1 Michael Wolffsohn Feindliche Brüder? Die Aufarbeitung von ...
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<strong>Michael</strong> <strong>Wolffsohn</strong><br />
<strong>Feindliche</strong> <strong>Brüder</strong>?<br />
<strong>Die</strong> <strong>Aufarbeitung</strong> <strong>von</strong> Nationalsozialismus und Kommunismus als<br />
Gegenwartsaufgabe<br />
Berlin-Hohenschönhausen, 19. Februar 2010<br />
Reineke Fuchs<br />
Grimbart der Dachs zu seinem Oheim Reineke Fuchs, im Achten Gesang:<br />
Kleine <strong>Die</strong>be hängt man so weg, es haben die großen<br />
Starken Vorsprung, mögen das Land und die Schlösser verwalten.<br />
„Sehet, Oheim, bemerk´ ich nun das und sinne darüber,<br />
Nun, so spiel´ ich halt auch mein Spiel und denke daneben<br />
Öfters bei mir: es muss ja wohl recht sein; tun´s doch so viele!<br />
Freilich regt sich dann auch das Gewissen und zeigt mir <strong>von</strong> ferne<br />
Gottes Zorn und Gericht und lässt mich das Ende bedenken.<br />
Ungerecht Gut, so klein es auch sei, man muss es erstatten“<br />
Und da fühl´ ich denn Reu´ im Herzen; doch währt es nicht lange.<br />
Ja, was hilft dich´s, der Beste zu sein, es bleiben die Besten<br />
Doch nicht unberedet in diesen Zeiten vom Volke.<br />
Nein, ich habe das Manuskript nicht verwechselt. Ich spreche über „<strong>Feindliche</strong><br />
<strong>Brüder</strong>. <strong>Die</strong> <strong>Aufarbeitung</strong> <strong>von</strong> Nationalsozialismus und Kommunismus als<br />
Gegenwartsaufgabe“.<br />
Das Grundsätzliche<br />
Ich möchte über das Grundsätzliche reden, nicht (jedenfalls nicht nur)<br />
über Nationalsozialismus und Kommunismus, die Dimensionen ihrer jeweiligen<br />
Schrecken, Entnazifizierung und Ent-Kommunistierung, die Vergleichbarkeit oder<br />
Unvergleichbarkeit jener Unrechts- , jawohl, Verbrecherregime.<br />
Worum geht es bei der „<strong>Aufarbeitung</strong>“ <strong>von</strong> Nationalsozialismus und Kommunismus?<br />
Abstrakt und grundsätzlich um ein Menschheitsproblem. Schuld und Sühne, Sühne<br />
nach der Schuld. Sühne ja, Sühne nein? Vergessen ja, vergessen nein? Vergeben ja,<br />
vergeben nein? Wiedergutmachung für die Opfer ja oder nein; wer, wem, was, wie,<br />
wie viel, wie lange?<br />
Nicht nur Germaniens Großmeister Goethe wusste (und sagte mit unvergleichlich<br />
humoristischer Leichtigkeit und Tiefe – „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“),<br />
1
dass „große <strong>Die</strong>be“ bzw. Großschurken, wenngleich und nachdem ertappt, weiter<br />
„das Land und die Schlösser verwalten.“<br />
Wer dächte nicht unverzüglich an (symbolisch-bildhaft, versteht sich), „unsere“<br />
heutigen „Groß-<strong>Die</strong>be“, die zwar nicht Schlösser, wohl aber das Land oder Teile des<br />
Landes nachnazistisch oder nachkommunistisch verwaltet haben oder gar noch<br />
verwalten: Postnazistisch die Globkes und die Oberländers, postkommunistisch die<br />
großen und die kleinen Stolpes, die großen und die kleinen Gysis sowie die vielen<br />
IMs und ihre <strong>Brüder</strong> und Schwestern in Geist, Wort, Bild, und Tat. Sie alle gehörten<br />
oder gehören (manche, o je, sagen „bereichern“) unser Leben in Politik,<br />
Gesellschaft, Wirtschaft, und Kultur.<br />
So manches Schwert des Nationalsozialismus und Kommunismus wurde keine<br />
Pflugschar, aber wechselte die Scheide: nach dem NS-Ende schlüpften<br />
Wehrmachts, Gestapo- oder SS-Täter in BND-, MAD, Polizei- oder<br />
Bundeswehrkleidung oder spiegelbildlich Stasi-, Volkspolizei- und NVA-Gewänder.<br />
Vergleichbar der Gewandwechsel nach der Wende <strong>von</strong> 1989/90. Schuld? Ja. Sühne?<br />
Nein. Gewissen? Was wissen wir? Ich fürchte: nein. Zumindest nicht nach außen<br />
erkennbar. Statt dessen Ausflüchte, Flucht aus der Schuld, die angebliich keine war,<br />
weil man doch nur das Beste wollte und „alle liebte“. Mit gutem Gewissen (oder<br />
doch mit schlechtem?) lebten jene Volksgenossen und Genossen weiter und<br />
genossen ihr Leben, wie Grimbart der Dachs in „Reineke Fuchs“. Gar mancher<br />
dieser Dachse, besser: Böcke wurde Gärtner.<br />
Von Böcken und Gärtnern<br />
<strong>Die</strong>se Gärtner wissen sehr wohl, dass sie Böcke sind – weil die Norm gilt, selbst<br />
wenn auch andere Gärtner, die vorher keine Böcke waren, darüber – aus welchen<br />
Gründen auch immer - hinwegsehen.<br />
Liebe Anwesende, lieber Siegfried Reiprich, lieber Hubertus Knabe, Sie alle kennen<br />
viele Beispiele. Viel mehr als ich. Ich nenne Ihnen nur zwei Beispiele aus meinem<br />
deutlich begrenzteren persönlichen und familiären Erfahrungs- und Erlebnisbereich:<br />
der deutschjüdischen Welt.<br />
Mein Großvater Karl <strong>Wolffsohn</strong> war einer der Pioniere der deutschen und<br />
europäischen Filmpublizistik. Sein Eigentum wurde <strong>von</strong> 1933 bis 1939 vielfach<br />
geraubt. „Arisiert“, nannte man das damals. Nach diesem „Damals“, ab 1949,<br />
kehrte Karl <strong>Wolffsohn</strong> zurück, um das Geraubte zurückzuerlangen. <strong>Die</strong><br />
Bundesrepublik Deutschland, so Karl <strong>Wolffsohn</strong>, wolle ein Rechtsstaat sein, und ein<br />
Rechtsstaat erstatte Raubgut zurück. Er bekam – ganz „legal“, versteht sich - nur<br />
einen Bruchteil. In der Frühphase der Selbstamnestierung der braunen Justiz war die<br />
einst arisierende Dresdner Bank so sieges- und selbstgewiss, dass sie gegen<br />
meinen Großvater denselben „Rechts“anwalt an die Rechtsfront schickte, der<br />
1933/34 die Arisierung so erfolgreich über die braune Bühne gebracht hatte. Im<br />
Vergleich zu den Verbrechen in der NS-Makrowelt wäre dieses Beispiel aus meiner<br />
familiären Mikrowelt zu vernachlässigen – gäbe es da nicht die erst kürzlich<br />
veröffentlichte „wissenschaftliche <strong>Aufarbeitung</strong>“ der Dresdner Bank im Dritten<br />
Reich. In zwei der insgesamt fünf Bände wird die Arisierung <strong>von</strong> Karl <strong>Wolffsohn</strong><br />
„analysiert“ und interpretiert. Ganz so unbedeutend kann dieses Beispiel also nicht<br />
2
gewesen sein. Erstaunlicherweise (oder doch nicht?) fiel dem ausgewiesenen<br />
Historiker der sogenannten „Wiedergutmachung“ nicht einmal auf, dass mit jenem<br />
Rechtsanwalt der Bock zum Gärtner gemacht wurde. Sowohl der<br />
Wiedergutmachungs- als auch der Arisierungs-Historiker stützte sich fast<br />
ausschließlich auf Dokumente der Dresdner Bank. Souverän verzichteten beide auf<br />
Historisch-Elementares: die Gegenüberlieferung, hier: die Gegenüberliefrung <strong>von</strong><br />
Karl <strong>Wolffsohn</strong>. Soll ich noch erwähnen, dass der mit diesem Projekt betraute<br />
wissenschaftliche Leiter, der Kollege Henke, vom damaligen Präsidenten des<br />
Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, vorgeschlagen wurde und somit<br />
den Koscher-Stempel erhielt? So koscher war dieser Entscheidungsvorgang, dass<br />
Ignatz Bubis <strong>von</strong> der Dresdner Bank für diesen wissenschaftlich, fachmännischen<br />
Rat mit 300.000 D-Mark be-und entlohnt wurde. So werden Böcke zu Gärtnern und<br />
Gärtner zu Böcken.<br />
Im Rahmen der Recherchen für meine Bücher „<strong>Die</strong> Deutschland-Akte“ und „Meine<br />
Juden – Eure Juden“ stieß ich auf andere Böcke, die andere Gärtnereien betrieben.<br />
Ich rede <strong>von</strong> Dr. Peter Fischer und Professor Dr. Hermann Simon.<br />
Ohne Karriereknick gelang beiden der Übergang <strong>von</strong> der DDR zur Bundesrepublik.<br />
Obwohl DDR-Spitzenjude („Spitze“?) gab Dr. Peter Fischer noch im August 1989<br />
unter „Glaubensbekenntnis“ die Antwort „ohne“. Ohne Jude zu sein, arbeitete<br />
Peter Fischer im jüdischen Spitzenverband und repräsentierte die Juden seines<br />
Landes – wie Jahre später Stephan Kramer, der heutige Generalsekretär des<br />
Zentralrates der Juden in Deutschland. Erst Judenvertreter, dann Jude. Eine<br />
bemerkenswerte Variante <strong>von</strong> Glaubwürdigkeit und Moral.<br />
Zurück zu Doktor Peter Fischer. Noch im August 1989 sagte er der Stasi, er habe<br />
aus „politisch-ideologischer Überzeugung“ mit dem MfS zusammengearbeitet. 1<br />
Peter Fischers „ehrenamtlicher“ Einsatz für die Stasi wurde am 19. Dezember 1989<br />
ordentlich „beendet“. Auch in der Revolution muss Ordnung sein. Zuvor hatte ihm<br />
Schwert und Schild der Partei in der „Beurteilung“ vom August 1989 den scheinbar<br />
heillosen Siegerkranz geflochten: „Der IM arbeitet aus Überzeugung mit dem MfS<br />
zusammen. Er steht fest zu den Zielen der Partei… ist kämpferisch… nicht immer<br />
bequem…Wahrheitsliebend, stark gefühlsbetont, sensibel.“ Das MfS als Ort und<br />
Hort der Sensiblen. So haben wir uns das schon immer vorgestellt.<br />
Der sensible Mann wechselte 1990 vom Sekretär des Präsidenten im „Verband der<br />
(DDR-) jüdischen Gemeinden“ zum Leiter der Berliner Außenstelle im Zentralat der<br />
Juden in Deutschland, vom IMS „Frank“, zuvor „Jan“ und noch früher IM „René“<br />
bis zu seiner rechtsstaatlich makellosen Pensionierung zum<br />
„Gedenkstättenreferent“ im jüdischen Zentralrat. <strong>Die</strong> Metamorphose vom Bock zum<br />
Gärtner. Klassisch. Hier ward´s Ereignis, das Ewig Unmoralische zieht uns hinab –<br />
und die positionell moralisierende Stufenleiter hinan. Besonders<br />
Gedenkstättengestalter in Sachsen und Sachsen-Anhalt kamen in den Genuss der<br />
Kostproben seiner Sensibilität, seines Könnens, Wollens, Moralisierens. Auch auf<br />
Bundesebene gierte man nach seiner Moral. Er zierte sich nicht.<br />
<strong>Die</strong> Bundeszentrale für politische Bildung kam im Juni 2007 – 1997 hatte ich Peter<br />
Fischer in „Meine Juden – Eure Juden“ als IM enttarnt – im Juni 2007 kam also die<br />
3
Bundeszentrale für politische Bildung auf den sinnigen Gedanken, dem Bock-Gärtner<br />
folgende Frage zu stellen:<br />
„Wie würden Sie sich die Erinnerungskultur in Deutschland wünschen?“<br />
Natürlich gab Peter Fischer eine, nein, „die“ passende Antwort: „Sie sollte nicht so<br />
in einfachen Dimensionen ausgerichtet sein… Man muss bei all diesen<br />
Unrechtskomplexen unterscheiden, ob stalinistische Gewalt,<br />
Gesellschaftsverbrechen, Staatskriminalität der DDR oder die Rassenideologie der<br />
Nationalsozialisten. Das sind unvergleichliche Dimensionen… Eine solche komplexe<br />
Geschichtssicht würde meiner Vorstellung <strong>von</strong> Erinnerungspolitik eher entsprechen<br />
als einen deutschen Topf aufzumachen, jetzt ist alles Totalitarismus und das ist alles<br />
Gewaltherrschaft. <strong>Die</strong>s ist Verklärung <strong>von</strong> Geschichte, genau das ist Gegenteil <strong>von</strong><br />
dem was wir brauchen.“ 2<br />
Totaliarismus als „Verklärung“? „Humor ist, wenn man trotzdem lacht.“ Moral ist,<br />
wenn man Moralisierern trotzt.<br />
Professor Doktor Hermann Simon, stellvertretender Vorsitzender der – natürlich -<br />
stasifizierten Jüdischen Gemeinde Ost-Berlins, war kein Stasimann, aber in der End-<br />
DDR der wohl einflussreichste und wichtigste, weil kenntnisreichste juden- und<br />
israelpolitische Ratgeber <strong>von</strong> Staat und Partei. Trotz seiner Verbindungen zu den<br />
Oberen des Roten Deutschlands, klopfte Hermann Simon im Frühjahr 1989 - nach<br />
den gefälschten Kommualwahlen - an die Rotlicht-Türen der Stasi. 3<br />
Nach der Wiedervereinigung wurde er zeitweise Vorsitzender der<br />
Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und, wichtiger,<br />
Direktor des Centrum Judaicum. Er blieb, nun gesamtdeutsch und international,<br />
einflussreich. So blieb es, weil er blieb - auch nach und trotz seiner Enttarnung als<br />
Stasiklinkenputzer. Kein Gedenken, keine Feier ohne Simon. Natürlich war er dabei,<br />
als Bundespräsident Horst Köhler am 26. Januar dieses Jahres, zu Ehren <strong>von</strong> Israles<br />
Staatspräsident Shimon Peres im Schloss Bellevue Amts- und Würdenträger unseres<br />
Landes zu einem ein festlichen Abendessen einlud. Dass wir uns mieden und nicht<br />
die Hand gaben, wurde sicher eher mir als Hermann Simon protokollarisch und<br />
moralisch angekreidet.<br />
Moral bleibt Moral. Das gilt natürlich auch für den Direktor der Stiftung Bayerische<br />
Gedenkstätten, den stellvertretenden Vorsitzenden der CSU-Fraktion im Bayerischen<br />
Landtag, Karl („Charly) Feller. Ihm untersteht die KZ-Gedenkstätte Dachau. Freller<br />
dankte der tüchtigen, ehemaligen Gedenkstättenleiterin auf seine Weise: <strong>Die</strong> Dame<br />
hatte am letzten Arbeitstag vor ihrem wohlverdienten Ruhestand ohne Genehigung<br />
ihre <strong>Die</strong>nst-Festplatte löschen lassen. Das Strafgesetzbuch sieht für solche<br />
Kavaliersdelikte eine Haftstrafe bis zu zwei Jahren vor. Freller fand diese und andere<br />
materielle Ungereimtheiten „not amusing“ und ließ den Vorgang - erst nach<br />
massiver öffentlicher Aufforderung - untersuchen. <strong>Die</strong> Untersuchung ward<br />
schnellstens abgeschlossen – Punkt, Punkt, Punkt. Endpunkt der <strong>Aufarbeitung</strong>?<br />
„<strong>Aufarbeitung</strong>“?<br />
„Amnestie“<br />
4
Von der Mikro- zur Makroebene der politischen Moral, vom Heute zum<br />
Vorvorgestern, in die Antike:<br />
„Amnestia“ = vergessen, vergeben. <strong>Die</strong>ses erste Vergessen, diese erste<br />
„Amnestie“ der Weltgeschichte wurde den im Peleponesischen Krieg 404 v.u.Z.<br />
unterlegenen und besetzten Athenern <strong>von</strong> den spartanischen Besatzungstruppen<br />
aufgepropft. <strong>Die</strong>ses vermeintliche, weil machtpolitisch verfügte Vergessen war<br />
gedacht als funktionaler Kitt der gespaltenen Athener Gesellschaft. Funktionaler Kitt,<br />
kein moralischer Konsens. Der war unmöglich, denn unversöhnlich standen sich in<br />
Athen Anhänger der oligarchischen Schreckennsherrrschaft und Demokraten<br />
gegenüber. Ein moralischer Konsens der Athener war so realistisch wie ein Konsens<br />
zwischen Heinrich Himmler und Sophie Scholl, Markus Wolf und Jürgen Fuchs. Wer<br />
uns heute das Amnnestie-Modell der antiken Athener empfiehlt erinnere sich daran,<br />
dass der weise, große, gütige Sokrates 399 v.u.Z. zwischen die Amnestiefronten<br />
geriet und den Schierlingsbecher trinken musste. Weder nach 1945 noch nach 1989<br />
hatten wir einen Sokrates. Wie schade. Aber es gab auch keinen Schierlingsbecher.<br />
Wie gut.<br />
Auch die klassische Amnestie lehrt: Sie ist kein Modell sogenannter <strong>Aufarbeitung</strong>.<br />
Kitt wirkt mechanisch, Konsens mental, und ohne Mentales keine Seelenmedizin<br />
und ohne Seelenmedizin kein innerer Friede, weder individuell noch kollektiv.<br />
Eher Modellhaftes zum Umgang mit Verbrechern nach ihrem Verbrechen finden wir<br />
– finde ich – im Alten Testament, in der Geschichte vom Brudermörder Kain. Kein<br />
Vergessen für Kain, sagt die Bibel. Weder Kain noch seine Umwelt kann, darf, will<br />
vergessen. Doch sei kein Mensch so vermessen, als Quasi-Gott einen anderen<br />
tödlich zu richten. Deshalb das zugleich stigmatisierende wie schützende<br />
Kainszeichen. Es stigmatisiert, indem es signalisiert: „Seht her,, das ist er, der<br />
Brudermörder Kain. Es schützt, indem es Kain körperlich unangreifbar und zugleich<br />
resozialisierbar macht. Wer redet da vom Alten Testament als „Buch der Rache“..?<br />
Rot = braun?<br />
1945 / 1989. Unendlich oft wurde darüber gestritten, ob „Rot = Braun“ gelte, ob<br />
man Rot und Braun miteinander vergleichen könne, ob das Vergleichen relativierte<br />
und so weiter und so weiter. Der bedeutende Moralist und Historiker Dr. Peter<br />
Fischer warnte uns bekanntliich vor diesem historische Eintopf.<br />
Wir müssen uns nicht da<strong>von</strong> überzeugen, dass die <strong>Aufarbeitung</strong> <strong>von</strong><br />
Nationalsozialismus und Kommunismus eine Gegenwartsaufgabe ist, wohlgemerkt<br />
<strong>von</strong> Nationalsozialismus und Kommunismus. Wir müssen uns nicht da<strong>von</strong><br />
überzeugen, dass Nationalsozialismus und Kommunismus als Staat Unrechtsstaaten,<br />
Dikaturen, waren und millionenfach Mord und Verbrechen begingen.<br />
Welche der beiden Diktaturen Rang eins der Verbrecherliste zukommt, mag<br />
diejenigen interessieren, die, wie im Sport, nur in Tabellen denken und werten.<br />
Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel, Unrecht ist Unrecht, Unmoral Unmoral, Verbrechen<br />
Verbrechen, Mord Mord. Dem jeweiligen Opfer ist es gleichgültig, ob es vom<br />
5
größten oder zweitgrößten Verbrecher der Weltgeschichte erniedrigt, verfolgt oder<br />
ermordet wird.<br />
Vermeintlich objektive Tabellenplatzierungen historischer Akteure <strong>von</strong> gestern arten<br />
im Heute zu ideologischen Schlachten aus. Aus Augen und Sinn gerät dabei das<br />
Grundsätzliche, die Frage nach Moral und Anstand im staatlich gesellschaftlichen<br />
Alltag der Menschen.<br />
„<strong>Aufarbeitung</strong>“<br />
Vorsicht ist geboten, wenn man über die „<strong>Aufarbeitung</strong>“ deutscher Geschichte<br />
spricht. „<strong>Aufarbeitung</strong>“, das klingt wie „Arbeitsbeschaffungsprogramm“ oder<br />
„abarbeiten“. „Arbeit“ und deutsche Geschichte: Wer schlüge nicht schnellstens die<br />
Gedankenbrücke zu „Arbeit macht frei“? Ein „Abarbeiten“ deutscher Geschichte<br />
dieses verbrecherischen Sinnes kann und darf, nicht gemeint sein; ist nicht gemeint<br />
und obwohl nicht gemeint, eben schnelllstens gedacht. Deshalb Vorsicht bei der<br />
Anwendung des Begriffes „<strong>Aufarbeitung</strong>“ der Geschichte, erst recht in<br />
„volkspädagogischer“ Absicht.<br />
Arbeit ist ein hoher, begehrter Wert, vor allem, wenn man keine Arbeit hat. Wer<br />
irgendeine Arbeit hat, ist mit dieser Arbeit oft unzufrieden und nennt sie abschätzig<br />
„Maloche“, was so viel heißen soll wie „Drecksarbeit“ oder, kürzer und genauer:<br />
„ein Dreck“.<br />
„Maloche“ kommt aus dem Jiddischen, und dieses jiddsiche Wort hat einen<br />
hebräischen Ursprung: „Melacha“, die Arbeit. Und zwar „Arbeit“ ohne negative<br />
Schwingung und Stimmung. Im Gegenteil, Melacha, die Arbeit, hat im Hebräischen<br />
denselben Wortstamm wie „Malach“, auf deutsch: Engel. Woraus wir lernen, dass<br />
Arbeit in der jüdischen Tradition nie Maloche, sondern immer Broche = Segen war.<br />
Womit wir unverzüglich himmlische bzw. metaphysische Gefilde erreicht hätten.<br />
Das ist kein Zufall, denn das sogenannte Aufarbeiten <strong>von</strong> Geschichte hat nicht nur<br />
empirisch weltlich rechtliche, sondern auch moralisch naturrechtliche und nicht<br />
zuletzt metaphysisch religiöse oder quasi religiöse bzw. fundamentalwertige<br />
Dimensionen. <strong>Aufarbeitung</strong> <strong>von</strong> Geschichte, das Aufarbeiten des Gestern, wird im<br />
Heute vollzogen – fürs Morgen, Übermorgen, auf Dauer, manche meinen sogar für<br />
zeitlose, ewige Werte. Um an „Ewige Werte“, an Fundamentalwerte der<br />
mitmenschlichen Gesellschaft zu glauben, muss man kein gottesgläubiger Mensch<br />
sein.<br />
Fundamentalwerte<br />
- Göttliches Recht als Recht plus Gerechtigkeit<br />
Im jüdischen Gebet heißt es und zum Beispiel bei Beerdigungen sagt man es: „Gott<br />
hat gegeben, Gott hat genommen, der Name Gottes sei gepriesen.“ Gott hat<br />
6
gegeben und Gott hat genommen. Das bedeutet: Kein Mensch hat das Recht, eines<br />
anderen Menschen Leben zu nehmen. Folgerichtig heißt es in den Zehn Geboten<br />
„Du darfst nicht morden“. (Übrigens „du darfst nicht morden“ und nicht, wie Luther<br />
falsch übersetzt „du sollst nicht töten“.)<br />
Man muss kein gläubiger Mensch sein, um dieses Gebot zu erfüllen. Doch sowohl<br />
Gläubigen wir Nichtgläubigen ist es in der Menschheitsgeschichte bislang nicht<br />
gelungen, dieses Gebot umfassend zu erfüllen. Es als göttliches Gebot oder als<br />
sittliche Norm dauerhaft zu sichern und durchzusetzen, ist keineswegs nur die<br />
Aufgabe der Religion und Religiösen, es ist unser aller Aufgabe, gegenüber dem<br />
herkömmmlichen wie dem – für uns entscheidend – politischen Mörder. Diktaturen<br />
haben das Mordverbot systematisch verletzt, verhöhnt, verachtet.<br />
Laut Karl Jaspers ist Instanz des göttlichen Rechtes Gott. Ja, aber ich füge hinzu:<br />
Ohne Gott zu sein, kann, darf, muss der Mensch in der zuvor beschriebenen Weise<br />
das auch <strong>von</strong> Atheisten nachvollziehbare Gottesrecht durch Natur- und<br />
Menschenrecht ergänzen.<br />
- Naturrecht als Gerechtigkeit<br />
Instanz der naturrechtlichen Moral und Norm ist das Gewissen. Sie zielt nicht auf<br />
Gott,, sondern die Gerechtigkeit für Menschen, <strong>von</strong> Menschen, durch Menschen.<br />
Wie der gemeine Mörder rechtfertigt der politische Mörder seine Tat nach Kräften,<br />
nach außen und nach innen, vor sich selbst. Doch in seinem Innersten weiß der<br />
Mörder: Ich habe gemordet und gegen Moral und Normen verstoßen. Das<br />
Mordopfer wird dadurch nicht wieder lebendig, doch die Kraft der Norm signalisiert<br />
dem Mörder: „Du hast dich selbst aus der Gemeinschaft der menschlichen<br />
Menschen ausgeschlossen.“ Das Mordopfer ist tot, doch im Innersten des Mörders<br />
bleibt es lebendig.<br />
Naturrechtlich wurde die Unverletzlichkeit des Menschenlebens durch den großen<br />
John Locke begründet, einen der geistigen Väter der aufgeklärt-demokratischen<br />
Gesellschaft. Kein Mensch dürfe sich am Leben, der Freiheit und dem Eigentum<br />
eines anderen Menschen vergreifen. „Life, liberty and property“.<br />
Life, liberty and the pursuit of happiness - Leben, Freiheit und das Streben nach<br />
Glück - so 1776 die Unabhängigkeitserklärung der USA, seien “unalienable rights“,<br />
unaufgebbare Rechte, des Menschen und damit der Menschen, also der<br />
Menschheit. <strong>Die</strong>ses unaufgebbare Menschenrecht ist allen Menschen einerseits<br />
gegeben und andererseits zugleich aufgegeben.<br />
„We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they<br />
are endowed by their creator with certain unalienable Rights, that among these are<br />
Life, Liberty and the pursuit of Happiness.”<br />
Wohlgemerkt, die Schlüsselworte – Rights, Life, Liberty, Happiness - sind groß<br />
geschrieben,<br />
Life, das erste Wort. Womit Natur- und Gottesrecht („Du sollst nicht, dafst nicht<br />
morden“) zusammengeführt wären.<br />
7
Individuell sind Leben und Streben nach Glück auch in Diktaturen möglich. Im Dritten<br />
Reich, in der DDR, unter Franco, Stalin, Mao oder Pol Pot wurde <strong>von</strong> so manchen so<br />
mancher Alltag genossen. Von den Genossen ohnehin genossen. Auch <strong>von</strong> Anderen.<br />
Sie liebten, sie lachten, hatten Freude und Freunde und Kinder und Kollegen. Aber<br />
hatten sie Freiheit? Manchen fehlte sie nicht.<br />
Und jene, denen sie fehlte? Hans und Sophie Scholl zum Beispiel oder unserem<br />
unvergesenen Jürgen Fuchs oder <strong>Michael</strong> Gartenschläger und, und, und?<br />
Und diejenigen, die im Dritten Reich keine Volksgenossen sein wollten oder durften<br />
und um ihr Leben – Life – bangen mussten, auch um ihr Eigentum. Frei waren sie<br />
ohnehin ab 1933 nicht mehr.<br />
Nicht alle Deutschen mussten ab 1933 so leiden wie die Juden. Doch Bert Brechts<br />
„Furcht und Elend des Dritten Reiches“ verdeutlicht die Allgegenwart der Gefahr für<br />
Leib und Leben und Eigentum, <strong>von</strong> Freiheit ganz zu schweigen.<br />
Verrat war ebenfallls allgegenwärtig. Siehe wieder Brecht „Furcht und Elend des<br />
Dritten Reiches“ oder in der DDR: Konnten Ehepartner einander vertrauen? Und<br />
wenn sie einander vertrauten, war das Vertrauen gerechtfertigt? Nein, wenn man<br />
zum Beispiel an das Schicksal <strong>von</strong> Vera Lengsfeld oder Ulrich Mühe denkt.<br />
Wem das alles erspart blieb, konnte sogar „glücklich“ sein. Bis weit in die 1950er<br />
Jahre hielten die meisten Bundesbürger die Jahre <strong>von</strong> 1933 bis 1939 für die besten<br />
im 20. Jahrhundert, und wer die blühende Ostalgie kennt, fühlt sich an jene BRDler<br />
erinnert. „Nichts Neues unter der Sonne.“ „Menschliches, allzu Menschliches“.<br />
Den Verzicht auf Freiheit verschmerzen viele lange, und sie wähnen sich dabei oder<br />
danach sogar glücklich. Sie übersehen, dass dem Verlust der Freiheit der Verlust <strong>von</strong><br />
Leib und Leben und Eigentum irgendwann folgt, folgen kann und in der Geschichte<br />
vielfach gefolgt ist.<br />
Menschenrecht: Recht als Justiz – mit Justizirrtümern<br />
Bei der „<strong>Aufarbeitung</strong>“ <strong>von</strong> Unmoral und Unrecht ist beim göttlichen Recht Gott die<br />
Instanz, beim Naturrecht das Gewissen. Beim menschengesetzen Recht, dem<br />
positiven, physischen Recht, ist das Gericht die Instanz. <strong>Die</strong> Akteure sind Richter.<br />
Naturrecht strebt nach Legitimität, <strong>von</strong> Menschen gesetztes Recht ist Legalität und<br />
diese nicht selten alles andere als legitim.<br />
<strong>Die</strong> historische Erfahrung lehrt nicht nur bezüglich der <strong>Aufarbeitung</strong> <strong>von</strong><br />
Nationalsozialismus und Kommunismus: „Irren ist menschlich“ . Richter sind<br />
bekanntlich Menschen, und an manchen dieser Menschen wird man irre, weil sie<br />
irren oder auch weil der Menschen Gesetze zwar Recht aber nicht immer, gar selten<br />
Gerechtigkeit oder – greifen wir hoch und am höchsten – göttliche Rechtschaffenheit<br />
schaffen .<br />
Auch in Unrechtsstaaten gibt es gesetzes Recht, Gesetze. So auch im Dritten und<br />
Stalins und Kim Jong Ils Reich, natürlich auch in der DDR.<br />
Der Doppelstaat<br />
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„Doppelstaat“. Das ist die Kennzeichnung des „Rechts“wesens <strong>von</strong><br />
Unrechtsstaaten. Ernst Fraenkel hat den Begriff geprägt und auf das NS-Regime<br />
bezogen. Im Bild ausgedrückt: Taschendiebe werden nach „Recht und Gesetz“<br />
bestraft. Belohnt und „rechtlich“ nicht belangt werden politisch bestimmte und<br />
bedingte, gedungene Mörder und Massenmörder.<br />
Wer Obst oder Gemüse stiehlt, kommt hinter Schloss und Riegel, Auschwitz,<br />
Gulags, Hohenschönhausen oder Schießbefehl gehören nicht zum Rechtskodex. Ihre<br />
Existenz wird amtlich sogar bestritten. Sie sind faktisch vorhanden, sie werden <strong>von</strong><br />
den Lenkern und Henkern des jeweiligen Unrechtsstaates als „gerecht“ und somit<br />
als „höheres Recht“, als quasi Naturrecht, empfunden und begründet.<br />
(Ich weiß, Auschwitz, Gulags und Hohenschönhausen waren unterschiedliche Kreise<br />
der Hölle, aber sie waren die Hölle.)<br />
Legitimität (als „Gerechtigkeit“) und Legalität (als Recht) stehen, historisch<br />
betrachtet, oft in einem dramatischen Spannungsverhältnis. Besonders in Diktaturen.<br />
Gesetze einer Diktatur beinhalten auch Recht. Dass gesetzte, legale Recht der<br />
Diktatur ist naturrechtlich Unrecht, also illegitim, denn es hebt das unaufhebbare<br />
Menschenrecht auf Leben, Freiheit und meist auch Eigentum auf. Wo und wenn es<br />
den Taschendieb bestraft, ist es auch naturrechtlich gerecht. Wo und wenn<br />
jüdisches Eigentum , weil jüdisch, „arisiert“ wurde, wo und wenn Eigentum <strong>von</strong><br />
„Volks“ oder „Klassenfeinden“ fürs sogenannte „Volkseigentum“ geraubt wurde,<br />
war das alles legal – naturrechtlich legitim war es nie.<br />
Demokratie<br />
Nur im Modell der Demokratie ist diese Gerechtigkeit zu verwirklichen. Freilich:<br />
Freiheit und Demokratie, Leben und das Recht auf Eigentum müssen immer wieder<br />
geschützt, gesichert oder erweitert werden.<br />
<strong>Die</strong>ses Demokratie-Modell ist historisch und geografisch „westlich“: Grundsätzlich<br />
ist es universell, denn es gilt für „den Menschen“ an sich, also für die Menschen, für<br />
alle Menschen, überall und immer. <strong>Die</strong>ses Demokratie-Modell hat nichts, gar nichts<br />
mit Unterdrückung zu tun. Es ist als Modell Befreiung und Freiheit pur. Wenn die<br />
Wirklichkeiit dem Modell nicht entspricht, muss die Wirklichkeit korrigiert werden,<br />
nicht das Modell. <strong>Die</strong>ses Modell ist der Maßstab.<br />
Wo und wenn eine Diktatur <strong>von</strong> einer Demokratie überwunden wird, muss im Sinne<br />
der erwähnten Fundamentalrechte des Menschen <strong>von</strong> „Befreiung“ gesprochen<br />
werden. Alles Gerede <strong>von</strong> Unterdrückung, Anschluss oder Siegerjustiz ist<br />
manipulativ. Es vertuscht die Grundwahrheit. <strong>Die</strong> Grundwahrheit, dass Leben,<br />
Wahlfreiheit der Lebensgestaltung und Schaffung sowie Sicherung des Eigentums<br />
staatlich geschützt und gesichert sind ode sein müssen. Wo und wenn nicht, hat der<br />
Staat die Bringschuld, nicht der Bürger.<br />
In Demokratien muss der Staat den Menschen dienen, nicht die Menschen dem<br />
Staat. Umgekehrt in Dikaturen: Sie betrachten und benutzen den Menschen als ihr<br />
Instrument. In Diktaturen lebt der Mensch für den Staat. Demokratie ist, in den<br />
unvergesslichen Worten der Gettysburg Address Abraham Lincolns aus dem Jahre<br />
9
1863 „Regierung vom Volk, durch das Volk und für das Volk“; „government of the<br />
people, by the people, for the people.“<br />
„Für das Volk“. Wofür? Dafür eben und in Großbuchstaben: Life, Liberty and the<br />
pursuit of Happiness. Allein dafür bilden Menschen Regierungen, heißt es in der<br />
Declaration of Independence, und deshalb, so Lincoln in ihrem Geist, dürften so<br />
verstandene demokratische Regierungen weltweit nicht verschwinden, „shall not<br />
perish from the earth“.<br />
Life, Liberty and the pursuit of Happniness ist kein US-Recht, es ist kein<br />
westdeutsches, gesamtdeutsches, es ist ein allgemeines, weltweit gültiges<br />
Menschenrecht. Wer diesen Geist „imperialistisch“ nennt, kennt nicht den Geist der<br />
Freiheit, weiß nicht was „menschenwürdig leben“ heißt.<br />
Ohne diese Grundkenntnisse, - erkenntnisse und –bekenntnisse gibt es keine<br />
„<strong>Aufarbeitung</strong> <strong>von</strong> Unrecht, sei es nationalsozialistisch, kommunistisch, islamistisch<br />
oder was auch immer.<br />
Im Hier und Heute mögen Moral und Gerechtigkeit sogar durch Recht unterliegen.<br />
Gerade ihre scheinbare Macht- und Kraftlosigkeit lassen langfristig Moral und<br />
Gerechtigkeit triumphieren.<br />
Ein Beispiel sei abschließend erwähnt: Anne Frank. Ihr Beispiel möge uns Kraft<br />
geben, wenn wir wieder an der Ohnmacht <strong>von</strong> Moral und Gerechtigkeit verzweifeln.<br />
Im Jahre 2009 wäre Anne Frank 80 Jahre alt geworden. Ihr und Jürgen Fuchs, den<br />
Opfern <strong>von</strong> Verbrecherstaaten, sei besonders dieser Abschnitt meines Festvortrages<br />
gewidmet.<br />
Anne Frank oder <strong>Die</strong> Macht der Machtlosigkeit<br />
Am 4. August 1944 wurde das fünfzehnjährige Mädchen Anne Frank mit ihrer<br />
Familie und den übrigen Versteckten <strong>von</strong> den Nationalsozialisten abgeholt und<br />
verschleppt. Am 1. August 1944 endet das Tagebuch der Anne Frank. Kurz davor,<br />
am 6. Juli 1944, schrieb sie:<br />
„Menschen, die eine Religion haben, dürfen froh sein, denn es ist nicht jedem<br />
gegeben, an überirdische Dinge zu glauben. Es ist nicht mal nötig, Angst zu haben,<br />
vor Strafen nach dem Tod. Das Fegefeuer, die Hölle und der Himmel sind Dinge, die<br />
viele nicht akzeptieren können. Trotzdem hält sie irgendeine Religion, egal welche,<br />
auf dem richtigen Weg. Es ist keine Angst vor Gott sondern das Hochhalten der<br />
eigenen Ehre und des Gewissens…. Ein ruhiges Gewissen macht stark. 4<br />
Worte eines irdisch-körperlich schwachen, fünfzehnjährigen Mädchens, das seinen<br />
Mördern hoffnungslos unterlegen war, den Lagertod durch Hunger und Krankheit<br />
starb und unsterblich wurde – durch seine gedankentiefen Worte.<br />
„Am Anfang war das Wort“. So beginnt das Evangelium nach Johannes. Ob<br />
Gottessohn oder nicht, Messias oder nicht, Heilsgeschichte oder nur Geschichte-<br />
wie nach ihm Anne Frank war auch Jesus, bei allen fundamentalen Unterschieden<br />
zwischen den beiden, irdisch-körperlich schwach und seinen Mördern hoffnungslos<br />
unterlegen. Jesus starb am Kreuz, Anne Frank im KZ. Unsterblich wurden beide –<br />
durch ihr Leben, Leiden und Sterben.<br />
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<strong>Die</strong> jesuanisch heilsgeschichtlich religiöse und, auf Anne Frank bezogen,<br />
realgeschichtlich moralische Botschaft ist unmissverständlich: Stark sind die<br />
Schwachen. Kurzfristig mögen Mörder siegen, langfristig werden sie <strong>von</strong> den<br />
Ermordeten besiegt, <strong>von</strong> der Kraft der Moral. <strong>Die</strong> Macht der Moral.<br />
Moral - verhöhnt, verpönt, verletzt, vergast, verdrängt … - und unbesiegbar.<br />
1<br />
Belege <strong>Michael</strong> <strong>Wolffsohn</strong>, Meine Juden – Eure Juden, Münche – Zürich 1997, S. 156.<br />
2<br />
http://www1.bpb.de/themen/J8SRWP,0,Umgang_mit_der_Shoa_in_der_DDR.html, Abruf, 12. 2.<br />
2010.<br />
3<br />
http://www.focus.de/politik/deutschland/ddr-der-goldene-fusstritt_aid_168711.html (17. 2. 2010)<br />
4 Tagebuch, 6. Juli 1944, S. 303.<br />
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