WAS IST HASLACH? - Theater Freiburg
WAS IST HASLACH? - Theater Freiburg
WAS IST HASLACH? - Theater Freiburg
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deIne HeImAT<br />
<strong>WAS</strong> <strong>IST</strong> <strong>HASLACH</strong>?<br />
Wenn Sie außerhalb von <strong>Freiburg</strong> im Breisgau wohnen, ist Haslach ein<br />
Ort, der ihnen nichts bedeuten wird: ein Irgendwo, ein Name, Provinz.<br />
Wenn Sie <strong>Freiburg</strong>er Stadtbewohner sind: das Problemviertel, die Gartenstadt,<br />
Peripherie, das Bauprojekt Gutleutmatten.<br />
Und wenn Du Haslacher bist: DEINE HEIMAT!<br />
Und was heißt das dann?<br />
Im Oktober 2010 zog pvc Tanz <strong>Freiburg</strong> Heidelberg in den größten <strong>Freiburg</strong>er<br />
Stadtteil, um ihn näher kennen zu lernen und nach den Lebensbedingungen<br />
der Bewohner zu forschen. Wie verhalten sich dörfliche<br />
Traditionen zu urbanen Anforderungen? Wie wirken stadtpolitische<br />
Entscheidungen und baupolitische Maßnahmen bis in den letzten Winkel<br />
einer Stadt, bis in die Privatwohnungen und die Selbstwahrnehmung<br />
seiner Bewohner hinein? Tanz hat eine Sensibilisierungskraft, die eigenwillige<br />
und unfreiwillige Lebensentwürfe, Mythen, Ortsspezifisches, soziale<br />
Verhältnisse sichtbar und erlebbar machen kann. Und Tanz kann<br />
etwas auslösen: Fluktuation und Bewegung, wo keine herrscht, wo<br />
Strukturen als normal gelten, die verkrustet sind. Tanz stellt, indem er<br />
Realitätsverschiebungen vornimmt, die Normalität in Frage. Aus dem<br />
Projekt »Haslach – Deine Heimat!« ist vor allem eine intensive und sehr<br />
freundschaftliche Begegnung mit den Menschen in Haslach geworden,<br />
die keinen der Beteiligten kalt gelassen hat. Die folgenden Seiten geben<br />
Einblick in das Programm und dessen Entstehung:<br />
TemporäreS ZenTrum <strong>HASLACH</strong>: Auf dem Grün an der Staudinger-<br />
Gesamtschule entstand im Herbst 2010 rund um das <strong>Freiburg</strong>er<br />
<strong>Theater</strong>mobil »Orbit« ein zweiwöchiges Programm mit Tanz für alle<br />
Generationen, Diskussionen über Stadtplanung und Bürgerbeteiligung<br />
sowie Performances von Profis und Laien.<br />
STAdTreISen mIT pvc: Ein dreistündiger Rundgang führte Zuschauer<br />
entlang von 18 inszenierten Stationen zu einer Erkundung des Stadtteils.<br />
<strong>HASLACH</strong> – deIne pArAde! An der Wiederbelebung einer langjährigen,<br />
aber längst eingeschlafenen Haslacher Tradition, einer Parade durch<br />
den Stadtteil, beteiligten sich Haslacher Vereine, Institutionen und<br />
Privatleute.<br />
05/2011
TAnZ und rAum<br />
Haslach ist <strong>Freiburg</strong>s größter Stadtteil. Um den Dorfbrunnen und in den Grünanlagen<br />
herrscht dörfliche Idylle, aber es gibt auch ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit, Segregation<br />
und das Klischee des Problemstadtteils. Ein Gespräch mit Choreograf Graham Smith<br />
und Dramaturgin Inga Schonlau über Konventionen des Stadtraums und den Faktor<br />
Tanz.<br />
<strong>WAS</strong> <strong>IST</strong> rAum?<br />
Graham Smith: Raum ist, zusammen mit der Zeit, einer der Koordinaten des<br />
Tanzes. Räume unterscheiden sich dadurch, dass sie symbolisch aufgeladen<br />
oder historisch geprägt sind, wie Kirchen oder eine Stadtmitte mit Brunnen.<br />
Inga Schonlau: Ein Raum stellt für ein Individuum oder eine Gruppe von<br />
Menschen immer eine Referenz dar, vor allem in der Frage, ob Räume etwas<br />
eröffnen oder ob sie begrenzen. Räume mit sozio-politischen oder historischen<br />
Prägungen, wie Graham sie erwähnt hat, verweisen auf Konventionen.<br />
Sie verlangen dem Menschen etwas ab, stehen für Erwartungen, wie<br />
man sich in ihnen verhalten soll. Interessant ist dann die Frage, inwiefern<br />
Tanz oder Performance andere Vorschläge machen können, Konventionen<br />
aufdecken und somit erst einmal so etwas wie ein offenes Verhältnis zum<br />
Raum ermöglichen. Das ist natürlich bei einem Stadtprojekt anders als bei<br />
einem <strong>Theater</strong>raum.<br />
KAnn TAnZ KonvenTIonen denn ändern?<br />
IS: Im Tanz arbeiten wir mit »Vergänglichkeit« – ein ästhetisches Prinzip, das<br />
den einzelnen Moment sehr stark macht. Wenn Tanz einen Raum für kurze<br />
Zeit besetzt, kann das eine sehr einprägsame und tiefgehende emotionale<br />
Wirkung entfalten. Tanz kann vergegenwärtigen, dass man Konventionen<br />
prinzipiell brechen kann.<br />
<strong>WAS</strong> <strong>IST</strong> dAS SpeZIFISCHe Am STAdTrAum In <strong>HASLACH</strong>?<br />
GS: Das Zusammenleben von multikulturellen Milieus und Alt-Haslachern.<br />
Die verschiedenen Viertel im Stadtteil funktionieren dynamisch völlig<br />
getrennt voneinander. Haslach hat einen schlechten Ruf, aber man kämpft<br />
gegen dieses Klischee und hat einen Stolz auf die Haslacher Traditionen!<br />
IS: Es gibt einen traditionellen Dorfkern. Man weiß aber nicht so recht,<br />
wovon der eigentlich die Mitte sein soll. Rundherum zeigen sich ganz unterschiedliche<br />
soziale Lebensformen. Das sieht man an der Architektur und<br />
daran, wie die Menschen den privaten und öffentlichen Raum nutzen. Was<br />
auch sichtbar ist: In Haslach herrscht nicht gerade Hektik, vermutlich, weil<br />
viele arbeitslos sind oder Rentner oder Kinder. Die Menschen verbringen<br />
hier viel Zeit in Freiräumen, Vorgärten, Grünanlagen, von denen es viele<br />
gibt.<br />
GS: Ja, ich spüre hier immer so eine Zufriedenheit jenseits von Leistungsgesellschaft<br />
und Wachstumsideologien. Vielleicht ist ja ein lauschiges Plätzchen<br />
im Schrebergarten nicht schlecht.<br />
IS: Die dörfliche Idylle wird allerdings dadurch gebrochen, dass man sich in<br />
einer mittelgroßen Stadt wie <strong>Freiburg</strong> nicht gegen die Welt abschotten kann.<br />
Man ist in Haslach direkt mit Kriegsflüchtlingen oder Menschen, die vor<br />
der Abschiebung stehen, konfrontiert. Das ist eine ganz andere Herausforderung<br />
als sie sich Menschen in einer Kleinstadt stellt.<br />
GS: Die Menschen schaffen es, in unmittelbarer Nähe miteinander zu leben<br />
und ihr Leben dennoch völlig getrennt voneinander zu führen. Die<br />
Uffhäuserstraße ist wie ein Checkpoint Charlie. Deswegen finde ich auch<br />
unsere neue Filiale im »Finkenschlag«, eine Gastwirtschaft, die seit 12 Jahren<br />
geschlossen ist, so interessant. Vielleicht schaffen wir es dort, Verschiebungen,<br />
Transit und Fluktuationen zwischen den verschiedenen Teilen Haslachs<br />
herzustellen.
IHr HAbT Für ZWeI WoCHen AuF dem Grün<br />
An der STAudInGer-GeSAmTSCHuLe dAS THe-<br />
ATermobIL »orbIT« und eIn TAnZZeLT AuFGe-<br />
STeLLT. <strong>WAS</strong> HAbT IHr euCH dAvon verSpro-<br />
CHen?<br />
GS: Wir sprachen gerade über Orte, die spezifisch<br />
aufgeladen sind. Es gibt aber auch solche,<br />
bei denen das noch nicht der Fall ist und es dann<br />
besonders interessant ist, dies zu tun: Der Orbit<br />
auf der grünen Wiese war so ein unbestimmter<br />
Ort, der jeden Abend mit einer anderen Energie<br />
aufgeladen wurde. Diese seltsame Mischung<br />
aus Lagerfeuer und Gewächshaus hat die Leute,<br />
die dort waren, zu einer gewissen Offenheit<br />
verführt, weil ja parallel immer verschiedene<br />
Gruppen dort waren. Und die Leute, die nicht<br />
zur einen oder anderen Gruppe gehört haben,<br />
konnten den anderen zuschauen. Es war eine<br />
sehr spannende Mischung.<br />
IS: Wir wollten die Haslacher kennen lernen,<br />
sie woanders hin bewegen, dabei aber ihre eigenen<br />
Themen mitbringen lassen. Wir haben den<br />
Orbit zum temporären Zentrum von Haslach<br />
erklärt. Er war ein Ort für Gespräche, Selbstdarstellungen,<br />
gemeinsame Tänze, Musik – äußerlich<br />
ein fremdes Objekt, das für die Leute<br />
schwer zu identifizieren war, eine spezielle Mischung<br />
aus Normalität und Künstlichkeit. Die<br />
Stadtreisen haben ganz ähnlich funktioniert. Als<br />
Zuschauer befand man sich auf einem gewöhnlichen<br />
Spaziergang, aber einzelne Orte waren so<br />
verwandelt, dass man sich anders auf sie und<br />
ihre Bewohner einlassen konnte.<br />
<strong>IST</strong> TAnZ Für dAS erZeuGen von neuen<br />
rAumverHäLTnISSen deSWeGen GeeIGneT,<br />
WeIL eS um eInen GemeInSAm GeTeILTen<br />
rAum GeHT? ALSo um eInen »reALen« rAum,<br />
der HeuTe Immer meHr HInTer dem vIrTueL-<br />
Len verSCHWIndeT?<br />
GS: Das ist ein heikles Thema, weil ja auch der<br />
virtuelle Raum eine ständige Wirkung auf uns<br />
hat. Also auch dann, wenn wir uns durch die<br />
Stadt bewegen oder durch ein Geschäft. Es ist<br />
natürlich etwas anderes, ob sich jemand körperlich<br />
im selben Raum aufhält oder nicht.<br />
IS: Der Körper beginnt im Anblick des anderen<br />
sozusagen ein Selbstgespräch: Wieso bin ich so<br />
und nicht wie der andere? Inwiefern sind wir füreinander<br />
geschaffene Projektionsflächen? Oder,<br />
wenn ich z.B. mit sehr alten Menschen tanze,<br />
in welcher Entfernung zum eigenen Tod befinde<br />
ich mich? Das konkrete Erleben des eigenen<br />
und anderer Körper steigert die Sensibilität und<br />
Sensualität und übrigens auch den Spaß, den<br />
man dabei hat. Das lässt sich virtuell schwierig<br />
herstellen.<br />
<strong>WAS</strong> <strong>IST</strong> euer LIebLInGSorT HIer In <strong>HASLACH</strong>?<br />
GS: Unsere neue Heimat in Haslach, der »Finkenschlag«.<br />
Wir hatten die baufällige Kneipe<br />
schon bei unserem ersten Rundgang in Haslach<br />
fotografiert und immer gesagt, das wäre ein toller<br />
Ort. Und jetzt haben wir den Schlüssel dafür.<br />
Und je mehr ich Haslach kennen lerne, desto<br />
sicherer bin ich, dass es eine spannende Stelle<br />
ist, weil sie tatsächlich so etwas wie eine Grenze<br />
markiert.<br />
IS: Ich finde den auch großartig. Die ganze Ecke<br />
um die Carl-Mez-Straße hat einen hohen Reizfaktor,<br />
einen mediterranen Grundton – auch im<br />
Vergleich mit anderen Städten.<br />
und WIe WoLLT IHr den rAum dorT nuTZen?<br />
<strong>WAS</strong> SInd eure pLäne Für den »FInKen-<br />
SCHLAG«?<br />
GS: Ich stelle mir einen Ort vor, an dem jeder<br />
willkommen ist. Wo sich <strong>Theater</strong>- und Kartenspielabende<br />
mischen, ein Ort zum Tanzen, Musik<br />
machen, Essen und Befreien, an dem man<br />
über Kunst oder Alltag diskutieren kann. Ein<br />
Ort der Reflexion und des Austauschs, der einerseits<br />
den Raum dort verändert, aber andererseits<br />
auch den künstlerischen Prozess füttert.<br />
IS: Ich finde es wichtig, dass wir in Haslach<br />
da weitermachen, wo sich interessante Begegnungen<br />
ergeben haben oder wo es langweilig<br />
scheint, solange man nur an der Oberfläche<br />
bleibt. Das ist selten möglich, dass man als <strong>Theater</strong>macher<br />
nicht einfach weiter zum nächsten<br />
Projekt zieht. Idealerweise schaffen wir es, die<br />
Leute mit sehr unterschiedlichen künstlerischen<br />
Formen an diesen Ort zu binden, ihn erst einmal<br />
zu einem sympathischen Ort zu machen, der<br />
keine Schwellenängste erzeugt und in dem man<br />
dann gemeinsam mit den Haslachern sehr ungewöhnliche<br />
und spinnige Sachen ausprobieren<br />
kann. Das macht uns einfach eine Menge Spaß.<br />
Letztendlich geht es auch darum, die Bedürfnisse<br />
der Menschen an der »Peripherie« einer Stadt<br />
zurück ins Zentrum, wo ja unser <strong>Theater</strong> steht,<br />
zu tragen. Und da sind wir gerne die Boten.<br />
GIbT eS AuCH orTe, dIe IHr GAr nICHT Gern<br />
HAbT?<br />
IS: Ich kann eigentlich von den klimatischen<br />
Bedingungen her die Carl-Kistner-Straße nicht<br />
ausstehen. Es gibt überhaupt keinen Platz, sich<br />
aufzuhalten. Das ist mir ein stadtplanerisches<br />
Rätsel.<br />
GS: Ich finde auch die Ecke beim Mediamarkt<br />
schlimm.<br />
IS: Ja, die Einfahrt zur Hölle.
meHr AbenTeuer Aben ALS<br />
experImen<br />
experImenT –<br />
vom WILd Werden W<br />
Performative Kunst als Feldforschung im öffentlichen Raum<br />
»Das Abenteuer der Forschung kann bereits beginnen, wenn man um die nächste Ecke<br />
in seiner Stadt geht ...« (Roland Girtler, Methoden der Feldforschung)<br />
In In den den letzten Jahren entstehen Labore nicht mehr mehr nur, nur, um chemische chemische oder<br />
physikalische Experimente durchzuführen, durchzuführen, sondern an manchen Orten<br />
dienen sie der Kunst als Heimstätte, in in der Form unzähliger Tanz-, The<br />
ater- und Performance-Laboratorien. Natürlich sind diese Kunst-Labore<br />
Metaphern, die eine bestimmte bestimmte Aura Aura von wissenschaftlicher Genauigkeit<br />
und und technischem Fortschritt evozieren evozieren sollen. Es lohnt sich also, genauer<br />
auf den Ursprung der der Metapher zu zu blicken und und auch auch ihre ihre Beschränkun<br />
gen genauer unter die die Lupe Lupe zu nehmen: nehmen:<br />
orTSWeCHSeL – vom eLFenbeInTurm eLF<br />
Zur ForSCHunG Im FeLd<br />
Es scheint, dass diese Laboratorien den sprichwörtlichen Elfenbeinturm<br />
als locus communis von Wissenschaft und Kunst ersetzt haben, und mit<br />
diesem Ortswechsel die die Weltfremdheit des Denkers und Dichters, Dichters, seine<br />
Unfähigkeit aus den Höhen der Geistigkeit Geistigkeit herabzusteigen, einer Furcht<br />
vor einem Außen gewichen ist. Das Labor separiert die Versuchsanord<br />
nungen von ihrer Umwelt und ihrem Beobachter, den es hinter Schutzglas<br />
oder in sauerstoffversorgten Plastikanzügen verbannt, aber gleichzeitig ei<br />
nen unglaublich genauen Blick Blick auf das Geschehen ermöglicht.<br />
Den Laboranten verbindet auf auf verquere Weise viel viel mit dem Modelleisen<br />
bahnenthusiasten: Wo aber aber diese diese versuchen, ihre Welt im Maßstab 1:87<br />
möglichst detailreich detailreich abzubilden, versuchen Wissenschaftler im im Experi<br />
ment, die Komplexität »Welt« soweit zu reduzieren, reduzieren, dass sie in die Labor-<br />
und Theoriegebäude der Forscher passt.<br />
Das wissenschaftliche Gegenkonzept zur experimentellen Forschung in<br />
Laboren ist die Forschung im Feld. Feldforscher, also Ethnografen und<br />
Soziologen, sind dann dann auch auch mehr Abenteurer als große Experimentierer<br />
oder ausufernde Theoretiker, sie haben etwas von von Eroberern und und Kon<br />
quistadoren, im positiven positiven Sinn, Sinn, an sich, die fremde fremde Lebenswelten Lebenswelten kennen<br />
lernen wollen wollen und und sie so erobern. (Roland (Roland Girtler) Girtler)<br />
TeILneHmende beobACHTunG<br />
Feldforscher begeben sich in einen bestimmten Kulturraum, leben dort mit<br />
den »Eingeborenen«, lernen ihre Sprache, essen ihre Speisen und nehmen<br />
an Alltag und Festen teil. All dies wird in einem Feldtagebuch festgehalten<br />
und durch gezielte gezielte Interviews und weitere Datensammlungen ergänzt, um<br />
dann nach nach der Heimkehr Heimkehr objektiviert objektiviert zu werden, das heißt in anschlussfä<br />
hige Kommunikationsformen (Monografien, Aufsätze, Vorträge, Prosemi<br />
nare) innerhalb des des akademischen akademischen Systems gebracht zu werden.<br />
Ethnografen untersuchen eine Kultur, die sie beschreiben wollen, indem<br />
sie teilnehmend beobachten. Diese widersprüchliche Formulierung drückt<br />
ziemlich genau genau die die Spannung Spannung aus, welche zwischen der nötigen Identifi<br />
kation kation mit mit dem Untersuchungsobjekt und und der nötigen nötigen Distanzierung ent<br />
steht. steht. Man könnte diese Spannung Spannung auch mit zwei zwei Figuren Figuren aus der Fach- Fach<br />
geschichte der Ethnologie beschreiben: Dem Lehnstuhlethnologen der<br />
Kolonialzeit, der aus aus seinem Lehnstuhl Lehnstuhl in der Heimat Heimat seine Bücher über<br />
die die Wilden schreibt und sich zu einem objektiven, überlegenen Beobach<br />
ter stilisiert, und dem Ethnologen, der seinen Eurozentrismus so komplett<br />
abgelegt hat, dass er am Ende lieber selbst selbst zum Wilden wird, als über jene<br />
zu zu schreiben, schreiben, also völlig in der Teilnahme an einer Kultur aufgeht.<br />
Diese Spannung eröffnet eröffnet auch auch für die Beobachteten die Möglichkeit, selbst<br />
ihre festgelegten Positionen Positionen im Feld Feld zu verlassen verlassen und auf auf die Innenseite<br />
des ethnologischen Diskurses zu zu wechseln.
Denn im Gegensatz zum Geologen hat der Ethnologe es mit »Objekten« zu<br />
tun, die Selbstbeschreibungen formulieren und Fremdbeschreibung reflektieren<br />
können. Deswegen sind ethnografische Untersuchungen spätestens<br />
seit der »writing culture«-Debatte der 80er-Jahre sensibilisiert in Fragen der<br />
Darstellung von Kulturen und Autorenschaft. So versuchen sich Ethnologen<br />
an dialogischen oder polyphonen Textformen, in denen die Beobachtungen<br />
des Ethnologen mit den Selbstbeschreibungen seiner Informanten kontrastiert<br />
werden oder der Wissenschaftler hinter einem mehrstimmigen Chor<br />
aus Autoren verschwindet, der in seiner Vielfalt ein adäquates Bild der Realität<br />
gibt.<br />
Kann das Feld also für performative Kunst eine ähnlich wichtige Metapher<br />
werden wie das Labor, und was würde diese Metapher für einen Erkenntnisgewinn<br />
bedeuten?<br />
AbenTeuer, KonKreTIon und oFFenHeIT<br />
Wenn das Labor für Experiment, Abstraktion und Abgeschlossenheit steht,<br />
dann würde man mit dem Begriff Feldforschung Abenteuer, Konkretion und<br />
Offenheit verbinden. Wenn im Labor die Wissenschaftler Experten sind, so<br />
ist die Situation im Feld umgekehrt: Der Forscher ist der Unwissende, der<br />
sich erst hart erarbeitet, was den anderen selbstverständlich ist. In diesem<br />
Fall sind Laien wirklich »Experten ihrer selbst« mit der Kompetenz, ihre<br />
Selbstbeschreibung zu kommunizieren und reflektiert zu erweitern und nicht<br />
nur zu Trägern von phantasmatischen Fremdbeschreibungen ihrer barbarischen<br />
Wildheit oder edlen Authentizität zu werden. Die Feldforschung kann<br />
also zumindest als Werkzeugkasten dienen, wenn man sich als KünstlerIn<br />
auf die Gesellschaft einlässt.<br />
Für Tanz und Performance lassen sich solche Bewegungen ins Feld beschreiben,<br />
welche aus den <strong>Theater</strong>n mit ihren künstlerischen Betriebsbüros und<br />
Bauproben in die Straßen und Wohnungen führt. Und auch wenn die Städte<br />
keine Dschungel sind, kann man sich in ihnen doch verlieren.<br />
Tobias Ergenzinger,<br />
pvc-Mitarbeiter und Volkskundler<br />
» WIe KAm eS Zu IHrer<br />
mönCHS-perFormAnCe?<br />
Horst Ekkert Johann, Laubenbesitzer<br />
und Stadtreisen-Performer:<br />
das kam von mir. Ich hatte<br />
das Kostüm mal zu Fasching<br />
gehabt und dachte, diese<br />
eremiten-rolle, das passt in<br />
die Zeit der Katastrophen,<br />
mit den Kirchen und der umwelt<br />
und und und.<br />
Ich fand das Thema so<br />
richtig grotesk.<br />
Würden SIe SAGen,<br />
SIe SInd mIT der ZeIT<br />
In IHrer roLLe<br />
GeWACHSen?<br />
Horst Ekkert Johann: Ganz<br />
bestimmt. mit jeder Gruppe<br />
habe ich immer noch mehr<br />
gemacht. es fällt einem zu<br />
dem Thema ja auch eine ganze<br />
menge ein: also Feind der<br />
natur zu sein, die macht, die<br />
von pflanzen ausgeht, wenn<br />
Wurzeln den bürgersteig aufreißen.<br />
pilze, die vergiften,<br />
Algen, die schlimme Sachen<br />
anrichten, monokulturen,<br />
die sich ausbreiten. da kann<br />
man sich richtig reinsteigern.<br />
Wenn man es nur einseitig<br />
betrachtet, macht das sogar<br />
Spaß. das ist ein Spiel. Wenn<br />
man nicht ganz ernst genommen<br />
wird und man sagen<br />
kann, was man will, dann fällt<br />
einem das wesentlich einfacher.<br />
Wenn ich als Angler<br />
etwas positives über Kormorane<br />
sagen würde, dass das<br />
schöne vögel sind und dass<br />
die ja auch der liebe Gott<br />
gemacht hat, ich glaube,<br />
man würde mich nicht ernst<br />
nehmen.<br />
»
<strong>HASLACH</strong>er Werden<br />
Am Anfang des Projekts standen vor allem Gespräche<br />
und Begegnungen mit den Haslacher Bewohnern. Die<br />
pvc-Künstler Jens Dreske und Wolfgang Klüppel erzählen,<br />
wie sie sich in Haslach nach und nach eingerichtet haben.<br />
InZWISCHen SeId IHr <strong>HASLACH</strong>-experTen. KönnT<br />
IHr eIne AuSSenbeSCHreIbunG von <strong>HASLACH</strong> Ge-<br />
ben? In WeLCHem verHäLTnIS STeHen KLISCHee<br />
und reALITäT?<br />
Jens Dreske: So ein allgemeines Bild hat man nur vorher.<br />
In der Beschäftigung mit Haslach wird man natürlich<br />
immer differenzierter.<br />
Wolfgang Klüppel: Die Klischeebilder waren zunächst:<br />
Bronx von <strong>Freiburg</strong>, es werden einem die Autoreifen<br />
geklaut, während man an der roten Ampel steht. Und<br />
in den Kneipen schlagen sich die Ringer aus Haslach<br />
und St. Georgen um die Frauen.<br />
JD: Die Klischees passten von Anfang an nicht zusammen:<br />
das Ghetto, daneben die Kleingärtner-Community,<br />
Vorstadtbereiche, Dorfkern. In der Mixtur<br />
macht das keinen Sinn.<br />
<strong>WAS</strong> GeFäLLT euCH An <strong>HASLACH</strong>?<br />
WK: Ich mochte von Anfang an die Gegend um die<br />
Staudinger-Gesamtschule, mit der grünen Wiese am<br />
Fluss und dem Fußballfeld, wo wir später den Orbit<br />
und das Zelt aufgestellt haben. Da herrschte eine<br />
Grillwiesen-Idylle. Ich finde das schön, wie der Fluss<br />
da durchmäandert, wie die Isar, hast du mal gesagt,<br />
Jens.<br />
JD: Ja, das hat Ähnlichkeit mit dem Englischen<br />
Garten.<br />
WK: Und diese sommerliche Atmosphäre in der Carl-<br />
Mez-Straße, die Lebendigkeit, das Rumrennen. Das<br />
war unmittelbar und direkt, wie ich es sonst nur aus<br />
Süditalien kenne.<br />
eS GIbT vIeLe LeuTe, dIe nICHT verSTeHen, <strong>WAS</strong> An<br />
<strong>HASLACH</strong> SpAnnend SeIn SoLL. WArum GeHT euCH<br />
dAS AnderS?<br />
WK: Ich fand das Kennenlernen der Leute und das<br />
spontane Vorgehen dabei spannend. »Heute Abend<br />
gibt es einen Termin bei einer Frau im dritten Stock,<br />
in der und der Straße. Kommst du mit?« Wir wussten<br />
eigentlich nie, auf wen wir treffen würden und sind<br />
bei Bier und Rosé in die Abende hinein geschwungen.<br />
JD: Das Faszinierende war – gerade als jemand,<br />
der Haslach nicht kannte – ganz genau, haargenau<br />
zu schauen, wo es eigentlich nichts zu gucken gibt.<br />
Irgendwann wird es auf merkwürdige Weise interessant,<br />
wenn man sich mit dem Einzelnen am Küchentisch<br />
unterhält.<br />
eS Wurde An dem projeKT Im nACHHIneIn SeHr GeSCHäTZT, dASS dIe<br />
LeuTe In IHrer SpeZIFIK Zur GeLTunG KAmen. WeLCHe roLLe HATTeT<br />
IHr dArIn und WIe beWuSST HAbT IHr dIe eInGeSeTZT?<br />
WK: Wir hatten nicht viel, mit dem wir auf die Leute zugegangen sind.<br />
Nur diesen Titel »Haslach 2010 – Deine Heimat!«. Das war weniger ein<br />
politischer als ein biografisch-nostalgischer Ausgangspunkt, eine Behauptung.<br />
Es ging meist um die Erzählung. Wir kamen ja nicht, um etwas zu<br />
verkaufen oder wollten auch nicht etwas ganz Bestimmtes. Dadurch war<br />
man immer in einer offenen, narrativen Situation.<br />
JD: »Was wollt ihr von mir?« Die Frage kommt natürlich immer auf. Dabei<br />
will man erst einmal nur hören und gucken, was da ist.<br />
WK: Ich habe bei solchen Fragen immer Vertuschungsmanöver gemacht<br />
und mich wahnsinnig wenig über Kunst und <strong>Theater</strong> unterhalten.<br />
JD: Man weiß doch nicht vorher: »Ich suche eine Aloha-Gruppe.« Die<br />
meisten hatten einfach Lust, mal mit anderen Leuten den Abend zu verbringen.<br />
muSSTeT IHr dIe LeuTe überreden, mITZumACHen?<br />
WK: Nein. Es waren zunächst immer zufällige zweckfreie Zeiträume, die<br />
da entstanden. Wir <strong>Theater</strong>leute, zufällig in Haslach, verbringen Zeit mit<br />
Haslacher Zufallskontakten und plaudern ... So sind wir zum Beispiel in<br />
einer Akkordeon-Probe der Harmonika-Sisters im Wohnzimmer von Frau<br />
Fischer gelandet, die ja später während der Stadtreisen die Zuschauer zur<br />
Weinprobe in ihren Partykeller geführt hat.<br />
JD: Einfach, weil man sich den Vorsatz gefasst hat, dieses Land zu entdecken,<br />
wie James Cook oder so.<br />
WK: Natürlich merkte man, dass ein anderer Druck entstand, wenn man<br />
bestimmte Leute sehr gerne dabei haben wollte. Da war es dann nicht<br />
mehr dieser zweckfreie Raum. Wenn ich früher auf Reisen war, hatte ich<br />
immer die Hoffnung, Einheimische kennen zu lernen, bei einer Familie<br />
am Tisch zu sitzen und deren Rituale mitzubekommen und über Dinge<br />
zu reden. Unter diesem Reiseaspekt, bzw. unter der Idee, Haslach zu bereisen,<br />
ist das natürlich permanent phantastisch gelungen.<br />
eS Wurde SCHon eIGenArTIG prIvAT, oder? IHr HAbT mIT An den FA-<br />
mILIenTISCHen GeSeSSen.<br />
WK: Beim zweiten Treffen wurde oft gekocht oder Käse hingestellt oder<br />
der Wein stand schon kalt. Ich finde das aber nicht »eigenartig privat«!<br />
Die abgeschlossene Intimität der Familie interessiert mich sowieso nicht!<br />
JD: Man hat ja auch Respekt vor den Leuten und findet sie toll. An das<br />
Eigenwillige, an die spezielle Art, die jeweiligen Haltungen heran zu kommen,<br />
ist ja das Schöne.<br />
GIbT eS eIn <strong>HASLACH</strong>er SeLbSTverSTändnIS oder eIne ArT GemeIn-<br />
SCHAFTSGeFüHL?<br />
WK: Man weiß ja gar nicht, was das ist, ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem<br />
Stadtteil. Warum entsteht ein Gefühl von Gemeinschaft? Unter einer<br />
Flagge, der deutschen Flagge? Die Gemeinschaft der Deutschen, der Türken,<br />
der Kroaten? Oder der Nachbarschaft? <strong>Freiburg</strong>er sein? Badenser<br />
sein? Das löst doch überhaupt keine Handlungsmaximen aus.<br />
Wo HAbT IHr euCH SeLbST Am eHeSTen ZuGeHörIG GeFüHLT?<br />
WK: In Metins Kneipe, diesem komischem Plastik-Ort von türkischem<br />
Café, den wir uns als total lebendig ausgemalt haben; Sommer, draußen<br />
sitzen, mitten in Haslach. Es war für mich ein Bühnenbild in der Realität,<br />
das bei mir Phantasien und Projektionen der Idylle eines türkischen<br />
Cafés ausgelöst hat. Wir haben immer wieder Raki getrunken, als einzige.<br />
Über dem Café war noch dieses alte deutsche Gasthaus-Schild »Zum<br />
Fuhrmann«. Ich habe keinen einzigen Türken Raki trinken gesehen. Aber<br />
dort war Metin, der immer sehr freundlich auf uns zuging und sich mit<br />
uns unterhielt.
JD: Man sieht dem Laden ja an, dass er eine Pforte in eine andere<br />
Community ist. Ein Zentrum vergleichbar mit der Kleingärtner-Kneipe<br />
»Fichterlager«.<br />
WK: Der Begriff des Türöffners ist wichtig. Im »Fichterlager« gab es nie<br />
solch einen Schlüsseltypen, der uns sympathisch war. Du kanntest zwar<br />
den Präsidenten ...<br />
JD: Ich fand es auch erheblich schwieriger, dort anzuknüpfen.<br />
HAbT IHr euren bLICK ALS Fremde AuF dAS SCHeInbAr »normALe«<br />
GeWorFen oder GIbT eS eInen Anderen GeGenSeITIGen AnZIe-<br />
HunGSpunKT?<br />
JD: Das Fremdsein hilft, das Mittelmaß so zu interpretieren, bis es zu etwas<br />
Exotischem oder Speziellem wird. Beim Gesangsverein war es z.B. der<br />
Einblick in eine fremde Welt, in die man sonst nicht gelangt. Vergleichbar<br />
mit der Situation, zu einer marokkanischen Hochzeit eingeladen zu sein<br />
oder in Neapel am Küchentisch zu sitzen; unverhofft Einblick in etwas<br />
sehr Persönliches zu bekommen, zu sehen, wie andere Menschen leben,<br />
was ihnen wichtig ist, unabhängig von aller Karriere und Geld. Zu sehen,<br />
wie die leben wollen und wozu sie sich verabreden. Man fragt sich auch<br />
mal, wäre das was für mich? Soll ich jetzt jeden Freitag da hingehen?<br />
WK: Gemeinsam singen, essen und trinken.<br />
LäuFT eS dArAuF HInAuS? SInd dAS dIe bedürFnISSe, dIe dIe LeuTe<br />
In den unTerSCHIedLICHen QuArTIeren TeILen?<br />
JD: Wir haben viele Leute kennen gelernt, die völlig alleine, ohne Kontakte<br />
leben. Der Gemeinschaftsaspekt war ein besonders positiver Teil.<br />
WIe GuT KennT IHr <strong>HASLACH</strong> jeTZT?<br />
JD: Es gibt keinen Ort, außer meinen Heimatort, den ich so gut kenne,<br />
wie Haslach. Man merkt, dass es sich lohnt, genauer hinzugucken.<br />
WK: Da ich nun in Haslach wohne, löst sich diese behauptete Dorfstruktur<br />
bei mir gerade ein. Man kennt plötzlich so viele Menschen, die einen<br />
auf dem Fahrrad, auf dem Fußweg und aus dem Auto heraus grüßen, wie<br />
ich das von früher aus meinem Heimatdorf kenne. Ohne das Projekt hätte<br />
ich die Menschen wie in einer Großstadt erlebt. Ich würde auch sagen, ich<br />
kenne so viele Orte, Schleichwege, Menschen – auch in der Dichte – wie<br />
sonst nur in meinem Heimatdorf.<br />
»<br />
WIe LAnGe LebST du<br />
SCHon In <strong>HASLACH</strong>?<br />
Metin Aldemir,<br />
Gastwirt »Zum Fuhrmann«,<br />
ständiger Ratgeber und<br />
Stadtreisen-Beteiligter:<br />
Ich bin hier geboren.<br />
Ich lebe seit 1973 hier<br />
im Laubenweg.<br />
<strong>IST</strong> <strong>HASLACH</strong> Für dICH<br />
eIne HeImAT?<br />
MA: Wenn es Haslach<br />
nicht geben würde, wäre<br />
das echt blöd. ohne Haslach<br />
könnte ich es mir nicht<br />
vorstellen.<br />
KAnnST du dICH noCH<br />
dArAn erInnern, WIe du<br />
dj HAKAn überredeT<br />
HAST, mITZumACHen?<br />
MA: Hakan wollte es<br />
eigentlich nicht machen. Ich<br />
habe ihm gesagt, »hey Hakan,<br />
hör zu: da sind Leute dabei,<br />
die bemühen sich seit monaten.<br />
das sind nette Leute<br />
und die möchten irgendwas<br />
auf die beine stellen. Komm<br />
jetzt, einen Abend kannst du<br />
da auflegen.« War halt etwas<br />
kurzfristig in der vorbereitung.<br />
Hätten wir schon vorher<br />
Werbung gemacht, ich sag<br />
dir, das Zelt hätte nicht<br />
ausgereicht.<br />
unter Garantie nicht.<br />
»
STADTREISE<br />
Treffpunkt: Haslacherstr. 17 bei »Peter’s Schlupfwinkel«<br />
Kern des Haslach-Projekts waren die Stadtreisen mit pvc. An vier<br />
Tagen zogen Zuschauer in Gruppen zu acht durch den <strong>Freiburg</strong>er<br />
Stadtteil, entlang von 18 inszenierten Stationen, durch Gärten,<br />
Hochhäuser, Privatwohnungen, Höfe und öffentliche Gebäude.<br />
Ausgestattet waren die Zuschauer mit einem detaillierten Laufplan<br />
und einigen Tanzschritten, die sie am Start zur Musik von »Blues<br />
suede Shoes« gelernt hatten. Auf dem Weg erlebten sie mindestens<br />
80 Haslacher Performer, professionelle und Freizeit-Tänzer, Sänger<br />
und viele andere Künstler, ungezählt freilich die Haslacher, die<br />
zufällig Teil des Geschehens wurden. Auf der Reise ließ sich der<br />
Blick für spezielle Qualitäten des Stadtteils schärfen, Einblick in<br />
die Lebenswirklichkeit und stadtplanerische Zukunft von Haslach<br />
nehmen. In den Fokus kam, wer mit wem zusammenlebt und unter<br />
welchen Bedingungen das funktioniert; welcher Zusammenhang<br />
zwischen Stadtraum und Lebensqualität besteht; welche Interessen<br />
einzelne Haslacher Bewohner pflegen und wo das fiktionale Potential<br />
der Haslacher Lebenswelt liegt.
dIe WeLT ALS<br />
THeATer<br />
Wer im Herbst 2010 im <strong>Freiburg</strong>er Stadtteil<br />
Haslach die Veranstaltung »Haslach – Deine<br />
Heimat!« erlebt hat, könnte sich an das letzte<br />
Kapitel in Franz Kafkas Romanfragment »Der<br />
Verschollene« erinnert haben. Dort findet Karl<br />
Rossmann, der arbeitslose Held der Geschichte,<br />
am Ende seiner Odyssee durch ein ihm gänzlich<br />
unverständliches Amerika, an einer Straßenecke<br />
ein Plakat: »Das große <strong>Theater</strong> in Oklahoma«<br />
sucht Personal. Dieses Plakat, »noch unwahrscheinlicher,<br />
als Plakate sonst zu sein pflegen«,<br />
nennt keine Voraussetzungen oder besonderen<br />
Kunstfertigkeiten. Ganz im Gegenteil: »Jeder ist<br />
willkommen! Wer Künstler werden will, melde<br />
sich! Wir sind das <strong>Theater</strong>, das jeden brauchen<br />
kann, jeden an seinem Ort!« Am angegebenen<br />
Ort für die Aufnahme in dieses <strong>Theater</strong> angekommen,<br />
wird Karl von allerlei spektakulären<br />
Vorgängen angezogen: Er hört den Lärm aus vielen<br />
Trompeten, sieht als Engel gekleidete Frauen<br />
und findet sich vor einem Podium, auf das<br />
er auch sogleich hinaufgezogen wird. Alles um<br />
ihn her scheint zu diesem <strong>Theater</strong> zu gehören,<br />
von dem man ihm sogleich erklärt, es sei »das<br />
größte <strong>Theater</strong> der Welt«, ja »es sei fast grenzenlos«.<br />
Wer hier Zuschauer, wer hier Spieler ist, ist<br />
nicht mehr so einfach zu unterscheiden.<br />
Das »Große Welttheater« des Barock konnte<br />
den Zuschauern auf dem <strong>Theater</strong> die Welt<br />
erbaulich erklären, weil Gott die Welt als ein<br />
<strong>Theater</strong> zu seiner Erbauung erschaffen hat. Die<br />
Spieler auf den Brettern des <strong>Theater</strong>s, die eben<br />
deshalb die Welt bedeuten konnten, führten ihren<br />
Zuschauern vor, dass wir alle Spieler sind,<br />
die ihre Rollen im großen Spiel des göttlichen<br />
Autors zu spielen haben. Das große <strong>Theater</strong> von<br />
Oklahoma, das der verschollene Karl Rossmann<br />
bei Kafka sucht, kann sich auf solche Voraussetzungen<br />
nicht mehr verlassen. Das <strong>Theater</strong> »bedeutet«<br />
nicht mehr die Welt, kann aber Anlässe<br />
schaffen, die Welt als eine unendliche Zahl theatralisch<br />
interessanter Vorgänge wahrzunehmen.<br />
Die Arbeit der Künstler besteht dann darin, uns,<br />
die wir immer zugleich Spieler und Zuschauer<br />
sind, in Situationen oder Zustände zu versetzen,<br />
in denen wir zu solcher Wahrnehmung in der<br />
Lage sind.<br />
Das kann das <strong>Theater</strong> mitten in der Stadt auf<br />
seiner großen Bühne. Das kann es aber gleichzeitig<br />
auch an jedem beliebigen anderen Ort der<br />
Stadt. Dort kann es sich allerdings nicht mehr<br />
auf die vertrauten Ausrüstungen, Kostüme und<br />
Requisiten stützen. Dafür gewinnt es die Freiheit<br />
des Blicks, ‚das theatralisch Interessante im täglichen<br />
Detail’ (Heiner Goebbels) zu entdecken.<br />
Und insofern es sich für einen Moment aus der<br />
Rolle entlässt, anderen etwas vorzuspielen, und<br />
stattdessen diejenigen, die sonst Zuschauer sind,<br />
einlädt, selbst zu spielen, gewinnen beide in der<br />
Erfahrung des Spiels die Möglichkeit, sich und<br />
die anderen anders wahrzunehmen und neu<br />
wahrzunehmen. Bei »Haslach – Deine Heimat!«<br />
ist pvc das mit einem ganzen Stadtteil gelungen.<br />
Josef Mackert, Dramaturg am <strong>Theater</strong> <strong>Freiburg</strong>, Stellvertreter<br />
der Intendantin in künstlerischen Fragen und<br />
Teilnehmer an den Stadtreisen und der Haslach-Parade
KEIN<br />
ZENTRUM<br />
FÜR<br />
<strong>HASLACH</strong>!<br />
Wie organisiert sich das<br />
Leben in Haslach 2010?<br />
Im Kontext dieser Frage<br />
und aus den bewusst gesuchten<br />
wie spontan entstandenen<br />
Begegnungen in<br />
Haslach erwuchs ein zweiwöchiges<br />
Orbit-Programm<br />
– ein großes improvisiertes<br />
soziales Gebilde, eine<br />
Dauer-Live-Analyse. Der<br />
Orbit war temporäres Haslacher<br />
Zentrum, virtuelles<br />
Implantat, Real-Bühnen-<br />
Prozessor, Brennglas, die<br />
Lupe und wie immer:<br />
Sozialraum-Generator.<br />
Zur enTSTeHunGSGeSCHICHTe deS orbIT-proGrAmmS:<br />
1. Wir begannen, Bücher über Stadt- und Raumplanung, Stadtsoziologie, die Geschichte der europäischen Stadt zu<br />
lesen. Daraus entstand die interne Debatte, ob Haslach als Dorf, als urbaner Raum oder als Zwischenstadt anzusehen<br />
sei.<br />
2. Wir begegneten dem Terminus Flächennutzungsplan als politischem Instrument zur baulichen Gestaltung eines<br />
Stadtteils.<br />
3. Wir trafen auf Haslacher Menschen, die von einem protestantischen Dorf sprachen und für die Belebung des Dorfplatzes<br />
rund um den Dorfbrunnen kämpfen.<br />
4. Es tauchte die Frage auf: Was ist der Haslacher Mensch? Protagonist, Demokrat, urbaner Bürger, Dorfbewohner,<br />
Citoyen, Flaneur, Akteur, Migrant, Exilant, Aktivist, Nachbar, Egoist, Volksmasse, Senior, Arbeiter, Kapitalist, Intellektueller,<br />
Teilnehmer, Badenser, <strong>Freiburg</strong>er, Europäer, Weltbürger, Vereinsmitglied.<br />
5. Wir aßen Jägerschnitzel in der Gastwirtschaft der Schrebergartenbesitzer und hörten von dem Abriss vieler Hütten<br />
für das neue Wohngebiet Gutleutmatten.<br />
6. Es tauchte das Etikett »Bronx von <strong>Freiburg</strong>« auf, wonach einem die Reifen beim Warten an der roten Ampel geklaut<br />
werden und sich des Nachts Haslacher Ringer mit St. Georgener Ringern schlügen.<br />
7. Als Gegenbewegung kämpften aufrechte Haslacher seit Jahren für ein neues Haslacher Image als weltoffener, bodenständiger,<br />
ehrlicher, direkter Stadtteil.<br />
8. Im Rahmen des Gutleutmattenprojektes sprachen wir mit Architekten, die den Bestimmungszweck von privatem<br />
Besitzraum nachbarschaftlich organisieren wollen, was zu großen Debatten bei den Bauamtspolitikern führte.<br />
9. Wie hörten von Stadt-Marketingbegriffen wie »Green City« und »Creative City« und wussten nicht genau, was das<br />
mit dem Leben in Haslach zu tun hatte.<br />
10. Wir lernten die sozialutopischen Architektur-Ideen von Ebenzer Howard und seine Idee der Gartenstadt kennen<br />
und sprachen mit Menschen, die in der Gartenstadt leben, über ihre Utopien.<br />
11. Wir sprachen mit alten Bürgern über das Ende des Lebens und ihre Nervosität bei Auftritten.<br />
12. Wir diskutierten über Gentrifizierung durch das Gutleutmattenprojekt und über Möglichkeiten, Häuser in Mietshäusersyndikat-Stiftungen<br />
zu überführen und diese somit aus dem Markt herauszulösen.<br />
13. Wir trafen auf Türken, die Haslach in den 70er-Jahren als starken solidarischen Ort unter den Gastarbeitern beschrieben,<br />
wo jeder jeden kannte und alle gemeinsam grillten und gemeinsam samstags die Autos wuschen.<br />
14. Wir sprachen mit Sanyassins über die Sexualität der 70er-Jahre und die Energiepotentiale von Haslach der 2010er-<br />
Jahre.<br />
15. Wir sprachen nicht mit allen Haslachern.<br />
16. Wir klapperten viele soziale Institutionen ab, die das soziale Leben verbessern wollen.<br />
Nur die Stadtbau wollte sich nicht mit uns treffen.<br />
17. Immer wieder tauchte das Spannungsfeld der Interessen auf: Einzelinteressen – stadtpolitische Interessen – marktpolitische<br />
Interessen. Aber was soll das gemeinsame Interesse der Bewohner eines Stadtteils 2010 sein? Viele kennen<br />
ihre Interessen gar nicht.<br />
18. Wir trafen auf tanzende Jugendliche, die die Internet-Website »Youtube« als einzigen Lehrer anerkennen.<br />
19. Ist das Konstrukt Gemeinschaftsinn ein Resultat der Verklärung mittelalterlicher Dorfstrukturen?<br />
20. Leider spielten wir niemals Boule mit der kroatisch-serbischen Community,<br />
auf dem Integrations-Vorzeigeprojekt einer selbstgebauten Boule-Anlage.<br />
Wolfgang Klüppel, Orbit-Chef-Planer<br />
11
exTrATerreSTrISCHeS<br />
Im Nachtrag zu den Diskussionen im Orbit hat Dr. Jochen Kunath, Pfarrer der<br />
evangelischen Melanchtongemeinde in Haslach, einige seiner Überlegungen zusammengefasst:<br />
Ein Zelt, der Orbit auf grüner Wiese, im geographischen Mittelpunkt,<br />
aber nicht im Lebensmittelpunkt von Haslach. Bizarr. Aufgeführt wurde<br />
das Stück »Haslach«; nur die Akteure wussten nicht, dass sie mitspielen,<br />
die Zuschauer blieben aus. Früher wurde der Glaube mit Zelten durch<br />
dünn besiedeltes Land getragen. In Zelten wurde von Gott erzählt, die<br />
Zelte wurden auf- und abgeschlagen, Gott war mobil. Kirche führt sich<br />
auf, oft genug, die Akteure halten sich nicht für Schauspieler, die Zuschauer<br />
bleiben aus; Kirche lebt nicht im Lebensmittelpunkt der Menschen.<br />
Bizarr. Gott wird aufgeführt. Gott führt sich selber auf, jeden Tag<br />
Premiere, jeden Tag wird das Leben gespielt, und alle spielen mit, im<br />
Leben gibt es keine Zuschauer, alle sind beteiligt, manche mehr, manche<br />
weniger; beim Schauspiel »Gott« geht es um alles. Nur, dass selten einer<br />
das spürt. Bizarr.<br />
Glauben tickt anders. Er braucht nicht den Alltag. Er ist für besondere<br />
Zeiten gedacht. Besondere Zeiten sind selten, Glauben ist selten. Glauben<br />
ist der Rahmen ums Leben, erzählt davon, auf wen, auf was ich<br />
mich letztendlich, am Ende, am Anfang, wenn´s brennt, wenn´s gerade<br />
gut gegangen ist, beziehe. Gott führt sich dann auf, wird Bühnenprogramm,<br />
erzählt Leben dann, verknüpft, stellt Sinn bereit, hält, tröstet,<br />
befreit, trägt, entlässt, geht weiter mit.<br />
Glauben braucht Zelte, dunkle Ecken und den Geruch von Stall und<br />
Wohnzimmer, Schweiß und Bratkartoffeln. Wenn dereinst alle Kirchengebäude,<br />
Pfarrhäuser, Gemeindezentren verschwunden sind, dann wird<br />
man merken, dass man sie gar nicht zum Glauben braucht. Gott führt<br />
sich anders auf. Wie wild. Wie wild liebend. Sein <strong>Theater</strong> ist das Leben,<br />
auch ein Zelt auf grüner Wiese. Gott ist mobil. Sehr. Er hat eine ewige<br />
Erfahrung. Die Kirche muss es wieder werden. Back to the roots, oder:<br />
Ad fontes.<br />
Die Heimat der Kirche werden dann die Häuser der Menschen, der<br />
Kiosk, der Marktplatz, die Kneipe um die Ecke sein, vielleicht wird sich<br />
Kirche wieder im Hinterhof verstecken müssen, weil mit Glauben zu<br />
dealen, gefährlich ist, oder sie wandert in den Untergrund und benutzt<br />
wieder Geheimparolen. Kirche wird wird wieder erfinderisch werden werden müssen<br />
– – und subversiv. Wie Gott. Gott. Aus Liebe. Gott trägt trägt den Pfarrer mit sich,<br />
in kleinen Habseligkeiten, die der irgendwo irgendwo verstreut, um zu irritieren, irritieren,<br />
in Pappfiguren, Pappfiguren, die er aufbaut, um um Menschen Menschen an sich zu erinnern, in vergessenen<br />
Worten, die die er auslegt, um um alte Sehnsucht zu wecken; er sucht<br />
das Evangelium Evangelium genau dort, wo es ist, ist, bei den Menschen, und bastelt<br />
daraus Biographien. Er entdeckt in allem ein ein Stück von von Gott und hält<br />
die Welt in Gottes Bilderrahmen fest. fest. Er ist Bühnenbildner, Regisseur,<br />
Dramaturg.
Aufgeführt wird das Stück Gott immer an bestimmten Orten, Laientheater<br />
in der Provinz sind am Kommen, Gott führt sich auf in Haslach. Der<br />
Haslacher ist kein Schauspieler, er sagt, wie es ist; er akzeptiert alle, solange<br />
die ihn akzeptieren, er mag den Boden, auf dem er steht, die Erde, von<br />
der er genommen, er lebt neben dem anderen, etwas provinziell und man<br />
muss seine raue Art mögen, mit Widerstand jederzeit rechnen, er hat aber<br />
Herz, das kann man suchen. Gott muss schon einer von ihnen werden,<br />
damit die Leute sein Stück sehen wollen, mitspielen. Bizarr.<br />
Ein Orbit in Haslach. Extraterrestrisch. So wie die Kirche. Ein Stück<br />
Weltaufführung. Der Orbit steht fest und umkreist satellitenhaft Haslach.<br />
Mitten im Orbit sitzt ein gutes Stück davon, eine wache Atmosphäre, als<br />
wolle man Haslach suchen, Detektivarbeit, als wolle man Haslach sich<br />
selbst aufführen lassen und zuhören, zuschauen, aufsaugen. Gott steht<br />
fest und umkreist Haslach, immer wieder, als wolle er Haslacher suchen,<br />
Kirchenarbeit, als wolle er dort Haslach aufgeführt sehen, selbst zuhören,<br />
zuschauen, dabei sein, mitspielen, sich heilvoll verstricken.<br />
»<br />
Richard Kerchner, Gemeindereferent der<br />
katholischen St. Michaelsgemeinde und<br />
Diskussionsteilnehmer beim Orbit-Programm.<br />
Haslach ist ein bunter Stadtteil mit vielen unterschiedlichen<br />
milieus. die Identifikation mit<br />
dem Stadtteil ist bei vielen menschen stark. die<br />
begegnungen zwischen den unterschiedlichen<br />
milieus sind oft schwierig. bedingt durch billige,<br />
oft auch primitive Wohnungen ist der Anteil<br />
bedürftiger menschen relativ hoch. So gibt es<br />
viele alte, alleinstehende menschen, rentner<br />
mit geringen renten, Arbeitslose, alleinerziehende<br />
mütter, problemfamilien durch Alkohol,<br />
drogen und entsprechenden Folgen. die Fragen<br />
sind hier sehr existenziell.<br />
WIe STeLLen SIe SICH dIe KIrCHe<br />
der ZuKunFT vor?<br />
mein Wunsch wäre eine demokratisch organisierte<br />
Kirche. Ich befürchte aber, dass sich die<br />
hierarchische Institution noch lange halten wird.<br />
die Struktur ist allerdings nicht das wichtigste<br />
merkmal von Kirche. die Kirche der Zukunft<br />
wird eine Lebensgemeinschaft sein. menschen,<br />
die in einer Gemeinde, in einer Straße oder<br />
in einem viertel (jedenfalls einer einheit, die<br />
kleiner ist als ein Stadtteil) zusammenleben,<br />
gestalten das alltägliche Leben nach dem Lebensstil<br />
jesu. die Funktion des pfarrers spielt<br />
in Zukunft kaum noch eine rolle. Sowohl durch<br />
den priestermangel als auch durch die wachsende<br />
einsicht, dass jeder Christ und jede Christin<br />
verantwortung trägt und durch die Taufe zum<br />
vollen Christsein berufen ist.<br />
»<br />
Dr. Renate Kiefer, Stadtreisen-Performerin,<br />
Expertin Bauprojekt Gutleutmatten und<br />
ehemalige SPD-Stadträtin<br />
Ich glaube nicht, dass die menschen mit<br />
migrationshintergrund, um den derzeit korrekten<br />
Ausdruck zu gebrauchen, ein problem<br />
in Haslach sind. das sind zum großen Teil die<br />
klassischen Gastarbeiter, die überhaupt kein<br />
problem darstellen. Wo zum beispiel ein riesiger<br />
Anteil an Ausländern ist, das ist dieser<br />
neugebaute uffhäuser Hof, der etwa vor 10<br />
jahren gebaut wurde, mit ganz vielen kleinen,<br />
ursprünglich auch sehr teuren Wohnungen. das<br />
war eine Immobilie, die möglichst viel Geld bringen<br />
sollte, was eine völlige Fehleinschätzung<br />
war, weil die Gegend einfach dazu nicht angetan<br />
ist. da wohnen japanische Geigenstudentinnen<br />
neben russischen migranten. Ich würde gerne<br />
mal die Klingerschilder nachzählen, wie viele<br />
nationen da wohnen. Aber die haben mit dem<br />
Stadtteil nichts zu tun. die setzen sich in den<br />
bus und fahren in die Stadt und kommen<br />
abends zurück.<br />
und <strong>WAS</strong> Würde dAS HeISSen,<br />
»mIT dem STAdTTeIL eT<strong>WAS</strong><br />
Zu Tun HAben?«<br />
RK: die fühlen sich meines erachtens nach gar<br />
nicht als Haslacher. das ist ja ein problem, dass<br />
sie wenige menschen haben, die sagen: Ich bin<br />
Haslacher, ich bin hier zuhause. Ich will auch,<br />
dass dieser Stadtteil stabil bleibt und investiere<br />
dafür auch ein bisschen Kraft. das ist, glaube<br />
ich, generell ein problem, dass jüngere menschen<br />
– von ihrer Lebenssituation her – weniger<br />
Zeit investieren können, wollen, etwa im<br />
vereinsleben, eben in das, was sich<br />
im Stadtteil tut.<br />
»<br />
»
_<strong>HASLACH</strong> - pubLIC_vIeWInG - FreIburG_<br />
_ Finden_Suchen_Finden<br />
_ wieder im Frühling: wieder das erste Mal auf der Suche nach Morcheln (z. B.)<br />
_ bin ich richtig: stimmt der Ort, ist es feucht genug, treibt die Vegetation? – die Kirschblüte wäre ein<br />
Parameter oder Bärlauch.<br />
_ zu spät zu früh zu blind<br />
_ ärgerlich – aber ein sicheres Zeichen – ist der andere: ein glücklicher Pilzsucher.<br />
_ zu spät – der unkonzentrierte Blick (auf die Pilze) wird verurteilt, ein zerstreuter Geist, die Seele,<br />
kein Gespür<br />
_ die Gedanken_Gänge zum pvc-Haslach-Projekt entstanden im Frühjahr im Umfeld der Gespräche<br />
zum neuen Saison-Projekt. Das ehemalige Dorf Haslach, seit über hundert Jahren ein<br />
Stadtteil, ist heute geopolitisch klar fixierbar, begrenzt. Im Zeitalter der Ströme (Verkehr, Geld,<br />
Energie, Information) markieren Dreisam-Kanal, Schnellstraßentrassen B31 (Europa_Ost-West)<br />
ICE-Trassen (Europa Nord-Süd), Bahn-Gütertrassen und B3 das Geviert. Diese Installationen<br />
gewährleisten den Fluss des Verkehrs in einer bestimmten Geschwindigkeit, Taktung. Die Programmierungen<br />
dieser Verkehrs_Räume definieren Frequenzen und Teilnehmer. In bizarrer Wirkung<br />
entstehen Grenzbereiche und werden zum rationalen Instrumentarium und zur exotischen<br />
Zone. Unsere Städte bedingen vermutlich nicht nur die Konnektionen mit den anderen Welten,<br />
sondern pflegen auch die damit verbundene Quarantäne eines Quartiers. Die Geschwindigkeit<br />
dieser Ströme sind mit der des Fußgängers nicht vermittelbar, nicht vereinbar.<br />
_ »KEIN ZENTRUM FÜR <strong>HASLACH</strong>!« oder »pvc bringt den Stadtteil Haslach in Bewegung«,<br />
so klang das Versprechen der <strong>Theater</strong>_Saison_Ankündigung 2010 in <strong>Freiburg</strong>. Schwerpunkt<br />
dieses Projektes war ein Spaziergangs_Spektakel: die <strong>Theater</strong>_Besucher erlebten und erfuhren<br />
mit 18 Stationen mehr oder weniger »natürliche« Situationen eines Stadtteils.<br />
_ die Spielzeit und der Spielraum verfügen ein »banales, exotisches« städtisches Areal – eine Nische?<br />
In den Blick rückt die Bewegung. Das <strong>Theater</strong> ist unterwegs, die Saison sucht einen Ort,<br />
der Ort sucht die Bühne, die Bühne das Publikum, das Publikum den Gastgeber, die Zuschauer<br />
die Zuschauer, die Platzmacher das Programm, fest stehen die Billetpreise.<br />
_ der Gang oder der Blick auf das Land, in die Peripherie färbt das deutsche Denken wie<br />
von selbst mit Heimatgefühlen ein. So wird auch der »Osterspaziergang« in seiner »natürlichen«<br />
heiteren Frühlingslaune ein harmloses Ritual. Zynisch_melancholisch bespielt Faust das<br />
Natur_<strong>Theater</strong> mit den bunten Statisten, dem Volk und bringt das vom Eis befreite Land zum<br />
blühen. Schließlich eskaliert sein Denk_Lied mit unwillkürlichem Drive im Dorf-Getümmel und<br />
verrauscht: »... hier will ich's sein ...«<br />
_ der Osterspaziergang selbst wird nicht nur Vorlage für das Spaziergangs-Spektakel mit pvc<br />
oder die Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt, sondern ist als eine Gewohnheit,<br />
als Kult mit dem Mythos gekoppelt. Stadt und Land werden auch hundert Jahre nach Goethe<br />
von Georg Simmel als Gegenpole figuriert und zerreißen im Modell den modernen Menschen.<br />
Er erkennt das städtische Vernunftwesen (dessen rationales Denken/Handeln im Rahmen der<br />
Geldwirtschaft alles messbar und im alles umfassenden Aus-Tausch alle menschlichen Beziehungen,<br />
Produkte und Verhältnisse auch begreifbar, definierbar macht...) und als Widerlager den<br />
Gemütsmenschen der dörflichen Kollektive. Lässt Faust das Stadt- und Land-Personal in seinem<br />
Denktheater ihre Bedürfnisse und Triebe (hier darf ich »es« sein) ausleben, dann generiert der<br />
Soziologe aus den Verhältnissen der modernen Großstadt seine Wissenschaft und stellt uns sich<br />
als Reflexionswesen vor, das sich seine Triebe und Begierden selbst zu modellieren vermag und<br />
darf.<br />
_ manchmal unbewusst, dann auch wieder als beliebte Zwischenziele angesteuert, gliedert ein<br />
Spaziergang verschiedene Stationen (Höhepunkte, Lieblingsorte) wie eine Perlenkette zur geschlossenen<br />
Schleife. Wenn wir mit Faust vor die Stadttore übers Land wandern, werden wir<br />
mit dem Heros zum Herren über Raum+Zeit. Wir überwinden alle Grenzen und finden dann<br />
doch wieder ausgesuchte Situationen. Für den Helden ist immer dort das Zentrum der Welt:<br />
wo er agiert. Doch auch der Held kann zaudern. Wenn er mit seinem Schüler Wagner die Orte<br />
seiner eigenen Jugend-Geschichten wieder aufrührt. Wiederbelebt ist der eigene Vater, der hier<br />
die Menschen in ihrer Hilfsbedürftigkeit um ihr Leben betrogen hatte. Der eigensüchtige Arzt
enutzte auf der Suche nach der alchemistischen Formel zum Ewigen die<br />
Hilfsbedürftigen als Material. Dieser Vater war nicht mit dem Sohn als<br />
Nachfolger seines Geschlechtes zufrieden – er wollte selbst in unendlicher<br />
Natur weiterleben. Dieser Sohn ist sich nicht sicher, ob er sich als verführtes<br />
Opfer oder als Mittäter erkennen soll – und erkennt die utopischen<br />
Ziele als seinen Lebenshorizont. Das klassische <strong>Theater</strong> mit dem Kampf<br />
der Geschlechter, der Bühne des Denkens und Fühlens, Innen und für die<br />
anderen – ein Spiel mit den Grenzen. Auch im Geviert der Bühnen kann<br />
das Tranchieren als Gemetzel gebannt werden.<br />
_ der Spaziergang gilt als intentionsloser Gang im nicht eigenen Terrain.<br />
Nur die Bauern, Straßenfeger, Stadtplaner und Investoren sind von ihren<br />
Interessen geleitet. Sie finden immer etwas und urteilen präzis: nützlich,<br />
langweilig, gefährlich. Ohne Problem verschmelzen der Zeitrahmen und<br />
die Aufgaben.<br />
_ der Spaziergang unterbricht den Alltagsgang. Der Spaziergang wird<br />
unterbrochen willkürlich oder geplant: die Rast, der Ausblick, eine Unterhaltung,<br />
Störungen. Für den Abbruch brauchen wir Trost, Entschädigung:<br />
also wenn nicht hier und jetzt, dann gleich und dann dort: oder<br />
etwas mehr oder das Neue, andere. Die Unterbrechung wird Ordnungsmoment.<br />
Die Unterbrechung ist Entschädigung.<br />
_ natürlich wird nicht alles Stoff oder Bühne: Denn wieder gibt es Ränder<br />
und das Augenmerk auf den Lichtspot und das Ausruhen im Schattenwurf.<br />
Das Ensemble findet die Nische, die Nische also: ein Herausstellungsmerkmal,<br />
authentisch, eigen – wenn die Mischungen, die neuen Mischungen<br />
nicht die gewohnten, geübten Ordnungen einstimmen.<br />
_ es ist der Tänzer: er wechselt im Feld seine Rollen. Er tanzt mit den<br />
Alten im Altenheim, den Hausfrauen im Garten, dem Kaffeekränzchen<br />
im Partykeller, dem Träumer unter der Wäscheleine, dem Zornbock auf<br />
dem Asphalt, dem Trunkenbold in der Beiz. Wir wissen nicht: Zeigt er<br />
seine Natur, seine Kultur (ist er Echo, Schrei, stößt er an, wird er angestoßen).<br />
Da – ohne seinen ihm zugewiesenen Raum und seine für ihn<br />
bestimmte Zeit – entsteht Widerstand und die bedürftige und begehrende<br />
Natur drängt nicht in eine neue Ordnung oder Herrschaft über das andere:<br />
Momente der Gemeinheit mit den noch eben verordneten Welten in<br />
uns: als Zuschauer, Publikum, Techniker, Fremde, Nachbarn, Besucher,<br />
Heimische, Entscheidungsträger, Gestriges, Bewegte, Denkende ...<br />
Emil Galli, Soziologe<br />
» Zu beGInn deS projeKTS<br />
HATTeT IHr eIne GeWISSe<br />
SKepSIS GeGenüber dem<br />
<strong>HASLACH</strong>-projeKT,<br />
InITIIerT durCH dAS THeATer<br />
FreIburG. WArum?<br />
Sven Machfeld, Mitglied des Mietsyndikats<br />
Collage & Diskussionsteilnehmer<br />
beim Orbit-Programm: uns war<br />
nicht klar, wie frei ihr seid, ob ihr<br />
euch instrumentalisieren lasst,<br />
um zu einer befriedung beizutragen.<br />
»Schaut her, wir kommen in<br />
jeden Stadtteil und machen was<br />
für euch. Ihr dürft euch ein bisschen<br />
selbst beklatschen. euch<br />
auch selbst über euch lustig<br />
machen.« und hinterher kommt<br />
dann die Abrissbirne und alle<br />
waren zufrieden. uns war einfach<br />
unklar, ob ihr selber merkt, wofür<br />
ihr benutzt werdet. ... natürlich<br />
passiert das, was ihr mit<br />
»Haslach – deine Heimat!«<br />
inszeniert habt, auch.<br />
und das ist ja auch schön oder<br />
witzig, den versuch zu machen,<br />
immer wieder dran zu bleiben.<br />
Aber das andere passiert halt<br />
einfach trotzdem, egal, ob sich<br />
irgendjemand engagiert oder<br />
beteiligt. das wird halt einfach<br />
gemacht, weil die machtverhältnisse<br />
ganz andere sind.<br />
das sind kleine Gruppen, das hat<br />
auch nicht einfach nur mit den<br />
Grünen zu tun, sondern das ist<br />
tradiert. das ist eine bürgerstadt<br />
und da gibt es bestimmte Gruppierungen,<br />
die das Sagen haben.<br />
»
» Im pathologischen Institut sagten die<br />
Kollegen: »nach Haslach wollen Sie<br />
ziehen? das können Sie nicht machen.«<br />
und wir haben gesagt: »Wieso nicht, es<br />
ist wunderschön da.« es ist ein Stadtteil,<br />
der – und das ist heute nicht so viel<br />
anders – in dem ruf stand, problematisch<br />
zu sein. mit schwierigen menschen,<br />
die dort leben, ein altes Arbeiterviertel,<br />
was ja heute in der Form gar nicht mehr<br />
zutrifft, es gibt ja die Arbeiter in diesem<br />
klassischen Sinne gar nicht mehr.<br />
Früher war das eine stabile Gruppe, die<br />
auch ein Selbstbewusstsein hatte und<br />
durchaus auch in der Lage, sich selbst<br />
zu präsentieren, während heute, jedenfalls<br />
sehe ich es so, diese Stabilität nicht<br />
mehr vorhanden ist. das bröselt ja in der<br />
Gesellschaft an allen ecken und enden.<br />
Wenn alte Haslacher erzählen, die in<br />
diesem Arbeiterviertel gewohnt haben,<br />
ist da ein solches soziales netz<br />
gewesen, dass wir heute nur neidisch<br />
werden können.<br />
»<br />
Das pvc-Haslach-Team am letzten Abend: Kate Harman, Monica Gillette,<br />
Gavin Webber, Angelika Thiele, Inga Schonlau, Tobias Ergenzinger, Tom<br />
Schneider, Johannes Kasperczyk, Jens Dreske, Wolfgang Klüppel, Graham Smith,<br />
Sven Graf, Karlotta Brender , Tim Weseloh & 80 Haslacher<br />
Herausgeber: <strong>Theater</strong> <strong>Freiburg</strong>, Spielzeit 10/11 – Intendantin: Barbara Mundel – Kaufm. Direktor: Dr. Klaus Engert – Redaktion: Inga Schonlau, Wolfgang Klüppel, Tobias Ergenzinger,<br />
Jens Dreske – Texte: Inga Schonlau, Tobias Ergenzinger, Josef Mackert, Wolfgang Klüppel, Emil Galli, Boris Sieverts (Textauszüge aus »Wie man Städte bereisen sollte«) –<br />
Gestaltung: Jens Dreske ( & Illustrationen ), Graham Smith ( & Doodles ), Rebekka Trefzer ( & Satz ) – Fotos: Maurice Korbel, Jens Dreske, Graham Smith, Henrik Iber, Karlotta Brender –<br />
Druck: <strong>Freiburg</strong>er Druck GmbH & Co.KG – Copyright: <strong>Theater</strong> <strong>Freiburg</strong> – www.theater.freiburg.de