierung<br />

aller der Fürsorge unterstellten<br />

Kinder und Jugendlichen diente die<br />

Anstalt als Heim zur vorübergehenden<br />

Unterbringung von Kindern, die<br />

aus ihren Familien entfernt wurden.<br />

Die Unterbringung einer psychologischen<br />

Beobachtungsstation als<br />

Außenstelle der Kinderpsychologischen<br />

Forschungsstelle Universität<br />

Wien führte zu einer engen Zusammenarbeit<br />

zwischen Fürsorge und<br />

psychologischer Wissenschaft. 1940<br />

wurde die Beobachtungsstelle auf<br />

den ➤ „Spiegelgrund“ verlegt.<br />

Kommission für Provenienzforschung<br />

Anfang 1998 von Kulturministerin<br />

Elisabeth Gehrer eingesetzte Arbeitsgruppe<br />

im Bundesdenkmalamt und<br />

in den Bundesmuseen, die die Herkunft<br />

der in österreichischen<br />

Bundesmuseen befindlichen geraubten<br />

Kunstgegenstände erforschen<br />

soll. ➤ Bundesgesetz über die Rückgabe<br />

von Kunstgegenständen aus<br />

den österreichischen Bundesmuseen<br />

und Sammlungen.<br />

Krauland-Ministerium<br />

Das „Bundesministerium für Vermögenssicherung<br />

und Wirtschaftsplanung“<br />

unter dem zuständigen Minister<br />

Dr. Peter Krauland wurde 1945<br />

eingerichtet und hatte u.a. die Aufgabe<br />

der Erfassung, Sicherung, Verwaltung<br />

und Verwertung ehemaligen<br />

NS-Vermögens und „arisierten“<br />

Vermögens. Dazu gehörte die Bestellung<br />

von öffentlichen Verwaltern,<br />

deren Aufgabe es war, bis zur<br />

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Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Klärung der Rückstellungsverfahren<br />

die Vermögen zu verwalten und danach<br />

deren Übergabe zu organisieren.<br />

Krauland und einigen seiner<br />

Mitarbeiter wurde Ende der vierziger<br />

Jahre vorgeworfen, Rückstellungen<br />

zu hintertreiben bzw. sich selbst<br />

zu bereichern, was 1954 zum sogenannten<br />

„Krauland-Prozess“ führte.<br />

Das Ministerium selbst wurde im Anschluss<br />

an die Neuwahlen 1949 aufgelöst,<br />

die Agenden der noch offenen<br />

Rückstellungsfälle wurden dem<br />

Bundesministerium für Finanzen<br />

übertragen.<br />

Kreuznacher Abkommen<br />

Der „Vertrag zwischen der Republik<br />

Österreich und der Bundesrepublik<br />

Deutschland zur Regelung von Schäden<br />

der Vertriebenen, Umsiedler und<br />

Verfolgten, über weitere finanzielle<br />

Fragen und Fragen aus dem sozialen<br />

Bereich (Finanz- und Ausgleichsvertrag)“<br />

wurde im Juni 1961 zwischen<br />

den beiden Staaten abgeschlossen.<br />

Er sah u. a. vor, dass Österreich<br />

die nach 1945 Vertriebenen<br />

und UmsiedlerInnen deutscher Sprache<br />

den österreichischen StaatsbürgerInnen<br />

im österreichischen<br />

➤ Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz<br />

gleichstellte. Dafür<br />

leistete die Bundesrepublik Deutschland<br />

an Österreich eine Zahlung von<br />

125 Mio. DM. In der Frage der Entschädigung<br />

wurde die finanzielle<br />

Beteiligung der Bundesrepublik mit<br />

95 Mio. DM am „Fonds zur Abgeltung<br />

von Vermögensverlusten politisch<br />

Verfolgter“ (➤ Abgeltungsfonds)<br />

und am „Hilfsfonds zur Hilfeleistung<br />

an politisch Verfolgte, die<br />

ihren Wohnsitz und ständigen Aufenthalt<br />

im Ausland haben“ (➤ Hilfsfonds)<br />

festgelegt.<br />

Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz<br />

(KVSG)<br />

Bundesgesetz vom 25. Juni 1958<br />

über die Gewährung von Entschädigungen<br />

für durch Kriegseinwirkung<br />

oder durch politische Verfolgung erlittene<br />

Schäden an Hausrat und an<br />

zur Berufsausübung erforderlichen<br />

Gegenständen. Dieses Gesetz behandelte<br />

NS-Opfer und Kriegsopfer<br />

grundsätzlich gleich. Allerdings waren<br />

Personen, die über ein Jahreseinkommen<br />

von mehr als 72.000 Schil-<br />

169<br />

Glossar


Glossar<br />

ling verfügten, von Ansprüchen nach<br />

dem KVSG ausgeschlossen. Insofern<br />

galt hier ebenso wie im ➤ Opferfürsorgegesetz<br />

das Fürsorge- und nicht<br />

das Entschädigungsprinzip.<br />

KZ-Verband<br />

Der Verband wurde im März 1946<br />

von Ministerialrat Dr. Franz Sobek<br />

in Wien gegründet und von den<br />

drei Parteien ÖVP, SPÖ und KPÖ paritätisch<br />

beschickt. Später wurde er<br />

in ➤ „Bund der politisch Verfolgten“<br />

umbenannt. Die Mitgliedschaft<br />

stand zunächst nur den ehemaligen<br />

„politischen“ Häftlingen<br />

offen. Dem Selbstverständnis nach<br />

war er keine karitative, sondern in<br />

erster Linie eine politische Organisation,<br />

deren Ziel es war, die Demokratie<br />

in Österreich langfristig zu<br />

festigen und dazu ehemalige Widerstandskämpfer<br />

in entsprechende<br />

politische Positionen zu bringen.<br />

Der KZ-Verband stellte auch Bestätigungen<br />

aus, mit der ehemalige Verfolgte<br />

bei den entsprechenden Fürsorgestellen<br />

eine ➤ Amtsbescheinigung<br />

erhalten konnten.<br />

Lager Lackenbach<br />

Das burgenländische Lager wurde<br />

am 23.11.1940 errichtet und unterstand<br />

der Kriminalpolizeistelle Wien.<br />

Das Lager war vorwiegend zur Internierung<br />

als „asozial“ verfolgter Roma<br />

und Sinti errichtet worden. Die<br />

arbeitsfähigen Häftlinge, darunter<br />

auch Kinder, wurden an Bauern der<br />

Umgebung oder an Unternehmen<br />

als Arbeitskräfte vermietet. Die Unterbringung<br />

der Lagerhäftlinge erfolgte<br />

unter katastrophalen hygienischen<br />

Bedingungen, weshalb viele<br />

der Internierten 1942 einer Flecktyphusepidemie<br />

zum Opfer fielen. Die<br />

Wirksamkeit von Vorurteilen gegen<br />

Roma und Sinti auch nach 1945 erschwerte<br />

deren Anerkennung in der<br />

➤ Opferfürsorgegesetzgebung, und<br />

auch das Lager Lackenbach wurde<br />

lange Zeit nicht als Konzentrationslager<br />

anerkannt, sondern als „Arbeitslager“<br />

bezeichnet.<br />

Londoner Deklaration<br />

„Inter-allied Declaration Against Acts<br />

of Dispossession Committed in Territories<br />

Under Enemy Occupation or<br />

Control“. Die Deklaration wurde am<br />

5. Jänner 1943 von 17 Regierungen<br />

und dem französischen Nationalkomitee<br />

unterzeichnet. Mit dieser Erklärung<br />

behielten sich die Alliierten<br />

das Recht vor, Übertragungen von<br />

Vermögen, Rechten und Interessen,<br />

die in Ländern unter deutscher Besetzung<br />

oder in mit dem Deutschen<br />

Reich verbündeten Ländern vorgenommen<br />

worden waren, für nichtig<br />

zu erklären. Gemeint waren in erster<br />

Linie die von den Nationalsozialisten<br />

durchgeführten ➤ „Arisierungen“<br />

und Geschäftsliquidierungen.<br />

Londoner „Raubgoldkonferenz“<br />

An der Konferenz, die unter dem Patronat<br />

der von den USA, Großbritannien<br />

und Frankreich 1946 eingesetzten<br />

„Tripartite Gold Commission“ zur<br />

Rückgabe des „Nazi-Goldes“ an seine<br />

rechtmäßigen BesitzerInnen stand,<br />

nahmen Anfang Dezember 1997 VertreterInnen<br />

von Regierungen, Staatsbanken<br />

und Opfergruppen aus 41<br />

Ländern teil. Ziel der Konferenz war<br />

es, Herkunft und Verbleib des Nazi-<br />

Raubgoldes sowie die bisher erfolgten<br />

Kompensationszahlungen an die<br />

Opfer zu klären und über weitere<br />

Entschädigungen zu diskutieren.<br />

Londoner Schuldenabkommen<br />

Das am 27. Februar 1953 unterzeichnete<br />

Abkommen über deutsche<br />

Auslandsschulden war Ergebnis<br />

der Londoner Schuldenkonferenz<br />

1952, an der neben der Bundesrepublik<br />

Deutschland u.a. Belgien, Dänemark,<br />

Frankreich, Griechenland,<br />

Italien, Jugoslawien, Schweden, die<br />

Schweiz, die USA teilnahmen. Das<br />

Schuldenabkommen stellte die endgültige<br />

Regelung der Reparationsfrage<br />

bis zum Abschluß eines Friedensvertrages<br />

zurück. Dazu heißt es<br />

in Artikel 5, Abs. 2: „Eine Prüfung<br />

der aus dem Zweiten Weltkrieg<br />

herrührenden Forderungen von<br />

Staaten, die sich mit Deutschland im<br />

Kriegszustand befanden, oder deren<br />

Gebiet von Deutschland besetzt<br />

war, und von Staatsangehörigen<br />

dieser Staaten gegen das Reich und<br />

im Auftrag des Reichs handelnde<br />

Personen (...) wird bis zur endgültigen<br />

Regelung der Reparationsfrage<br />

zurückgestellt.“ Ein formeller Friedensvertrag<br />

wurde bis heute nicht<br />

abgeschlossen, die ursprüngliche Idee<br />

des ➤ Zwei-Plus-Vier-Vertrags als Friedensvertrag<br />

wurde nicht realisiert.<br />

Luxemburger Abkommen<br />

Das am 10. September 1952 zwischen<br />

der Bundesrepublik Deutschland<br />

und Israel getroffene „Wiedergutmachungsabkommen“<br />

war das<br />

Ergebnis der zweijährigen Verhandlungen<br />

der ➤ „Claims Conference“<br />

mit der deutschen Bundesregierung.<br />

Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtete<br />

sich, 822 Mio. US-Dollar<br />

Entschädigung in zwölf Jahren zu<br />

zahlen, davon 715 Mio. für Aufbauleistungen<br />

an den Staat Israel und<br />

107 Mio. für Opfer des Nationalsozialismus<br />

weltweit. Dieses Geld verwaltete<br />

die „Claims Conference“.<br />

Magistratsabteilung – MA 12<br />

Ab 1946 Magistratsabteilung für<br />

Erwachsenen- und Familienfürsorge,<br />

ehemaliges „Amt für Wohlfahrtspflege“<br />

der Stadt Wien (MA X/1),<br />

heute Sozialamt der Stadt Wien, inkl.<br />

Opferfürsorgereferat.<br />

Magistratsabteilung – MA 15<br />

Gesundheitsamt der Stadt Wien,<br />

nach 1945 für die Erstellung von medizinischen<br />

Gutachten im Rahmen<br />

der Opferfürsorge zuständig.<br />

Magistratsabteilung – MA 21<br />

1938 Wohnungsamt der Gemeinde<br />

Wien.<br />

Magistratsabteilung – MA 52<br />

Wohnungsamt der Gemeinde Wien,<br />

im Rahmen dessen 1947 ein eigenes<br />

„Wiedergutmachungsreferat“ errichtet<br />

wurde. Die Vergabe von Gemeindewohnungen<br />

erfolgte über ein<br />

Punktesystem, entsprechend der Bedürftigkeit<br />

der AntragstellerInnen.<br />

Magistratsabteilung – MA 61<br />

Amt der Stadt Wien für Staatsbürgerschafts-<br />

und Personenstandsangelegenheiten.<br />

Magistratsabteilung – MA 8<br />

Stadt- und Landesarchiv der Stadt<br />

Wien im Wiener Rathaus.<br />

Maisel, Karl (1890–1982)<br />

Überlebender des KZ Buchenwald,<br />

SPÖ-Politiker, 1945–1956 Bundesminister<br />

für soziale Verwaltung, 1948–59<br />

170 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

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Vizepräsident des ÖGB, 1956–1964<br />

Präsident der Arbeiterkammer Wien.<br />

Mark, Karl (1900–1991)<br />

SPÖ-Politiker, im Ständestaat und<br />

während des Nationalsozialismus<br />

verfolgt und verhaftet, 1945–1966<br />

Nationalratsabgeordneter, Generalsekretär<br />

des „Bundesverbandes politisch<br />

Verfolgter“.<br />

Marshall-Plan<br />

Das amerikanische Hilfsprogramm für<br />

Europa (ERP – European Recovery Program),<br />

benannt nach dem amerikanischen<br />

Außenminister George Marshall,<br />

wurde am 3.4.1948 vom US-<br />

Kongress verabschiedet und wegen<br />

der Ablehnung der Mitarbeit von<br />

Seiten der Ostblockländer auf 18<br />

westliche europäische Länder beschränkt,<br />

darunter auch die Bundesrepublik<br />

Deutschland und Österreich.<br />

Die Marshallplan-Hilfe wurde als<br />

Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, die<br />

teilnehmenden Länder verpflichteten<br />

sich zur Produktionssteigerung, Stabilisierung<br />

der Währung, Liberalisierung<br />

des Handels. Sie umfasste Kredite<br />

und Sachlieferungen, v. a. in Form<br />

von Geschenken von Lebensmitteln<br />

und Rohstoffen, die im Inland zu<br />

Marktpreisen verkauft werden sollten,<br />

der Erlös floss in einen eigenen<br />

Fonds, aus dem wiederum günstige<br />

Kredite für die heimische Wirtschaft<br />

gewährt werden konnten. Westeuropa<br />

erhielt bis Ende 1951 von den USA<br />

insgesamt etwa 13 Mrd. Dollar.<br />

Mauerbach-Fonds<br />

Der Fonds wurde aufgrund des<br />

„2. Kunst- und Kulturbereinigungsgesetzes<br />

über die Herausgabe und<br />

Verwertung ehemals herrenlosen<br />

Kunst- und Kulturgutes, das sich im<br />

Eigentum des Bundes befindet“ vom<br />

13. Dezember 1985 errichtet. Der<br />

Fonds verwaltet den Erlös einer Auktion<br />

vom Herbst 1996 von in der NS-<br />

Zeit geraubten Kunstwerken, deren<br />

BesitzerInnen nicht mehr eruiert<br />

werden konnten. Die eingenommene<br />

Summe wird an bedürftige Opfer<br />

des Nationalsozialismus und deren<br />

Hinterbliebene verteilt.<br />

Mauritius<br />

Inselstaat im Indischen Ozean, rund<br />

800 km östl. von Madagaskar. Im<br />

Zweiten Weltkrieg wurden von der<br />

britischen Besatzungsmacht jüdische<br />

„illegale“ ImmigrantInnen aus der<br />

Tschechoslowakei, aus Danzig und<br />

Wien nach Mauritius deportiert. 212<br />

Männer wurden zu den britischen<br />

Streitkräften eingezogen, der Rest<br />

der Flüchtlinge in einem Gefängnisgebäude<br />

und Baracken untergebracht.<br />

Die Flüchtlinge wurden<br />

durch jüdische Organisationen und<br />

die ➤ Jewish Agency (JA) unterstützt.<br />

Das Hauptziel der Flüchtlinge<br />

lag in der Rückkehr nach Palästina,<br />

wohin nach der Entlassung am<br />

12.8.1945 ein Großteil immigrierte.<br />

Moskauer Deklaration<br />

Die Moskauer Deklaration der drei<br />

Alliierten USA, UdSSR und Großbritannien<br />

vom 1. November 1943 hielt<br />

bezüglich Österreich fest, dass es<br />

„das erste freie Land“ gewesen sei,<br />

das der „Angriffspolitik Hitlers zum<br />

Opfer“ fiel, dass die Besetzung<br />

Österreichs durch Deutschland am<br />

13. März 1938 „null und nichtig“ sei<br />

und dass nach dem Krieg „ein freies<br />

unabhängiges Österreich wiederhergestellt“<br />

werden solle. Gleichzeitig<br />

wurde Österreich in der Deklaration<br />

aber auch daran erinnert, dass es seiner<br />

Verantwortung für „die Teilnahme<br />

am Kriege an der Seite Hitler-<br />

Deutschlands“ nicht entrinnen könne.<br />

Von der österreichischen Nachkriegspolitik<br />

wurden jedoch vor allem<br />

die „Opfer- und Nichtigkeitserklärungen“<br />

der Deklaration als wesentlich<br />

betrachtet. Sie dienten als<br />

Stichworte für die Aufrechterhaltung<br />

des Opfermythos und für die Verhandlungsposition<br />

Österreichs bezüglich<br />

des ➤ Staatsvertrags. Die<br />

Formulierung von der Mitverantwortung<br />

Österreichs wurde demgegenüber<br />

auf Betreiben der österreichischen<br />

Regierung vor Unterzeichnung<br />

des Staatsvertrags aus der Präambel<br />

gestrichen.<br />

Nationalfonds der Republik Österreich<br />

für die Opfer des Nationalsozialismus<br />

Der Nationalfonds wurde auf Nationalratsbeschluss<br />

im Juni 1995 gegründet.<br />

Seit Oktober 1995 widmet<br />

sich der Fonds der Unterstützung jener<br />

Menschen, die aus politischen<br />

Gründen, Gründen der Abstammung,<br />

Religion, Nationalität, sexuel-<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

len Orientierung, aufgrund einer<br />

körperlichen oder geistigen Behinderung<br />

oder des Vorwurfs sogenannter<br />

„Asozialität“ Opfer nationalsozialistischer<br />

Verfolgung wurden. Neben<br />

der einmaligen Auszahlung von Unterstützungsbeträgen<br />

liegt das<br />

Hauptanliegen des Fonds vor allem<br />

in einer symbolischen Geste. Die Leistungen<br />

des Fonds richten sich an<br />

Personen, die bisher keine oder völlig<br />

unzureichende Leistungen durch<br />

die ➤ Opferfürsorge erhalten haben,<br />

in irgendeiner Weise bedürftig sind<br />

oder bei denen aufgrund ihrer gegenwärtigen<br />

Lebenssituation eine<br />

Unterstützung gerechtfertigt erscheint.<br />

Neben der Durchführung<br />

und Verwaltung steht der Fonds in<br />

enger Zusammenarbeit mit behördlichen<br />

Stellen und diversen Opferverbänden<br />

im In- und Ausland, um<br />

möglichst viele anspruchsberechtigte<br />

Personen erreichen zu können.<br />

Der neue Weg<br />

Jüdische Zeitung „mit amtlichen<br />

Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

Wien“, erschien von<br />

1946–1949.<br />

Novemberpogrom<br />

Die „Reichskristallnacht“ vom 9./10.<br />

November 1938 in ganz Deutschland<br />

und Österreich bildete einen Höhepunkt<br />

antijüdischer Angriffe durch<br />

die gesamte NSDAP. Vielfach wird<br />

der Pogrom als spontaner Ausbruch<br />

des Volkszorns dargestellt, doch erfolgte<br />

er auf einen Aufruf Goebbels‘<br />

zu Aktionen gegen Juden und Jüdinnen.<br />

Die Zerschlagung von Schaufenstern<br />

jüdischer Geschäfte, die Zerstörung<br />

und Niederbrennung von Synagogen,<br />

die Plünderung jüdischer<br />

Geschäfte waren nur der Auftakt zu<br />

einer weiteren Folge von Terrormaßnahmen<br />

gegen die jüdische Bevölkerung.<br />

In Österreich begannen die antijüdischen<br />

Ausschreitungen erst am<br />

frühen Morgen des 10.11.1938. Insgesamt<br />

wurden im Anschluss an den<br />

Pogrom 30.000 Juden und Jüdinnen<br />

in Konzentrationslager gebracht, aus<br />

Österreich wurden 4600 Juden und<br />

Jüdinnen nach Dachau deportiert.<br />

12. Novelle zum Opferfürsorgegesetz<br />

Die am 22. März 1961 erlassene Novelle<br />

stellte eine wesentliche Erwei-<br />

171<br />

Glossar


Glossar<br />

terung des Kreises der anspruchsberechtigten<br />

Opfer dar: Erstmals wurden<br />

auch für Aufenthalte im Getto<br />

oder Internierungslager, für die Verpflichtung<br />

zum Tragen des Judensternes<br />

und für den Verlust von Einkommen<br />

und Unterbrechung von<br />

Berufsausbildungen – letztgenanntes<br />

galt allerdings nur für österreichische<br />

StaatsbürgerInnen – Entschädigungen<br />

gezahlt.<br />

Nürnberger Rassengesetze<br />

Am 15. September 1935 wurden in<br />

Nürnberg auf einer Sondersitzung<br />

des Reichsparteitags zwei Verfassungsgesetze<br />

verkündet, die die Basis<br />

für den völligen Ausschluss der jüdischen<br />

Bevölkerung aus dem öffentlichen<br />

Leben und für die nachfolgende<br />

antijüdische Politik bildeten. Das<br />

„Gesetz zum Schutz des deutschen<br />

Blutes und der deutschen Ehre“<br />

verbot u.a. Eheschließungen und<br />

außerehelichen Verkehr zwischen<br />

Juden/Jüdinnen und Deutschen. Das<br />

„Reichsbürgergesetz“ legte fest, dass<br />

nur Deutsche oder Personen mit „artverwandtem<br />

Blut“ Bürger des Reichs<br />

seien. Durch diese Gesetze verloren<br />

die jüdische und andere „nichtdeutsche“<br />

Bevölkerungsgruppen, v.a.<br />

auch Roma und Sinti, ihre politischen<br />

Rechte. Aufgrund des „Reichsbürgergesetzes“<br />

wurden zwischen November<br />

1935 und Juli 1943 13 weitere<br />

Verordnungen u.a. über Berufsverbote<br />

für die jüdische Bevölkerung,<br />

Kennzeichnungspflicht jüdischer Geschäfte,<br />

Verfall jüdischen Vermögens<br />

an das Deutsche Reich, erlassen. Die<br />

sogenannten „Nürnberger Rassengesetze“<br />

erhielten am 28. Mai 1938<br />

auch für Österreich Gültigkeit. Die 9.<br />

Verordnung zum „Reichsbürgergesetz“<br />

vom 5. Mai 1939 führte eine<br />

Reihe weiterer antijüdischer Gesetze<br />

in Österreich ein. Wichtig im Sinne einer<br />

nachträglichen „Legalisierung“<br />

und gleichzeitig der totalen Beraubung<br />

der jüdischen Bevölkerung<br />

durch das nationalsozialistische Regime<br />

waren die ➤ 11. und die ➤ 13.<br />

Verordnung zum Reichsbürgergesetz.<br />

OMGUS<br />

Office of the Military Government<br />

for Germany, US-Zone of Occupation/<br />

Control, Berlin; amerikanische Militärregierung<br />

in Deutschland<br />

Opferausweis<br />

Nach dem ➤ Opferfürsorgegesetz<br />

anerkannte Opfer des Nationalsozialismus<br />

erhielten über ein durch die<br />

Gesundheits- und Sozialämter erstelltes<br />

Gutachten die Möglichkeit zum<br />

Erhalt eines Opferausweises. BesitzerInnen<br />

eines solchen Ausweises sollten<br />

bei der Wohnungs- und Arbeitssuche<br />

von den behördlichen Stellen<br />

bevorzugt behandelt werden. Durch<br />

die Ausgabe etwa von Fahrausweisen<br />

und steuerliche Begünstigungen<br />

sollten die AusweisbesitzerInnen finanziell<br />

unterstützt werden. Der Besitz<br />

eines Opferausweises bedeutete<br />

aber keinen Anspruch auf eine Opferrente.<br />

➤ Amtsbescheinigung.<br />

Opferfürsorgegesetz (OFG)<br />

Das erste Opferfürsorgegesetz wurde<br />

am 17. Juli 1945 beschlossen, als<br />

Opfer wurden zunächst nur österreichischeWiderstandskämpferInnen<br />

angesehen, denen bei sozialer<br />

Bedürftigkeit und gesundheitlichen<br />

Schäden bestimmte Fürsorgemaßnahmen,<br />

Vergünstigungen bzw.<br />

Renten zuerkannt wurden. Opfer<br />

rassistischer Verfolgung blieben<br />

vom OFG ausgeschlossen, sofern sie<br />

keinen Nachweis eines aktiven Einsatzes<br />

gegen das NS-Regime erbringen<br />

konnten. Das zweite OFG von<br />

1947 sah auch Fürsorgemaßnahmen<br />

für Opfer rassistischer Verfolgung<br />

vor, anspruchsberechtigt waren aber<br />

allgemein nur österreichische<br />

StaatsbürgerInnen (also nicht die<br />

Vielzahl der Vertriebenen, die eine<br />

andere Staatsbürgerschaft angenommen<br />

hatten), die mindestens<br />

sechs Monate Haft in einem KZ oder<br />

ein Jahr Haft in einem Gefängnis<br />

o.ä. nachweisen konnten. Zahlreiche<br />

Novellen erweiterten langsam<br />

den Kreis der Anspruchsberechtigten,<br />

z.B. wurde in der 7. Novelle<br />

1952 erstmals nicht nur Fürsorge,<br />

sondern eine Haftentschädigung<br />

pro Monat gewährt, die 8. Novelle<br />

1953 machte die Haftentschädigung<br />

nicht mehr vom Besitz der österreichischen<br />

Staatsbürgerschaft abhängig,<br />

die ➤ 12. Novelle stellte<br />

noch einmal eine Erweiterung des<br />

Kreises anspruchsberechtigter Personen<br />

dar. Dennoch wies das OFG weiterhin<br />

viele Mängel und Ungerechtigkeiten<br />

auf, oftmals war es<br />

schwer, die Nachweise erlittener<br />

Verfolgung zu erbringen. Zudem<br />

blieben viele Gruppen nach wie vor<br />

ausgeschlossen: Nicht anspruchsberechtigt<br />

waren Roma und Sinti (teilweise),<br />

Homosexuelle, sogenannte<br />

„Asoziale“, „Euthanasie“-Opfer und<br />

andere Gruppen. Sie erhielten erst<br />

durch den 1995 geschaffenen ➤ Nationalfonds<br />

eine Entschädigung,<br />

ebenso wie die jüdischen Vertriebenen,<br />

die bis dahin nur teilweise<br />

und sehr gering entschädigt worden<br />

waren.<br />

Palästina-Amt<br />

Auswanderungs-Organisation der ➤<br />

Jewish Agency in Deutschland, die<br />

ausschließlich die Auswanderung der<br />

jüdischen Bevölkerung nach Palästina<br />

durchführte. Das Palästina-Amt<br />

kümmerte sich um die nötigen Visa<br />

und den Transport der EmigrantInnen.<br />

Nach dem Novemberpogrom<br />

1938 wurde das Amt unter stärkere<br />

Kontrolle gestellt, konnte aber noch<br />

bis Frühjahr 1941 weitgehend eigenständig<br />

arbeiten.<br />

Potsdamer Abkommen<br />

Das von den drei alliierten Mächten<br />

in Berlin am 2. August 1945 unterzeichnete<br />

Abkommen regelte u.a.<br />

die militärische Besetzung Deutschlands<br />

und Österreichs, Entmilitarisierung,<br />

Entnazifizierung, Verfolgung<br />

von Kriegsverbrechern, Reparationszahlungen<br />

und die alliierte<br />

Kontrolle der deutschen und österreichischen<br />

Wirtschaft. Gemäß dem<br />

Abkommen konnte jede Besatzungsmacht<br />

ihre Reparationsansprüche<br />

nur aus der von ihr besetzten<br />

Zone befriedigen. Während die<br />

Westmächte gegenüber Österreich<br />

auf ihre Ansprüche mit Ausnahme<br />

des „deutschen Eigentums“ verzichteten,<br />

übernahm die USIA („Verwaltung<br />

des sowjetischen Vermögens<br />

in Österreich“) innerhalb der von<br />

ihr besetzten Zone fast die gesamte<br />

Erdölindustrie und die DDSG<br />

(Donaudampfschiffahrtsgesellschaf),<br />

ca. 300 Industriebetriebe, 150.000<br />

ha Grundbesitz, Gewerbe- und Handelsbetriebe.<br />

Gemäß dem Staatsvertrag<br />

wurden diese Vermögenswerte<br />

später gegen eine Ablöse von 150<br />

Mio. Dollar an Österreich übergeben.<br />

172 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Raab, Julius (1891–1964)<br />

ÖVP-Politiker, 1927–1934 Abgeordneter<br />

des Nationalrats, nö. Heimwehrführer,<br />

1938 Handels- und Verkehrsminister,<br />

nach 1945 Mitbegründer<br />

der ÖVP und von 1952– 1960<br />

ihr Bundesparteiobmann, 1953–1961<br />

Bundeskanzler, Mitverhandler des<br />

Staatsvertrags, Präsident der Bundeswirtschaftskammer,Mitbegründer<br />

der Sozialpartnerschaft.<br />

Rafelsberger, Walter<br />

„Staatskommissar in der Privatwirtschaft“<br />

und Gauwirtschaftsberater.<br />

Im Mai 1938 wurde er als Leiter der<br />

➤ Vermögensverkehrsstelle (VVST)<br />

zur planmäßigen Durchführung und<br />

Organisierung der Zwangsenteignungen<br />

eingesetzt.<br />

Raubgold<br />

Bezeichnet das Gold, das der jüdischen<br />

Bevölkerung und anderen<br />

Gruppen, wie etwa den Sinti und<br />

Roma, während der NS-Zeit geraubt<br />

wurde, u.a. durch Enteignung von<br />

jüdischen Banken und Einziehung<br />

von deren Vermögen, und durch das<br />

den Ermordeten in den Konzentrationslagern<br />

herausgebrochene Zahngold,<br />

das in andere Goldbestände<br />

eingeschmolzen wurde und so in<br />

den internationalen Goldhandel<br />

gelangte. ➤ Bergier-Kommission; ➤<br />

Londoner „Raubgoldkonferenz“.<br />

Reichseinheitliche Verordnung gegen<br />

die „Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe“<br />

vom 22. 4. 1938 und Verordnung<br />

über die Anmeldung jüdischen<br />

Vermögens vom 26. 4. 1938<br />

Beide Verordnungen bildeten die legistische<br />

Grundlage für die Zwangsenteignung<br />

jüdischen Besitzes und<br />

Vermögens.<br />

Reichsfluchtsteuer<br />

Betrag, der von Juden und Jüdinnen<br />

für die Genehmigung der Ausreise<br />

zu zahlen war. Die Reichsfluchtsteuer<br />

wurde von der NS-Finanzverwaltung<br />

von den jüdischen ➤ Sperrkonten<br />

abgezogen.<br />

Reichssicherheits-Hauptamt (RSHA)<br />

Am 27. September 1939 wurden die<br />

zentralen Ämter der Sicherheitspolizei<br />

(die 1936 aus ➤ Gestapo und Kripo<br />

neu organisiert worden war) und<br />

des Sicherheitsdienstes der ➤ SS zum<br />

RSHA zusammengefaßt. Chef des<br />

RSHA wurde der bisherige Chef des<br />

SD ➤ Reinhard Heydrich. Sein Nachfolger<br />

ab Anfang 1943 war der<br />

Österreicher Ernst Kaltenbrunner.<br />

Das RSHA war hauptverantwortlich<br />

für Verfolgungen und Massenmorde,<br />

die Deportation hunderttausender<br />

Juden und Jüdinnen in die ➤ Vernichtungslager.<br />

Rückstellungsgesetze<br />

Die wichtigsten Gesetze zur Umsetzung<br />

des ➤ Bundesgesetzes über die<br />

Nichtigkeit von Rechtsgeschäften<br />

sind das 1., das 2. und insbesondere<br />

das 3. Rückstellungsgesetz (RG). Das<br />

1. RG vom 26. Juli 1946 betraf das<br />

vom Deutschen Reich entzogene und<br />

nach 1945 in der Verwaltung der Republik<br />

Österreich oder der Bundesländer<br />

befindliche Vermögen, das<br />

2. RG vom 6. Februar 1947 behandelte<br />

das im Eigentum der Republik befindliche<br />

entzogene Vermögen und<br />

das 3. RG vom 6. Februar 1947 das in<br />

privatem Besitz befindliche, zwischen<br />

1938 und 1945 entzogene Vermögen,<br />

und jene Fälle, die nicht<br />

durch das 1. und 2. RG geregelt werden<br />

konnten. Der größte Teil der<br />

Rückstellungsverfahren fiel unter das<br />

3. RG. Weitere Rückstellungsgesetze<br />

regelten die Rückstellung entzogener<br />

Rechte, z.B. Gewerberechte, Ansprüche<br />

aus Dienstverhältnissen u.ä.<br />

4. Rückstellungsanspruchsgesetz<br />

„Bundesgesetz über die Erhebung<br />

von Ansprüchen der Auffangorganisationen<br />

auf Rückstellung von Vermögen<br />

nach den ➤ Rückstellungsgesetzen“<br />

vom Mai 1961. In diesem Gesetz<br />

wurde den ➤ Sammelstellen die<br />

Berechtigung gegeben, Ansprüche<br />

nach der Rückstellung, die von den<br />

Berechtigten bisher nicht erhoben<br />

worden waren, geltend zu machen.<br />

Sach- und Verkehrswert<br />

In der Arisierungspraxis wurde von<br />

einer Treuhandstelle (bei Objekten<br />

über einem Wert von 100.000 RM<br />

durch eine „Kontrollbank“) ein Betrieb<br />

zu einem Sachwert angekauft,<br />

der nur einen Bruchteil des realen<br />

Wertes darstellte. Der Weiterverkauf<br />

an „arische“ KäuferInnen erfolgte<br />

zum deutlich höheren Verkaufswert.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Sammelklage<br />

Nach amerikanischem Recht können<br />

Forderungen zahlreicher Personen<br />

als „Klagen im Gruppeninteresse“<br />

(sogenannten „class actions“) geltend<br />

gemacht werden. Dieses Rechtsinstrument<br />

dient der Bündelung der<br />

Interessen vieler Einzelner und der<br />

Vermeidung möglicherweise widersprüchlicher<br />

Urteile in inhaltlich<br />

gleich gelagerten Prozessen. Eine<br />

Sammelklage kann von einzelnen<br />

„class representatives“ stellvertretend<br />

für die anderen Mitglieder der<br />

Gruppe eingebracht werden, u.a.<br />

wenn die Anzahl der Betroffenen<br />

genügend groß ist, ihre Ansprüche in<br />

rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht<br />

ähnlich gelagert sind, die von den<br />

„class representatives“ erhobenen<br />

Ansprüche für die ganze „class“ typisch<br />

sind und sie konkrete Gründe<br />

für eine „class action“ anführen können.<br />

Im Einzelfall entscheidet der<br />

Richter über die Zulässigkeit einer<br />

„class action“. Für „class members“<br />

ist das rechtliche Urteil bindend, im<br />

Falle eines gewonnenen Prozesses<br />

wird die Summe nach Abzug der Anwaltskosten<br />

quotenmäßig auf die<br />

„class members“ verteilt.<br />

Sammelstellen<br />

Die Erfassung des „erblosen Vermögens“<br />

und seine Verwendung für<br />

die Opfer des Nationalsozialismus<br />

war eine wichtige Frage in den Verhandlungen<br />

des ➤ Claims Committee<br />

und der österreichischen Bundesregierung<br />

und wurde im Artikel<br />

26, § 2 des ➤ Staatsvertrags geregelt.<br />

Entsprechend wurde am 13.<br />

März 1957 das sogenannte „Auffangorganisationsgesetz“<br />

erlassen,<br />

das die Einrichtung zweier Sammelstellen<br />

für „erbloses jüdisches“ bzw.<br />

(A) „erbloses nichtjüdisches Vermögen“<br />

(B) vorsah. Der zwischen 1938<br />

und 1945 erfolgte Transfer in Österreich<br />

entzogenen Vermögens nach<br />

Deutschland wurde im ➤ Kreuznacher<br />

Abkommen mit einer von<br />

der BRD zu zahlenden Pauschalsumme<br />

von 6 Mio. DM geregelt. Das<br />

von beiden Sammelstellen insgesamt<br />

erfasste Vermögen (ca. 180<br />

Mio. Schilling) wurde nach einem<br />

Gesetz vom 5. April 1962 zu 80 %<br />

auf Sammelstelle A, zu 20 % auf<br />

Sammelstelle B aufgeteilt und an in<br />

173<br />

Glossar


Glossar<br />

Österreich lebende individuelle AntragstellerInnen<br />

und gemeinnützige<br />

Organisationen ausgezahlt.<br />

Sauckel, Fritz (1894–1946)<br />

wurde 1923 Mitglied der NSDAP und<br />

der SA, 1927 Gauleiter von Thüringen.<br />

Im März 1942 wurde Sauckel<br />

zum „Generalbevollmächtigten für<br />

den Arbeitseinsatz“ ernannt. Er war<br />

verantwortlich für die Deportation<br />

von Millionen Menschen für den<br />

Zwangsarbeitseinsatz im „Deutschen<br />

Reich“. 1946 wurde er vom Nürnberger<br />

Militärgerichtshof zum Tode verurteilt<br />

und gehängt.<br />

Schuschnigg, Kurt<br />

Der christlichsoziale Politiker wurde<br />

nach der Ermordung von Engelbert<br />

Dollfuß im Juli 1934 Bundeskanzler.<br />

Er versuchte die Prinzipien des<br />

➤ Ständestaates zu verwirklichen, innenpolitisch<br />

drängte er den starken<br />

Einfluß der Heimwehren zurück,<br />

außenpolitisch konnte er dem Druck<br />

des nationalsozialistischen Deutschen<br />

Reiches wenig entgegensetzen.<br />

Schwarzes Kreuz, Österreichisches<br />

(ÖSK)<br />

1919 gegründete Kriegsgräberfürsorge.<br />

Seine Aufgaben sind die Errichtung<br />

und Erhaltung von Soldatengräbern<br />

der Angehörigen aller<br />

Nationen, von Gräbern ziviler Opfer<br />

des Bombenkriegs, der politischen<br />

Verfolgung und von Flüchtlingen.<br />

Das ÖSK wird fast ausschließlich über<br />

Spenden finanziert.<br />

SD<br />

Sicherheitsdienst des Reichsführers<br />

➤ SS. Der SD war der Nachrichtendienst<br />

der NSDAP und eine wichtige<br />

Institution bei der Durchführung der<br />

„Endlösung“. Der SD wurde 1931<br />

von ➤ Heinrich Himmler errichtet,<br />

die Leitung unterstand ➤ Reinhard<br />

Heydrich. Seine Aufgabe lag in der<br />

Überwachung von „Feinden der<br />

Partei“. 1934 wurde der SD zum<br />

einzigen Geheimdienst der NSDAP<br />

erklärt. Während der ➤ Gestapo<br />

primär Exekutivaufgaben zukamen,<br />

konzentrierte sich der SD auf die Formulierung<br />

der politischen und ideologischen<br />

Zielsetzungen der SS. Die<br />

SD-Führung versuchte auch über<br />

Auslandsspionage Kontrolle über<br />

den militärischen Nachrichtendienst,<br />

die sog. „Abwehr“ zu erhalten. Im<br />

September 1939 wurden unter Oberbefehl<br />

Heydrichs Gestapo und SD mit<br />

der Gründung des ➤ Reichssicherheitshauptamtes<br />

(RSHA) vereinigt.<br />

Shanghai<br />

War bereits vor dem Zweiten Weltkrieg<br />

ein chinesischer Hafen mit<br />

mehr als vier Mio. EinwohnerInnen.<br />

Die internationalen Niederlassungen<br />

in Shanghai wurden von elf Ländern,<br />

darunter die USA, Großbritannien<br />

und Japan, verwaltet. Nach dem<br />

➤ Novemberpogrom 1938 bot<br />

Shanghai zahlreichen Emigranten Zuflucht.<br />

Shanghai war weltweit der<br />

einzige Ort, zu dem man ohne Visum<br />

oder offizielle Dokumente gelangen<br />

konnte. Mit Hilfe zweier bereits<br />

bestehender jüdischer Gemeinden in<br />

Shanghai und des amerikanisch-jüdischen<br />

➤ „Joint“-Distribution Committee<br />

wurden zwei große Flüchtlingslager<br />

für 3000 Personen errichtet.<br />

Nach anfänglicher Integration<br />

und auch der wirtschaftlichen Etablierung<br />

verschlechterten sich mit dem<br />

Krieg im Pazifik auch die Lebensbedingungen<br />

der Flüchtlinge, zumal die<br />

amerikanische Regierung private Unterstützungen<br />

und Zuschüsse durch<br />

den „Joint“ verbot. Im Februar 1943<br />

wurde von den Japanern ein Lager<br />

nach nationalsozialistischem Vorbild,<br />

der sogenannte „Sperrbezirk“, errichtet.<br />

Nach dem Krieg ging die<br />

Hälfte der in Shanghai lebenden<br />

Flüchtlinge nach Israel. Nach Wien<br />

kehrten am 12.4.1949 269 ehemalige<br />

Flüchtlinge zurück.<br />

Sperrkonto<br />

Der Kaufpreis, den ehemalige EigentümerInnen<br />

„arisierter“ Betriebe<br />

zugestanden bekamen, wurde jedoch<br />

nicht an diese ausbezahlt.<br />

Stattdessen wurde der Betrag auf<br />

ein Sperrkonto überwiesen, auf das<br />

der/die ehemalige BesitzerIn keinen<br />

Zugriff hatte. Von diesen Sperrkonten<br />

entnahm die NS-Finanzverwaltung<br />

Abgaben, wie etwa die ➤<br />

Reichsfluchtsteuer und die Judenvermögensabgabe<br />

( ➤ Sühneleistung).<br />

SS<br />

„Schutzstaffel“; als Polizeitruppe der<br />

NSDAP und später Elitegarde des na-<br />

tionalsozialistischen Regimes war die<br />

SS das Hauptinstrument zur Ausübung<br />

von Terror, Massenmorden und<br />

„Germanisierung“. Die 1925 gebildete<br />

Schutzstaffel war zunächst als Hitlers<br />

Leibgarde zuständig für Schutzund<br />

Sicherheitsaufgaben. Chef der<br />

SS war ab 1929 ➤ Heinrich Himmler<br />

(ab 1936 auch Chef der deutschen<br />

Polizei). Die Waffen-SS, eine militärische<br />

Einheit der SS, führte während<br />

des Krieges an der Front Massenerschießungen<br />

und Tötungen in Gaswägen<br />

durch. Ihr unterstanden auch<br />

die Konzentrationslager. Die Waffen-<br />

SS, eine militärische Einheit der SS,<br />

führte während des Krieges an der<br />

Front Massenerschießungen und Tötung<br />

in Gaswägen durch.<br />

Staatsvertrag<br />

Der am 15. Mai 1955 von der Sowjetunion,<br />

Großbritannien, den USA,<br />

Frankreich und Österreich unterzeichnete<br />

„Staatsvertrag betreffend<br />

die Wiederherstellung eines unabhängigen<br />

und demokratischen<br />

Österreich“ behandelt im Artikel 26<br />

die Ansprüche von Opfern nationalsozialistischer<br />

Verfolgung auf Vermögensrückstellung<br />

und Wiederherstellung<br />

ihrer Rechte bzw. auf Entschädigung,<br />

falls eine Rückstellung<br />

nicht möglich ist. Über die Interpretation<br />

dieses Artikels gingen aber in<br />

den folgenden Jahren die Meinungen<br />

zwischen der österreichischen<br />

Regierung und den Organisationen<br />

der Überlebenden auseinander.<br />

Außerdem wurde im Staatsvertrag<br />

festgelegt, dass das „erblose Vermögen“<br />

zur Unterstützung der Opfer<br />

der NS-Verfolgung verwendet werden<br />

solle. ➤ Sammelstellen.<br />

Ständestaat<br />

Bezeichnung für die ständisch autoritäre<br />

Staatsform Österreichs zwischen<br />

1934 und 1938. Nach der Ausschaltung<br />

des Parlaments durch Bundeskanzler<br />

Engelbert Dollfuß im<br />

März 1933 wurden die demokratischen<br />

Einrichtungen der Verfassung<br />

schrittweise demontiert. Die Basis<br />

des Ständestaates bildete eine berufsständische<br />

Verfassung und ein<br />

Einparteiensystem, das weitgehend<br />

von Mitgliedern der Christlichsozialen<br />

Partei und der Heimwehr getragen<br />

wurde.<br />

174 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Sternfeld, Albert<br />

1925 in Wien geboren, kam er 1938<br />

mit einem Kindertransport nach England,<br />

diente als junger Mann bei der<br />

britischen und bei der israelischen<br />

Luftwaffe, war danach im Versicherungswesen<br />

tätig. Sternfeld kehrte<br />

1966 nach Österreich zurück. Seitdem<br />

setzt er sich für die Entschädigung<br />

und Rehabilitierung der aus Österreich<br />

vertriebenen jüdischen Bevölkerung<br />

ein. 1992 entwarf Sternfeld im<br />

Auftrag der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde<br />

einen „Lösungsplan“ zum<br />

Thema Entschädigung, der u.a. eine<br />

einmalige individuelle Zahlung für<br />

alle Naziopfer und die Einrichtung<br />

eines „Solidaritätsfonds für Vertriebene“<br />

vorsah. Sternfelds Idee des<br />

Solidaritätsfonds wurde – in eingeschränkter<br />

Form – Grundlage für die<br />

Errichtung des ➤ „Nationalfonds für<br />

die Opfer des Nationalsozialismus“<br />

im Juni 1995.<br />

Stiftung „Polnisch-Deutsche<br />

Aussöhnung“<br />

Die Stiftung wurde entsprechend einer<br />

Vereinbarung zwischen der polnischen<br />

und der bundesdeutschen<br />

Regierung am 16. Oktober 1991 in<br />

Polen gegründet. Ziel der Stiftung<br />

ist es, eine von der Bundesrepublik<br />

zugestandene einmalige humanitäre<br />

Zahlung von 500 Mio. DM (in drei<br />

Teilzahlungen) an besonders betroffene<br />

polnische Opfer des Nationalsozialismus<br />

zu verteilen. Darunter<br />

fallen ehemalige KZ-, Gefängnis-,<br />

Getto-Häftlinge, Häftlinge der sogenannten<br />

Polenlager, ZwangsarbeiterInnen,<br />

Waisenkinder, die zur<br />

Zwangsarbeit gezwungen wurden,<br />

Personen, die als Kinder verfolgt, in<br />

KZs oder im Deutschen Reich von<br />

ZwangsarbeiterInnen geboren wurden.<br />

Der überwiegende Teil der<br />

Summe wurde bereits an ca.<br />

530.000 AntragstellerInnen in Form<br />

einmaliger und individueller Zahlungen<br />

von ca. 500-700 DM ausgezahlt.<br />

Auch in Russland, Weißrussland<br />

und der Ukraine wurden inzwischen<br />

Stiftungen für „Verständigung<br />

und Aussöhnung“ eingerichtet,<br />

die in ähnlicher Weise arbeiten.<br />

Eine notwendige eigene Regelung<br />

für die baltischen Länder und<br />

Moldawien steht noch aus.<br />

Trobe, Harold<br />

Direktor des ➤ Joint Distribution<br />

Committee. 1948 untersuchte er die<br />

finanzielle und organisatorische Situation<br />

der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde<br />

Wien und schlug vor, dass<br />

die Regierung der IKG ein Darlehen<br />

von 25 Mio. Schilling zum Auf- und<br />

Ausbau verschiedener Fürsorgeeinrichtungen<br />

geben solle.<br />

Tschadek, Otto (1904–1969)<br />

SPÖ-Politiker, 1934 verhaftet, 1949–<br />

1952 und 1956–1960 Bundesminister<br />

für Justiz, 1960–1969 stellvertretender<br />

Landeshauptmann von Niederösterreich.<br />

UNRRA<br />

United Nations Relief and Rehabilitation<br />

Administration. Die UN-Behörde<br />

für Flüchtlinge und Staatsangehörige<br />

der Alliierten in den befreiten Ländern<br />

Europas und des Fernen Ostens<br />

wurde am 9. November von 44 Staaten<br />

der Vereinten Nationen gegründet.<br />

Ihre Aufgabe war Hilfe für wirtschaftlich<br />

notleidende Länder und<br />

die Betreuung und Rückführung von<br />

➤ Displaced Persons nach dem Krieg.<br />

Die UNRRA unterstand dem jeweiligen<br />

alliierten Militärkommando und<br />

war im Wesentlichen verantwortlich<br />

für die Verwaltung der Lager, die medizinische<br />

und soziale Versorgung,<br />

die Organisation kultureller Aktivitäten<br />

und beruflicher Weiterbildung.<br />

Ihr unterstanden auch andere Wohlfahrtsorganisationen<br />

wie z.B. der ➤<br />

Joint. 1947 übernahm die ➤ IRO die<br />

Betreuung und Rückführung bzw.<br />

Emigration der Flüchtlinge. Die Büros<br />

der UNRRA in den europäischen Ländern<br />

wurden Ende 1948 geschlossen.<br />

Vaterländische Front<br />

1933 von Engelbert Dollfuß als Sammelbewegung<br />

aller „vaterlandstreuen“<br />

ÖsterreicherInnen gegründet.<br />

Nach dem Verbot aller anderen politischen<br />

Parteien hatte die Vaterländische<br />

Front (VF) eine politische Monopolstellung<br />

inne. Sie war in eine Zivil-<br />

und eine Wehrfront gegliedert.<br />

Entgegen den Bestrebungen von<br />

Dollfuß wurde die Vaterländische<br />

Front jedoch keine Massenbewegung<br />

und konnte die politischen<br />

GegnerInnen des ➤ Ständestaates<br />

nicht für sich gewinnen.<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Verband der Rückstellungsbetroffenen<br />

Der Verband wurde Ende 1948 gegründet,<br />

politisch unterstützt vom<br />

VdU. Der Verband wandte sich vor<br />

allem gegen das 3. Rückstellungsgesetz<br />

und verlangte für die Verluste,<br />

die den heutigen BesitzerInnen<br />

durch die Rückstellung entstehen<br />

würden, die Schaffung eines Ausgleichsfonds.<br />

Verband der Unabhängigen (VdU)<br />

1949 in Salzburg gegründet, Sammelbecken<br />

für ehemalige Nationalsozialisten,<br />

Heimatvertriebene,<br />

Heimkehrer, politisch Unzufriedene.<br />

Erreichte bei den Wahlen 1949 auf<br />

Anhieb knapp 12% der WählerInnenstimmen.<br />

Der VdU ging später in<br />

der 1956 gegründeten FPÖ auf.<br />

Vermögensverkehrsstelle (VVST)<br />

Die VVST wurde am 18. Mai 1938 im<br />

österreichischen Ministerium für Arbeit<br />

und Wirtschaft gegründet. Ihr<br />

oblagen die Kontrolle und die Gesamtorganisation<br />

der Zwangsenteignungen.<br />

Sie war neben der Bestellung<br />

von Treuhändern, Kommissaren<br />

und Abwicklern für Unternehmen<br />

für die Koordination der gesamtwirtschaftlichen<br />

Planung zuständig.<br />

Sie kontrollierte Kaufverträge, setzte<br />

den Kaufpreis für zur ➤ „Arisierung“<br />

bestimmte Unternehmen fest<br />

und verordnete die Liquidierung<br />

von Betrieben. Die VVST kooperierte<br />

mit Referaten des Ministeriums für<br />

Arbeit und Wirtschaft, mit NS-Wirtschaftsstellen<br />

der gewerblichen<br />

Wirtschaft, mit gewerblichen Fachverbänden<br />

und der NSDAP. Nachdem<br />

ein Großteil der jüdischen Unternehmen<br />

bereits „arisiert“ oder<br />

aufgelöst worden war, wurde die<br />

VVST 1939 zur „Abwicklerstelle“ für<br />

die Auflösung der restlichen Betriebe<br />

im Handels- und Gewerbebereich.<br />

Als „Referat III Entjudung“ der<br />

Reichsstatthalterei Wien bestand die<br />

VVST bis Kriegsende weiter.<br />

Vernichtungslager<br />

In den sogenannten Vernichtungslagern<br />

im besetzten Polen – Auschwitz-Birkenau<br />

(das teilweise auch ein<br />

Konzentrationslager war), Chelmno,<br />

Belzec, Sobibor, Treblinka – wurden<br />

ab Ende 1941 alle ankommenden<br />

Häftlinge im Rahmen der „Endlö-<br />

175<br />

Glossar


Glossar<br />

sung der Judenfrage“ in den Gaskammern<br />

ermordet. In Konzentrationslagern<br />

wurden v.a. die noch arbeitsfähigen<br />

Häftlinge nicht sofort in<br />

die Gaskammern geschickt, sondern<br />

zunächst zur Arbeit in SS-Betrieben<br />

und in Industrieunternehmen herangezogen<br />

bzw. in andere Lager weiter<br />

deportiert.<br />

Verordnung über den Einsatz des<br />

jüdischen Vermögens<br />

Die Verordnung vom 3. Dezember<br />

1938 legalisierte und reglementierte<br />

im Nachhinein die Praxis der wilden<br />

➤ „Arisierungen“. Sie regelte u.a. die<br />

Zwangsveräußerung bzw. Zwangsliquidierung<br />

von in jüdischem Besitz<br />

befindlichen Gewerbe-, land- und<br />

forstwirtschaftlichen Betrieben, die<br />

Einsetzung von Treuhändern, den<br />

Verlust der Verfügungsrechte des Inhabers<br />

und seine Pflicht, die Kosten<br />

für die treuhänderische Verwaltung<br />

zu tragen.<br />

Verordnung zur Ausschaltung der<br />

Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben<br />

Diese Verordnung wurde am 12. November<br />

1938, also zwei Tage nach<br />

dem ➤ Novemberpogrom vom 9./10.<br />

November, der sogenannten „Reichskristallnacht“<br />

erlassen. Sie erweiterte<br />

die bereits erlassenen Berufsverbote<br />

für Juden und Jüdinnen, wie<br />

etwa das ➤ Gesetz zur Wiederherstellung<br />

des Berufsbeamtentums<br />

vom 7. April 1933, nun durch das<br />

Verbot der Führung von Gewerbebetrieben<br />

und Handelsgeschäften,<br />

der Ausübung der Funktion eines<br />

leitenden Angestellten oder Betriebsführers.<br />

11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz<br />

Die 11. Verordnung vom 25. November<br />

1941 besagte, dass Juden und<br />

Jüdinnen, die sich im Ausland aufhielten,<br />

ihre deutsche Staatsangehörigkeit<br />

verlieren und staatenlos<br />

werden sollten und dass ihr gesamtes<br />

Vermögen an das Reich fallen<br />

sollte. Das betraf nach einem zusätzlichen<br />

Runderlass auch die zukünftig<br />

in die besetzten Gebiete, in Gettos<br />

und Konzentrationslager deportierten<br />

Juden und Jüdinnen.<br />

13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz<br />

Die 13. Verordnung vom 1. Juli 1943<br />

bestimmte, dass „strafbare Handlungen“<br />

von Juden und Jüdinnen von<br />

der Polizei geahndet würden und<br />

dass das gesamte Vermögen von Juden<br />

und Jüdinnen nach ihrem Tod an<br />

das Reich verfiel. Die Vermögensklausel<br />

legalisierte (nachträglich) den<br />

völligen Vermögensentzug der jüdischen<br />

Bevölkerung, die sich unter<br />

Umständen noch im Reich selbst befand.<br />

Vierjahresplan<br />

Am 9. 9. 1936 verkündete Adolf Hitler<br />

einen Wirtschaftsplan, der auf die<br />

Intensivierung der Wirtschaftsproduktion<br />

für den Krieg abzielte. Die<br />

deutsche Wirtschaft sollte unabhängig<br />

von Rohstofflieferungen des Auslandes<br />

werden. Mit dem „Anschluss“<br />

im März 1938 galt die Verwirklichung<br />

des Vierjahresplanes auch für<br />

Österreich.<br />

Volcker-Kommission<br />

Aufgrund eines Memorandums zwischen<br />

der Schweizerischen Bankiervereinigung,<br />

der ➤ WJRO und dem<br />

➤ WJC wurde im Mai 1996 ein „Unabhängiges<br />

Personenkomitee“ („Independent<br />

Committee of Eminent<br />

Persons“) unter dem Vorsitz des<br />

amerikanischen Bankexperten Paul<br />

A. Volcker eingerichtet. Ziel des<br />

Komitees ist die Erfassung der nachrichtenlosen<br />

Bankkonten und anderer<br />

Vermögen von Opfern des<br />

Nationalsozialismus bei Schweizer<br />

Banken. In Zusammenarbeit mit dem<br />

Volcker-Komitee veröffentlichte die<br />

Bankiervereinigung die bereits bekannten<br />

nachrichtenlosen Bankkonten<br />

in internationalen Zeitungen<br />

und im Internet mit einem Aufruf an<br />

die möglichen BesitzerInnen bzw.<br />

ErbInnen der BesitzerInnen.<br />

Volkssolidarität<br />

Ende Mai/Anfang Juni 1945 in Wien<br />

von ÖVP, SPÖ und KPÖ gegründete<br />

überparteiliche Fürsorgeinstitution<br />

zur Betreuung der politisch verfolgten<br />

Opfer. Die Mittel wurden v.a.<br />

durch Spenden aufgebracht. Bis Anfang<br />

1946 waren Juden und Jüdinnen<br />

von der Betreuung ausgeschlossen.<br />

Der 17. Juni 1945 wurde zum „Tag<br />

der Volkssolidarität“ erklärt, Haussammlungen<br />

wurden durchgeführt,<br />

Veranstaltungen und Gedenkfeiern<br />

sollten den Widerstandskampf und<br />

die Leiden der KZ-Opfer würdigen.<br />

Wannsee-Konferenz<br />

Am 20. Jänner 1942 wurde in Berlin-<br />

Wannsee die Durchführung und Koordination<br />

der „Endlösung“ besprochen.<br />

Die Konferenz unter Teilnahme<br />

➤ Adolf Eichmanns, ➤ Heinrich<br />

Himmlers (Leiter des ➤ Reichssicherheitshauptamtes<br />

RSHA) und vieler<br />

anderer prominenter NS-Politiker<br />

markierte einen Wendepunkt in der<br />

nationalsozialistischen Judenpolitik,<br />

den Übergang zu systematischem<br />

Massenmord.<br />

Washingtoner Konferenz über<br />

„Vermögenswerte aus der Ära des<br />

Holocaust“<br />

An der Anfang Dezember 1998 stattgefundenen<br />

Konferenz über „Holocaust<br />

Era Assets“ nahmen Delegationen<br />

aus 44 Ländern teil. Während<br />

bezüglich ➤ Raubgold und entzogenen<br />

Versicherungswerten keine Einigung<br />

erzielt werden konnte, wurden<br />

zum Thema Raubkunst elf Prinzipien<br />

für die Restitution von Kunstwerken<br />

festgelegt. Weitere Schwerpunkte<br />

waren die Verständigung über die<br />

Grundsätze der „Holocaust-Erziehung“,<br />

des Umgangs mit der NS-Vergangenheit<br />

und die historische Vermittlung.<br />

Weber, Anton (1878–1950)<br />

Stadtrat für Sozialpolitik und Wohnungswesen<br />

der Gemeinde Wien in<br />

der Ersten Republik.<br />

Weißbuch, englisches<br />

White Paper of 1939 (auch bekannt<br />

unter dem Namen MacDonald Weißbuch<br />

nach dem britischen Kolonialminister<br />

Malcolm MacDonald). Das<br />

Weißbuch enthielt die Richtlinien<br />

der britischen Palästina-Politik und<br />

wurde am 17. Mai 1939 veröffentlicht.<br />

Auf Protest der Bevölkerung<br />

Palästinas gegen die zunehmende<br />

Zahl jüdischer Einwanderer seit 1933<br />

wurde deren Zahl für einen Zeitraum<br />

von fünf Jahren auf 15.000 begrenzt.<br />

Die weitere Einwanderung sollte von<br />

der Zustimmung der Araber abhängig<br />

gemacht werden. Die Richtlinien<br />

176 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


sahen auch eine Beschränkung jüdischen<br />

Landbesitzes vor.<br />

Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt<br />

(WVHA SS)<br />

Die Zentralbehörde für wirtschaftliche<br />

Tätigkeiten der ➤ SS wurde am<br />

1. Februar 1942 eingerichtet. Dem<br />

WVHA SS wurde auch die Verwaltung<br />

der Konzentrationslager übertragen,<br />

um eine effiziente Organisation<br />

des Zwangsarbeitseinsatzes und<br />

die Kontrolle über die wirtschaftliche<br />

Ausbeutung von KZ-Häftlingen v.a.<br />

in der Rüstungsindustrie zu gewährleisten.<br />

Firmen, die KZ-Häftlinge als<br />

ZwangsarbeiterInnen beschäftigen<br />

wollten, mussten beim WVHA SS einen<br />

Antrag stellen.<br />

Wohnungsanforderungsgesetz vom<br />

1.9.1945<br />

Entsprechend der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung<br />

wurde eine Wohnungsvergabe<br />

an den Opferstatus<br />

gekoppelt. Die Vergabe erfolgte<br />

über ein Punktesystem. Je nach sozialer,<br />

finanzieller Bedürftigkeit und<br />

nach der Anerkennung im OFG wurden<br />

Punkte verteilt. Aus politischen<br />

Gründen verfolgte Opfer des Nationalsozialismus<br />

erhielten die höchste<br />

Punktezahl.<br />

Wöllersdorf 1933–1938<br />

Austrofaschistisches Anhaltelager in<br />

Niederösterreich, in dem Sozialisten<br />

und Nationalsozialisten inhaftiert<br />

wurden.<br />

World Jewish Congress (WJC)<br />

Der WJC wurde – nach mehreren<br />

Vorläuferkonferenzen ab 1919 – als<br />

internationale Dachorganisation jüdischer<br />

Gemeinden und Organisationen<br />

1936 in Genf von Rabbi Dr. Stephen<br />

Wise (Präsident des WJC von<br />

1936-1949) und ➤ Dr. Nahum Goldmann<br />

(Präsident des WJC von 1949-<br />

1977) gegründet. Während des Nationalsozialismus<br />

konzentrierte sich<br />

der WJC auf die finanzielle und organisatorische<br />

Unterstützung der jüdischen<br />

Bevölkerung in Europa. Er<br />

organisierte die Emigration europäischer<br />

Juden und Jüdinnen und Aufbauprogramme,<br />

vertrat die Interessen<br />

der jüdischen Überlebenden bei<br />

Friedensverhandlungen und setzte<br />

sich für die Verfolgung von NS-<br />

Kriegsverbrechern ein. Unter Goldmann<br />

spielte der WJC eine entscheidende<br />

Rolle in der Vorbereitung von<br />

Reparations- und Rückstellungsverhandlungen<br />

mit der Bundesrepublik<br />

Deutschland in den fünfziger Jahren.<br />

In den neunziger Jahren setzte sich<br />

der WJC in verschiedenen europäischen<br />

Ländern für die Rückstellung<br />

entzogenen jüdischen Vermögens<br />

ein, inzwischen wurden mehr als 20<br />

Kommissionen zur Erforschung des<br />

Umgangs mit jüdischem Vermögen<br />

während der NS-Zeit von verschiedenen<br />

Regierungen eingesetzt. Dem<br />

WJC gehören heute mehr als 100<br />

Vereinigungen jüdischer Gemeinden<br />

und Organisationen an, darunter<br />

World Zionist Organization, ➤ Jewish<br />

Agency, ➤ American Jewish Joint<br />

Distribution Committee, B’nai B’rith<br />

und Organisationen der Überlebenden<br />

des Holocaust. Sitz des WJC ist<br />

New York.<br />

World Jewish Restitution Organization<br />

(WJRO)<br />

Die WJRO wurde 1992 als Dachorganisation<br />

für Fragen der Restitution<br />

von während der NS-Zeit entzogenem<br />

Vermögen gegründet. Ihr<br />

gehören unter anderem der ➤ World<br />

Jewish Congress, B’nai B’rith, die<br />

➤ Jewish Agency und verschiedene<br />

Vereinigungen von Holocaust-Überlebenden<br />

an. Die WJRO engagiert<br />

sich sowohl in ost- als auch in westeuropäischen<br />

Staaten. Im Mai 1996<br />

unterzeichnete die Schweizerische<br />

Bankiervereinigung ein Abkommen<br />

mit dem WJC und der WJRO über<br />

die Einrichtung einer gemeinsamen<br />

Kommission, der sogenannten<br />

➤„Volcker-Kommission“, zur Erfassung<br />

der nachrichtenlosen Bankkonten<br />

bei schweizerischen Banken.<br />

Zentralstelle für jüdische Auswanderung<br />

Die in Wien im August 1938 unter<br />

der Leitung ➤ Adolf Eichmanns errichtete<br />

„Zentralstelle für jüdische<br />

Auswanderung“ organisierte die systematische<br />

Vertreibung der jüdischen<br />

Bevölkerung. Über die Forcierung<br />

der Auswanderung sollte<br />

gleichzeitig die Enteignung der auswandernden<br />

Juden und Jüdinnen<br />

vollzogen werden. Unter totalem<br />

Vermögensverzicht zugunsten des<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

„Reiches“ sollten vermögenden Juden<br />

und Jüdinnen Einreisemöglichkeiten<br />

in überseeische Staaten verschafft<br />

werden. 5 bis 10% des enteigneten<br />

Vermögens wurden in einem<br />

Auswanderungsfonds gesammelt,<br />

aus dem die Auswanderung<br />

mittelloser Juden und Jüdinnen finanziert<br />

werden sollte. Nach dem<br />

am 31. Juli 1941 verhängten Auswanderungsverbot<br />

war die Zentralstelle<br />

für Deportationen in ➤ Vernichtungslager<br />

zuständig. Aus dem<br />

bis 1941 eingenommenen Vermögen,<br />

das zur weiteren Finanzierung<br />

der Auswanderung mittelloser Juden<br />

und Jüdinnen vorgesehen war, wurden<br />

nun die Kosten für ihren Abtransport<br />

bestritten.<br />

Zwei-Plus-Vier-Vertrag<br />

Der am 12. Sep. 1990 in Moskau von<br />

den Außenministern der Bundesrepublik<br />

Deutschland, der Deutschen<br />

Demokratischen Republik, Frankreichs,<br />

Großbritanniens, der Sowjetunion<br />

und der USA unterzeichnete<br />

„Vertrag über die abschließende<br />

Regelung in bezug auf Deutschland“<br />

regelt die Wiedervereinigung Deutschlands,<br />

seine Grenzen, die Größe der<br />

Bundeswehr, den Abzug der sowjetischen<br />

Streitkräfte und die Bündniszugehörigkeit.<br />

Das ursprüngliche Ziel,<br />

das auch im ➤ Londoner Schuldenabkommen<br />

von 1953 angekündigt<br />

worden war, nämlich ein Friedensvertrag,<br />

wurde mit dem Zwei-Plus-<br />

Vier-Vertrag nicht erreicht. Daher<br />

wurde auch die Frage der Reparationszahlungen<br />

und der Entschädigungen<br />

für Zwangsarbeit, die für die<br />

deutsche Bundesregierung Teil von<br />

Reparationszahlungen wären, nicht<br />

endgültig geregelt.<br />

Das Glossar wurde teilweise unter<br />

Bezugnahme auf folgende Nachschlage- und<br />

Standardwerke erstellt: Wolfgang Benz/<br />

Hermann Graml/Hermann Weiß (<strong>Hrsg</strong>.):<br />

Enzyklopädie des Nationalsozialismus, DTV,<br />

München 1998, 2. Aufl.; Brockhaus-Enzyklopädie<br />

in 24 Bänden, Mannheim 1990, 19. völlig<br />

neubearb. Aufl.; Israel Gutman/Eberhard<br />

Jäckel/Peter Longerich/Julius H. Schoeps<br />

(<strong>Hrsg</strong>.): Enzyklopädie des Holocaust.<br />

Die Verfolgung und Ermordung der europäischen<br />

Juden, Piper Verlag, München 1998,<br />

2. Aufl.; Raul Hilberg: Die Vernichtung der<br />

europäischen Juden, Fischer TB Verlag,<br />

Frankfurt/M. 1990; Österreich-Lexikon in<br />

2 Bänden, hrsg. v. Richard u. Maria Bamberger/<br />

Ernst Bruckmüller/Karl Gutkas/Christian<br />

Brandstätter Verlag, Wien 1995.<br />

177<br />

Glossar


Zeittafel<br />

Wichtige Gesetze und Entwicklungen im<br />

Bereich der Rückstellung und Entschädigung<br />

Mai 1945<br />

Einrichtung des Bundesministeriums<br />

für Vermögenssicherung und<br />

Wirtschaftsplanung<br />

Ab Mai 1945<br />

Einsetzung von Fürsorgekommissionen,<br />

die die Fürsorge für<br />

Kriegs- und KZ-HeimkehrerInnen<br />

übernehmen.<br />

8. Mai 1945<br />

Verbotsgesetz: Verbot der NSDAP<br />

und ihrer Wehrverbände. Das Vermögen<br />

der NSDAP-Organisation<br />

fällt an Österreich<br />

10. Mai 1945<br />

Gesetz über die Erfassung<br />

➤ arisierter und anderer im Zusammenhang<br />

mit der nationalsozialistischen<br />

Machtübernahme<br />

entzogener Vermögenschaften<br />

Mai 1945<br />

Gesetz über die Bestellung von<br />

öffentlichen Verwaltern und<br />

öffentlichen Aufsichtspersonen<br />

26. Juni 1945<br />

Kriegsverbrechergesetz:<br />

Bestrafung von Taten wider die<br />

Menschlichkeit, das Kriegs- und<br />

Völkerrecht bei Einziehung des<br />

gesamten Vermögens im Falle<br />

einer Verurteilung<br />

17. Juli 1945<br />

➤ Gesetz über die Fürsorge für<br />

die Opfer des Kampfes um ein<br />

freies, demokratisches Österreich<br />

(1. Opferfürsorgegesetz), aufgrund<br />

dieses Gesetzes Gründung<br />

eigener Betreuungs- und Unterbringungsstellen<br />

der MA X/1<br />

(Amt für Wohlfahrtspflege, ab<br />

1946: ➤ MA 12) für HeimkehrerInnen<br />

aus Konzentrationslagern<br />

1. September 1945<br />

Wohnungsanforderungsgesetz<br />

15. Mai 1946<br />

Bundesgesetz (BG) über die<br />

Nichtigkeit von Rechtsgeschäften<br />

und sonstigen Rechtshandlungen,<br />

die während der deutschen Besetzung<br />

Österreichs erfolgt sind<br />

16. Mai 1946<br />

Gemeinderatsbeschluss über die<br />

Neuorganisation der Fürsorgeämter:<br />

Jeder Gemeindebezirk<br />

erhält ein eigenes Fürsorgeamt<br />

26. Juli 1946<br />

BG über die ➤ Rückstellung<br />

entzogener Vermögen, die sich<br />

in Verwaltung des Bundes oder<br />

der Bundesländer befinden<br />

(1. Rückstellungsgesetz)<br />

6. Februar 1947<br />

BG über die Rückstellung<br />

entzogener Vermögen, die<br />

sich im Eigentum der Republik<br />

Österreich befinden<br />

(2. Rückstellungsgesetz)<br />

6. Februar 1947<br />

BG über die Nichtigkeit von<br />

Vermögensentziehungen<br />

(3. Rückstellungsgesetz)<br />

21. Mai 1947<br />

BG betreffend die unter nationalsozialistischem<br />

Zwang geänderten<br />

oder gelöschten Firmennamen<br />

(4. Rückstellungsgesetz)<br />

20. August 1947<br />

Im Wiener Wohnungsamt<br />

(➤ MA 52) wird ein Wiedergutmachungsreferat<br />

eingerichtet<br />

September 1947<br />

2. Opferfürsorgegesetz<br />

22. Juni 1949<br />

BG über die Rückstellung entzogenen<br />

Vermögens juristischer<br />

Personen des Wirtschaftslebens,<br />

die ihre Rechtspersönlichkeit<br />

unter nationalsozialistischem<br />

Zwang verloren haben<br />

(5. Rückstellungsgesetz)<br />

30. Juni 1949<br />

BG über die Rückstellung<br />

gewerblicher Schutzrechte<br />

(6. Rückstellungsgesetz)<br />

14. Juli 1949<br />

BG über die Geltendmachung<br />

entzogener oder nicht<br />

erfüllter Ansprüche aus<br />

Dienstverhältnissen in der<br />

Privatwirtschaft (7. Rückstellungsgesetz)<br />

10. September 1952<br />

Luxemburger Abkommen<br />

zwischen der Bundesrepublik<br />

Deutschland und Israel<br />

Ende Juni 1953<br />

Beginn der Verhandlungen<br />

zwischen dem ➤ Claims<br />

Committee und der österreichischen<br />

Bundesregierung über<br />

Entschädigungszahlungen<br />

29. Juni 1956<br />

➤ Bundesentschädigungsgesetz<br />

der Bundesrepublik<br />

Deutschland<br />

13. März 1957<br />

Gesetz über die Schaffung von<br />

Auffangorganisationen<br />

(Sammelstellen) gemäß Artikel<br />

26 § 2 des Staatsvertrages<br />

178 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


14. März 1957<br />

Generalamnestie für ehemalige<br />

NationalsozialistInnen<br />

25. Juni 1958<br />

Bundesgesetz über die Gewährung<br />

von Entschädigungen für durch<br />

Kriegseinwirkung oder durch<br />

politische Verfolgung erlittene<br />

Schäden an Hausrat und an zur<br />

Berufsausübung erforderlichen<br />

Gegenständen (Kriegs- und<br />

Verfolgungssachschädengesetz –<br />

KVSG)<br />

26. Juni 1958<br />

Versicherungsentschädigungsgesetz<br />

betreffend die Regelung<br />

vom Deutschen Reiche eingezogener<br />

Ansprüche aus Lebensversicherungen<br />

22. März 1961<br />

Bundesgesetz, womit Bundesmittel<br />

zur <strong>Bildung</strong> eines Fonds<br />

zur Abgeltung von Vermögensverlusten<br />

politisch Verfolgter<br />

zur Verfügung gestellt werden<br />

(Abgeltungsfondsgesetz)<br />

22. März 1961<br />

➤ 12. Novelle zum<br />

Opferfürsorgegesetz<br />

Juni 1961<br />

➤ Kreuznacher Abkommen<br />

zwischen der Republik Österreich<br />

und der Bundesrepublik<br />

Deutschland<br />

5. April 1962<br />

Gesetz über die Aufteilung der<br />

Mittel der ➤ „Sammelstellen“<br />

27. Juni 1969<br />

1. Kunst- und Kulturbereinigungsgesetz<br />

über die<br />

Bereinigung der Eigentumsverhältnisse<br />

des im Gewahrsam<br />

des Bundesdenkmalamtes befindlichen<br />

Kunst- und Kulturgutes<br />

13. Dezember 1985<br />

2. Kunst- und Kulturbereinigungsgesetz<br />

über die Herausgabe<br />

und Verwertung ehemals<br />

herrenlosen Kunst- und Kulturgutes,<br />

das sich im Eigentum des<br />

Bundes befindet<br />

1. Juni 1995<br />

Bundesgesetz zur Einrichtung<br />

des ➤ Nationalfonds der Republik<br />

Österreich für die Opfer des<br />

Nationalsozialismus<br />

Ende Oktober 1996<br />

Die Versteigerung der Sammlung<br />

Mauerbach bringt 122 Mio. Schil-<br />

ling Nettoerlös, der in einen<br />

Fonds zur Entschädigung von<br />

sozial bedürftigen NS-Opfern<br />

und deren Hinterbliebenen<br />

fließt<br />

30. November – 2. Dezember 1997<br />

➤ Londoner „Raubgold-Konferenz“<br />

über die Herkunft und<br />

den Verbleib des „Nazi-Raubgoldes“<br />

und den Umfang der<br />

bisher erfolgten Rückstellung<br />

Ende Dezember 1997/<br />

Anfang Jänner 1998<br />

Bei einer Ausstellung der Sammlung<br />

Leopold in New York<br />

werden zwei Schiele-Bilder<br />

unter dem Verdacht auf Raubkunst<br />

beschlagnahmt<br />

Mitte Jänner 1998<br />

Elisabeth Gehrer, Bundesministerin<br />

für Unterricht und kulturelle<br />

Angelegenheiten und zuständig<br />

für fast alle Bundesmuseen sowie<br />

das Denkmalamt, erteilt die<br />

mündliche Weisung, sämtliche<br />

Materialien über die Nazi- und<br />

Nachkriegszeit zu sichten. Beschluß<br />

der <strong>Bildung</strong> einer Kommission<br />

für Provenienzforschung<br />

13. März 1998<br />

Erste Sitzung der Kommission für<br />

Provenienzforschung<br />

März 1998<br />

Die österreichische P.S.K. beauftragt<br />

ein Historikerteam, den<br />

Vermögensentzug jüdischer<br />

KundInnen im „Postsparkassenamt“<br />

zu untersuchen<br />

August 1998<br />

Der US-Anwalt Ed Fagan kündigt<br />

mögliche Sammelklagen gegen<br />

österreichische Banken an<br />

29. September 1998<br />

Beschluss der Einsetzung einer<br />

Historikerkommission, die den<br />

Vermögensentzug und Vermögensvorenthalt<br />

auf dem Gebiet<br />

der Republik Österreich zwischen<br />

1938 und 1945 und die Rückstellungs-<br />

und Entschädigungspraxis<br />

der Zweiten Republik untersuchen<br />

soll<br />

30. September 1998<br />

Die „Vereinigung der durch das<br />

Dritte Reich geschädigten Polen“<br />

fordert von Österreich eine Entschädigung<br />

für die ehemaligen<br />

polnischen ZwangsarbeiterInnen<br />

in der „Ostmark“<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Oktober 1998<br />

Ed Fagan kündigt eine Sammelklage<br />

ehemaliger ZwangsarbeiterInnen<br />

gegen die VOEST Alpine<br />

Stahl und gegen Steyr-Daimler-<br />

Puch an<br />

November 1998<br />

Die VOEST-Alpine Stahl (VA Stahl)<br />

beauftragt ein Forschungsteam<br />

mit der Untersuchung der<br />

Zwangsarbeits-Problematik und<br />

der Unternehmensgeschichte<br />

während der NS-Zeit<br />

30. November – 2. Dezember 1998<br />

➤ Washingtoner Konferenz über<br />

„Vermögenswerte aus der Ära<br />

des Holocaust“ beschließt elf<br />

Prinzipien zur Rückstellung von<br />

Raubkunst<br />

4. Dezember 1998<br />

Bundesgesetz über die Rückgabe<br />

von Kunstgegenständen aus den<br />

österreichischen Bundesmuseen<br />

und Sammlungen<br />

9. Dezember 1998<br />

Einrichtung eines Rückgabe-<br />

Beirats für Kunstgegenstände,<br />

der nichtrückgestellte Objekte an<br />

die rechtmäßigen BesitzerInnen<br />

rückstellen soll<br />

20. Mai 1999<br />

Der Gemeinderat der Stadt Wien<br />

beschließt die Einrichtung einer<br />

eigenen Kommission, die über die<br />

Rückgabe von „arisierten“ und<br />

heute im Besitz der Stadt befindlichen<br />

Kunst- und Kulturgegenständen<br />

beraten soll<br />

1. Juli 1999<br />

Der Bundesverband der Israelitischen<br />

Kultusgemeinden<br />

Österreichs richtet eine Anlaufstelle<br />

für jüdische Opfer des<br />

Nationalsozialismus und deren<br />

Angehörige ein. Geplant ist<br />

die Erfassung geraubten und<br />

entzogenen Vermögens in einer<br />

Datenbank<br />

Juli 1999<br />

Versteigerung der aus österreichischen<br />

Bundesmuseen<br />

rückgestellten Gegenstände<br />

der Sammlung Rothschild in<br />

London<br />

179<br />

Zeittafel


Literatur zum Thema<br />

Alfred Ableitinger/Siegfried Beer/Eduard G.<br />

Staudinger (<strong>Hrsg</strong>.), Österreich unter alliierter Besatzung<br />

1945–1955, Böhlau Verlag, Wien 1998<br />

Thomas Albrich, Brichah. Fluchtwege durch<br />

Österreich, Campus Verlag, Frankfurt/M. 1997<br />

Gabriele Anderl/Hubertus Czernin,<br />

Das veruntreute Erbe. Der Kunstraub der Zweiten<br />

Republik, Molden Verlag, Wien 1998<br />

Gabriele Anderl/Walter Manoschek,<br />

Gescheiterte Flucht. Der jüdische „Kladovo-Transport”<br />

auf dem Weg nach Palästina 1939–1942,<br />

Döcker Verlag, Wien 1993<br />

Wolfgang Ayass, „Asoziale” im Nationalsozialismus,<br />

Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1995<br />

Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des<br />

Nationalsozialismus, Fischer TB Verlag,<br />

Frankfurt/M. 1998<br />

Peter Böhmer, Wer konnte, griff zu. „Arisierte”<br />

Güter und NS-Vermögen im Krauland-Ministerium<br />

(1945–1949), Böhlau Verlag, Wien 1999<br />

Hubertus Czernin, Die Auslöschung.<br />

Der Fall Thorsch, Molden Verlag, Wien 1998<br />

Fallstudie der Enteignung des Bankhauses Thorsch<br />

Matthias Dahl, Endstation Spiegelgrund.<br />

Die Tötung behinderter Kinder während des Nationalsozialismus<br />

am Beispiel einer Kinderfachabteilung in<br />

Wien 1940–1945, Edition Erasmus, Wien 1998<br />

Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />

Widerstandes (<strong>Hrsg</strong>.), Erzählte Geschichte.<br />

Berichte von Männern und Frauen in Widerstand und<br />

Verfolgung, Österreichischer Bundesverlag, Wien,<br />

Band 1: Arbeiterbewegung, 1985, Band 2:<br />

Katholiken, Konservative, Legitimisten, 1992,<br />

Band 3: Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten,<br />

1992<br />

Helga Embacher/Margit Reiter, Gratwanderungen.<br />

Die Beziehungen zwischen Österreich und Israel im<br />

Schatten der Vergangenheit, Picus Verlag,<br />

Wien 1998<br />

Helga und Hermann Fischer-Hübner, Die Kehrseite<br />

der „Wiedergutmachung”. Das Leiden von NS-<br />

Verfolgten in den Entschädigungsverfahren,<br />

Bleicher Verlag, Gerlingen 1990<br />

Hans Frankenthal, Verweigerte Rückkehr.<br />

Erfahrungen nach dem Judenmord, Fischer TB Verlag,<br />

Frankfurt/M. 1999<br />

Erinnerungen eines ehemaligen jüdischen Zwangsarbeiters<br />

an Verfolgung und Nachkriegszeit in<br />

Deutschland<br />

Florian Freund, Arbeitslager Zement.<br />

Das Konzentrationslager Ebensee und die<br />

Raketenrüstung, Döcker Verlag, Wien 1991,<br />

2. Aufl.<br />

Florian Freund/Bertrand Perz: Das KZ in der<br />

Serbenhalle. Zur Kriegsindustrie in Wiener Neustadt,<br />

Döcker Verlag, Wien 1988<br />

Grüner Parlamentsklub (<strong>Hrsg</strong>.), Die wirtschaftlichen<br />

Schäden der jüdischen Bevölkerung während des<br />

Nationalsozialismus, erscheint voraussichtlich im<br />

Herbst 1999<br />

Alois Kaufmann, Spiegelgrund Pavillon 18. Ein Kind<br />

im NS-Erziehungsheim, Döcker Verlag, Wien 1993<br />

Ernst Klee, „Euthanasie” im NS-Staat.<br />

Die Vernichtung „lebensunwerten” Lebens,<br />

Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 1997<br />

180 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Robert Knight (<strong>Hrsg</strong>.), „Ich bin dafür, die Sache in<br />

die Länge zu ziehen”. Wortprotokolle der<br />

österreichischen Bundesregierung von 1945-1952<br />

über die Entschädigung der Juden, Athenäum Verlag,<br />

Frankfurt/M. 1988, vergriffen; erscheint voraussichtlich<br />

im Herbst 1999 als korrigierte Neuauflage<br />

im Böhlau Verlag, Wien<br />

Walter Kohl, Die Pyramiden von Hartheim.<br />

„Euthanasie” in Oberösterreich, Edition der Heimat,<br />

Grünbach 1997<br />

Wolfgang Kos (<strong>Hrsg</strong>.), Inventur 45/55.<br />

Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik,<br />

Sonderzahl Verlag, Wien 1996<br />

Jonny Moser, Demographie der jüdischen<br />

Bevölkerung Österreichs 1938–1945, DÖW,<br />

Wien 1999<br />

Christine Oertel, Juden auf der Flucht durch Austria.<br />

Jüdische Displaced Persons in der US-Besatzungszone<br />

Österreichs, Eichbauer Verlag, Wien 1999<br />

Bertrand Perz, Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch<br />

und das Konzentrationslager Melk, Döcker Verlag,<br />

Wien 1991<br />

Romani Rose (<strong>Hrsg</strong>.), „Den Rauch hatten wir täglich<br />

vor Augen”. Der nationalsozialistische Völkermord<br />

an den Sinti und Roma, Wunderhorn Verlag,<br />

Heidelberg 1998<br />

Margarethe Ruff, Um ihre Jugend betrogen.<br />

Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg<br />

1942-1945, Vorarlberger Autoren Gesellschaft,<br />

Bregenz 1997, 2. aktual. Aufl.<br />

Claudia Schoppmann, Verbotene Verhältnisse.<br />

Frauenliebe 1938–1945, Querverlag,<br />

Berlin 1999<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999<br />

Margarete Schütte-Lihotzky, Erinnerungen aus<br />

dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer<br />

Architektin von 1938–1945, Promedia Verlag,<br />

Wien, Neuauflage 1998<br />

Friedrich Stadler/Peter Weibel (<strong>Hrsg</strong>.), Vertreibung<br />

der Vernunft. The Cultural Exodus from Austria,<br />

Springer Verlag, Wien/New York 1995,<br />

2. erweiterte Aufl.<br />

Ingrid Strobl, Die Angst kam erst danach.<br />

Jüdische Frauen im Widerstand 1939–1945,<br />

Fischer TB, Frankfurt/M. 1998<br />

Ingrid Strobl, „Sag nie, du gehst den letzten Weg”.<br />

Frauen im bewaffneten Widerstand gegen<br />

Faschismus und deutsche Besatzung,<br />

Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 1995<br />

Szabolcs Szita, Verschleppt, verhungert, vernichtet.<br />

Die Deportation von ungarischen Juden auf das<br />

Gebiet des annektierten Österreich 1944–1945,<br />

Eichbauer Verlag, Wien 1999<br />

Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer/Ernst<br />

Hanisch (<strong>Hrsg</strong>.), NS-Herrschaft in Österreich 1938–<br />

1945, Verlag für Gesellschaftskritik,<br />

Wien 1988, vergriffen; eine völlig überarbeitete und<br />

erweiterte Neuauflage erscheint voraussichtlich im<br />

Frühjahr 2000<br />

Wolfgang Wippermann, Wie die Zigeuner.<br />

Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich,<br />

Verlag Elefanten Press, Berlin 1997<br />

Leon Zelman, Ein Leben nach dem Überleben,<br />

aufgezeichnet von Armin Thurnher,<br />

Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1995<br />

181


Internet-Adressen<br />

www.derstandard.at<br />

Im Standard-Archiv findet man unter den Stichworten<br />

„Rückstellung“, „Raubkunst“ u. a. aktuelle Informationen<br />

und Artikelserien z.B. zum NS-Kunstraub.<br />

www.nzz.ch/online/02-dossiers<br />

Die Dossiers der Neuen Zürcher Zeitung bieten<br />

eingehende Informationen über die Einsetzung und<br />

Arbeit der Bergier-Kommission, die Schweiz im<br />

Zweiten Weltkrieg etc.<br />

www.historikerkommission.gv.at<br />

Die Homepage der Österreichischen Historikerkommission<br />

informiert über das Arbeitsprogramm der<br />

Kommission, über die Mitglieder der Kommission und<br />

den aktuellen Tätigkeitsstand.<br />

www.uek.ch<br />

Auf der Homepage der „Unabhängigen Expertenkommission<br />

Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ können<br />

Informationen zum Arbeitsprogramm, den Mitgliedern<br />

und die ersten Zwischenberichte abgerufen<br />

werden.<br />

www.wiesenthal.com<br />

Die Homepage des Simon Wiesenthal Centers in<br />

Los Angeles bietet u.a. eine Online-Tour durch das<br />

Museum der Toleranz in L.A. und ein Multimedia<br />

Learning Center mit Zeitungsartikeln, Bibliographien,<br />

Glossar und einer Liste grundsätzlicher Fragen zum<br />

Holocaust (in Englisch). Außerdem steht ein umfangreiches<br />

Online-Archiv von Originaldokumenten<br />

aus der NS-Zeit zur Verfügung.<br />

www.ushmm.org<br />

Das Holocaust Memorial Museum bietet eine<br />

Lernseite zum Thema Holocaust mit Begriffserklärungen<br />

und gibt Informationen zu den aktuellen Tätigkeiten<br />

mehrerer Dutzend Länder, darunter Österreich,<br />

bezüglich der Frage geraubter Vermögen von<br />

Holocaust-Opfern.<br />

www.state.gov/www/regions/eur/holocaust/<br />

hcac.html<br />

Dokumentiert den Verlauf der Washingtoner<br />

Konferenz über die „Vermögen der Holocaust-Ära“<br />

mit Länderberichten, Entschließungen u.a.<br />

user.berlin.de/˜berliner.geschichtswerkstatt<br />

Die Homepage eines Projekts über Zwangsarbeit in<br />

Deutschland bietet Literaturhinweise, ein Archiv<br />

von Biographien ehemaliger ZwangsarbeiterInnen,<br />

einen Pressespiegel zum Thema Entschädigung<br />

für Zwangsarbeit und Links zu zahlreichen Gedenkstätten<br />

in Deutschland.<br />

www.psk.co.at/report<br />

Auf der Homepage der P.S.K. ist der erste<br />

Zwischenbericht des Projekts zur Erfassung der<br />

Vermögenswerte jüdischer KlientInnen der<br />

österreichischen Postsparkasse abrufbar.<br />

www.hagalil.com<br />

Nachrichten aktuell – Judentum in Mitteleuropa.<br />

Bietet Hinweise auf kulturelle Veranstaltungen,<br />

Links zu aktuellen Zeitungsberichten und<br />

Berichte aus einzelnen Ländern, darunter aus<br />

Österreich.<br />

members.vienna.at/kreisky/naziartloot<br />

Auf der Homepage des Kreisky-Archivs kann<br />

man einen Artikel zum „NS-Kunstraub in Österreich“<br />

und eine Liste von während der NS-Zeit enteigneten<br />

Kunstobjekten abrufen, die bis heute verschollen<br />

sind.<br />

www.gruene.at<br />

Unter dem Stichwort „Kunstraub“ kann man die<br />

parlamentarische Anfrage der Grünen zur Herkunft<br />

von 241 enteigneten Kunstobjekten, die sich<br />

im Besitz der Österreichischen Bundesmuseen<br />

befinden, abrufen, und deren Beantwortung durch<br />

Bundesministerin Gehrer.<br />

182 <strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong><br />

Nr. 1 Osteuropa im Wandel (vergriffen)<br />

Nr. 2 Flucht und Migration<br />

Die neue Völkerwanderung (vergriffen)<br />

Nr. 3 Wir und die anderen<br />

Zur Konstruktion von Nation und Identität (vergriffen)<br />

Nr. 4 EG-Europa<br />

Fakten, Hintergründe, Zusammenhänge, 1992<br />

Nr. 5 Mehr Europa?<br />

Zwischen Integration und Renationalisierung, 1993<br />

Nr. 6 Veränderung im Osten<br />

Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 1993<br />

Nr. 7 Demokratie in der Krise?<br />

Zum politischen System Österreichs, 1994<br />

Nr. 8 ARBEITS-LOS<br />

Veränderungen und Probleme in der Arbeitswelt,1994<br />

Nr. 9 Jugend heute<br />

Politikverständnis, Werthaltungen, Lebensrealitäten, 1995<br />

Nr. 10 <strong>Politische</strong> Macht und Kontrolle. 1995/96<br />

Nr. 11 Politik und Ökonomie<br />

Wirtschaftspolitische Handlungsspielräume Österreichs, 1996<br />

Nr. 12 <strong>Bildung</strong> – ein Wert?<br />

Österreich im internationalen Vergleich, 1997<br />

Nr. 13 Institutionen im Wandel 1997<br />

Sonderband Wendepunkte und Kontinuitäten<br />

Zäsuren der demokratischen Entwicklung in der österreichischen Geschichte<br />

Nr. 14 Sozialpolitik im internationalen Vergleich 1998<br />

Nr. 15 EU wird Europa?<br />

Erweiterung – Vertiefung – Verfestigung 1998<br />

Sonderband Justiz – Recht – Staat 1999<br />

Sonderband Wieder gut machen?<br />

Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung und Restitution 1999<br />

Thema des nächsten Heftes<br />

Nr. 16 Politik und neue Medien<br />

Bestelladresse<br />

➤ StudienVerlag<br />

Amraser Straße 118, Postfach 104,<br />

A-6010 Innsbruck<br />

Tel.: 0512/39 50 45, Fax: 0512/39 50 45-15,<br />

E-Mail: Studienverlag@magnet.at<br />

➤ Bestelladresse für LehrerInnen<br />

(mit Schulstempel):<br />

BMUK, Abteilung <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong><br />

Minoritenplatz 5<br />

A-1014 Wien<br />

<strong>Forum</strong> <strong>Politische</strong> <strong>Bildung</strong> (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit,<br />

Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999<br />

Sonderband der Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>, Innsbruck–Wien–Bozen 1999


WIEDER<br />

GUT<br />

MACHEN?<br />

STUDIENVerlag<br />

Innsbruck-Wien<br />

ISBN 3-7065-1404-4<br />

ENTEIGNUNG<br />

ZWANGSARBEIT<br />

DIE VERGESSENEN OPFER<br />

RÜCKSTELLUNG UND ENTSCHÄDIGUNG<br />

HISTORIKERKOMMISSION<br />

GLOSSAR<br />

ZEITTAFEL<br />

LITERATUR ZUM THEMA<br />

INTERNET-ADRESSEN ZUM THEMA<br />

forumpolitischebildung (Hg.) Sonderband der Schriftenreihe Informationen zur <strong>Politische</strong>n <strong>Bildung</strong>

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