Helmut Lethen: Gelegentlich auf Wasser sehn. Benns Inseln (PDF)
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Die Insel West-Berlin<br />
Stoff für den Leviathan; er wird ihn ausspeien.» 11 Mit Benn, das<br />
steht für Jünger fest, ist kein Staat zu machen.<br />
Auch Thilo Koch, in den fünfziger Jahren Leiter der Abteilung<br />
Kulturelles beim NWDR Berlin, besucht Gottfried Benn oft in der<br />
Bozener Straße. Seine Schilderung bestätigt den Eindruck eines<br />
Mannes, der seine Insel nicht verlassen will. «Wenn er hinter<br />
seinem Schreibtisch saß, buddhahaft in sich versunken, den Blick<br />
unter schweren Lidern <strong>auf</strong> die über dem Bauch gefalteten Hände<br />
gerichtet, so stand doch ein kleiner Rundfunkempfänger in Reichweite.<br />
Aus vielen Bemerkungen entnahm ich, daß er <strong>auf</strong>merksam<br />
die RIAS-Nachrichten hörte und sich gern von Jazz und leichter<br />
Unterhaltungsmusik berieseln ließ.» 12<br />
Benn hatte keine Mühe, sich zu rechtfertigen. Es fehlt ihm nicht<br />
an Welt: «Ich drehe das Radio an und habe alles zur Hand.» Als<br />
Koch ihm von der Schwierigkeit berichtet, mehr Sendezeit für ihn<br />
herauszuholen, mahnt Gottfried Benn ihn zur Geduld. Er erinnert<br />
ihn an eine stoische Verhaltensregel: « ‹Das Abwartende pflegen<br />
und das Auswirkenlassen des Seins›, dies mein so geliebtes<br />
Wort von Lao-tse, nehmen Sie in sich <strong>auf</strong>. Oder wie der ‹Ptolemäer›<br />
sagt: ‹sich abfinden und gelegentlich <strong>auf</strong> <strong>Wasser</strong> <strong>sehn</strong>.› Vielleicht<br />
sind Sie noch zu jung und stürmisch dazu, aber versuchen<br />
Sie es als praktische Maxime.»<br />
<strong>Benns</strong> Spruch mag eine «Konfession des Lethargischen» 13 sein.<br />
Er hat sich oft genug <strong>auf</strong> seine «konstitutionelle Müdigkeit» berufen.<br />
Wer hätte sie so zum Klingen gebracht wie er in seiner 1954 er<br />
Melancholie:<br />
11 Genaueres zum Verhältnis<br />
von Schmitt, Jünger und Benn<br />
in: <strong>Helmut</strong> <strong>Lethen</strong>: Der<br />
Sound der Väter, Berlin 2006,<br />
S.237–259.<br />
12 Thilo Koch: Gottfried Benn<br />
und der Rundfunk, in:<br />
Gottfried Benn: Das Hörwerk<br />
1928–56, S. 50–63.<br />
13 Gottfried Benn:<br />
Der Ptolemäer, in: ders.:<br />
SW, Bd. 5, Stuttgart 1991,<br />
S. 14.<br />
«Was ist der Mensch – die Nacht vielleicht geschlafen,<br />
doch vom Rasieren wieder schon so müd,<br />
noch eh ihn Post und Telefone trafen,<br />
ist die Substanz schon leer und ausgeglüht [...]»<br />
Die Berliner <strong>Inseln</strong> des Nachkriegs-Benn sind Kneipen. Der alte<br />
Benn braucht diese Umgebung. Der Vorsatz «Nur nicht sich<br />
abschließen, sich immer zwischen den Dingen halten» führt ihn<br />
am liebsten in Lokale ordinärer Art. Er gliedert sich der Umwelt,<br />
die er beobachtet, ein. So entstehen auch Insel-Gedichte wie das<br />
Notturno aus dem Jahre 1950:<br />
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