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Johannes Lepsius –<br />

Eine deutsche Ausnahme<br />

Der Völkermord an den Armeniern,<br />

Humanitarismus und Menschenrechte


Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme<br />

Der Völkermord an den Armeniern,<br />

Humanitarismus<br />

und Menschenrechte<br />

Herausgegeben von<br />

Rolf Hosfeld


In Memoriam<br />

Hermann Goltz<br />

1946 – 2010


Inhalt<br />

Zu diesem Buch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

Rolf Hosfeld<br />

Johannes Lepsius<br />

Eine deutsche Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

M. Rainer Lepsius<br />

Johannes Lepsius’ politische Ansichten. . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

Hans-Lukas Kieser<br />

Nahostmillenarismus, protestantische Internationale<br />

und Johannes Lepsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />

Manfred Aschke<br />

Christliche Ethik und Politik<br />

Johannes Lepsius über die Gebote der Bergpredigt<br />

und die legitimen sozialen Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

Manfred Gailus<br />

»Ein Feld weiß und reif zu einer Geistesernte liegt vor uns!«<br />

Deutsche Protestanten im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . 95<br />

Ulrich Sieg<br />

Deutsche Intellektuelle und ihre Haltung<br />

zu Armenien im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110<br />

Margaret Lavinia Anderson<br />

Helden in Zeiten eines Völkermords<br />

Armin T. Wegner, Ernst Jäckh, Henry Morgenthau . . . . . . . . 126<br />

Axel Meissner<br />

Das Armenische Hilfswerk von Johannes Lepsius.<br />

Umfang und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172<br />

Christian Schneebeck<br />

Die Armenierhilfe zwischen nationalen Interessen<br />

und internationaler Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197<br />

5


inhalt<br />

Aschot Hayruni<br />

Johannes Lepsius’ armenische Verbindungen . . . . . . . . . . . . 207<br />

Gabriel Goltz<br />

Von Potsdam nach Plovdiv<br />

Die Islam-Mission als Aufgabe der Deutschen Orient-Mission . . . 227<br />

Rolf Hosfeld<br />

Ein Völkermordprozess wider Willen . . . . . . . . . . . . . . . . 248<br />

Manfred Aschke<br />

Das menschenrechtliche Vermächtnis von Johannes Lepsius . . . 258<br />

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272<br />

Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273<br />

Lebenslauf Johannes Lepsius<br />

(1858-1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277<br />

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279<br />

6


Zu diesem Buch<br />

Der Theologe Johannes Lepsius (1858-1926) war ein aktiver Menschenrechtler<br />

aus christlicher Überzeugung und der international erste bedeutende<br />

Dokumentarist des Genozids an den Armeniern im Ersten Weltkrieg.<br />

Einem größeren Publikum bekannt wurde er als authentische Figur<br />

in Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh. Es ist in erster<br />

Linie der Initiative von Hermann Goltz (1946-2010) zu verdanken, dass<br />

die Grundrisse seiner gesamten Lebensleistung einer interessierten wissenschaftlichen<br />

Öffentlichkeit vorgestellt werden konnten. Ein wichtiges<br />

Datum war eine Konferenz, die er bereits 1986 an der Martin-Luther-<br />

Universität Halle-Wittenberg unter nicht ganz leichten Rahmenbedingungen<br />

ausgerichtet hat. 1 Unschätzbar sind auch die großen Leistungen von<br />

Hermann Goltz und Axel Meissner bei der detaillierten wissenschaftlichen<br />

Erschließung und Kommentierung des Nachlasses von Johannes Lepsius,<br />

2 der sich jetzt im Potsdamer Lepsiushaus befindet. Uwe Feigel und<br />

Axel Meissner haben mit ihren Dissertationen über das evangelische<br />

Deutschland und die Armenierfrage 3 sowie über Martin Rade 4 Wichtiges<br />

zum Verständnis des Umfelds von Lepsius beigetragen. Aschot Hayruni<br />

hat nach intensivem Quellenstudium, vor allem im Johannes-Lepsius-<br />

Archiv, eine umfangreiche armenische Monographie verfasst. 5 Andreas<br />

Baumann hat in einer biographisch angelegten Dissertation die theologischen<br />

Grundlagen seines Handelns erforscht, 6 Gabriel Goltz sein reflektiertes<br />

Verhältnis zum Islam. 7 Manfred Aschke, Olaf Glöckner, Hans-<br />

Lukas Kieser, Mario Rainer Lepsius und andere haben in Vorträgen im<br />

Potsdamer Lepsiushaus einzelne Aspekte beleuchtet. Mehrere akademi-<br />

1 Hermann Goltz (Hg.), Akten des internationalen Dr.-Johannes-Lepsius-Symposiums<br />

1986 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle 1986.<br />

2 Hermann Goltz, Alex Meissner (Hg.), Deutschland, Armenien und die Türkei<br />

1895-1925, Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv,<br />

3 Teile, München 1998-2004.<br />

3 Uwe Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien, Göttingen 1989.<br />

4 Axel Meissner, Martin Rades »Christliche Welt« und Armenien. Bausteine für<br />

eine internationale Ethik des Protestantismus, Berlin 2010.<br />

5 Aschot Hayruni: Die Mission des Johannes Lepsius. Eriwan 2002 (armenisch).<br />

6 Andreas Baumann, Der Orient für Christus: Johannes Lepsius – Biographie und<br />

Missiologie, Gießen 2007.<br />

7 Gabriel Goltz, Eine christlich-islamische Kontroverse um Religion, Nation und<br />

Zivilisation. Die osmanisch-türkischen Periodika der Deutschen Orient-Mission<br />

und die Zeitung Balkan in Plovdiv, 1908-1911, Göttingen 2002.<br />

7


zu diesem buch<br />

sche Abschlussarbeiten sind in den letzten Jahren im Archiv des Lepsiushauses<br />

entstanden, unter anderem über die deutsche humanitäre Hilfe im<br />

Osmanischen Reich.<br />

Viele wichtige Fragen, seine Person betreffend, sind aber noch nicht in<br />

der Tiefe und im Detail erforscht. Das betrifft Fragen der Zusammenhänge<br />

zwischen seinen sehr eigenständigen theologischen Ansichten und<br />

seinen ethisch-politischen Positionen, die Spannung von Nationalismus<br />

und Internationalismus, der er ausgesetzt war, sein Verhältnis zum Islam,<br />

das ganze Netzwerk seiner humanitären Hilfe für die Armenier, das Netzwerk<br />

seiner politischen Verbindungen, bis in die internationale Politik,<br />

das Auswärtige Amt und armenische Kreise, Aspekte seiner Haltung zur<br />

wilhelminischen Politik, seine Hoffnung auf eine pazifizierende Wirkung<br />

des deutschen Rechtsstaats im Orient, seine Haltung zum Versailler Vertrag<br />

ebenso wie sein zuletzt mitunter resignatives Verhältnis zur Weimarer<br />

Republik. Einiges dazu sollen die Aufsätze in diesem Buch beitragen,<br />

die im Wesentlichen aus Vorträgen zu einer internationalen Konferenz<br />

des Lepsiushauses im September 2012 an der Universität Potsdam hervorgegangen<br />

sind. Sie thematisieren Aspekte seines Lebens, Denkens und<br />

Handelns sowie das Umfeld, in dem er sich bewegte und zu dem er in<br />

Beziehung zu setzen ist. Unter den Protestanten und intellektuellen<br />

Wortführern im Ersten Weltkrieg zählte Lepsius zu den großen Ausnahmen.<br />

Er dachte und handelte angesichts von Menschheitsverbrechen wie<br />

dem Völkermord an den Armeniern als bekennender Christ, der bereit<br />

war, ethisch-internationalistische und menschenrechtliche Beweggründe<br />

über die Staatsräson des Deutschen Reichs zu stellen.<br />

Potsdam, im Frühjahr 2013<br />

8


Johannes Lepsius<br />

Eine deutsche Ausnahme<br />

Rolf Hosfeld<br />

In der New York Tribune konnte man Ende Juli 1919 unter der Überschrift<br />

»Another Chapter in Germany’s Confession of Turkish Guilt«<br />

die folgenden, für viele amerikanische Leser unerwarteten Sätze lesen:<br />

No more powerful indictment of Turkey’s crimes in Armenia appeared<br />

during the war than that presented by a German writer, Dr. Johannes<br />

Lepsius, chairman of the German Orient Mission and the German-<br />

Armenian Society. Dr. Lepsius has investigated the Armenian persecutions<br />

on the spot and incorporated his findings in a report entitled<br />

»Die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei«, published secretly<br />

at Potsdam in 1916. 1<br />

Während des ganzen Krieges, heißt das, frei übersetzt, gab es keinen mächtigeren<br />

Beweis für die türkischen Verbrechen in Armenien als jene, die<br />

der deutsche Schriftsteller sowie Vorsitzende der Deutschen Orient-<br />

Mission und der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, Dr. Johannes Lepsius,<br />

persönlich vor Ort untersucht und 1916 heimlich, d. h. an der Zensur<br />

vorbei, in Potsdam unter dem Titel Bericht über die Lage des<br />

Armenischen Volkes in der Türkei ver öffentlicht hat.<br />

Amerika hatte sich 1919 noch nicht aus der Weltpolitik zurückgezogen,<br />

was zum Unheil Europas und übrigens auch der armenischen Frage im<br />

Frühjahr 1920 geschah, als der Senat in Washington den Versailler Friedensvertrag<br />

endgültig ablehnte und sich durch dieses Votum auch nicht<br />

am Völkerbund beteiligte. Noch residierte Präsident Woodrow Wilson<br />

im Weißen Haus, der mit der Devise »the war to end all wars« Anfang<br />

April 1917 in den Weltkrieg eingetreten war. Wilson wollte die Nachkriegswelt<br />

auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts und eines<br />

Bundes der Völker »sicher für die Demokratie« machen. Gerechtigkeit für<br />

das armenische Volk, das seit 1915 Opfer einer systematischen Vernichtungspolitik<br />

durch die osmanischen Behörden geworden war, spielte in<br />

dieser Vision, anfangs zumindest, eine nicht unerhebliche Rolle. Die USA<br />

wollten bis zu ihrem unerwarteten Rückzug aus der Weltpolitik sogar<br />

eine Art Mandat über Armenien übernehmen und sandten deshalb 1919<br />

General James G. Harbord mit einer Militärmission in die verwüsteten<br />

1 Another Chapter in Germany’s Confession of Turkish Guilt, in: New York Tribune,<br />

27.7.1919. PA-AA R 14106.<br />

9


olf hosfeld<br />

armenischen Siedlungsgebiete der heutigen Osttürkei. Armenien war 1919<br />

in Amerika ein öffentliches Thema wie in kaum einem anderen Land.<br />

Dass die bedeutendste Anklage gegen das dort begangene Staatsverbrechen<br />

aber ausgerechnet von einem Deutschen kam – das Deutsche Reich<br />

war bekanntermaßen im Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet<br />

–, wird den Leser der New York Tribune überrascht haben.<br />

Johannes Lepsius, las man dort, verurteilte schon während des Krieges<br />

die deutsche Zensur und demonstrierte damit implizit eine deutsche Mitschuld<br />

an den Vorgängen in der Türkei, zumindest in moralischer Hinsicht.<br />

Wieso, fragte sich dieser Mann, durfte man angesichts der ungeheuerlichen<br />

Verbrechen im Machtbereich eines militärischen Bündnispartners<br />

eigentlich nicht die Wahrheit sagen »Halbwahre Dinge zu sagen, hat<br />

keinen Wert«, schrieb Lepsius 1916 in dem erwähnten Bericht und schloss<br />

das Buch mit dem bemerkenswerten und klarsichtigen Satz: »Die moralischen<br />

Folgen der armenischen Massakers und Deportationen werden<br />

erst nach dem Kriege fühlbar werden«. 2<br />

Es gab während des Ersten Weltkriegs viele andere Publikationen zu<br />

diesem Thema. Amerikanische Zeitungen berichteten seit 1915 über die<br />

Vorgänge in der Türkei. 1916 erschien in London James Bryce’ The Treatment<br />

of the Armenians in the Ottoman Empire, 1915-1916, eine umfangreiche<br />

Dokumentensammlung mit erschütternden Augenzeugenberichten<br />

und einem analytischen Beiwort des damals noch ganz jungen<br />

Historikers Arnold Toynbee. Lepsius’ Buch aber war, nimmt man die<br />

New York Tribune beim Wort, »more powerful«. Es war politischer. Es<br />

war mutiger. Lepsius zitierte in seinem Bericht sogar Verlautbarungen,<br />

die nach den üblichen Maßstäben des Krieges eigentlich als Feindpropaganda<br />

zu gelten hatten. Zum Beispiel die folgende Erklärung der Ententemächte<br />

vom 24. Mai 1915:<br />

In Anbetracht dieses neuen Verbrechens gegen Menschlichkeit und<br />

Zivilisation geben die alliierten Regierungen der Hohen Pforte öffentlich<br />

bekannt, daß sie alle Mitglieder der türkischen Regierung sowie diejenigen<br />

ihrer Beauftragten, die an solchen Massenmorden beteiligt sind, in<br />

Person verantwortlich machen. 3<br />

Vor allem aber, so das Urteil des amerikanischen Korrespondenten, zeichnete<br />

sich der Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei<br />

durch eine bewundernswerte analytische Klarheit aus.<br />

2 Johannes Lepsius, Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei,<br />

Potsdam 1916, S. 297.<br />

3 Ebd., S. 200.<br />

10


johannes lepsius. eine deutsche ausnahme<br />

Die Verfolgung und Vernichtung der osmanischen Armenier, so Lepsius,<br />

hatte nicht einmal im Ansatz etwas mit kriegsbedingten militärischen<br />

Maßnahmen zu tun. Etwa Maßnahmen eines in totaler Härte geführten<br />

Krieges, wie sie auch deutschen militärischen Planern vorschwebten, als<br />

es darum ging, in Osteuropa durch die Deportation der polnischen<br />

Grenzbevölkerung eine »völkische Militärgrenze« gegen die Russen einzurichten.<br />

4 In Wirklichkeit, so Lepsius, konnte man in der Türkei jedoch<br />

etwas beobachten, was es in der Geschichte bisher noch nicht gegeben<br />

hatte: das unter dem Deckmantel des Krieges vollzogene Menschenexperiment<br />

einer innenpolitischen Apokalypse. »Die einzige Erklärung, welche<br />

die Maßregel der Behörden nicht als eine sinnlose Handlung erscheinen<br />

läßt«, heißt es in seinem Bericht von 1916, »bietet die Annahme, daß<br />

es sich um die Durchführung eines innerpolitischen Programms handelte,<br />

das sich mit kalter Überlegung und Berechnung die Vernichtung des armenischen<br />

Volkselements zur Aufgabe machte.« 5 Das war, mitten im<br />

Krieg, ein ungewöhnlich klares und alle Konventionen der sogenannten<br />

Heimatfront und des Burgfriedens herausforderndes Urteil über einen<br />

militärischen Verbündeten.<br />

Johannes Lepsius stammte aus dem gehobenen Berliner Bildungsbürgertum<br />

mit exzellenten Beziehungen zu wichtigen Kreisen von Politik, Wissenschaft,<br />

Kirche und Hof. Seine Mutter, eine Tochter des Komponisten<br />

Bernhard Klein und der Schriftstellerin Lilly Parthey, unterhielt in der<br />

Bendlerstraße einen der letzten Berliner Salons von Rang. Ihr Urgroßvater<br />

war der mit Moses Mendelssohn befreundete Aufklärer und Verleger<br />

Friedrich Nicolai. Johannes Lepsius’ Vater Carl Richard war in den vierziger<br />

Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der Leiter einer vier Jahre dauernden<br />

preußischen Ägyptenexpedition und der eigentliche Begründer der<br />

deutschen Ägyptologie. Dass Johannes Lepsius nach vollendetem Theologiestudium<br />

1884 als Hilfsprediger und Lehrer nach Jerusalem ging, lag<br />

ganz auf der Linie der auf den Orient gerichteten Interessen, mit denen er<br />

von Kindheit an konfrontiert war. In Jerusalem, wo er seine in Nazareth<br />

geborene spätere Frau Margarethe kennenlernte, begegnete ihm zum ersten<br />

Mal die Realität des osmanischen Vielvölkerstaats, dessen Probleme sein<br />

Leben bestimmen würden. Palästina war ein kleiner Vielvölkerkosmos<br />

für sich. Muslimische und christliche Araber lebten in dieser osmanischen<br />

Provinz, Juden, Armenier, Türken, Griechen und Europäer. 6<br />

4 Wolfgang J. Mommsen, Der »polnische Grenzstreifen«. Anfänge der »völkischen<br />

Flurbereinigung« und der Umsiedlungspolitik, in: Ders., Der Erste Weltkrieg.<br />

Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2004, S. 118-136.<br />

5 Lepsius, 1916, a.a.O., S. 217.<br />

6 Hermann Goltz, Pfarrer D. Dr. Johannes Lepsius (1858-1926) – Helfer und<br />

Anwalt des armenischen Volkes, in: Akten des internationalen Dr.-Johannes-<br />

11


olf hosfeld<br />

Dieses Umfeld prägte Johannes Lepsius mehr noch als sein Elternhaus.<br />

Der Orient galt den Zeitgenossen schon länger als die eigentliche Wiege<br />

der Kultur. Palästina im Besonderen aber war vor allen Dingen das Land<br />

der Bibel, und auch das fand zunehmend Aufmerksamkeit. Lepsius kam<br />

hier in Kontakt mit Kreisen, die der Schweizer Orientalist und Historiker<br />

Hans-Lukas Kieser – dem wir im Übrigen auch die erste große vergleichende<br />

Darstellung vom Genozid an den Armeniern und der Shoah verdanken<br />

7 – das informelle Netzwerk einer »Protestantischen Internationale«<br />

genannt hat. Von einem wiedergeborenen Nahen Osten sollte sich<br />

nach ihrer Vorstellung der Frieden weltweit ausbreiten. 8 Lepsius’ späteres<br />

lebhaftes Interesse für Theodor Herzls Zionistenbewegung würde noch<br />

von diesem frühen Impuls zehren. Politisch waren sie meist angelsächsisch<br />

beeinflusste progressive Liberale. Ein funktionierender osmanischer<br />

Rechts staat, der auch den Christen und Juden bürgerrechtliche Gleichheit<br />

und Sicherheit bot, sollte die Voraussetzung dafür sein, dass ihre Visionen<br />

in Erfüllung gehen konnten. Johannes Lepsius entwickelte sich, so Kieser,<br />

in diesem Milieu schnell zu einem »von der Protestantischen Internationale<br />

und ihrer Nahostmission inspirierten, neupietistischen und liberalen<br />

lutheranischen Christen«. 9 Das hieß, um es in eine zeitangemessene<br />

Denkweise zu übersetzen, politische Verantwortung aus frommer Gesinnung<br />

im Zweifelsfall auch gegen nationale Obrigkeiten wahrzunehmen<br />

und sich nicht in machtgeschützte Innerlichkeit zurückzuziehen.<br />

Zehn Jahre später – er war nach seiner Jerusalemer Zeit seit 1886 Pfarrer<br />

im mansfeldischen Friesdorf – zog es ihn wieder in den Orient. Alle<br />

Hoffnungen auf einen osmanischen Rechtsstaat waren durch Nachrichten<br />

von unvorstellbaren Massakern in den armenischen Gebieten Anatoliens,<br />

die seit 1894 die europäische Öffentlichkeit erreichten, plötzlich<br />

zunichtegemacht. Lepsius fasste den Entschluss, eine eigene Erkundungsreise<br />

zu unternehmen. Die Impulse der protestantischen Interna tionale,<br />

die er in Palästina empfangen hatte, wurden nun zum ersten Mal politisch<br />

wirksam.<br />

Im Frühjahr 1896 befand sich Johannes Lepsius auf dem Weg zu einer<br />

Informationsreise in die Türkei. »Als aus den englischen Zeitungen Be-<br />

Lepsius-Symposiums 1986 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,<br />

S. 27 ff.<br />

7 Hans-Lukas Kieser, Dominik Schaller (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern<br />

und die Shoah / The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002.<br />

8 Hans-Lukas Kieser, Nearest East. American Millenialism and the Mission to the<br />

Middle East, Philadelphia 2010, S. 3.<br />

9 Hans-Lukas Kieser, Johannes Lepsius, Orientmissionar. Annäherung an eine deutsche<br />

protestantische Biografie der Belle Epoque. www.lepsiushaus-potsdam.de,<br />

Aktivitäten/Publikationen.<br />

12


johannes lepsius. eine deutsche ausnahme<br />

richte nach Deutschland kamen, die den schauderhaften Umfang und den<br />

bestialischen Charakter der Blutbäder nicht mehr verschwiegen«, erinnert<br />

er sich später, »schrie die deutsche Presse wie mit einem Munde: Englische<br />

Lügen! Englische Lügen!« 10 Der preußische Generalstabsoffizier<br />

und Marschall Colmar von der Goltz zum Beispiel, der zwölf Jahre als<br />

Reorganisator der osmanischen Armee im Orient tätig war und insofern<br />

als Autorität galt, sprach in der Kölnischen Zeitung von »Schauergeschichten«.<br />

11 Solchen Bewertungen wollte Lepsius das eigene Urteil entgegensetzen.<br />

Nach seiner Rückkehr reiste Lepsius wochenlang mit Vorträgen über<br />

die unter der armenischen Bevölkerung verübten Massaker durch Deutschland.<br />

Am 12. August 1896 erscheint der erste Artikel seiner Serie Die<br />

Wahrheit über Armenien in der Zeitung Der Reichsbote. Im Herbst<br />

kommt sein Buch Armenien und Europa heraus, das bis 1897 sieben Auflagen<br />

erreicht und eine erhebliche Öffentlichkeitswirkung entfaltet.<br />

Die Schrift wurde bald ins Englische, Französische und partiell auch ins<br />

Russische übersetzt. Lepsius wurde über Nacht eine international respektierte<br />

Persönlichkeit. Doch das politische Europa verhielt sich merkwürdig<br />

still in dieser Zeit, das meinte auch der britische Liberale und ehemalige<br />

Premier William Ewart Gladstone, als er sich zu einem persönlichen<br />

Dankschreiben an Lepsius veranlasst sah, in dem er dem »Autor des<br />

wertvollen Buchs über die Massaker an den Armeniern, das mir selbst von<br />

großem Nutzen war«, seinen persönlichen Respekt bekundete. Das von<br />

imperialen Großmachtinteressen statt von politisch-moralischen Maßstäben<br />

geleitete Bild, das die Regierungen Europas über die Massaker verbreiteten,<br />

so Gladstone in Übereinstimmung mit Lepsius, sei »eine der<br />

traurigsten, wenn nicht die traurigste Tatsache dieser Zeit.« 12<br />

Diese Apokalypse war ein schwerer Schlag für die Träume der protestantischen<br />

Internationale. Sie war zugleich die Geburtsstunde einer großen<br />

internationalen Menschenrechtsbewegung, in der Amerika und die amerikanischen<br />

Missionare eine herausragende Rolle spielten. Johannes Lepsius<br />

selbst ging es zunächst darum, die Überlebenden – meist Frauen und<br />

Waisenkinder – zu retten und so die Grundlagen für eine Wieder geburt<br />

10 Johannes Lepsius, 30 Jahre Deutscher Orient-Mission. Meine erste armenische<br />

Reise 1897, in: OLDOM 11/12 (1925), S. 129-134, S. 130.<br />

11 Colmar Frhr. von der Goltz, Die Ereignisse in Talory (Sassun), in: Kölnische<br />

Zeitung, 2. Beilage zur Sonntagsausgabe, Nr. 168, 24. Februar 1895.<br />

12 William Ewart Gladstone an Johannes Lepsius, 25.7.1897, in: Hermann Goltz,<br />

Axel Meissner (Hg.), Deutschland, Armenien und die Türkei 1895-1926. Dokumente<br />

und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv, Teil 1: Katalog,<br />

München 1998 (im Folgenden: LAP + Katalognummer), Katalognummer 157-<br />

1710.<br />

13


olf hosfeld<br />

des dezimierten armenischen Volkes zu schaffen. Auf seiner Reise durch<br />

Anatolien gründete er 1896 mit Hilfe amerikanischer Missionare in Urfa<br />

die erste Niederlassung des künftigen Lepsius-Hilfswerks.<br />

Er wusste aber, dass größere Mittel nur aufgebracht werden konnten,<br />

wenn man zuvor die Öffentlichkeit mit unanfechtbaren Informationen<br />

über die wirklichen Vorgänge im Osmanischen Reich versorgte und die<br />

Legende von den »englischen Lügen« in der deutschen Öffentlichkeit<br />

widerlegt war. Insofern diente seine Publikationstätigkeit auch dem ganz<br />

praktischen Zweck, einer proarmenischen Bewegung im Deutschen Reich<br />

Hebammenarbeit zu leisten. Im Unterschied zu den vielfältigen Hilfsaktivitäten,<br />

die damals auch weite Teile der evangelischen Gemeinschaftsbewegung<br />

erfassten, verstand Lepsius seine Arbeit jedoch von Anfang an<br />

ausgesprochen politisch.<br />

Adolf Stoeckers Deutsche Evangelische Kirchenzeitung warf ihm vor,<br />

dabei politisch wie theologisch von englischen Einflüssen abhängig zu<br />

sein, 13 wie generell die antibritische Stimmung damals bemerkenswert<br />

zunahm. Das preußische Innenministerium intervenierte. Es störte, dass<br />

er sich nicht auf die karitative Linderung der Not vor Ort beschränkte,<br />

sondern zugleich die Großmächte vehement öffentlich kritisierte. Er<br />

konnte zudem, bedingt durch eine intensive Beschäftigung mit der Kunst<br />

des Schauspiels seit seiner Studentenzeit – er selbst hat im Lauf seines<br />

Lebens sechs Theaterstücke verfasst –, als charismatischer Redner sein<br />

Auditorium in seinen Bann ziehen. Für Max von Baden, der ihn für einen<br />

begnadeten Propagandisten hielt, verkörperte er den Typus eines Gelehrten<br />

mit der Seele eines Künstlers und Missionars, der Schrift und Rede<br />

wie kaum ein Zweiter beherrschte. 14 Auch das störte. Johannes Lepsius<br />

war, wie sein französischer Zeitgenosse Émile Zola, ein öffentlicher Ankläger,<br />

der auf die politische Macht des Wortes vertraute. 15<br />

Die evangelische Amtskirche, entsetzt über die Angriffe, die in Lepsius’<br />

Publikationen und Vorträge erhoben wurden, unternahm den entscheidenden<br />

Schritt. Sie verweigerte ihm einen längeren Urlaub für seine proarmenische<br />

Tätigkeit und handelte dabei, wie Martin Rade – der linksliberale<br />

Herausgeber der Christlichen Welt – feststellte, keineswegs aus<br />

kirchlich-evangelischen Erwägungen heraus, sondern vielmehr durchsich-<br />

13 Uwe Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien, Göttingen 1989, S. 52.<br />

14 Prinz Maximilian von Baden, The Memoirs of Prince Max of Baden, Vol. 1, hrsg.<br />

v. William M. Calder, C. W. H. Sutton, New York 1928, S. 80.<br />

15 Hans-Lukas Kieser, Zion – Armenien – Deutschland. Johannes Lepsius und die<br />

»protestantische Internationale« in der spätosmanischen Welt, in: Armenisch-<br />

Deutsche Korrespondenz, 143 (Jan. 2009), Heft 1, S. 15-21, und 145 (Aug. 2009),<br />

Heft 3, S. 21-28, auch unter: www.lepsiushaus-potsdam.de; Publikationen.<br />

14


johannes lepsius. eine deutsche ausnahme<br />

tig politisch wie eine Staatsbehörde. 16 Lepsius zog die einzig mögliche<br />

Konsequenz, die für ihn denkbar war. Er kündigte. Der ehemalige evangelische<br />

Pfarrer Dr. Johannes Lepsius war von nun an bis an sein Lebensende<br />

freiberuflicher Organisator einer – wie man heute sagen würde –<br />

NGO, einer Non Governmental Organisation.<br />

Er musste die Erfahrung machen, dass die damit verbundenen Mühen<br />

der Ebene seine äußersten Kräfte beanspruchten. An der prekären Lage<br />

der Armenier im Osmanischen Reich änderte sich nichts, und Lepsius<br />

wurde nicht müde, in seiner Zeitschrift Der Christliche Orient immer<br />

wieder darauf hinzuweisen. 1902 sprach der sozialdemokratische Veteran<br />

Eduard Bernstein auf einer Großversammlung in Berlin unter Berufung<br />

auf Johannes Lepsius die Befürchtung aus, dass die Massaker von 1895/96<br />

vielleicht nur der Auftakt zu einem langsamen, aber zielbewusst geführten<br />

Vernichtungskampf waren, und verlangte von Deutschland in dieser Frage<br />

– wie er es nannte – die Entschiedenheit einer »freiheitlichen« Außenpolitik.<br />

17 Die jungtürkische Verfassungsrevolution von 1908 ließ zwar<br />

einige Hoffnungen aufkommen, aber schon das darauffolgende Jahr erlebte<br />

Armenierpogrome in der Gegend von Adana mit mehr als 20 000 Toten.<br />

Dann kamen die verheerenden Balkankriege. Hunderttausende von muslimischen<br />

Flüchtlingen überschwemmten Anatolien und wurden meist in<br />

den von Armeniern bewohnten Gebieten angesiedelt. 1913 etablierte sich<br />

in Istanbul die erste Einparteiendiktatur der modernen Geschichte, 18 was<br />

eine Militarisierung und Türkisierung des öffentlichen Lebens zur Folge<br />

hatte. Das Osmanische Reich, immer noch weit davon entfernt, ein funktionierender<br />

Rechtsstaat zu sein, befand sich zu dieser Zeit in einem<br />

äußerst labilen Zustand, als sich in Berlin ein Armenian Turn in der Politik<br />

andeutete. Deutschland und Russland engagierten sich gemeinsam auf<br />

diplomatischer Ebene für Reformen in den armenischen Provinzen der<br />

Türkei, die endgültig das Versagen von 1895 korrigieren sollten, und übten<br />

entsprechenden Druck auf die zu dieser Zeit wegen der Balkankriege zu<br />

16 Axel Meissner, Martin Rades »Christliche Welt« und Armenien. Bausteine für<br />

eine internationale Ethik des Protestantismus, Berlin 2010, S. 111.<br />

17 Bernstein nahm ausführlich Bezug auf Lepsius’ Armenien und Europa und forderte<br />

dazu auf, die Stimme zu erheben »zugunsten eines Volkes, gegen welches<br />

langsam, aber zielbewußt ein grausamer Vernichtungskampf geführt wird«.<br />

Eduard Bernstein, Die Leiden des armenischen Volkes und die Pflichten Europas.<br />

Rede, gehalten auf einer Berliner Volksversammlung am 26. Juli 1902, in: Helmut<br />

Donat (Hg.), Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas, Bremen<br />

2005, S. 19-56, 51, 21.<br />

18 »The Young Turk Revolution resulted in the gradual emergence of a radically<br />

new type of regime that was to become frighteningly familiar in the twentieth<br />

century: one-party rule.« M. Sükrü Hanioglu, A Brief History of the Late Ottoman<br />

Empire, Princeton/Oxford 2008, S. 151.<br />

15


olf hosfeld<br />

einer temporären Entlastung ihrer östlichen und südarabischen Problemzonen<br />

gezwungenen Regierung in Istanbul aus. 19<br />

Johannes Lepsius hat als Berater des Auswärtigen Amts eine entscheidende<br />

Rolle dabei gespielt, den Armeniern einen Reformplan nahezubringen,<br />

der von der Überlegung ausging, dass man auf Grund der Mischbesiedlung<br />

Ostanatoliens – im Unterschied zu vorausgehenden Regelungen<br />

auf dem Balkan – kaum in der Lage wäre, »auf ethnographischer oder historischer<br />

Basis die Grenzen für ein autonomes Armenien zu bestim men«. 20<br />

In der Konsequenz sah dieser Plan die Schaffung von zwei Provinzen in<br />

den Gebieten Anatoliens mit hohem armenischem Bevölkerungsanteil<br />

vor, für die ein besonderer Minderheitenschutz vorgesehen war. Die Integrität<br />

des Osmanischen Reichs wurde damit nicht angetastet, aber potentiell<br />

auf rechtsstaatliche Grundlagen gestellt. Im Prinzip entsprach dies<br />

auch den Vorstellungen der sozialistischen Armenischen Revolutionären<br />

Föderation, 21 mit der Lepsius in ständigem Kontakt stand.<br />

Für Lepsius war das erfolgreich ausgehandelte armenische Reformprogramm<br />

von 1913 der Höhepunkt seines Lebenswerks. Es war ihm<br />

etwas gelungen, was lange Zeit kaum denkbar erschien. Er hatte es geschafft,<br />

durch »Realpolitik« ein Ziel zu erreichen, das seine Letztbegründung<br />

in seinen Grundsätzen politisch-theologischer Ethik fand. Das hieß,<br />

in moderne Sprache übersetzt: Er war der Realisierung rechtsstaatlicher<br />

Verhältnisse auf Erden einen Schritt näher gekommen. Eine der daraus<br />

folgenden Konsequenzen war die Gründung der Deutsch-Armenischen<br />

Gesellschaft im Jahre 1914 unter seinem Vorsitz. Der Weltkrieg aber<br />

würde nur wenige Wochen später alle diese Hoffnungen in kurzer Zeit<br />

zunichte machen, auch wenn Lepsius deshalb zunächst – und wie er bald<br />

feststellen musste, irrtümlich – keine Verschlechterung der Lage der osmanischen<br />

Armenier erwartete.<br />

Zur Beurteilung seiner Person ist es wichtig festzuhalten, dass die politische<br />

Ethik in seinem Wertekanon immer an erster Stelle stand. Schon<br />

1897 hatte er sich in Maximilian Hardens Zukunft entschieden gegen die<br />

Ansicht ausgesprochen, den Nationalismus zum Maßstab sittlichen Den-<br />

19 Ebd., S. 175. Zur gleichen Zeit wurden mit Großbritannien Vereinbarungen<br />

über die Aufteilung des Jemen getroffen – einer der Gründe, weshalb London bei<br />

den armenischen Reformen diesmal nicht part of the game war. Eigentlich, so<br />

Max von Baden in seinen Memoiren, war Johannes Lepsius aber von einer möglichen<br />

positiven Rolle Russlands in der armenischen Frage nie wirklich überzeugt.<br />

Er hätte einer britisch-deutschen Intervention unter anderen Bedingungen den<br />

Vorzug gegeben, auch im Interesse der Türkei selbst. Siehe: Prinz Max von Baden<br />

1928, a.a.O., S. 8.<br />

20 Wangenheim an Bethmann Hollweg, 24.2.1913. PA-AA R 14078.<br />

21 Holstein an Bethmann Hollweg, 22.5.1913. PA-AA R 14079.<br />

16


johannes lepsius. eine deutsche ausnahme<br />

kens und Handelns zu erheben. Besonders deutlich wurde er während<br />

einer heftigen Kontroverse mit Friedrich Naumann auf dem Evangelisch-<br />

Sozialen Kongress 1900 in Karlsruhe um die Frage von Machtpolitik.<br />

Naumann hatte kurz zuvor den armenischen Opfern einen höheren Sinn<br />

abgewinnen wollen, der seiner Meinung nach in Deutschlands angeblicher<br />

Bestimmung zur Weltpolitik begründet lag. Das war in den Augen<br />

von Johannes Lepsius kaum mehr als eine blasphemische Theodizee, und<br />

seinen Widerspruch fand es auch, als Naumann gegen ihn auf diesem<br />

Kongress verkündete, heute sei der Kampf das Prinzip in der Politik der<br />

großen Nationen. 22<br />

Lepsius war kein Gegner von Weltpolitik, aber sie hatte für ihn nur sehr<br />

bedingt etwas mit den wilhelminischen Konjunkturen deutscher Machtpolitik<br />

zu tun. Weltpolitik bedeutete für ihn in erster Linie eine Gewissenssache,<br />

eine Vorbedingung des endlichen Anbruchs des Reiches Christi,<br />

das er als ein Reich von oben her, aber stattfindend auf dieser Erde als<br />

eine nach den Grundsätzen des Evangeliums rechtsstaatlich eingerichtete<br />

Welt – One World – betrachtete. 23 Lepsius verstand darunter die innere<br />

Bereitschaft zur Friedfertigkeit als kategorisches Prinzip, 24 das im realen<br />

Leben nicht im Sinne einer Gesetzesreligion, sondern als regulatives Prinzip<br />

von Politik und Recht wirksam werden sollte und das im konkreten<br />

Fall ein pragmatisches Einzelurteil erforderte. Im Prinzip waren solche<br />

Gedankenfiguren im Deutschland des Neukantianismus nicht ganz ungeläufig.<br />

Sie entsprachen im Großen und Ganzen dem, was Immanuel Kant<br />

bereits in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger licher<br />

Absicht formuliert hatte, wobei sein Weltbürgertum durchaus Züge eines<br />

säkularisierten Reichs Christi an sich hatte. Solche Gedanken wiesen zweifellos<br />

auch Berührungspunkte mit den ebenfalls evangelisch-theologisch<br />

fundierten politischen Friedensvisionen Woodrow Wilsons auf. Mit dem<br />

nicht unbedeutenden Unterschied allerdings, dass Lepsius nicht im demokratischen<br />

Amerika, sondern in Luthers Deutschland Gottes prädestiniertes<br />

Land sehen wollte.<br />

Er befand sich aus diesem Grund zeit seines Lebens in einem unauflösbaren<br />

Dilemma zwischen seinen theologisch begründeten Zukunftserwartungen<br />

und den Niederungen und Abgründen der deutschen Real- und<br />

Machtpolitik. Immer wieder versuchte er, im wilhelminischen Deutschland<br />

in erster Linie den geistigen Erben der Reformation und eines authentischen<br />

Christentums zu sehen. Nie gelang es ihm. Er feierte zwar nicht,<br />

22 Siehe auch Manfred Aschke, Das christliche Deutschland und die Weltmachtpolitik;<br />

www.lepsiushaus-potsdam.de, Publikationen.<br />

23 Meissner 2010, a.a.O., S. 92.<br />

24 Siehe dazu auch den ersten Beitrag von Manfred Aschke in diesem Band.<br />

17


18<br />

rolf hosfeld<br />

wie die Mehrzahl der gebildeten Protestanten seiner Zeit, den August 1914<br />

als ein nationales Pfingsterlebnis, aber er betrachtete den Ausbruch der<br />

Feindseligkeiten als unvermeidlich, wenn das Volk Martin Luthers nicht<br />

untergehen wollte. Er musste jedoch erleben, wie die im Krieg begangenen<br />

Verbrechen zunehmend in Widerspruch gerieten zu den Hoffnungen, die<br />

er 1913 in die armenischen Reformen gesetzt hatte, und letztlich auch in<br />

Widerspruch zu seiner Vision des kommenden Reichs Christi auf Erden.<br />

Ein Schlüsselerlebnis dabei war seine Reise nach Istanbul im Sommer<br />

1915. Kurz zuvor war sein Sohn an der Ostfront von einer Kugel tödlich<br />

getroffen worden. Er unternahm die Reise dennoch, nachdem man ihm im<br />

Auswärtigen Amt ein Telegramm des deutschen Botschafters in Istanbul,<br />

Hans von Wangenheim, vorgelegt hatte, das beunruhigende Nachrichten<br />

über das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich enthielt. Im<br />

Zweifel entschied sich Johannes Lepsius immer für die Wahrheit, der er<br />

jetzt – wie 1896 – wieder auf den Grund gehen wollte.<br />

Den Höhepunkt dieser Reise kann man in Franz Werfels Roman Die<br />

vierzig Tage des Musa Dagh nachlesen. Während der Belagerung des Berges<br />

Musa Dagh am Mittelmeer, auf den sich etwa 5000 Armenier auf der<br />

Flucht vor ihren Verfolgern zurückgezogen hatten, befand sich Johannes<br />

Lepsius in Istanbul, wo er am 10. August 1915 durch Vermittlung des Auswärtigen<br />

Amts und der deutschen Botschaft zu einer Audienz bei Kriegsminister<br />

Enver Pascha empfangen wurde. Ursprünglich hatte er, als ihm<br />

im Frühjahr die Nachricht von den allgemeinen Deportationsbefehlen zu<br />

Ohren gekommen war, einen verzweifelten diplomatischen Vermittlungsversuch<br />

in letzter Minute unternehmen wollen, um wenigsten die Armenier<br />

des Westens vor der Verderbnis zu retten und vielleicht einen Teil<br />

der verhängnisvollen Politik zu korrigieren. Doch schon während der<br />

Vorbereitungen und bei Gesprächen auf der Reise war ihm klargeworden,<br />

dass hier etwas vor sich ging, das an Ungeheuerlichkeit alles bisher<br />

Dagewesene überstieg.<br />

Lepsius hat ein Protokoll dieses Gesprächs im Kriegsministerium angefertigt.<br />

»Ich übernehme die Verantwortung für alles«, sagt Enver, als ihn<br />

Lepsius auf die Vorgänge im Inneren anspricht, und holt dann zu einem<br />

langen Vortrag aus, in dem er über die militärischen Notwendigkeiten,<br />

die in der Kriegszeit das Vorgehen gegen die revolutionären Elemente im<br />

Reich zur Pflicht gemacht hätten, doziert. »Ich selbst glaube nicht an<br />

eine armenische Verschwörung«, hält ihm Lepsius entgegen und fragt, ob<br />

es denn dafür irgendwelche handfesten Beweise gäbe. In diesem Augenblick<br />

setzt Enver das ihm eigene überlegene Lächeln auf und antwortet:<br />

»Deren bedarf es nicht, wir kommen selbst von der Revolution her und<br />

wissen, wie so etwas gemacht wird.« Fast wörtlich hatte er dasselbe bei<br />

anderer Gelegenheit auch zu dem amerikanischen Botschafter Henry


johannes lepsius. eine deutsche ausnahme<br />

Morgenthau gesagt. 25 Und er fügt gegenüber Lepsius hinzu: »Wir können<br />

mit unseren inneren Feinden fertig werden. Sie in Deutschland können<br />

das nicht. Darin sind wir stärker als Sie.« 26<br />

Nicht nur Lepsius ist das ganze Ausmaß der Armenierpolitik des herrschenden<br />

jungtürkischen Komitees erst langsam klargeworden. Schließlich<br />

hatte es 1908 eine Verfassungsrevolution gegeben, an der die Armenische<br />

Revolutionäre Föderation als Bündnispartner der Jungtürken beteiligt<br />

gewesen war, und niemand erwartete eine Wiederholung, geschweige<br />

denn eine Steigerung der hamidischen Massaker von 1895/96. Doch die<br />

beunruhigenden Nachrichten nahmen zu. In den ersten Monaten des<br />

Krieges konnte man noch lokal begrenzte Maßnahmen vermuten, und<br />

auch die tödlichen Konsequenzen der angeblich kriegsbedingten Deportationen<br />

wurden erst nach und nach deutlich. Spätestens im Frühsommer<br />

war kaum noch zu übersehen, »daß die Regierung tatsächlich den Zweck<br />

verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten«, 27<br />

wie Botschafter von Wangenheim aus Istanbul am 7. Juli 1915 unmissverständlich<br />

an Reichskanzler Bethmann Hollweg kabelte.<br />

Lepsius hatte ursprünglich, als er im Juni seine Reise plante, in Absprache<br />

mit dem Auswärtigen Amt 28 und dem Zentralbüro der Armenischen<br />

Revolutionären Föderation, 29 der osmanischen Führung den Vorschlag<br />

machen wollen, dass die russischen Armenier gegen den Verzicht<br />

auf weitere Deportationen »ihre Sache von der Sache Russlands trennen«<br />

30 würden. Zumindest rechnete er damit, dass bei Einstellung der<br />

Vernichtungsmaßnahmen sich die russischen Armenier veranlasst sehen<br />

könnten, sich im Interesse ihrer türkischen Volksgenossen zurückzuhalten.<br />

31 Es war, wie Margaret Anderson einmal betont hat, eine ziemlich<br />

riskante Mission in auswegloser Lage. 32 Für das Auswärtige Amt stellte<br />

25 Henry Morgenthau, Ambassador Morgenthau’s Story, Garden City/New York<br />

1919, S. 347.<br />

26 Johannes Lepsius, Mein Besuch in Konstantinopel Juli/Aug. 1915, in: OLDOM<br />

1/3 (1919), S. 21-33, S. 28.<br />

27 Wangenheim an Bethmann Hollweg, 7.7.1915. PA-AA R 14086.<br />

28 »Dr. Lepsius wünscht dorthin zu reisen nicht um auf Pforte Druck auszuüben,<br />

sondern um Armenier zur Vernunft zu bringen.« Zimmermann an Wangenheim,<br />

6.6.1915. PA-AA R 14086. Das ist natürlich eine diplomatisch stark geglättete<br />

Sicht von Lepsius’ Intentionen, an die Zimmermann möglicherweise selbst geglaubt<br />

hat.<br />

29 Lepsius an den Legationsrat des Auswärtigen Amts Rosenberg, 11.6.1915. Anlage<br />

1. PA-AA R 14086.<br />

30 Lepsius an Rosenberg, 22.6.1915. PA-AA R 14086.<br />

31 Lepsius an AA, 17.4.1916. PA-AA R 14091.<br />

32 Germany and the Armenian Genocide. An Interview with Margaret Lavinia<br />

Anderson by Khatchig Mouradian, ZNet, 11. November 2006.<br />

19


20<br />

rolf hosfeld<br />

sie jedoch eines der vielen optionalen Kriegsplanspiele dar, die damals<br />

keine Seltenheit waren und von denen es in dieser Variante – außer dem<br />

Besuch von Lepsius bei Ismail Enver – insgesamt drei dokumentierte Vorstöße<br />

im Osmanischen Reich gab, die bis in den Herbst 1915 andauerten.<br />

33 In Istanbul aber interessierte sich niemand dafür, weil die innenpolitische<br />

Agenda gegenüber den Armeniern schon längst feststand.<br />

In Basel, Genf, Bukarest und Sofia hatte Lepsius sich auf der Hinreise<br />

vor allem durch seine armenischen Verbindungen mit Informationen versorgt.<br />

Die Informationen, die er in Istanbul von Seiten der deutschen Botschaft,<br />

des armenischen Patriarchats oder durch Hinweise von Henry<br />

Morgenthau erhielt – für den Lepsius ein »high-minded Christian gentleman«<br />

34 war –, bestätigten ihm nur das, was er zuvor bereits erfahren hatte.<br />

»Liebe Alice«, schrieb er Anfang August 1915 aus Istanbul an seine<br />

zweite Frau in Potsdam:<br />

Es ist unsagbar, was geschehen ist, und noch geschieht. Die vollkommene<br />

Ausrottung ist das Ziel – alles unter dem Schleier des Kriegsrechtes.<br />

Vorläufig ist nicht mehr dazu zu sagen. […] Es ist – wenn man<br />

gegen die ersten Eindrücke hart geworden ist, um mit allen Kräften des<br />

Geistes auf Abhilfe zu sinnen, von äußerstem psychologischem Interesse,<br />

zu sehen, wie sich die verschiedenen Menschen zu dieser Tatsache<br />

stellen. »Das Scheußlichste, was überhaupt in diesem Weltkrieg geschieht«,<br />

sagte mir einer unserer Diplomaten – und wie reagiert man<br />

darauf 35<br />

Wie reagierte Johannes Lepsius Die deutsche Zensur hatte den Brief<br />

geöffnet und reagierte sofort. »Da der Brief militärische bzw. politische<br />

Nachrichten enthält, deren Bekanntwerden im vaterländischen Interesse<br />

nicht erwünscht ist«, so der amtliche Vermerk des Zensors, »ist es erforderlich,<br />

daß sein Inhalt geheim gehalten wird.« 36 Lepsius aber mobilisierte<br />

sofort seine eigenen Ressourcen und die seines Netzwerks, darunter seine<br />

amerikanischen Verbindungen. »Ich versuche Mittel und Wege zu finden«,<br />

ließ Lepsius den bulgarischen Außenminister bereits auf seinem<br />

Rückweg aus Istanbul im Sommer 1915 wissen, »um die völlige Vernichtung<br />

des armenischen Volkes in der Türkei zu verhindern.« 37 Zwei<br />

Dinge standen für ihn im Vordergrund. Aufzuklären und so viele Armenier<br />

wie möglich zu retten.<br />

33 Rolf Hosfeld, Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord<br />

an den Armeniern. Köln 2005/2009, S. 255 f.<br />

34 Morgenthau 1919, a.a.O., S. 343.<br />

35 Lepsius an Alice Lepsius, Anfang August 1915, LAP 118-1320.<br />

36 Ebd.<br />

37 Lepsius an den bulgarischen Außenminister, 16.8.1915, LAP 147-1713.


johannes lepsius. eine deutsche ausnahme<br />

Im Unterschied zu der nicht unbeträchtlichen Anzahl von Personen<br />

im Deutschen Reich, die genau wussten, was in der Türkei vor sich ging,<br />

beschloss er, nicht aus Gründen der Staatsräson und des Kriegszustands<br />

zu schweigen. »Das Gewissen des Staatschristentums«, meinte er in dieser<br />

Zeit, »fühlt sich bei solchen Interessengegensätzen leicht versucht, das was<br />

menschlich geboten ist, dem was politisch bequem ist, unterzuord nen.« 38<br />

Lepsius tat dies nicht. Er wusste, dass in dieser Situation – gewissermaßen<br />

einem moralischen Ausnahmezustand – außerordentliche Mittel<br />

notwendig waren. Auch um die Gefahr, die Grenzen des politisch und<br />

legal Erlaubten zu überschreiten.<br />

Er war kaum von seiner Reise nach Istanbul in Deutschland zurück,<br />

als er am 5. Oktober 1915 im Berliner Reichstag eine Pressekonferenz abhielt,<br />

auf der er die Wilhelmstraße als Sklaven der Hohen Pforte anklagte,<br />

was ihm sofort die Aufmerksamkeit der Militärzensur verschaffte. 39 Für<br />

Johannes Lepsius – an dem Morgenthau bereits in Istanbul eine deutliche<br />

und sehr emotionale Verstörung über die Orientpolitik seiner eigenen<br />

Regierung bemerkt hatte 40 – war dies der erste bedeutende Schritt heraus<br />

aus der öffentlichen Lüge. 41<br />

Am 11. Januar 1916 wurde ein Gespräch, das Karl Liebknecht mit<br />

Lepsius geführt hatte, Anlass zu einer Anfrage des sozialdemokratischen<br />

Abgeordneten im Reichstag. »Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt«, so<br />

Liebknecht, »daß Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der<br />

türkischen Armenier gesprochen …« Hier wurde der Vortrag durch die<br />

Glocke des Präsidenten mitten im Satz unterbrochen. 42 Eigentlich war es<br />

so, dass in Deutschland kaum jemand wissen wollte, was im Inneren der<br />

Türkei wirklich vorging.<br />

Im Sommer 1916 veröffentlichte Lepsius seinen 300-seitigen Bericht<br />

über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei. Trotz der drohenden<br />

Militärzensur gelang es ihm, zwanzigtausend Exemplare davon privat<br />

38 Lepsius an August Winkler, 26.3.1916, LAP 7183.<br />

39 Am 7. Oktober 1915, zwei Tage später, wurde über die armenische Frage eine<br />

totale Zensur verhängt.<br />

40 »He expressed to me the humiliation which he felt, as a German, that the Turks<br />

should set about to exterminate their Christian subjects, while Germany, which<br />

called itself a Christian country, was making no endeavours to prevent it.« Morgenthau<br />

1919, a.a.O., S. 344.<br />

41 Margaret Lavinia Anderson, Who Still Talked about the Extermination of the<br />

Armenians German Talk and German Silences, in: Ronald Grigor Suny, Fatma<br />

Müge Göcek, Norman M. Naimark (Hg.), A Question of Genocide. Armenians<br />

and Turks at the End of the Ottoman Empire. Oxford/New York 2011, S. 199-<br />

220, S. 211.<br />

42 Anfrage des Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht in der 26. Sitzung des<br />

Reichstags vom 11. Januar 1916, PA-AA R 14089.<br />

21


olf hosfeld<br />

drucken und verteilen zu lassen, versehen mit dem Vermerk: »Als Manuskript<br />

gedruckt! Streng vertraulich!« Es war ausschließlich dieser Kraftakt<br />

zivilen Ungehorsams, der die Publikation und die Verbreitung der<br />

Schrift ermöglicht hat. Selbst Mitarbeiter und Partner von Lepsius weigerten<br />

sich, teils aus Angst, teils aus Gründen nationaler Besorgnis, sich an<br />

dem Unternehmen zu beteiligen. Zwei Rollwagen brachten schließlich<br />

zwanzigtausend Exemplare zur Post, adressiert an die Superintendenten<br />

der evangelischen Kirche. Am 29. Juli 1916 gingen fünfhundert Exemplare<br />

an andere ausgewählte Persönlichkeiten und die Redaktionen der größeren<br />

deutschen Tageszeitungen.<br />

Am 7. August 1916 wurde die Broschüre von der Militärzensur verboten<br />

und, soweit überhaupt noch greifbar, beschlagnahmt. Danach verließ<br />

Lepsius Deutschland und übersiedelte ins neutrale Holland, wo eine<br />

niederländische Übersetzung seines Berichts erscheinen konnte. Sie musste<br />

allerdings ohne Namensnennung des Autors anonym publiziert werden,<br />

weil die deutsche Botschaft in Den Haag Lepsius öffentliche Aktivitäten in<br />

der armenischen Angelegenheit strikt untersagt hatte. Seinen Lebensunterhalt<br />

verdiente er sich durch die Auswertung der britischen Presse mit Blick<br />

auf Signale für einen möglichen Verständigungsfrieden mit dem Deutschen<br />

Reich. Doch in erster Linie war er weiter für die armenische Sache<br />

aktiv. 43 Er organisierte von hier aus seine Hilfsaktivitäten im Orient und<br />

unterhielt Kontakte zu Lord Bryce, 44 dem Herausgeber des offiziellen<br />

britischen Blaubuchs über die Armenier, sowie zu dem in Genf lebenden<br />

armenischen Politiker Boghos Nubar Pascha. 45 Unter anderem entwarf er<br />

in Holland auch die Statuten für eine Internationale Philarmenische Liga,<br />

die 1920 als Ligue internationale philarménienne in Paris mit Sitz in Genf<br />

gegründet wurde. Schon 1916 – noch in Potsdam heimlich vervielfältigt –<br />

lag eine französische Übersetzung seines Berichts mit dem Titel Rapport<br />

sur la situation du peuple Arménien en Turquie. Par le Dr Johannes Lepsius,<br />

Président de la Deutsche Orient-Mission et de la Société Germano-<br />

43 Max von Baden meint, Lepsius hätte bei seinen Talenten in dieser Frage sogar ein<br />

guter Propagandist für die Anhänger eines Verständigungsfriedens und damit für<br />

die deutsche Sache werden können – wenn sein Engagement für die Armenier ihn<br />

nicht primär beansprucht hätte. Siehe: Prinz Max von Baden 1928, a.a.O., S. 80.<br />

44 Für James Barton vom amerikanischen Near East Relief waren James Bryce und<br />

Lepsius die beiden herausragenden Personen, die am meisten zur Aufklärung<br />

der Verbrechen im Osmanischen Reich beigetragen haben. James L. Barton,<br />

Story of the Near East Relief (1915-1930), New York 1930, S. 47.<br />

45 Feigel 1989, a.a.O., S. 223.<br />

22


johannes lepsius. eine deutsche ausnahme<br />

Armenénienne vor. 46 Sie erschien 1918, mit einem Vorwort versehen, als<br />

Buch in Paris.<br />

Nach dem Krieg hat Lepsius – der den 9. November 1918 ganz in der<br />

Tradition der protestantischen Internationale als Durchbruch einer neuen<br />

demokratischen Weltära begrüßte 47 – einen vom Auswärtigen Amt selbst<br />

ausgewählten Teil der Dokumente und des Schriftwechsels zu den Ereignissen<br />

in der Türkei während des Krieges unter dem Titel Deutschland und<br />

Armenien in seinem Potsdamer Tempel-Verlag veröffentlicht. Dies war die<br />

erste systematische Dokumentation diplomatischer Quellen zum Völkermord<br />

an den Armeniern. Der Leser/die Leserin erfährt erschütternde Details<br />

über die Vorkommnisse, die Abläufe und Verantwortlichkeiten in<br />

der Türkei während des Krieges, wie sie von deutschen Konsulaten, teilweise<br />

auch Mi litärs, an die Botschaft in Istanbul und von dort nach Berlin<br />

berichtet wurden. Danach stand es außer Zweifel, dass die türkische Regierung<br />

eine systematische Ausrottungspolitik gegenüber den Armeniern betrieben<br />

hatte, über die man in der deutschen Reichsführung bestens informiert<br />

gewesen war, ohne etwas Wirksames dagegen zu unternehmen.<br />

Man war in der Tat bestens informiert. Wobei allerdings bemerkenswert<br />

ist, so die Deutsch-Armenische Gesellschaft Ende 1918, dass zynische<br />

antiarmenische Äußerungen wie in den 1890er Jahren diesmal weitgehend<br />

unterblieben. 48 Man war tief irritiert über diese grenzüberschreitende<br />

und totale Vernichtungsgewalt gegenüber einer am Krieg unbeteiligten<br />

Zivilbevölkerung. Man intervenierte – anders als Österreich-Ungarn,<br />

das Bedenken hatte, sich damit als parteiische »christliche Macht« zu erweisen<br />

– mehr oder weniger vorsichtig bei der Hohen Pforte. 49 Paul von<br />

Hindenburg sprach vom »Erwachen der Bestie im Menschen« und einem<br />

der »schwärzesten Kapitel in der Geschichte aller Zeiten und Völker«.<br />

Doch gleichzeitig vertrat er die Ansicht, man müsse aus zwingenden militärischen<br />

Gründen die osmanische Reichsleitung um jeden denkbaren<br />

Preis unterstützen. 50 Es war die Moral eines zunehmend totaler werdenden<br />

Krieges, die hier wirksam wurde und die Deutschland – mit der Mentalität,<br />

auch solche »Kollateralschäden« größten Ausmaßes letztlich dem all-<br />

46 Ein Exemplar dieser französischen Ausgabe befindet sich nach Auskunft von<br />

Axel Meissner in der Wiener Mechitaristen-Bibliothek. Meissner 2010, a.a.O.,<br />

S. 231 ff.<br />

47 Siehe auch den Beitrag von M. Rainer Lepsius in diesem Band.<br />

48 Deutsch-Armenische Korrespondenz 1 (1918), S. 3.<br />

49 Donald Bloxham, Power Politics, Prejudice and Propaganda: A Reassessment of<br />

the German Role in the Armenian Genocide of WWI, in: Hans-Lukas Kieser,<br />

Dominik J. Schaller (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/<br />

The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002, S. 213-244, S. 228.<br />

50 Paul von Hindenburg, Aus meinem Leben, Leipzig 1920, S. 208 f.<br />

23


olf hosfeld<br />

gemeinen Weltkriegsziel unterzuordnen – zu einem »realpolitischen«<br />

Komplizen der Verbrechen im Orient werden ließ. Diese bellizistische<br />

Moral verhinderte jene Empathie, die Botschafter Wolff Metternich immer<br />

wieder veranlasste, von der Wilhelmstraße entschiedenere Schritte<br />

gegen die genozidale Politik in der Türkei zu fordern. 51<br />

»Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer<br />

Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen<br />

oder nicht«, so die Gegenposition von Reichskanzler Bethmann Hollweg<br />

Ende 1915: »Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch<br />

sehr brauchen.« 52 Erst im späten Frühjahr 1918 drohte Erich Ludendorff<br />

Enver Pascha mit harschen Worten einen völligen Bruch des Bündnisses<br />

an, als türkische Truppen die im Vertrag von Brest-Litowsk gezogenen<br />

Grenzen missachteten und in den Kaukasus einmarschierten. 53 Aber hier<br />

waren deutsche Interessen im Spiel; es ging um das Öl am Kaspischen<br />

Meer. 1915 hätte man sich solche deutlichen Worte ebenfalls gewünscht,<br />

doch sie unterblieben. Zweifellos ist die armenische Frage insofern auch<br />

ein Teil der deutschen Geschichte.<br />

Johannes Lepsius jedoch tat sich immer schwer damit, eine qualifizierte<br />

Mitschuld des Deutschen Reichs an diesem ersten großen europäischen<br />

Völkermord in vollem Umfang einzugestehen, selbst wenn er Anfang 1919<br />

von Mitverantwortung sprach. Er tat sich vor allem deshalb schwer, weil er<br />

wie die meisten Deutschen seiner Zeit, einschließlich führender Sozialdemokraten<br />

wie Philipp Scheidemann, mit dem Versailler Vertrag haderte.<br />

Immer wieder versuchte er, unter anderem durch die auf vierzig Bände<br />

an gelegte Aktenpublikation Die große Politik der europäischen Kabinette,<br />

die er in den zwanziger Jahren als Orientexperte gemeinsam mit Friedrich<br />

Thimme und Albrecht Mendelssohn Bartholdy unter Anleitung des Auswärtigen<br />

Amts herausgab, mit teils problematischen Mitteln 54 gegen die<br />

51 »Um in der Armenierfrage Erfolg zu haben, müssen wir der türkischen Regierung<br />

Furcht vor den Folgen einflößen. Wagen wir aus militärischen Gründen<br />

kein festeres Auftreten, so bleibt nichts übrig, als mit ferneren erfolglosen Verwahrungen,<br />

die mehr verärgern als nützen, zuzusehen, wie unser Bundesgenosse<br />

weiter massakriert.« Wolff Metternich an Bethmann Hollweg, 7. Dezember 1915.<br />

PA-AA R 14089.<br />

52 Notiz Bethmann Hollweg 17. Dezember 1915 zu Wolff Metternich an Bethmann-Hollweg,<br />

7. Dezember 1915; PA-AA R 14089.<br />

53 »Wie Eurer Exzellenz bekannt, habe ich stets Ihre Interessen und Wünsche<br />

warm vertreten. Ich muß es Eurer Exzellenz gegenüber klar aussprechen, daß<br />

ich dies für die Folge nicht nur nicht tun kann, sondern daß das vertragswidrige<br />

Vorgehen der Türkei für mich jedes Zusammengehen mit Eurer Exzellenz ausschließen<br />

würde.« Berckheim an AA, 8. Juni 1918. PA-AA R 11047.<br />

54 »Die Akten des Kriegsschuldreferats beweisen, daß die Beamten bei diesem Unternehmen<br />

immer wieder auf die Herausgeber eingewirkt haben, belastende<br />

24


johannes lepsius. eine deutsche ausnahme<br />

sogenannte »Kriegsschuldlüge« vorzugehen. In depressiven Zeiten während<br />

der großen Inflation – die er als »Irrenhaus des Weltfrie dens« 55 empfand<br />

– stellte er privatim manchmal sogar die handlungs unfähige deutsche<br />

Republik, die er anfangs enthusiastisch begrüßt hatte, wieder in Frage. 56<br />

Aber er war – und das unterschied ihn in der Weimarer Republik von<br />

vielen seiner Landsleute – alles andere als ein militanter Revanchist. Wenn<br />

die Deutschen sich aus dem nächsten Weltkrieg fernhalten könnten,<br />

schrieb er 1924 in seiner Zeitschrift Der Orient, zwei Jahre vor seinem<br />

Tod, ganz im Geist theologisch begründeter politischer Ethik, dann habe<br />

die sinnlose Niederlage vielleicht doch einen Sinn gehabt. 57 Sein Hauptinteresse<br />

allerdings galt auch in dieser Zeit in erster Linie dem Schicksal<br />

der Armenier. Sein Auftritt als Hauptgutachter in dem Prozess gegen den<br />

armenischen Attentäter des Anschlags auf den ehemaligen Großwesir<br />

Talaat Pascha 1921 in Berlin, der mit einem überraschenden Freispruch<br />

endete, bescherte ihm noch einmal internationale Aufmerksamkeit.<br />

Besonders traf ihn der Vertrag von Lausanne 1923 nach dem Sieg der<br />

Nationalbewegung Mustafa Kemals, durch den ganz Anatolien einschließlich<br />

der ehemaligen armenischen Kernsiedlungsgebiete türkisch wurde. Er<br />

besiegelte das Ende aller armenischen Hoffnungen nach dem Ersten Weltkrieg<br />

und sanktionierte durch die Vertreibung von über einer Million<br />

kleinasiatischer Griechen nach seinen Worten die neue Methode der Evakuierung<br />

ganzer Völker durch »internationalen Vertragszwang«. 58 Ein<br />

Dokumente nicht aufzunehmen, sie zu kürzen oder durch apologetische Kommentare<br />

zu relativieren.« Ulrich Heinemann, Die Last der Vergangenheit. Zur<br />

politischen Bedeutung der Kriegsschuld- und Dolchstoßdiskussion, in: Karl<br />

Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Die Weimarer<br />

Republik 1918-1933, Bonn 1988, S. 371-386, S. 376.<br />

55 Lepsius an Benedictsen, 2.1.1923, LAP 1432-14469 (1).<br />

56 So in einem Rundumschlag Ende Oktober 1922, der insbesondere auch dem<br />

kraftlosen Zustand der evangelischen Kirche galt. »Ob es möglich sein wird, auf<br />

der tabula rasa einen neuen Geistesbau aufzurichten, muß die Zeit lehren«,<br />

schreibt Lepsius da: »Hoffentlich wird das Intermezzo Ebert dann durch einen<br />

neuen Abschnitt deutscher Kaisergeschichte abgelöst sein.« 24.10.1922, LAP<br />

1504-15180 (1). Das bedeutet aber keineswegs zwingend einen antidemokratischen<br />

Standpunkt. Die Dinge liegen etwas komplizierter. Das Reich war seit dem<br />

28. Oktober 1918 eine parlamentarisierte Monarchie, noch bevor am 9. November<br />

die Republik ausgerufen wurde. Laut Max von Baden hat Lepsius bei der<br />

Entscheidung zur Parlamentarisierung des Reichs sogar eine nicht unwichtige<br />

Rolle gespielt. Er setzte dabei auf eine vollständige Parlamentarisierung unter<br />

Beibehaltung der Monarchie, um einen politischen Zusammenbruch wie in<br />

Russland zu verhindern. Siehe: Prinz Max von Baden 1928, a.a.O., S. 145.<br />

57 Johannes Lepsius, Krieg und Frieden. Ein Kapitel Religionsgeschichte, in:<br />

OLDOM 1/2 (1924), S. 1-7, S. 7.<br />

58 Lepsius an Weckeser, 2.12.1922, LAP 141-1555 (1).<br />

25


olf hosfeld<br />

fataler Präzedenzfall für die Zukunft war damit in die Welt gesetzt, wie<br />

sich im weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zeigen sollte.<br />

In seinen letzten Lebensjahren war Johannes Lepsius ein schwer kranker<br />

Mann und blieb teilweise monatelang an sein Zimmer gefesselt. Gerade<br />

in dieser Zeit entwickelte er einen Überschuss an neuen Plänen, als<br />

wolle er damit den nahenden Tod besiegen. Oft aber waren sie, wie sein<br />

langjähriger Mitarbeiter Richard Schäfer in einer seltenen kritischen Bemerkung<br />

feststellte, »mit der rauhen Wirklichkeit in der Praxis« nur schwer<br />

zu vereinbaren. 59 Dazu zählte auch die 1925 schon in Details ausgearbeitete<br />

Idee, am Potsdamer Pfingstberg in der Villa Henkel eine armenischdeutsche<br />

Akademie zu errichten. Unerwartet starb Johannes Lepsius während<br />

eines Kuraufenthalts in Meran im Februar 1926, wo sich sein Grab<br />

noch heute befindet.<br />

Was bleibt Johannes Lepsius’ klarsichtige Analyse der destruktiven<br />

Potentiale eines extremen Nationalismus, seine Bereitschaft, mitten im<br />

Weltkrieg das Schweigen zu brechen und ethisch-internationalistische<br />

Beweggründe über die eigene Staatsräson zu stellen, sein Insistieren auf<br />

einer rechtsstaatlichen Regelung von Minderheitsproblemen bei Wahrung<br />

der kulturellen Identität, sein unzeitgemäßer ziviler Ungehorsam und seine<br />

unermüdliche und erfindungsreiche Aktivität, einer verfolgten und von<br />

der Vernichtung bedrohten Ethnie – den Armeniern – praktische Hilfe zu<br />

leisten, kennzeichnen ihn auch heute noch als eine deutsche Ausnahmefigur.<br />

59 Richard Schäfer, Geschichte der deutschen Orient-Mission, Potsdam 1932, S. 119.<br />

26


Johannes Lepsius’ politische Ansichten<br />

M. Rainer Lepsius<br />

Johannes Lepsius war Theologe und blieb Theologe, er wurde nicht Politiker,<br />

wie etwa seine theologischen Kollegen Friedrich Naumann oder Paul<br />

Rohrbach. Er wandte sich der Mission der Muslime zu und wurde, durch<br />

äußere Umstände veranlasst, zu einem Unterstützer der verfolgten Armenier<br />

in Anatolien. Aber er war immer auch ein politischer Mensch, hatte<br />

sich kirchenpolitisch engagiert, auf die Armenierpolitik des Deutschen<br />

Reiches Einfluss zu nehmen versucht, sich im Ersten Weltkrieg für einen<br />

Verständigungsfrieden und nach dem Krieg gegen die These von der Alleinschuld<br />

Deutschlands eingesetzt. Stets stand sein Handeln in einem<br />

ausdrücklichen Wertbezug.<br />

Im Folgenden werden seine politischen Ansichten und Handlungen in<br />

vier historischen Kontexten behandelt: in den Jahren 1896, 1913-1916,<br />

1916-1918 sowie 1919-1922. 1<br />

Die Verfolgung der Armenier 1896<br />

Als Johannes Lepsius von den Massakern an den Armeniern 1895 hörte, 2<br />

entschloss er sich spontan, aus seiner Pfarrei in Friesdorf im Südharz aufzubrechen,<br />

um ein Bild von den Zuständen in der Türkei zu gewinnen und<br />

Hilfsgelder für die Versorgung armenischer Waisenkinder zu überbringen.<br />

3 Nach seiner Rückkehr begann er über die mörderischen Geschehnisse<br />

zu berichten. Schon im August 1896 hatte er Armenien und Europa:<br />

1 Zu Johannes Lepsius siehe: Hermann Goltz, Axel Meissner (Hg.), Deutschland,<br />

Armenien und die Türkei 1895-1926. Dokumente und Zeitschriften aus dem<br />

Dr. Johannes-Lepsius-Archiv, Teil 3: Thematisches Lexikon zu Personen, Institutionen,<br />

Orten, Ereignissen, München 2004; Hermann Goltz, Zwischen Deutschland<br />

und Armenien. Zum 125. Geburtstag des evangelischen Theologen Dr. Johannes<br />

Lepsius (15.12.1858-3.2.1926), in: Theologische Literaturzeitung, 108. Jg.,<br />

Dezember 1983, Sp. 865-888.<br />

2 Zur Geschichte und Vorgeschichte des Völkermordes an den Armeniern sei generell<br />

verwiesen auf die umfassende und differenzierende Darstellung von Ives Ternon,<br />

Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermordes, Frankfurt a. M./Berlin<br />

1981, zuerst Paris 1977.<br />

3 Vgl. dazu und zum Folgenden: Andreas Baumann, Der Orient für Christus. Johannes<br />

Lepsius – Biographie und Missiologie, Gießen 2007, S. 43-49, sowie den<br />

Reisebericht von Johannes Lepsius, Dr. Lepsius’ erste Armenische Reise Mai bis<br />

Juni 1896, in: EOL (1903), S. 6-9.<br />

27


m. rainer lepsius<br />

Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf<br />

an das christliche Deutschland 4 verfasst. Darin stellte er fest, der Plan<br />

zur Verfolgung der Armenier sei von Sultan Abdul Hamid II. gefasst und<br />

von den osmanischen Behörden systematisch ausgeführt worden, nicht<br />

aber, wie behauptet, sei er das Ergebnis armenischer Aufstände gewesen.<br />

Etwa 100 000 Armenier seien verhungert oder getötet worden, weite<br />

Landstriche verwüstet und zahlreiche Dörfer zerstört. Mit dieser Schrift<br />

betrat Johannes Lepsius den politischen Raum. Auch die europäischen<br />

Großmächte machte er für die Massaker verantwortlich: »Niemand anders<br />

[hat] die furchtbare Vernichtung herbeigeführt, als die Politik der<br />

christlichen Großmächte selbst.« Sie hätten »die armenische Frage« geschaffen.<br />

5<br />

Was war damit gemeint Auf dem Berliner Kongress 1878 hatten die<br />

Großmächte in Artikel 61 des Vertrages von der Türkei verlangt, in den<br />

von Armeniern bewohnten Provinzen in Ostanatolien weitgehende Reformen<br />

durchzuführen und über deren Vollzug zu berichten. Damit hatten<br />

sie einen Anlass für Interventionsdrohungen gegen die Türkei geschaffen.<br />

Das Osmanische Reich hatte Reformen stets in Aussicht gestellt, sie aber<br />

nicht umgesetzt. Die Türkei versuchte, sich dieser Interventionsdrohung<br />

zu entziehen, indem sie die armenische Minderheit verschärft verfolgte und<br />

schließlich 1915/16 vertrieb und größtenteils ermordete. Insofern war die<br />

armenische Frage auch das Resultat der Intervention der Großmächte<br />

zugunsten der Armenier. Johannes Lepsius schrieb bereits 1896: »Es<br />

scheint uns dringend notwendig, daß sich Europa mit einem baldigen Wiederausbruch<br />

der armenischen Unruhen ernstlich beschäftigt« und sich<br />

nicht nur mit dem Austausch diplomatischer Noten begnüge. 6 Er forderte<br />

die Wiedergutmachung an den Armeniern und die Beendigung der zwangsweisen<br />

Bekehrungen zum Islam. Aber »das christliche Europa [nimmt]<br />

von einer Christenverfolgung im Morgenland ungefähr soviel Notiz wie<br />

von einem Mondwechsel«. 7 Lepsius war empört über die Untätigkeit der<br />

europäischen Mächte und die Gleichgültigkeit der christlichen Kirchen.<br />

Die Mächte instrumentalisierten die armenische Frage für ihre politischen<br />

Interessen: die Russen für ihre expansive Kaukasuspolitik, die Engländer<br />

für ihr Bestreben, den Bosporus gegen die Russen zu kontrollieren<br />

und ihre Interessen in Mesopotamien durchzusetzen. Die deutsche Orientpolitik<br />

richtete sich auf die Erhaltung und Stärkung der Türkei: Seit 1883<br />

4 Johannes Lepsius. Armenien und Europa. Eine Anklageschrift wider die christlichen<br />

Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland, Berlin 1896.<br />

5 Ebd., S. 83.<br />

6 Ebd., S. 118.<br />

7 Ebd., S. 115.<br />

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