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Architektur an der Schwelle: Das Siedle-Magazin

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<strong>Architektur</strong> <strong>an</strong> <strong>der</strong> <strong>Schwelle</strong> Mut<br />

„Hybrid” eingebürgert, den wir heute in <strong>der</strong> Autoindustrie<br />

(„Hybrid<strong>an</strong>trieb”) ebenso finden wie im H<strong>an</strong>del, wo m<strong>an</strong><br />

vom „hybriden Konsumenten” spricht – einem, <strong>der</strong> Luxusprodukte<br />

ohne zu zögern mit Discount­Ware kombiniert.<br />

Hier entstehen neue Märkte.<br />

Sp<strong>an</strong>nungsfel<strong>der</strong>, aus denen Hybride erwachsen, finden<br />

wir in unserer immer komplexeren Welt in zunehmen<strong>der</strong><br />

Zahl. Nehmen wir zum Beispiel die Sehnsucht nach Einfachheit,<br />

die sich heute im Erfolg <strong>der</strong> benutzerfreundlichen<br />

Produkte von Apple ebenso m<strong>an</strong>ifestiert wie im Zuspruch<br />

simplifizieren<strong>der</strong> politischer Argumente. Wir können diese<br />

Sehnsucht nur verstehen, wenn wir sie im Kontrast zum<br />

Megatrend Komplexität betrachten: Wo Fin<strong>an</strong>zsysteme,<br />

die elektronische Kommunikation o<strong>der</strong> das Bildungswesen<br />

immer unverständlicher werden, dürstet uns nach Übersicht<br />

und Verstehen.<br />

Nicht min<strong>der</strong> bedeutend ist ein weiteres Sp<strong>an</strong>nungsfeld.<br />

Vor rund zwei Jahrzehnten hat eine Entwicklung begonnen,<br />

die als R<strong>an</strong>dphänomen erst nur eine H<strong>an</strong>dvoll Exoten beschäftigte,<br />

heute aber Wirtschaft und Gesellschaft auf den<br />

Kopf stellt: die zunehmende Digitalisierung von Informationen<br />

und ihre immer bessere Verbreitung über elektronische<br />

Netze. Wer hätte vor zehn Jahren vermutet, dass Amazon<br />

<strong>der</strong>einst zu einem <strong>der</strong> größten Händler werden würde? Wer<br />

hätte geahnt, dass eine von unzähligen Freiwilligen unterhaltene<br />

Online­Enzyklopädie einmal ihre traditionsreichen<br />

Pend<strong>an</strong>ts auf Papier verdrängen würde? O<strong>der</strong> dass ein Internet­Unternehmen<br />

mit wenigen hun<strong>der</strong>t Mitarbeitern nahezu<br />

eine Milliarde Menschen mitein<strong>an</strong><strong>der</strong> verbinden und<br />

dafür <strong>an</strong> <strong>der</strong> Börse eine Bewertung von einigen Milliarden<br />

Dollar erzielen würde?<br />

Komplexe Systeme<br />

Die computergenerierten Illustrationen<br />

<strong>der</strong> österreichischen<br />

Künstlerin LIA basieren auf einem<br />

komplexen Algorithmus, <strong>der</strong><br />

zu überraschenden visuellen<br />

Ergebnissen führt.<br />

24<br />

Kein Zweifel, die technologische Revolution stellt <strong>der</strong>zeit<br />

vieles auf den Kopf, was uns als gewiss galt, von einfachen<br />

Geschäftsmodellen bis hin zu unseren Begriffen von<br />

Raum und Zeit. In diesem Zug werden auch die beiden Gegenspieler<br />

„Tr<strong>an</strong>sparenz” und „Privatheit” neu definiert.<br />

Gewisse Firmen kennen uns besser als unsere Mütter, wir<br />

entblößen Ged<strong>an</strong>ken und Körper auf eine ungek<strong>an</strong>nte<br />

Weise vor einem schier unendlich großen und weitgehend<br />

unbek<strong>an</strong>nten Publikum – und selbst das Wort „Freund”<br />

bedeutet seit Facebook nicht mehr das gleiche.<br />

Unsere Privatsphäre verän<strong>der</strong>t sich, und dies in zweierlei<br />

Hinsicht. Zum einen verschwindet sie, verkleinern sich jene<br />

Zonen, die nur uns gehören, auf die <strong>an</strong><strong>der</strong>e keinen Zugriff<br />

haben. Die Fingerabdrucknahme am Flughafen o<strong>der</strong> die im<br />

Internet und beim Einkaufen hinterlassenen Datenspuren<br />

erschweren uns die Geheimhaltung persönlicher Informationen<br />

und Bewegungen. Die Preisgabe von Privatem<br />

scheint <strong>der</strong> Preis für Sicherheit in einer gefährlichen Welt<br />

sowie für Nutzerkomfort d<strong>an</strong>k technischer Innovation.<br />

Gleichzeitig aber dehnt sich die Privatheit aus. Öffentliche<br />

und private Medienk<strong>an</strong>äle werden geflutet mit Intimem<br />

und Persönlichem. Die Dauerpräsenz von Privatem im<br />

öffent lichen Raum, in Reality­Fernsehformaten, auf Online­<br />

Video plattformen o<strong>der</strong>, altmodisch, in Klatschheftchen,<br />

lässt m<strong>an</strong>che Zeitzeugen von einer „Tyr<strong>an</strong>nei <strong>der</strong> Intimität”<br />

sprechen. Die neuen Immobilien, private wie kommerzielle,<br />

haben in den letzten Jahren auf Offenheit gesetzt und dies<br />

mit großen Fensterfronten, tr<strong>an</strong>sparenten Übergängen und<br />

dem Wunsch nach viel Licht umgesetzt. Doch jetzt wächst<br />

<strong>der</strong> Wunsch nach klaren Abgrenzungen und Eingrenzungen<br />

wie<strong>der</strong>: Mit Hilfskonstruktionen wie flexiblen Wänden<br />

o<strong>der</strong> mit Pfl<strong>an</strong>zen werden Schr<strong>an</strong>ken imitiert.<br />

Zweifellos befruchten sich diese beiden scheinbar gegensätzlichen<br />

Entwicklungen: Je mehr Intimes in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

verh<strong>an</strong>delt wird, desto kleiner werden die Räume, in<br />

welchen Privatheit tatsächlich gilt und respektiert wird. Es ist<br />

die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum, die<br />

sich verän<strong>der</strong>t und verwischt.<br />

Allerdings ist die Privatsphäre, <strong>der</strong>en Verschwinden heute so<br />

oft beklagt wird, ein Ideal <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In <strong>der</strong> Antike und im<br />

Mittelalter war die Überzeugung, dem Menschen stünde ein<br />

abgetrennter Raum für Eigenes zu, nicht in <strong>der</strong> heutigen Form<br />

vorh<strong>an</strong>den. So konnte eine Hochzeitsnacht im Mittelalter<br />

durchaus vor Publikum stattfinden, und Bedürfnis<strong>an</strong>stalten<br />

waren in <strong>der</strong> Antike auch Begegnungsorte. Auch die Pole<br />

„Intimität” und „Öffentlichkeit” haben sich im Verlauf <strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>te also offensichtlich verschoben.<br />

Gerade die letzten Beispiele zeigen deutlich, wie relativ<br />

unsere Vorstellungen sind und wie sehr sie durch den<br />

sozialen Kontext bestimmt werden. Denn <strong>der</strong> Mensch ist<br />

ein Beziehungswesen, seine Werte und Wünsche entstehen<br />

im Austausch mit Artgenossen. „Intimität” und „Öffentlichkeit”,<br />

„Tr<strong>an</strong>sparenz” und „Privatheit”, „Einfachheit”<br />

und „Komplexität”, „Sicherheit und „Freiheit” – sie alle be ­<br />

ruhen auf sich ständig w<strong>an</strong>delnden Konventionen. Und zwischen<br />

ihnen bauen sich immer neue Sp<strong>an</strong>nungsfel<strong>der</strong> auf.<br />

Die Welt <strong>der</strong> Fin<strong>an</strong>zen zeigt das wun<strong>der</strong>bar auf – Vermögensverwaltung,<br />

Fin<strong>an</strong>zierungsbewertungen. Bis vor kurzem<br />

war Diskretion ein wichtiger Wert, denn er st<strong>an</strong>d für Freiheit<br />

und Sicherheit zugleich. Heute weckt er eher die Verdächtigung,<br />

dass da undeklariertes Geld versteckt würde.<br />

Uns bleibt nur das Leben innerhalb dieser Sp<strong>an</strong>nungsfel<strong>der</strong>,<br />

es gibt kein Entwe<strong>der</strong>­O<strong>der</strong>, keinen Trade­Off. <strong>Das</strong> als<br />

„Flexicurity” bek<strong>an</strong>ntgewordene dänische Arbeitsmarktmodell<br />

mag dies verdeutlichen: Arbeitsverhältnisse können<br />

hier relativ rasch beendet werden, entsprechend ist<br />

ein hoher Prozentsatz <strong>der</strong> Dänen pro Jahr einmal kurze Zeit<br />

arbeitslos. Der Staat sorgt für Sicherheit und Erwerbsersatz<br />

in den Zwischenphasen. Diese Freiheit <strong>der</strong> Firmen zum<br />

„Hire <strong>an</strong>d Fire” lässt die Wirtschaft brummen. Und die Dänen<br />

sind in Umfragen regelmäßig unter den „glücklichsten”<br />

Nationen Europas.<br />

David Bosshart<br />

David Bosshart ist Geschäftsführer des Gottlieb­Duttweiler­Instituts<br />

für Wirtschaft und Gesellschaft in Rüschlikon/Zürich. Als Autor zahlreicher<br />

internationaler Publikationen ist <strong>der</strong> promovierte Philosoph<br />

ein gefragter Key­Note­Speaker in Europa, Amerika und Asien. Seine<br />

Arbeitsschwerpunkte sind Globalisierung und politische Philosophie,<br />

die Zukunft des Konsums und <strong>der</strong> gesellschaftliche W<strong>an</strong>del. Für <strong>Siedle</strong><br />

sprach David Bosshart exklusiv im Vorfeld <strong>der</strong> Light+Building zum<br />

Thema Sicherheit.

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