Diener alter Damen - WordPress â www.wordpress.com
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eportage<br />
Der <strong>Diener</strong><br />
der alten<br />
Dame<br />
Sie war die berühmteste Adelige von Bern.<br />
Er war ihr Schatten: nie sichtbar, aber immer<br />
bereit. Ein Vierteljahrhundert lang waren Antonio Esposito und<br />
Elisabeth de Meuron ein ungleiches Paar. Weit über ihren Tod hinaus<br />
hütet er das Schloss bis heute – und hält ihr die Treue<br />
Text Anita Cassese Fotos Daniel Rihs<br />
der «Tschingg» und<br />
seine Madame<br />
Toni war 20, als er 1955 in<br />
die Schweiz kam, Madame<br />
de Meuron 73. Wenn sie in<br />
der Dorfbeiz tratschten<br />
über den blutjungen Italiener<br />
und seine noble Dame,<br />
holte er schon mal die<br />
Faust aus dem Sack<br />
Er folgte ihr im Geheimen. Mit so<br />
od<br />
viel Abstand, dass sie ihn nicht bemerkte<br />
– und doch nah genug, um<br />
sofort zur Stelle zu sein. Die Lauben der Berner<br />
Altstadt müssen für <strong>Diener</strong> <strong>alter</strong> <strong>Damen</strong> wie<br />
Antonio Esposito und ihr diskretes Versteckspiel<br />
wie geschaffen gewesen sein: schattig, verwinkelt,<br />
offen zu den Gassen hin.<br />
«Auf meine Mutter habe ich nicht so aufgepasst<br />
wie auf Madame», sagt Antonio. Er steht vor<br />
dem Kochherd im Jägerhüsi und wärmt die Tomatensauce<br />
vom Vortag auf: «Il sugo della mamma.»<br />
Nicht von Madame, nein, von der Mutter in Süditalien.<br />
Aber bestimmend in seinem Leben war<br />
Madame de Meuron, geborene Elisabeth von<br />
Tscharner: die berühmteste Dame von Bern. Mehr<br />
als zwanzig Jahre lang diente er ihr: als Chauffeur,<br />
Gärtner, «Meiteli für aues». Heute, fast dreissig<br />
Jahre nach Madames Tod, wohnt Antonio noch<br />
immer im Jägerhüsi, einem zweihundert Jahre<br />
alten Bauernhaus. Es liegt in Rufweite von Schloss<br />
Rümligen, wo Elisabeth de Meuron residierte.<br />
Das weisse Schloss thront am Längenberg<br />
hoch über dem Gürbetal. Ein mittel<strong>alter</strong>licher<br />
Turm mit Mansardendach und zwei Fahnenwimpeln,<br />
barocke Gartenpavillons und Springbrunnen<br />
schmücken die Festung aus dem 11. Jahrhundert.<br />
Die Wappen der Familien von Erlach, von<br />
Wattenwyl, von Frisching und von Tscharner<br />
zeugen von wohledelster Burgherrschaft.<br />
Der Wind zieht um die Holzbretterwände<br />
des Jägerhüsis. Draussen stapeln sich alte Möbel,<br />
Mofas, Staubsauger und eine Fritteuse. Vier<br />
fröhliche Gartenzwerge stehen auf dem Fenstersims<br />
neben dem Eingang. Geheizt wird mit<br />
Holz und der 73-jährige Italiener, an den Schweizer<br />
Frost gewöhnt, friert nicht.<br />
«Die Schweiz braucht Arbeiter.» Die Plakate<br />
hingen in ganz Maschito, einem Dorf in der italienischen<br />
Provinz Potenza. Der junge Antonio<br />
arbeitete damals, in den Fünfzigerjahren, im Gemüseladen<br />
des Vaters. Das Geschäft lief gut, sagt<br />
er, während er Tortiglioni in eine Pfanne mit kochendem<br />
Wasser kippt. Nur, mit dem Vater habe<br />
er «gäng Krach» gehabt. Der Mann im Schweizer<br />
Vermittlungsbüro in Maschito habe gesagt: Toni,<br />
das ist was für dich. Und zum Vater: Lass deinen<br />
Sohn gehen. Toni versprach: In einem Monat bin<br />
ich zurück. Der Vater unterschrieb. 1955 bestieg<br />
Toni den Zug Maschito–Kaufdorf einfach.<br />
Der Pöstler begleitete Antonio Esposito zum<br />
Schloss und wartete mit ihm in der Küche auf die<br />
neue Arbeitgeberin. Sie war eine anmutige, aufrecht<br />
gehende alte Dame. In der einen Hand hielt<br />
sie das Hörrohr, in der anderen den Gehstock.<br />
Von den ledernen Schuhspitzen bis zum riesenradförmigen<br />
Hut war sie in Schwarz gekleidet. So<br />
kam Elisabeth de Meuron die Treppe hinunter.<br />
«Lach nicht, sonst wird sie wütend», habe ihm<br />
der Pöstler, ein Tessiner, zugeflüstert. «Alles ist<br />
schwarz hier, die Küche, die Frau. Was gibt es da<br />
zu lachen» habe er erwidert. Am nächsten<br />
Morgen stand er mit dem Jeep vor dem od<br />
SonntagsBlick Magazin | 27
eportage<br />
Schloss, bereit für die erste Dienstfahrt in<br />
od<br />
die Stadt. Man sagte, Madame de Meuron<br />
besässe die halbe Altstadt von Bern. Die halbe<br />
Altstadt war es nicht, aber mehrere Häuser.<br />
1882 wurde sie am Münsterplatz in eine<br />
Berner Patrizierfamilie geboren, als Tochter<br />
des Genieoberst Dr. phil. Heidelberg Ludwig<br />
von Tscharner von Amsoldingen und der<br />
Anna von Wattenwyl von Rümligen. Streng erzogen<br />
und behütet, durfte sie als Kind nur unter<br />
ihresgleichen spielen, wie Elisabeth de<br />
Meuron im hohen Alter erzählte.<br />
Als junge Frau wurde ihr die Heirat mit ihrem<br />
Liebsten aus Zürich verwehrt. Ein Zürcher,<br />
«c’était impossible», es ging um Berner<br />
Geld und Gut. Und Berner Geld und Gut sollte<br />
es bleiben. Mit ihrem Mann und Vetter<br />
Frédéric-Alphonse de Meuron von Gerzensee-<br />
Neuenburg hatte sie zwei Kinder; die unglückliche<br />
Ehe wurde 1923 geschieden.<br />
Nach dem Tod ihrer Eltern kümmerte sich<br />
Elisabeth de Meuron um das familiäre Erbe.<br />
Jede Woche fuhr sie nach Bern und schaute bei<br />
ihren Häusern an der Junkerngasse, Spitalgasse<br />
und Kramgasse zum Rechten. Mit Vorliebe<br />
vermietete die alte Dame die Zimmer an Söhne<br />
aus gutem Hause und flotte Leutnants, aber<br />
auch an Studenten, junge Diplomaten und<br />
Künstler. Zu ihren Lebzeiten war Madame de<br />
Meuron ein Wahrzeichen der Stadt geworden:<br />
als berühmteste Adelige von Bern.<br />
«Pickle u<br />
schufle»<br />
Toni war Gärtner,<br />
Chauffeur und<br />
Melker – für 140<br />
Franken im Monat<br />
Die ersten drei Monate im Dienste der<br />
Schlossherrin verdiente Toni jeweils 140 Franken.<br />
«Netto.» Toni mähte Heu, kümmerte sich<br />
um die Pferde und den Schlossgarten. Später<br />
lernte er melken und der Lohn stieg. «Ich<br />
chrampfte, melkte alle Kühe alleine, um drei<br />
Uhr morgens. Pickle u schufle.» Jeden Monat<br />
schickte er Geld nach Hause. Er zahlte dem<br />
Vater Schulden zurück und baute der Familie<br />
in Maschito ein Haus.<br />
Klar habe er anfangs zurückgewollt. «Aber<br />
das Geld. Was machst du, wenn du kein Geld<br />
hast» Während Toni erzählt, nimmt er die<br />
Schiebermütze vom Kopf und streicht sich mit<br />
der Hand über die kurz rasierten, ergrauten<br />
Haare. Es sind breite, starke Hände, die zupacken<br />
können, zupacken mussten.<br />
Mit 25 Jahren heiratete Toni seine Filomena<br />
aus Maschito. Er sah sie selten, aber oft<br />
genug, um mit ihr vier Kinder zu zeugen. Filomena<br />
begleitete Antonio in die Schweiz, auf<br />
Einladung von Madame. «E meglio stare insieme»,<br />
zusammenbleiben ist besser, schrieb die<br />
Schlossherrin dem Saisonnier in die Heimat.<br />
Filomena kam, doch die Arbeiterwohnung auf<br />
dem Schlossgut behagte ihr nicht. Eine Wohnung<br />
in Bern mieten, wo hier im Schloss doch<br />
alles gratis ist – nein, fand Antonio, dann soll<br />
sie in Italien bleiben. Einige Jahre danach hielt<br />
die Ehe dem Hin und Her zwischen Rümligen<br />
und Maschito nicht stand.<br />
Alle Männer hätten es gesagt, erzählt Antonio:<br />
Madame sei die schönste Frau im ganzen<br />
Kanton gewesen. Die Männer hätten viel getratscht<br />
in der Beiz: über ihn, den «Tschingg»,<br />
und sie, die vornehme Dame aus Rümligen.<br />
Manchmal sei er wütend geworden, habe zugeschlagen,<br />
um die italienische Ehre zu retten,<br />
«l’onore d’Italia». «So eine alte Frau, das ist<br />
doch irrsinnig», sagt er. Elisabeth de Meuron<br />
war 73, Toni 20 Jahre alt, als er in die Schweiz<br />
kam. Wie eine Mutter sei sie für ihn gewesen.<br />
«Toni, ich bin deine Mutter», habe sie oft gesagt.<br />
«Einmal im Winter, wir waren im halboffenen<br />
Jeep unterwegs, reichte ich ihr eine Decke<br />
für die Beine. Sofort half auch sie mir, mich<br />
zuzudecken, mit den Worten: ‹Sonst kriegst du<br />
keine Kinder.› Ja, diese Frau hatte Ideen!»<br />
Nicht nur das Hörrohr, die langen schwarzen<br />
Röcke und die russischen Windhunde an<br />
der Leine machten Elisabeth de Meuron zum<br />
Berner Stadtoriginal. Über die alte Dame kursierten<br />
zahllose Anekdoten. So soll sie sich<br />
standhaft geweigert haben, ein Trambillett zu<br />
der gute geist<br />
von rümligen<br />
Antonio Esposito heizt mit<br />
demselben Holzöfeli wie schon<br />
zu Madames Zeiten. Vor ihrem<br />
Tod (1980) hatte sie verfügt, er<br />
dürfe weiterhin im Jägerhüsi<br />
(u. l.) leben. Bis heute schaut er<br />
auf Schloss Rümligen (u. M.)<br />
zum Rechten. Das hat er<br />
Madame versprochen<br />
kaufen. «Ich war vor dem Tram da», habe sie<br />
dem Kontrolleur erwidert. Sätze wurden ihr<br />
nachgesagt wie: «Syt Dihr öpper oder näht<br />
Dihr Lohn» Und: «Im Himmel sy mer alli<br />
glych, aber hie uf Ärde herrscht Ornig.» Träfe<br />
Sprüche, mit der sie die feinen Unterschiede<br />
in der Gesellschaft auf den Punkt brachte.<br />
Die alte Aristokratie gibt in der Berner Burgergemeinde<br />
bis heute den Ton an. Und sie<br />
sind reich und mächtig, sie besitzen ein Drittel<br />
des städtischen Bodens, ihr Vermögen ist milliardenschwer.<br />
In den Augen der Bevölkerung<br />
war Madame de Meuron die legendärste Burgerin.<br />
Zeitlebens wehrte sie sich gegen viele der<br />
Anekdoten: Sie seien erlogen. Aber die Berner<br />
hörten nicht auf sie.<br />
Für die Angestellten der blaublütigen Burger<br />
muss es nicht immer einfach gewesen ein,<br />
deren Launen zu ertragen: Da war ein Gehstock<br />
schnell zur Hand, um dem Ärger mit<br />
einem Schlag Luft zu verschaffen.<br />
Aber auch Madame de Meuron blieb von<br />
Schicksalsschlägen nicht verschont. Ihr Bruder<br />
starb bei einem Unfall, die Tochter wanderte<br />
nach Marokko aus, der Sohn nahm sich<br />
mit dreissig Jahren das Leben. Seit diesem Todesfall<br />
(1939) trug Madame de Meuron Zeit ihres<br />
Lebens nur noch Schwarz.<br />
Die alte Dame verlangte Achtung: Selbstbewusst,<br />
bisweilen herrisch trat sie auf. Sie genoss<br />
die Begleitung hoher Beamter und Militärs,<br />
sie lud zu einzigartigen Springturnieren<br />
für die Schweizer Kavallerie auf der Schlossmatte.<br />
Die Aufmerksamkeit der kleinen Leute<br />
war ihr ebenso gewiss. Doch gegen einsame<br />
Stunden war auch sie nicht gefeit. «Eine liebe<br />
Frau war sie, eine arme, viel alleine», sagt<br />
Toni. An Weihnachten sei es jeweils besonders<br />
schlimm gewesen. «Toni, wo ist meine<br />
Familie» habe sie ihn gefragt, alleine am Küchentisch,<br />
einen halben Roten vor sich.<br />
1978 fiel Elisabeth de Meuron aus dem Bett<br />
und brach sich den Oberschenkelhals. Am<br />
22. Mai 1980 verstarb sie 98-jährig im Spital<br />
Riggisberg. Nach ihrem Tod wurde Antonio ins<br />
Büro eines vornehmen Burgernotars zitiert.<br />
Das Papier sei nichts wert, sagte der ihm, es sei<br />
kein Testament. Die Zeilen, um die es ging, waren<br />
von Madames Hand geschrieben: Toni dürfe<br />
im Jägerhüsi wohnen, er gehöre zur Familie.<br />
Auf dem Bürotisch lag ein Stapel Akten, auch<br />
eine der Erbinnen war da. «Damit», habe Toni<br />
gesagt, während er die Akten mit Daumen und<br />
Zeigefinger hob und wieder fallen liess, «damit<br />
kannst du Füdli putzen!» Wenn der Herr Notar<br />
den Willen von Madame nicht akzeptiere, komme<br />
er in der Zeitung.<br />
Man weiss nicht, wozu der vornehme Herr<br />
die Akten benutzte. Er meldete sich jedenfalls<br />
nie wieder. Und Toni blieb im Jägerhüsi.<br />
Madame hatte es so gewollt. Man habe ihm<br />
viel Geld geboten, um «alles über Madame»<br />
zu erzählen. Er aber lehnte ab. Er wolle kein<br />
Geld, kein Gerede, keine Probleme.<br />
Toni verschwindet nach draussen und<br />
kommt mit einer Flasche Hauswein zurück.<br />
Fischt mit der Gabelzinke einen Tortiglione<br />
aus dem kochenden Wasser, al dente. Madame<br />
habe ihm gesagt: «Toni, ich will keinen Vormund.»<br />
Er versprach: «Du bekommst keinen<br />
Vormund, dafür sorge ich.»<br />
Seit 28 Jahren ist Elisabeth de Meuron nun<br />
tot. Und ihr <strong>Diener</strong> Antonio ist schon lange<br />
pensioniert. Aber wenn im Winter das Schloss<br />
kalt und verlassen dasteht, schaut Toni dort<br />
zum Rechten. Solange er lebt. Er hat es ihr<br />
versprochen. l<br />
28 | SonntagsBlick Magazin<br />
SonntagsBlick Magazin | 29