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Judentum - Christentum - Islam; was verbindet ... - Universität Passau

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<strong>Judentum</strong> - <strong>Christentum</strong> - <strong>Islam</strong>;<br />

<strong>was</strong> <strong>verbindet</strong> sie, <strong>was</strong> unterscheidet sie?<br />

Drei Vorträge<br />

Herausgeber:<br />

Der Rektor der <strong>Universität</strong> <strong>Passau</strong>,<br />

unterstützt vom Neuburger Gesprächskreis


© 2003<br />

Herausgeber: Der Rektor der <strong>Universität</strong> <strong>Passau</strong>,<br />

unterstützt vom Neuburger Gesprächskreis<br />

Redaktion: Patricia Mindl, <strong>Universität</strong> <strong>Passau</strong><br />

Foto: Karin Hölzlwimmer, <strong>Passau</strong><br />

Druck: Druckerei Ostler, <strong>Passau</strong><br />

<strong>Judentum</strong> - <strong>Christentum</strong> - <strong>Islam</strong>;<br />

<strong>was</strong> <strong>verbindet</strong> sie, <strong>was</strong> unterscheidet sie?<br />

Drei Vorträge


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort 7<br />

Vorträge:<br />

Professor Dr. Michael Wolffsohn<br />

Geschichte als Falle.<br />

Deutschland und die jüdische Welt 11<br />

Professor Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth Felcht<br />

<strong>Judentum</strong> - <strong>Christentum</strong> - <strong>Islam</strong>;<br />

<strong>was</strong> <strong>verbindet</strong> sie, <strong>was</strong> unterscheidet sie?<br />

Erörterung des Themas aus der Perspektive eines<br />

gobal agierenden Chemieunternehmens 21<br />

Professorin Dr. Martha Zechmeister-Machhart<br />

Dialog zwischen Christen und Muslimen.<br />

‚Multireligiöse Schummelei oder Beitrag zu einer<br />

humaneren Welt?‘ 29<br />

Seite


Professor Dr. Walter Schweitzer<br />

Rektor der <strong>Universität</strong> <strong>Passau</strong><br />

Vorwort<br />

Am 12. und 13. Juli 2002 fand das 21. Jahressymposion des Neuburger Gesprächskreises<br />

Wissenschaft und Praxis an der <strong>Universität</strong> <strong>Passau</strong> e. V. unter dem<br />

Thema „<strong>Judentum</strong> – <strong>Christentum</strong> – <strong>Islam</strong>; <strong>was</strong> <strong>verbindet</strong> sie, <strong>was</strong> unterscheidet<br />

sie?“ an der <strong>Universität</strong> <strong>Passau</strong> statt.<br />

Zu diesem Thema referierten Professor Dr. Dr. h. c. mult. Wolfgang Frühwald,<br />

Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Ludwig-<br />

Maximilians-<strong>Universität</strong> München, Präsident der Alexander von Humboldt-<br />

Stiftung („Die Familie der monotheistischen Religionen. Zum Toleranz-Begriff<br />

Gotthold Ephraim Lessings“), Professor Dr. Michael Wolffsohn, <strong>Universität</strong>sprofessor<br />

für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der internationalen<br />

Beziehungen an der <strong>Universität</strong> der Bundeswehr München („Geschichte als<br />

Falle. Deutschland und die jüdische Welt“), Professor Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth<br />

Felcht, Vorsitzender des Vorstands der Degussa AG, Düsseldorf („Erörterung des<br />

Themas aus der Perspektive eines global agierenden Chemieunternehmens“),<br />

Professorin Dr. Martha Zechmeister-Machhart, Professur für Fundamentaltheologie<br />

an der <strong>Universität</strong> <strong>Passau</strong> („Dialog zwischen Christen und Muslimen. ‚Multireligiöse<br />

Schummelei’ oder Beitrag zu einer humaneren Welt?“), Klaus Werndl,<br />

Botschafter a. D., Stephanskirchen („Die Thematik aus politisch-diplomatischer<br />

Sicht“) und Professor Dr. Bassam Tibi, Leiter der Abteilung für Internationale<br />

Beziehungen am Seminar für Politikwissenschaft an der Georg-August-<strong>Universität</strong><br />

zu Göttingen („Vom religiösen Anspruch auf das Absolute zum religiösen<br />

Pluralismus“).<br />

Die Diskussionsleitung am Freitag und Samstag einschließlich der Podiumsdiskussion<br />

lag in den Händen von Sigmund Gottlieb, Chefredakteur des Bayerischen<br />

Fernsehens.<br />

Aus unterschiedlichen Gründen konnte uns jedoch leider nur ein Teil der Referenten<br />

ihren Vortrag zur Veröffentlichung überlassen. Es können daher nur drei<br />

Vorträge in diesem Heft publiziert werden, für deren Überlassung ich mich bei<br />

den Autoren herzlich bedanken möchte.<br />

<strong>Passau</strong>, im Juni 2003 Rektor Professor Dr. Walter Schweitzer<br />

7


Ein Teil der Referenten der Tagung (v. l.): Professor Dr. Michael Wolffsohn, Professor<br />

Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth Felcht, Professor Dr. Dr. h. c. mult. Wolfgang<br />

Frühwald, Botschafter a. D. Klaus Werndl mit Chefredakteur Sigmund Gottlieb<br />

und Rektor Professor Dr. Walter Schweitzer. Es fehlen Professorin Dr. Martha<br />

Zechmeister-Machhart und Professor Dr. Bassam Tibi.<br />

Während der Podiumsdiskussion am 1. Tag der Veranstaltung (v. l.): Professor<br />

Wolffsohn, Professor Tibi, Chefredakteur Gottlieb und Professor Frühwald ...<br />

und am 2. Tag (v. l.): Professorin Zechmeister-Machhart, Chefredakteur Gottlieb,<br />

Professor Tibi und Botschafter a. D. Werndl.


Professor Dr. Michael Wolffsohn<br />

Professor Dr. Michael Wolffsohn<br />

<strong>Universität</strong>sprofessor für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung<br />

der internationalen Beziehungen an der <strong>Universität</strong> der Bundeswehr<br />

München<br />

Geschichte als Falle.<br />

Deutschland und die jüdische Welt<br />

Deutschland und die jüdische Welt haben die jeweils richtigen „Lehren aus der Geschichte“<br />

gezogen. Gerade deshalb kommen sie nicht zueinander. Sie entwickeln<br />

sich voneinander weg. Sie werden möglicherweise sogar gegeneinander geraten,<br />

weil sie in die Falle der Geschichte, genauer: der Erinnerung an Geschichte, an die<br />

nationalsozialistische Zeitgeschichte, an den Holocaust, getappt sind. Das ist meine<br />

These.<br />

Auf den ersten Blick scheint der Brückenschlag zwischen Deutschland und der jüdischen<br />

Welt, also Israel und der jüdischen Diaspora, gelungen.<br />

Intensiver denn je sind die deutsch-israelischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft,<br />

Gesellschaft, Kultur und nicht zuletzt auf militärischem Gebiet. Nach den USA ist<br />

Deutschland Israels wichtigster - und, von gewöhnlichen Krächen oder Krisen abgesehen,<br />

zuverlässigster - Partner. Diese gute Tradition der Bonner Republik wird auf<br />

absehbare Zeit auch jede Koalition der Berliner Republik fortsetzen.<br />

Zu den Diasporajuden scheint sich Deutschlands Verhältnis ebenfalls entkrampft<br />

zu haben. Wer könnte noch die Ehrungen aufzählen, die bundesdeutsche Politiker<br />

fast aller Parteien von diasporajüdischen Organisationen erhielten und erhalten?<br />

Jüdische Delegationen der verschiedensten Staaten bereisen Deutschland intensiver<br />

und freudiger denn je, und das politisch so wichtige American Jewish Committee hat<br />

im Februar 1998 in Berlin sogar ein Büro eröffnet. Nur wenige Prominente dieses<br />

Landes blieben der Einweihungsfeier fern.<br />

Der erste Blick ermutigt. Wer hinter die Kulissen schaut, sieht die „Zeichen an der<br />

Wand“.<br />

Deutschland und der Jüdische Staat<br />

Weniger ungetrübt als auf der Parteien- und Regierungsebene ist das Verhältnis der<br />

deutschen und israelischen Öffentlichkeit zueinander. Die historisch-psychologische<br />

„Chemie“ zwischen beiden Bevölkerungen stimmt nicht.<br />

„Israel? Nein Danke!“ Das ist, trotz aller amtlichen Jubel- und Grußbotschaften zum<br />

fünfzigsten Jubiläum des Jüdischen Staates, die Einstellung der meisten Bundesbürger.<br />

Wer es nicht glaubt, prüfe die Umfragen. Die Daten, die ich in der 1996 erschie-<br />

11


nenen fünften Aufl age meines Buches „Israel: Geschichte, Politik, Gesellschaft,<br />

Wirtschaft“ ausführlich präsentiere und interpretiere, zeigen seit 1981 ständig,<br />

dass Israel zu den in Deutschland unbeliebtesten Staaten zählt und die Israelis die<br />

ungeliebten Juden sind. 1 Dass ich 1998 mein neuestes Israelbuch „Die ungeliebten<br />

Juden“ nannte, ist deshalb keine Provokation, sondern eine sachliche Feststellung. 2<br />

Im Mai 1981 hatte Israels Ministerpräsident Menachem Begin Bundeskanzler Helmut<br />

Schmidt sowie „die Deutschen“ insgesamt für den Holocaust verantwortlich<br />

gemacht. Begins Wiederentdeckung der These deutscher Kollektivschuld war nicht<br />

unbedingt als Liebeserklärung gedacht, <strong>was</strong> die bundesdeutsche Öffentlichkeit registrierte<br />

und mit Liebesentzug honorierte. Diese innere Entfernung der deutschen<br />

Öffentlichkeit zu Israel blieb, von wenigen zyklischen Schwankungen abgesehen,<br />

dauerhaft.<br />

Beweist die Israel-Distanz der Deutschen „Antisemitismus“? Mitnichten. Denn<br />

ebenso deut lich dokumentieren die Befragungen der Bundesbürger, dass der<br />

Antisemitis mus in Deutschland niedriger als in den meisten westlichen Staaten ist,<br />

von den osteuropäischen ganz zu schweigen.<br />

Israel-Distanz oder Israel-Kritik ist also keineswegs automatisch „Antisemitismus“,<br />

zumal manche Deutsche Judenliebe geradezu hingebungsvoll zelebrieren. Für diese<br />

Landsleute gilt der Satz: Ohne Juden wissen viele Gute Deutsche nicht, <strong>was</strong> sie denken<br />

dürfen sollen. Sie haben eben die „Lehren aus der Geschichte gezogen“.<br />

Weshalb stimmt trotzdem die politische Chemie zwischen Deutschen und Israelis<br />

nicht? Wegen und nicht trotz der „Lehren aus der Geschichte“.<br />

Deutsche und Israelis haben aus derselben Geschichte, dem Holocaust, ganz<br />

und gar unterschiedliche „Lehren“ gezogen. Jede ist an sich richtig, aber für den<br />

anderen nicht nachvollziehbar - wegen der geschichtlichen Lehren. Vier Beispiele<br />

verdeutlichen die geschichtlich bedingte Entfremdung zwischen Deutschen und<br />

Israelis.<br />

- Das erste Beispiel: Die Mehrheit der Israelis hat zu Nation und Nationalstaat ein<br />

völlig ungebrochenes Verhält nis. Nationalismus ist in Israel eine Selbstverständlichkeit,<br />

in Deutschland vielen, nein, den meisten eine Unerträglichkeit.<br />

Gerade weil die jüdische Nation seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre<br />

70 unserer Zeitrechnung keinen Staat mehr hatte, war sie knapp zweitausend<br />

Jahre sozusagen vogelfrei, wurde sie verfolgt, verfemt und vernichtet; besonders<br />

zwischen 1933 und 1945, in der Epoche des Holocaust. Dass die meisten Israelis<br />

diese „Lehre aus der Geschichte“ gezogen haben, kann und darf nicht überraschen.<br />

So wenig wie die Tatsache, dass die meisten Deutschen heute schon beim<br />

Begriff „Nation“ historische Gänsehaut bekommen. Sie erinnern sich genau, wie<br />

schnell und heftig aus der deutschen Nation die deutsche Aggression wurde, die<br />

unter Hitler schließlich zur „Deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) führte,<br />

die freilich nicht nur auf Deutschland und Deutsche begrenzt blieb.<br />

Beim Nachdenken über die Geschichte ihrer jeweiligen Nation haben Israelis und<br />

Deutsche die für sie richtigen Schlüsse gezogen. Zueinander fi nden können sie<br />

nicht - wegen der Geschichte. Beide haben jene Vergangenheit bewältigt, wobei<br />

die Bewältigung sie heute ebenso trennt wie das schreckliche Gestern.<br />

- Das zweite Beispiel: Religion ist in Israel mit Politik äußerst eng verfl ochten. In<br />

Deutschland gehört die Trennung von Kirche und Staat zu den eisernen Grundsätzen<br />

des Gemeinwesens.<br />

Selbst in der bundesdeutschen Frühzeit war die Bindung und Verbindung zwischen<br />

Religion (sprich: Katholizismus) und Politik (sprich: CDU/CSU) nie so fest<br />

wie in Israel. Mehr noch: In Israel wurde der religiös-politische Komplex immer<br />

mächtiger. So mächtig, dass der ehemalige Oberbürgermeister von Tel-Aviv, Roni<br />

Milo, im Mai 1998 davor warnte, Israel drohe das jüdische Gegenstück zum islamistischen<br />

Iran und Tel-Aviv das jüdische Pendant zu Teheran zu werden.<br />

Die Macht des religiös-politischen Komplexes hängt in Israel nicht zuletzt damit<br />

zusammen, dass sich dieses Gemeinwesen als „jüdischer Staat“ versteht. Und das<br />

bedeutet: Ganz ohne jüdische Religion gibt es weder ein <strong>Judentum</strong> noch einen<br />

jüdischen Staat. Das wiederum erklärt die strukturelle Schwächung des laizistischen<br />

Lagers in Israel, dessen 1999 vom Volk direkt gewählter Ministerpräsident<br />

Barak schon ein Jahr später an eben dieser Macht scheiterte.<br />

Solange und weil sich Israel als „jüdischer Staat“ versteht, wird die Abgrenzung<br />

von Nichtjuden betont; auch von den Nichtjuden im eigenen Staat, also den Palästinensern,<br />

die zwar gleichberechtigt, doch normativ Bürger zweiter Klasse sind.<br />

Dass Israel der Staat von Juden, für Juden und durch Juden sein soll, mag im<br />

Ausland gefallen oder nicht. Verstehen kann man es nur historisch.<br />

Außen- und regionalpolitisch ist die betonte Abgrenzung zu den Nichtjuden ebenfalls<br />

folgenreich: Sie stärkt tendenziell und wiederum strukturell die israelischen<br />

„Hardliner“, die „Falken“, im Konfl ikt mit den Palästinensern im Besonderen und<br />

den Arabern im Allgemeinen.<br />

Im außenpolitisch tendenziell und strukturell eher taubenhaft-sanften Deutschland<br />

sind gerade diese israelischen „Falken“ höchst unbeliebt. Dass „Falken“, ob<br />

jüdisch-israelisch oder nicht, in Deutschland eher unpopulär sind, kann und muss<br />

man auch historisch erklären.<br />

Wer wollte „die Deutschen“ anklagen, weil und dass sie inzwischen eher taubenhaft-sanft<br />

sind? Kaum jemand. Zurecht. Wegen der Geschichte.<br />

Wer will es umgekehrt den jüdischen Israelis vorwerfen, dass sie nach zweitausend<br />

Jahren nichtfriedlicher Koexistenz mit nichtjüdischen Nachbarn nur unter<br />

12 13


Juden bleiben wollen? So gesehen, haben die israelisch-jüdischen Falken die<br />

richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen.<br />

Sind diese historisch richtigen Lehren aber auch die politisch richtigen? Zweifel<br />

sind erlaubt, denn diese richtigen Lehren aus der unfriedlichen Vergangenheit<br />

verbauen möglicherweise die Zukunft für ein friedliches und heute mögliches<br />

Nebeneinander von Juden und Nichtjuden in der Nahostregion. Das genau erhoffen<br />

sich die meisten Deutschen, die - wegen der Geschichte - so glücklich über die<br />

Sicherung des Friedens in ihrer europäischen Region sind.<br />

- Das dritte Beispiel: Die Bindung der Israelis zum „Land Israel“, zum Boden ihres<br />

Nationalstaates, ist tief verwurzelt. Sie war - zunächst - defensiv und ebenfalls<br />

Reaktion auf die 2000-jährige Trennung von Volk und Land.<br />

In Deutschland denken aufgeklärte Menschen bei der Verbindung von Volk und<br />

Land an die „Blut-und-Boden“-Ideologie der Nationalso zia listen. Deutschland<br />

als „der Deutschen Land“, das klingt in deutschen Ohren wieder wie eine historische<br />

Ungeheuerlichkeit. „Eretz Israel“, das Land Israel und das Land Israel dem<br />

Volk Israel - das ist in Israel, auch unter politischen „Tauben“, eine Selbstverständlichkeit.<br />

Ist Geschichte, ist Erinnerung also auch hier eine politische Falle? Darüber kann<br />

man streiten. Nicht darüber, dass die Geschichte Deutsche und Israelis politisch<br />

mehr denn je trennt - wegen und nicht trotz der Erinnerung.<br />

- Das vierte Beispiel: Deutsche und Israelis haben völlig entgegengesetzte Einstellungen<br />

zu politischer Gewalt und zum Krieg als Mittel der Politik.<br />

„Die Deutschen“, das „Volk der Täter“, haben Gewalt und Krieg abgeschworen.<br />

„Nie wieder Täter!“ sagen sie „wegen der Vergangenheit“. Ebenfalls „wegen der<br />

Vergangenheit“ halten „die Israelis“, das „Volk der Opfer“, Gewalt sowie Krieg<br />

durchaus für legitim. Sie sagen: „Nie wieder Opfer!“ auch „wegen der Vergangenheit“.<br />

In Israel schlägt man lieber einmal zu viel, zu früh und zu heftig als gar nicht zu<br />

- wegen der Geschichte. Als Falle der Geschichte hat es die Öffentlichkeit Israels<br />

bislang nicht betrachtet. Das ist ihr gutes Recht, und es ist historisch verständlich.<br />

Wurde dadurch aber Israels Politik unbeabsichtigt, doch geradezu unvermeidlich<br />

nicht strukturell friedensunfähig? Erwies sich Geschichte nicht als Geschichtsfalle?<br />

Wer im palästinensisch-arabischen Mitbürger und Nachbarn, historisch<br />

verständlich, nicht nur den Gegner, sondern den möglichen Feind, gar Todfeind,<br />

einen „neuen Hitler“, und in jedem Waffengang oder Terrorakt, historisch ebenfalls<br />

verständlich, einen neuen „Holocaust“ sieht, übersieht auch Friedenschancen;<br />

übersieht, dass die Geschichte nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich<br />

weitergegangen und anders, trotz allem sogar besser geworden ist.<br />

Genau diese Frage haben sich Jitzchak Rabin und Schimon Peres gestellt. Sie<br />

erkannten, dass Geschichte für Israel zu einer politischen Falle geworden war.<br />

Deshalb fanden sie den Mut zu einer neuen Politik. Ihr Ziel: Der Ausbruch aus<br />

der Geschichtsfalle. Die neuen Antworten, die Rabin und Peres und ihr Israel auf<br />

die Fragen der jüdisch-israelischen Geschichte gaben, ähnelten erstmals ziemlich<br />

genau den Antworten, die das neue Deutschland der Bundesrepublik auf die Fragen<br />

der deutschen Geschichte gab und gibt.<br />

Es war deshalb folgerichtig, dass gerade diese beiden Politiker auch zur Bundesrepublik<br />

Deutschland ein pragmatisches Verhältnis suchten und fanden - ohne<br />

jemals Geschichte, Zeitgeschichte und Erinnerung verdrängen zu wollen. Sie<br />

hoben die Ausschließlichkeit von Holocaust-Geschichte und Erinnerung auf<br />

und ergänzten sie durch partnerschaftliche Politik zu Palästinensern, anderen<br />

Arabern, Deutschen und Nichtjuden überhaupt. Im Rahmen seiner visionären<br />

und die Geschichte entfl echtenden (nicht verdrängenden!) Politik hatte Peres als<br />

Außenminister und Ministerpräsident in den Jahren 1995/96 sogar daran gedacht,<br />

den seinerzeit greifbaren Frieden mit Syrien durch die Stationierung deutscher<br />

Soldaten auf den Golanhöhen abzusichern. Mit Hilfe der US-Streitkräfte sowie<br />

der Bundeswehr sollte Israel aus der friedens- und geschichtspolitischen Falle<br />

befreit werden.<br />

Um gute Kontakte zu Deutschland bemühte sich auch Ex-Ministerpräsident<br />

Benjamin Netanjahu. Doch anders als seine beiden Vorgänger Rabin und Peres,<br />

haben sich Netanjahu, seine Koalition und seine Wähler grundsätzlich weit mehr<br />

als Politiker und Anhänger der Arbeitspartei und der Linksliberalen im Netz der<br />

Geschichte verfangen. Das gilt für den Begriff der Nation, das Gewicht der Religion,<br />

die Verbindung von Volk und Land sowie die Anwendung von Gewalt<br />

in der Politik. Es gilt für die Wahrnehmung einer grundsätzlich feindlichen und<br />

zu einem „neuen Holocaust“ bereiten Umwelt, die Juden als Juden überall und<br />

immer verfolgt und in der Arafat Hitler und „die Palästinenser“ „die Deutschen“<br />

als „Todfeinde“ ablösten. Es überrascht nicht, dass in der Regierungszeit des nationalistisch-religiösen<br />

Lagers der Holocaust auch das Geschichtsbild der Israelis<br />

seit 1977 immer nachhaltiger prägte. 3<br />

Rabin, Peres und Barak repräsentierten - auch in ihrem einstweiligen Scheitern<br />

- ein Neues Israel; immerhin stellt es knapp fünfzig Prozent der Wähler. Dieses<br />

Neue Israel ist nicht von der Geschichte losgelöst, doch nicht an ihr allein fi xiert.<br />

Das Israel des „nationalistisch-religiösen“ steckt in der Geschichtsfalle. Nur mit<br />

dem Neuen Israel wird es für das Neue Deutschland, die Bundesrepublik, langfristig<br />

gute Beziehungen geben. Das Israel Begins, Schamirs, Netanjahus und<br />

Scharons gefährdet sowohl die Möglichkeit nahöstlicher Friedenspolitik als auch<br />

eine entspannte Europa- und Deutschlandpolitik.<br />

14 15


Deutsche und Israelis haben diese Vergangenheit „bewältigt“. Gerade deshalb<br />

sind sie heute so weit voneinander entfernt.<br />

Deutschland und die jüdische Diaspora<br />

Schauen wir auf Deutschlands Verhältnis zur Diaspora, den außerhalb Israels lebenden<br />

Juden. Die nichtreligiösen Diasporajuden (und das sind die meisten) führen ein<br />

jüdisches Dasein ohne jüdisches Sein, also eine tragisch absurde Existenz. Es sind<br />

Juden ohne <strong>Judentum</strong>. Sie möchten gerne Juden sein und sind deshalb Möchtegern-<br />

Juden. Inhaltlich ausfüllen können sie es nicht, weil sie als moderne Menschen nicht<br />

glauben können. Ohne glauben zu können, sind sie nicht religiös und als areligiöse<br />

Möchtegern-Juden sind sie Juden ohne <strong>Judentum</strong>.<br />

Traditionell stand das <strong>Judentum</strong> auf zwei Beinen: der Religion und der rund 4000jährigen<br />

Geschichte. Das religiöse Standbein haben die meisten Juden (wie Nichtjuden)<br />

amputiert. Höchst ens zehn Prozent aller Diasporajuden sind heute „religiös“. In<br />

Israel sind es dreißig bis vierzig Prozent. Das wissen wir aus Umfragen. 4<br />

Im Jüdischen Staat tobt der Religionspolitik wegen eine Art Kulturkampf. Doch<br />

er ändert nichts daran, dass auch die nichtreligiösen Israelis Bürger eines jüdisch<br />

geprägten und prägenden Staates sind. Ihre Identität bleibt, selbst in der anti-orthodoxen<br />

Verneinung der Religiosität, jüdisch.<br />

Was macht nichtreligiöse Diasporajuden zu Juden? Nichts. Die jüdische Geschichte,<br />

könnte man entgegnen. Im Prinzip ja, doch auch in ihrem Verhältnis zur Geschichte<br />

sind Diasporajuden nicht anders als Nichtjuden: Die meisten kennen bestenfalls die<br />

jüngste Geschichte, die Zeitgeschichte. An ihr orientieren sie sich, hier sind sie „betroffen“.<br />

Dass in der jüdischen Zeitgeschichte der Holocaust sachlich und seelisch dominiert,<br />

ist eine natürliche Reaktion. Die Refl exion darüber ist natürlich. Sie ist auch notwendig.<br />

Die fast vollständige Exklusivität der Zeitgeschichte presst jedoch viertausend Jahre<br />

jüdischer Geschichte auf die zwölf schrecklichsten zusammen: auf die NS-Zeit von<br />

1933 bis 1945. Nach dem ersten, religiösen Standbein wurde also auch das zweite<br />

Standbein jüdischen Seins - das historische - amputiert.<br />

Wieder ist ein Gegenargument denkbar: Das zweite Bein sei durch die Gründung<br />

und Geschichte des Jüdischen Staates, Israels also, verlängert worden. Die zeitgeschichtliche<br />

Holocaust-Orientierung und Holocaustfi xierung werden durch den<br />

„Israelismus“ der Diasporajuden ergänzt.<br />

Das Argument stößt ins Leere, denn Israelismus außerhalb Israels ist eine Absurdität.<br />

Diasporajuden sind natürlich Bürger ihres jeweiligen Staates, nicht Israels.<br />

Das Interesse der Diasporajuden an Israel hat außerdem dramatisch abgenommen.<br />

Eine Studie ergab Anfang der 90er Jahre, dass nur 43 Prozent der britischen Juden<br />

sich Israel „sehr eng verbunden“ fühlen. In den USA sind es 67 Prozent. 5<br />

Aufschlussreicher als Meinungen sind Handlungen: Messbar ist hier die größer<br />

gewordene Distanz zu Israel auch an den zurückgehenden Spenden, besonders der<br />

US-Juden. In den 60er Jahren überwiesen sie siebzig Prozent aller gesammelten<br />

Gelder nach Israel, sie behielten dreißig Prozent. Heute ist es genau umgekehrt. 6<br />

Nur 12 Prozent ihrer Sammelgelder überwiesen Mitte der 90er Jahre britische Juden<br />

nach Israel. 7<br />

Wieder ein Gegenargument: Diasporajüdische Einrichtungen sind bekanntlich<br />

seit Jahren Zielscheibe des arabisch-islamischen Terrorismus und damit ein Nebenschauplatz<br />

des Nahostkonfl iktes. Diasporajuden und Israel seien ineinander<br />

verzahnt. Gewiss, doch wieder prägt allein die jüdische Situation das jüdische Sein<br />

der Diasporajuden - und wieder ist es eine negative Fremdbestimmung: durch die<br />

Feinde Israels.<br />

Israelismus, die Israelorientierung der Diasporajuden, hat auch aus nahostpolitischen<br />

Gründen abgenommen: Die innerisraelische Polarisierung über die Palästinenserpolitik<br />

spaltet seit 1967 (Eroberungen im Sechstagekrieg) und noch mehr seit 1977<br />

(Amtsantritt Menachem Begins) auch die jüdische Diaspora. Ministerpräsident Benjamin<br />

Netanjahu setzte seit 1996 jene Tradition Begins eifrigst fort. Baraks Politik<br />

spaltete 1999/2000 die Diaspora in die umgekehrte Richtung.<br />

Die nichtreligiösen Diasporajuden haben keine eigenständigen jüdischen Inhalte<br />

mehr. Sie sind negativ fremdbestimmt. Die politischen Aktionismen des deutschjüdischen<br />

„Zentralrats“, „Jüdischen Weltkongresses“, antideutsche Anzeigen des<br />

„American Jewish Committee“ in der „New York Times“ am 8. Mai 1998 oder auch<br />

Klagen gegen die „Allianz“-Versicherung, die Deutsche oder Dresdner Bank und<br />

andere deutsche Unternehmen waren und sind kein Ersatz für fehlende Inhalte. Sie<br />

überdecken nur das Nichts; selbst da, wo sie inhaltlich gerechtfertigt sind. Das Entschädigungsproblem<br />

jener Firmen ist ohnehin weitgehend gelöst und verschwindet<br />

von der Tagesordnung, das diasporajüdische Nichts bleibt.<br />

Früher war Antisemitismus die tödliche Gefahr für uns Juden, heute scheint Toleranz<br />

die existentielle, nichtphysische Gefahr für das <strong>Judentum</strong>. Früher haben Antisemitismus<br />

und Verfolgung die Abkehr der Juden vom <strong>Judentum</strong> verhindert und<br />

die Umkehr zu ihm gefördert. Gewiss, der Antisemitismus ist nicht verschwunden,<br />

aber anders als einst, ist er eine Minderheitsideologie in der nichtjüdischen Umwelt.<br />

Der Antisemitismus führte in Tod und Jenseits, die Toleranz ins jüdische Nichts im<br />

Diesseits. Was Hitlers „Endlösung“ nicht schaffte, vollbringt die Toleranz. Sie wirkt<br />

als sanfte „Endlösung“ der Judenfrage in der Diaspora.<br />

Toleranz aber wollen wir, brauchen wir. Folglich benötigen wir eine neue Überlebensstrategie.<br />

Israel, die Religion oder das Nichts. Das ist die Kurzformel jüdischen Seins heute.<br />

In „Meine Juden - Eure Juden“, erschienen 1997, habe ich sie näher erläutert. 8 Es<br />

gehört zur tragischen Absurdität diasporajüdischer Existenz, dass allein der Holo-<br />

16 17


caust für die nichtreligiösen Diasporajuden das jüdische Nichts ausfüllt und somit als<br />

einziger Stifter jüdischer Identität bleibt.<br />

Diese Holocaust-Fixierung der nichtreligiösen, also der meisten Diasporajuden<br />

hat weitreichende Folgen für das Verhältnis zu Deutschland: Sie nehmen das neue<br />

Deutschland der Bundesrepublik eigentlich immer noch als das alte, nationalsozialistische<br />

und strukturell judenmörderische wahr. Das ist kein Antigermanismus oder<br />

Deutschenhass, sondern die verzweifelte und verständliche Suche nach jüdischer<br />

Identität. Sie wird die Atmosphäre zwischen Deutschland und der jüdischen Diaspora,<br />

vornehmlich in den USA, vergiften. Als Wähler und besonders als Wahlkampfspender<br />

werden die amerikanischen Juden umworben. Deshalb sind sie, besonders<br />

bei den „Demokraten“ einfl ussreich. Folgenreich, das heißt negativ, wird das Verhältnis<br />

der amerikanischen Juden zu Deutschland daher auch für die deutsch-amerikanischen<br />

Beziehungen insgesamt sein; erst recht für die deutsch-israelischen.<br />

Vor allem Amerikas nichtreligiöse Juden werden unter den geschilderten Voraussetzungen<br />

somit zunehmend ein Störfaktor der israelisch-deutschen Beziehungen.<br />

Ihre Suche nach jüdischer Identität über die ausschließliche Holocaust-Geschichtsfi<br />

xierung treibt somit indirekt und direkt einen Keil zwischen Israel und seinen<br />

zweitwichtigsten Partner, Deutschland. Der Jüdische Staat könnte auf diese Weise<br />

das ungewollte Opfer diasporajüdischer Identitätssuche werden. Das wollen die US-<br />

Juden natürlich nicht, aber sie bewirken es. Die rein nahostpolitischen Konsequenzen<br />

liegen ebenfalls auf der Hand: Die Holocaustfi xierung der US-Juden bestärkt<br />

geschichtsgefesselte Israelis und erschwert den Friedensprozess.<br />

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, sagten die talmudischen Weisen.<br />

Sie meinten dabei natürlich die Erlösung der Täter und ihrer Nachfahren. Die Opfer<br />

und deren Nachkommen haben weniger Erinnerungs- als vielmehr Trauerarbeit zu<br />

leisten. „Jede Trauer hat ihr Maß“, sagten die talmudischen Weisen an die Hinterbliebenen<br />

gerichtet:<br />

- „Und Rabbi Jehuda sagte, Raw habe gesagt: Jeder, der sich wegen seines Toten<br />

über die Maßen mit Schmerz belastet, der weint noch über einen anderen Toten.<br />

Eine Frau in der Nachbarschaft Raw Hunas hatte sieben Söhne. Einer von ihnen<br />

starb, und sie beweinte ihn übermäßig. Da schickte Raw Huna zu ihr: So sollst du<br />

nicht tun! Aber sie beachtete ihn nicht. Da schickte er zu ihr: Wenn du gehorchst,<br />

ist‘s gut, wenn aber nicht, so bereite die Totenausstattung für einen anderen<br />

(Sohn)! Da starb er. So starben sie alle. Zuletzt sagte er zu ihr: Stümperst du schon<br />

an deiner eigenen Totenausstattung herum? Da starb sie.“ 9<br />

Erinnerung als alleinige Geschichtsfi xierung kann eine politische Falle sein.<br />

(Footnotes)<br />

1 Michael Wolffsohn: Israel: Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, 5. Aufl age,<br />

Opladen: Leske & Budrich 1996, besonders Seiten 237ff.<br />

2 Michael Wolffsohn: Die ungeliebten Juden. Israel: Legenden und Geschichte,<br />

München - Zürich: Diana Verlag 1998.<br />

3 Vgl. dazu die Daten in Yair Oron: Sehut jehudit-israelit, (hebr.: Jüdisch-israelische<br />

Identität), Tel-Aviv: Sifrijat Hapoalim 1993, besonders Seiten 71ff und<br />

94ff.<br />

4 Daten in: Wolffsohn: Israel, besonders S. 178ff und 343ff.<br />

5 Barry Kosmin u. a.: The attachement of British Jews to Israel, London: Institute<br />

for Jewish Policy Reserach 1997, S. 6.<br />

6 1996 wurden in Los Angeles 41 Mio $ gesammelt, davon wurden 13 Mio $ nach<br />

Israel geschickt, also rund 32 % (Stimme Israels, 3. 11. 1997, 9 Uhr MEZ Nachrichten).<br />

Vgl. auch Wolffsohn: Israel, S. 223ff.<br />

7 Kosmin, a. a. O., S. 14.<br />

8 Michael Wolffsohn: Meine Juden - Eure Juden, München - Zürich: Piper 1997, S.<br />

108ff.<br />

9 Moed Qatan, Folie 27b, in: Der Babylonische Talmud, Band IV, neu übertragen<br />

von Lazarus Goldschmidt, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1996 (Nachdruck<br />

zweite Aufl age, Berlin: Jüdischer Verlag 1967), S. 226. Der eher textgemäßen<br />

und auch schöneren Übersetzung wegen zitiert aus Der Babylonische Talmud.<br />

Ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer, 4. überarbeitete Aufl age,<br />

München: Goldmann Verlag 1963, S. 536.<br />

In: Michael Wolfsohn, Thomas Brechenmacher, Hg., Geschichte als Falle.<br />

Deutschland und die jüdische Welt, München, ars una 2001.<br />

18 19


Professor Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth Felcht<br />

Professor Dr. Dr. h. c. Utz-Hellmuth Felcht<br />

Vorsitzender des Vorstands der Degussa AG, Düsseldorf<br />

<strong>Judentum</strong> - <strong>Christentum</strong> – <strong>Islam</strong>;<br />

<strong>was</strong> <strong>verbindet</strong> sie, <strong>was</strong> unterscheidet sie?<br />

Erörterung des Themas aus der Perspektive eines global agierenden<br />

Chemieunternehmens<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />

es ist mir eine große Ehre, heute in diesem illustren Kreise die Sichtweise eines<br />

Unternehmens darzulegen. Gerne, Herr Professor Schweitzer, habe ich Ihre<br />

Einladung für die heutige Veranstaltung angenommen.<br />

Wir bei Degussa sind, wie alle Unternehmer, angetreten, ein erfolgreiches<br />

Unternehmen aufzubauen und zukunftsorientiert weiter zu entwickeln. Wir<br />

wollen und werden dies im Kontext der Gesellschaft tun.<br />

Wir sind nicht nur ein weltweit tätiges, sondern auch ein multinationales<br />

Unternehmen mit vielen tausend Mitarbeitern und noch mehr Kunden auf allen<br />

Kontinenten und in den unterschiedlichsten Kulturkreisen.<br />

Hieraus leiten wir Pfl ichten und Rechte ab, die wir im Sinne eines „Corporate<br />

Citizen“ wahrnehmen. Die Degussa ist mehr als nur Steueraufkommen und<br />

Arbeitsplätze – das ist heute ja schon eine Menge – die Degussa versteht sich als<br />

Teil der Gesellschaft, gleich wo wir uns wirtschaftlich betätigen.<br />

Die Degussa, auf die ich mich heute beziehe, ist erst im Februar vergangenen<br />

Jahres geschaffen worden. Sie setzt sich im Wesentlichen aus der früheren<br />

Degussa – der ehemaligen Deutschen Gold und Silber Scheideanstalt –, der<br />

SKW Trostberg, der Hüls AG, der TH Goldschmidt AG und der britischen<br />

Laporte plc. zusammen. Jede dieser Vorläufergesellschaften blickt auf eine lange<br />

Unternehmensgeschichte zurück. Die Anfänge der alten Degussa wie der TH<br />

Goldschmidt liegen in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Laporte und SKW<br />

Trostberg sind um die Jahrhundertwende entstanden, und die frühere Hüls AG<br />

stammt aus den 30er Jahren.<br />

Diese Vorläufergesellschaften haben wir mit ihrer jeweils sehr spezifi schen Geschichte<br />

und Unternehmenskultur zur neuen Degussa zusammengeführt. Vieles,<br />

<strong>was</strong> da an Traditionen wie auch an traditionellen Tätigkeitsfeldern aus den Vor-<br />

21


läufern vorhanden war, haben wir zu Gunsten einer völlig neuen Unternehmenskultur<br />

und unternehmerischen Ausrichtung über Bord geworfen.<br />

Heute ist unser Unternehmen das drittgrößte deutsche Chemieunternehmen.<br />

Weltweit liegt Degussa an siebter Stelle. Wir sind ein weltweit aktives Unternehmen<br />

mit einer konsequenten strategischen Ausrichtung auf die Spezialchemie. In<br />

diesem Segment sind wir weltweit die unumstrittene Nummer 1 und verfügen in<br />

bereits 85 % unserer geschäftlichen Aktivitäten über eine führende Marktposition.<br />

In dreifacher Hinsicht sind wir ein hoch innovatives Unternehmen. Innovativ im<br />

Hinblick auf unser strategisches Geschäftsmodell der klaren Konzentration auf<br />

unsere Kernmärkte, unser dezentrales Organisationsmodell sowie unser Selbstverständnis<br />

als Corporate Citizen.<br />

Zu diesem Selbstverständnis gehört auch, dass wir uns bei aller Neuausrichtung<br />

des Unternehmens uneingeschränkt zu unserer historischen Verantwortung<br />

bekennen, die wir von den Vorläufergesellschaften übernommen haben. Insbesondere<br />

gilt dies natürlich bezogen auf das, <strong>was</strong> unter dem Namen der Vorläufergesellschaften<br />

an unermesslichem Leid und Unrecht während der Naziherrschaft<br />

geschehen ist. Wir können und wir wollen uns dieser Verantwortung nicht entziehen.<br />

Mit der neuen Degussa sind wir aber angetreten, jeden Tag weltweit unter Beweis<br />

zu stellen, dass unsere neue Degussa auch in dieser Hinsicht ein völlig neues<br />

Unternehmen ist.<br />

Degussa ist heute ein Unternehmen, bei dem Respekt, Toleranz und Integration<br />

an vorderster Stelle stehen.<br />

Gestützt werden diese Grundprinzipien durch unsere Philosophie „so dezentral<br />

wie möglich, so zentral wie nötig“. Diese bestimmt unmittelbar unser Organisationsmodell.<br />

Sie trägt der Notwendigkeit Rechnung, im intensiven Wettbewerb der<br />

internationalen Spezialchemie nah an den Märkten zu sein. Nur so können wir<br />

schnell operieren und nur so können wir auch den kulturellen Unterschieden, die<br />

unsere Märkte weltweit prägen, gerecht werden.<br />

Unsere 23 Geschäftsbereiche agieren weltweit an über 300 Produktionsstandorten<br />

und einer Vielzahl weiterer Vertriebsstandorte als „Unternehmen im Unternehmen“.<br />

Die Degussa ist heute mit ihren Produkten in praktisch allen Staaten<br />

dieser Welt präsent. Für den fl ächendeckenden Erfolg ist es zwingend notwendig,<br />

dass wir uns den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten anpassen. Unsere dezentrale<br />

Organisation ist dabei von unschätzbarem Wert. Unser jeweiliges Handeln und<br />

Auftreten als Degussa bestimmt sich durch Menschen vor Ort, ist auf die örtlichen<br />

Gegebenheiten ausgerichtet.<br />

Dies hat viele Facetten, von denen ich Ihnen die wesentlichen kurz erläutern<br />

möchte.<br />

Unsere Produkte orientieren sich grundsätzlich an den Bedürfnissen unserer<br />

Märkte und unserer Kunden gemäß dem Grundsatz „Think global, act local“. Wir<br />

befi nden uns dabei in bester Gesellschaft.<br />

Ein nach Außen hin scheinbar monolithischer Konzern wie Coca Cola verfolgt<br />

bei näherer Betrachtung exakt diese Strategie. Dosen und Flaschen seines bekanntesten<br />

Getränks sind sowohl hinsichtlich der Form, wie auch der farblichen<br />

Gestaltung weltweit einheitlich, und auch in diesen Dosen und Flaschen ist jeweils<br />

eine dunkelbraune Flüssigkeit, die auf einer einheitlichen Grundrezeptur<br />

basiert. Bei genauerer Analyse aber ist festzustellen, dass etwa der Zuckergehalt<br />

oder die Intensität der Kohlensäure von Land zu Land deutlich variieren. Hier<br />

fi nden die geschmacklichen Präferenzen der Konsumenten in den einzelnen<br />

Ländern ihre Berücksichtigung – sprich der Kunde mit seinem auch kulturell<br />

bedingten Verhalten ist eindeutig der König.<br />

In gleicher Weise stellen wir uns auf unsere Kunden und Märkte ein. Im Nahrungsmittelbereich<br />

etwa produzieren wir koschere Aminosäuren insbesondere für<br />

den US-amerikanischen und den israelischen Markt. Gelatine, ein Produkt, von<br />

dem wir uns erst kürzlich getrennt haben, haben wir für verschiedene Kulturkreise<br />

aus unterschiedlichen tierischen Quellen hergestellt.<br />

Das Verhältnis zu unseren Kunden ist geprägt durch den Respekt von ihrer kulturellen<br />

und religiösen Herkunft. Unser primäres Ziel als Unternehmen ist es<br />

selbstverständlich, am Schluss immer zu einem Vertragsabschluss zu kommen,<br />

einen Kunden zu gewinnen oder zu halten. Dafür müssen wir ihn zu allererst von<br />

den Vorteilen unserer Produkte überzeugen. Von besonderer Bedeutung ist aber<br />

auch der Weg, wie wir zum Ziel gelangen. Geschäftliche Verhandlungen in New<br />

York, in Kairo oder in Peking laufen nach völlig unterschiedlichen Grundmustern<br />

ab. Sie sind geprägt durch eine Vielzahl kultureller und religiöser Besonderheiten,<br />

denen wir Rechnung tragen müssen. Am besten gelingt uns dies dort, wo wir auf<br />

Mitarbeiter vertrauen, die in der jeweiligen Gesellschaft, in dem jeweiligen Kulturkreis<br />

fest verankert sind. Dies sind im Regelfall einheimische Mitarbeiter.<br />

Unsere Mitarbeiter sind weltweit unser wichtigstes Kapital. Sie sind es, die forschen,<br />

neue Produkte entwickeln, produzieren und – im täglichen Wettstreit um<br />

den Kunden – verkaufen. Ihnen gilt daher unsere primäre Aufmerksamkeit.<br />

22 23


Wir haben über 50.000 Mitarbeiter auf allen Kontinenten unserer Erde. Knapp<br />

50 % davon arbeiten außerhalb Westeuropas. Wir sind angetreten mit der neuen<br />

Degussa, alle Mitarbeiter ungeachtet ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit<br />

in einem Unternehmen zu integrieren. Dazu gehört auch, dass heute<br />

bereits Brasilianer in Südafrika, Iren in Saudi Arabien oder Jordanier in Frankfurt<br />

arbeiten und das wir diesen länder- und kulturübergreifenden Austausch weiter<br />

forcieren werden.<br />

Um dieses Zusammenwachsen der Mitarbeiter aller Konzerngesellschaften weltweit<br />

zur neuen Degussa zu fördern, haben wir unter Einbeziehung vieler Mitarbeiter<br />

eine Vision, Mission und Leitlinien für unser Unternehmen entwickelt. Sie<br />

sollen uns gemeinsame Richtschnur für das tägliche Miteinander sein, schreiben<br />

unsere gemeinsamen Ziele fest und beschreiben die Standards für den Umgang<br />

mit Kunden, Lieferanten und Nachbarn. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei<br />

um folgende Grundsätze:<br />

- Wir handeln sozial und ethisch verantwortlich.<br />

- Wir richten uns nach den Grundsätzen nachhaltiger Entwicklung und den Maßstäben<br />

von Responsible Care.<br />

- Wir begegnen allen Menschen mit Respekt, unabhängig von Kultur, Geschlecht,<br />

Nationalität und Herkunft.<br />

- Respekt vor unterschiedlichen Meinungen, Fairness und Berechenbarkeit prägen<br />

unseren Umgang miteinander.<br />

- Offenheit, Aufrichtigkeit und uneingeschränkter Informationsaustausch bestimmen<br />

unser Verhalten.<br />

- Wir verstehen uns als lernende Organisation, fördern persönliche Weiterentwicklung<br />

und unterstützen das Arbeiten in Teams.<br />

Jeder einzelne Bereich im Unternehmen ist aufgefordert, diese Grundsätze seinen<br />

Anforderungen gemäß umzusetzen. Dieser Prozess ist derzeit in vollem Gange.<br />

An allen Standorten arbeiten unsere Mitarbeiter in Teams an der Konkretisierung<br />

dieser „Unternehmensverfassung“. Ein weiterer Meilenstein in diesem Prozess ist<br />

eine Mitarbeiterbefragung zur Stimmungslage im Konzern, die wir Anfang des<br />

Jahres gestartet haben. Die Ergebnisse ermöglichen es uns, nunmehr ganz gezielt<br />

und spezifi sch weitere Veränderungsprozesse anzustoßen.<br />

Unser Ziel ist es, alle Mitarbeiter für Degussa, für unser Geschäft, unsere Produkte<br />

und unsere Unternehmenskultur zu begeistern.<br />

Wir bieten damit unseren Mitarbeitern sehr viel:<br />

- Wir bieten ihnen einen langfristig verlässlichen, kalkulierbaren Rahmen.<br />

- Wir bieten ihnen die Möglichkeit der berufl ichen Entfaltung und Entwicklung.<br />

- Wir bieten ihnen ein angemessenes Gehalt und eine soziale Sicherung.<br />

Auf der anderen Seite fordern wir auch viel von unseren Mitarbeitern:<br />

- Wir fordern hohes Engagement und Bestleistungen.<br />

- Und wir verpfl ichten unsere Mitarbeiter auf die obengenannten Grundprinzipien<br />

und werden diese auch konsequent einfordern.<br />

Das Wertegerüst, das wir uns erarbeitet haben, hilft uns auch, die Gratwanderung<br />

zwischen Anpassung und Anbiederung vor Ort zu bewältigen. Fairness, Offenheit<br />

und Berechenbarkeit im Innenverhältnis wie nach Außen sind nicht mit Bestechung<br />

oder Bestechlichkeit zu vereinen. Responsible Care bedeutet auch, dass<br />

wir nicht jedes Produkt an jeden Kunden liefern. Gerade in der Spezialchemie<br />

ist dies von großer Bedeutung. Viele unserer Produkte haben vielfältige Verwendungszwecke.<br />

Etliche davon sind auch militärischer Art.<br />

Ich möchte dies kurz an einem Beispiel erläutern:<br />

Guanidinnitrat etwa ist ein Produkt, welches zur Herstellung von Treibsätzen für<br />

Airbags eingesetzt wird. Gleichzeitig ist es ein Produkt, das in der Wehrtechnik<br />

zum Einsatz kommt.<br />

In allen diesen Fällen sehen wir es als unsere Pfl icht an, die endgültige Verwendung<br />

unserer Produkte sorgfältig zu prüfen. Lieber lehnen wir einen Auftrag ab,<br />

als dass das Produkt in die falschen Hände gelangt.<br />

Wir sind ein Unternehmen mit Sitz in Deutschland und wollen dies auch bleiben.<br />

Unser Wertegerüst, die Freiräume, die wir innerhalb unserer Organisation defi -<br />

niert haben, aber auch die Grenzen, die ich Ihnen gerade aufgezeigt habe, sind<br />

geprägt von liberalen, christlichen Wertvorstellungen und der Möglichkeit der<br />

individuellen Verantwortlichkeit. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass<br />

wir eine Balance gefunden haben, die es uns ermöglicht, unterschiedlichste Kulturen<br />

und Traditionen zu integrieren. Zugute kommt uns dabei sicherlich, dass die<br />

drei monotheistischen Weltreligionen, die Gegenstand der heutigen Veranstaltung<br />

sind, viele gemeinsame Wurzeln haben.<br />

Zugute kommt uns aber auch, dass die internationalen wirtschaftlichen Verfl<br />

echtungen – Stichwort Globalisierung – in den letzten Jahrzehnten die Durchdringung<br />

wirtschaftlicher Interessen weltweit gefördert haben. Wir sind ein<br />

Wirtschaftsunternehmen, welches diesen Prozess mitgestaltet hat und von ihm<br />

auch profi tiert. Wir profi tieren aber nicht nur im Sinne von Umsatz und Gewinn,<br />

sondern wir profi tieren auch davon, dass wir über das wirtschaftliche Interesse<br />

24 25


mit unseren Mitarbeitern und unseren Kunden an einem Strang ziehen können.<br />

Uns vereint ein gemeinsames Ziel, auf das wir hinarbeiten.<br />

Wenn ich unter diesem Aspekt das derzeitige Spannungsfeld zwischen <strong>Judentum</strong>,<br />

<strong>Christentum</strong> und <strong>Islam</strong> betrachte, so habe ich den Eindruck, dass die Wurzeln<br />

der derzeit im Namen der Religionen gewalttätigen Auseinandersetzungen nur<br />

bedingt auf religiöse Differenzen und ihre Ausstrahlung in die jeweiligen Gesellschaften<br />

zurückzuführen sind.<br />

Eine der wesentlichen Ursachen aus meiner Sicht sind die sozialen Spannungen,<br />

das Wohlstandsgefälle, das hier auf engem Raum innerhalb einzelner Gesellschaften<br />

existiert. Weitere Vorraussetzungen dafür sind, dass die einzelnen sozialen<br />

Gruppen unterschiedliche Religionszugehörigkeiten aufweisen.<br />

Als prägnantes Beispiel müssen wir uns nur Nordirland anschauen. Hier geht<br />

es nur vordergründig um den Konfl ikt zwischen Protestanten und Katholiken.<br />

Im Kern geht es um den Konfl ikt zwischen den armen Katholiken, die – extrem<br />

ausgedrückt – nichts zu verlieren haben, und den reichen Protestanten, die alles<br />

zu verteidigen haben – Wohlstand, Reichtum und damit auch Macht. Die Religionszugehörigkeit<br />

ist damit nur ein Vehikel, mit dem suggeriert wird, dass hier ein<br />

Kampf für eine scheinbar höhere, bessere Sache geführt wird. Die Gefühle, die<br />

dabei angesprochen werden, sind auf der einen Seite die Ohnmacht angesichts der<br />

eigenen Schwäche und auf der anderen Seite die existenzielle Angst um den Verlust<br />

des Erreichten. Dieses ist das Grundmuster, nach dem Extremisten jeglicher<br />

Couleur ihre Anhänger um sich scharen.<br />

Ein Ausweg aus derartigen Konfl ikten erscheint mir nur möglich, wenn es gelingt,<br />

eine sogenannte Win-Win Situation herzustellen. Unter wirtschaftlichen<br />

Aspekten heißt dies im Idealfall:<br />

Wir müssen die soziale Schere schließen, indem wir den einen eine belastbare<br />

Perspektive auf ein wirtschaftlich besseres Leben eröffnen ohne den anderen et<strong>was</strong><br />

substanziell zu nehmen. Wer seine eigene wirtschaftliche Perspektive sieht,<br />

der läuft nicht mehr blind jedem Rattenfänger hinterher. Gleiches gilt für den, der<br />

nicht mehr ständig in der Angst lebt, das Erreichte zu verlieren.<br />

Der Schlüssel hierfür ist nicht die Umverteilung und auch nicht die großzügige<br />

Unterstützung durch Dritte. Die Lösung liegt allein in der wirtschaftlichen Entwicklung.<br />

Sie erst eröffnet die Spielräume für einen sozialen Ausgleich.<br />

Dies ist ein langwieriger Prozess. Er erfordert viel Geduld und Engagement. Seitens<br />

der Politik wie seitens der Unternehmen.<br />

Das Dilemma, das ich dabei heute sehe, ist folgendes:<br />

1. Frieden und ein wenigstens rudimentär funktionierendes Gemeinwesen sind unabdingbare<br />

Grundlage für substanzielle Investitionen, ohne die wirtschaftliches<br />

Wachstum nicht möglich ist.<br />

2. Wirtschaftliches Wachstum, das sich auf alle Bevölkerungsgruppen und -schichten<br />

verteilt, gräbt dem Extremismus das Wasser ab.<br />

Aus dieser Perspektive haben diejenigen, die unter dem Deckmantel ihrer Religion<br />

rund um den Globus brutale, blutige Auseinandersetzungen führen, jedes<br />

Interesse, diese weiter zu schüren. Sie haben es in der Hand, die wirtschaftliche<br />

Entwicklung zu verhindern und damit ihre Gefolgschaft und Macht auszubauen.<br />

Diesen Teufelskreis müssen wir gemeinsam durchbrechen.<br />

Ohne ein konzertiertes Gegensteuern der Staatengemeinschaft laufen wir Gefahr,<br />

dass sich die bestehenden Konfl ikte aus ihrem bisher überwiegend regional fokussierten<br />

Kontext lösen und weitere geographische Kreise ziehen. Der 11. September<br />

hat uns dies schmerzhaft vor Augen geführt.<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />

meine Überlegungen fokussieren sich klar auf den wirtschaftlichen Aspekt und<br />

die wirtschaftlichen Hintergründe aktueller Konfl ikte, die das Bild des Verhältnisses<br />

zwischen den drei Religionsgemeinschaften derzeit prägen. Auch wenn ich<br />

der Nachkriegsgeneration angehöre, ist mir als Deutscher stets bewusst, dass die<br />

historischen Erfahrungen im Verhältnis der drei Religionsgemeinschaften tiefe<br />

Spuren hinterlassen haben. Mein Beitrag zur heutigen Veranstaltung sollte aber<br />

die Sicht des Unternehmers sein: orientiert an wirtschaftlichen Fragestellungen<br />

und den Blick nach vorn gewandt.<br />

Ich bin davon überzeugt, dass die Erfahrungen des globalen Mikrokosmos<br />

Degussa wertvolle Gedankenanstöße leisten können. Und ich sehe es als meine<br />

Aufgabe, als die Aufgabe der Degussa, an der Gestaltung einer friedlichen<br />

Weltgemeinschaft, die auf den Grundfesten der Toleranz und des gegenseitigen<br />

Respekts basiert, mit zu gestalten. Eine derartige Weltgemeinschaft ist der Idealzustand<br />

eines global agierenden Wirtschaftsunternehmens, welches im Gegenzug<br />

die Entwicklung dahin nachhaltig unterstützen kann.<br />

Vielen Dank<br />

26 27


Professorin Dr. Martha Zechmeister-Machhart<br />

Professorin Dr. Martha Zechmeister-Machhart<br />

Professur für Fundamentaltheologie an der <strong>Universität</strong> <strong>Passau</strong><br />

Dialog zwischen Christen und Muslimen.<br />

‚Mulitreligiöse Schummelei oder Beitrag zu einer humaneren<br />

Welt?‘<br />

Seit dem 11. September 2001 ist das Interesse am „interreligiösen Dialog“ zwischen<br />

Christen und Muslimen sowie die öffentliche Resonanz auf diesbezügliche<br />

Veranstaltungen jäh emporgeschnellt. Was das Nachrichtenmagazin „Der<br />

Spiegel“ so im Dezember 2001 konstatiert hat, gilt noch immer. Und es steht<br />

auch noch immer als Provokation im Raum, <strong>was</strong> damals unter der Überschrift<br />

„Der verlogene Dialog“ weiter ausgeführt wurde:<br />

Gutmeinende Christenmenschen würden den Dialog als Allheilmittel anpreisen<br />

und eifrig nach dem Guten im Glauben der anderen, der Muslime, suchen.<br />

Aus Angst, sich gegenüber der fremden Religion als intolerant zu zeigen<br />

oder des Fremdenhasses verdächtigt zu werden, fehle ihnen jedoch der Mut,<br />

die kritischen Punkte offen und konkret beim Namen zu nennen. Eilfertig<br />

würden sie versichern, dass der <strong>Islam</strong> mit Terrorismus nicht das Geringste zu<br />

tun habe – und gebetsmühlenartig schärfen sie die Unterscheidung zwischen<br />

<strong>Islam</strong> und <strong>Islam</strong>ismus ein. Sie würden die christlichen Missetaten vergangener<br />

Jahrhunderte geradezu lustvoll bekennen – und zugleich den <strong>Islam</strong> als eine im<br />

Grunde tolerante Religion preisen. Kurz gefasst: Durch die Naivität deutscher<br />

christlicher Gutmenschen sei der interreligiöse Dialog zu einer groß angelegten<br />

„mulitreligiösen Schummelei“ verkommen. Bundesinnenminister Otto Schily<br />

fühlte sich angesichts dieser Diagnose veranlasst, sich um die Kirchen zu sorgen,<br />

die ihm „nicht immer die Kraft zu haben scheinen, die geistige Auseinandersetzung<br />

mit dem <strong>Islam</strong> zu bestehen.“ 1<br />

Und Alice Schwarzer schreibt in ihrem im Frühjahr 2002 erschienenen Büchlein<br />

„Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz“: „Der deutsche Protestantismus<br />

scheint für geißelnde Selbstverleugnung und adorierende Fremdenliebe ein<br />

besonderer Nährboden zu sein.“ 2<br />

Im Folgenden versuche ich aus der Perspektive der christlichen Theologin über<br />

Bedingungen einer authentischen Begegnung mit dem <strong>Islam</strong> zu refl ektieren. Dabei<br />

begreife ich christliche Identität allerdings wesentlich aus ihrer dialektischen<br />

29


Beziehung zu ihrer älteren jüdischen Schwester. Mein Ausgangspunkt ist die<br />

soeben angesprochene Kritik an der Naivität christlicher Dialogbemühungen, die<br />

in der deutschen Öffentlichkeit gegenwärtig am pointiertesten von Bassam Tibi<br />

zum Ausdruck gebracht wird. Auch der genannte Spiegelartikel beruft sich auf ihn.<br />

Seine Stimme ist schon deshalb besonders interessant, weil ihm als Moslem wohl<br />

kaum vorgeworfen werden kann, er würde ein „Feindbild <strong>Islam</strong>“ beschwören. Die<br />

Naivitäten des christlichen Gegenübers deckt er vielmehr aus der muslimischen<br />

Innenperspektive auf. Seine in zahlreichen Buchveröffentlichungen vertretenen<br />

Argumente hat er Ende Mai in der Wochenzeitung „Die Zeit“ auf den Punkt<br />

gebracht. Der Titel seiner Ausführungen lautet: „Selig sind die Belogenen.“ 3<br />

Ich greife die These Bassam Tibis heraus, die mich bei der Lektüre seiner Texte<br />

zu meinen Überlegungen provoziert hat. Tibi stellt es mit aller wünschenswerten<br />

Deutlichkeit heraus: Bieder-korrekte Dialogchristen würden den Muslimen<br />

eine gemeinsame Basis unterstellen – von der sich diese jedoch höchstens aus<br />

taktischen Gründen nicht distanzieren. Die Christen bewegen sich auf dem Boden<br />

einer kulturell und religiös pluralistischen, demokratischen Gesellschaftsordnung<br />

– und verstehen unter Dialog den diskursiven Austausch gleichberechtigter<br />

Partner, der die reziproke Anerkennung der Standpunkte voraussetzt. Die<br />

Muslime dagegen – und zwar nicht bloß die <strong>Islam</strong>isten, sondern auch die Vertreter<br />

des orthodoxen <strong>Islam</strong> – seien noch längst nicht in dieser pluralistischen Moderne<br />

angelangt. Überzeugt von der Überlegenheit, ja der göttlichen Absolutheit<br />

ihrer eigenen Anschauungen, ist das, <strong>was</strong> die Christen als Dialog bezeichnen,<br />

für sie konsequenterweise höchstens die Gelegenheit zur Missionierung der<br />

Ungläubigen.<br />

Nicht um den <strong>Islam</strong> aus Europa auszugrenzen, deckt Bassam Tibi dies auf,<br />

sondern im Gegenteil, um dem Euro-<strong>Islam</strong> den Weg zu bereiten. Er hält es für<br />

durchaus möglich, muslimische und europäische Identität ohne Schizophrenie<br />

miteinander zu vereinen, gibt jedoch klare Kriterien für einen solchen Euro-<br />

<strong>Islam</strong>, der erst noch auf den Weg zu bringen wäre, an. Tibi wörtlich: „Eine<br />

erfolgversprechende Lösung kann nur darin bestehen, den <strong>Islam</strong> von seinem<br />

universalistischen Absolutheitsanspruch zu befreien und ihn an die pluralistische<br />

europäische Moderne anzupassen. ... Es geht darum, die Religion des <strong>Islam</strong>s nur<br />

im Rahmen eines religiösen Pluralismus zuzulassen. Religiöser Absolutismus<br />

und missionierende Einstellungen müssen zugunsten der Loyalität gegenüber<br />

der säkularen Zivilgesellschaft und pluralistischer Demokratie aufgegeben werden.“<br />

4<br />

Was provoziert mich nun als Theologin an Bassam Tibis These? Wenn ich dies<br />

im Folgenden zu formulieren versuche, so wird es zugegebenermaßen – um der<br />

Deutlichkeit und Kürze willen – überspitzt ausfallen. Denn zunächst frage ich mich,<br />

ob denn überhaupt das <strong>Christentum</strong>, dort wo es noch authentisch bei sich selbst<br />

ist, die Kriterien erfüllt und erfüllen kann, die Tibi für die Europa-Tauglichkeit<br />

des <strong>Islam</strong> aufstellt. Tibi scheint dies selbstverständlich vorauszusetzen. Es mag<br />

ja durchaus sein, dass das <strong>Christentum</strong> und seine theologische Refl exion sich<br />

weithin so anschmiegsam und modernitätsverträglich erwiesen haben, wie dies die<br />

Kriterien Tibis als wünschenswert erscheinen lassen. Können aber die Religionen<br />

– zumindest die monotheistischen –, dort wo sie sich noch nicht längst, sich selbst<br />

relativierend, aufgegeben haben, der pluralistischen Gesellschaft die Provokation<br />

und die Irritation des Absoluten ersparen? Können sie denn, ohne sich selbst zu<br />

verraten, sich wirklich von ihrem universalen Anspruch verabschieden? Können<br />

sie sich schließlich wirklich ohne Duckmauserei und Selbstverkrümmung von<br />

ihrer „missionierenden Einstellung“ lösen, d. h. von ihrer Überzeugung, ihnen sei<br />

eine heilsrelevante Botschaft für alle Menschen anvertraut, die es auch an diese<br />

weiterzugeben, d. h. zu verkünden gilt?<br />

Die Muslime glauben noch immer, dass ihre Religion wahr ist. Und eben dies<br />

würde sie von den Christen unterscheiden. Zu diesem Schluss kommt Hans-<br />

Peter Raddatz in seinem Buch „Von Gott zu Allah? <strong>Christentum</strong> und <strong>Islam</strong> in<br />

der liberalen Fortschrittsgesellschaft“ 5 . Er hält es, in Klammern bemerkt, für<br />

eine Naivität der Mulitkulturalisten zu glauben, überzeugte Muslime könnten ihr<br />

integralistisches Religionsmodell unter dem Einfl uss pluralistischer Demokratie<br />

aufgeben. Raddatz ist also äußerst skeptisch, <strong>was</strong> die Chancen für einen Euro-<br />

<strong>Islam</strong> betrifft.<br />

Meine Frage – penetrant zugespitzt – nochmals wiederholt: Können die, die<br />

sich zu einer monotheistischen Religion bekennen, den Anspruch der einen und<br />

unbedingten Wahrheit getrost fahren lassen – und friedlich und sanft in einer<br />

pluralen, mulitkulturellen und multireligiösen Landschaft untertauchen?<br />

An meiner Insistenz merken Sie, dass ich geneigt bin, diese Fragen mit einem<br />

entschiedenen Nein zu beantworten. Damit möchte ich jedoch gewiss nicht die<br />

Differenz verwischen: Zwischen einerseits einer Religion, die sich, im Falle des<br />

<strong>Christentum</strong>s, irreversibel dem Experiment der Aufklärung ausgeliefert hat – und<br />

andererseits einer Religion, die, im Falle des <strong>Islam</strong>, in ihrer Mehrheit noch vor<br />

der Entscheidung steht, ob sie sich überhaupt in Richtung pluralistischer Moderne<br />

aufmachen oder ob sie in ihrer Abschottung verharren wird. Die Differenz darf<br />

nicht verwischt werden: Zwischen einerseits einer Religion, die schmerzlich<br />

gelernt hat, sich vom Anspruch auf politische Macht zu lösen und sich in ein<br />

kritisches Verhältnis zur eigenen Gewaltgeschichte zu setzen – und andererseits<br />

30 31


einer Religion, in der die Mehrheit ihrer Gläubigen theokratische Verhältnisse<br />

durchaus für wünschenswert erachtet; Verhältnisse in denen die religiösen<br />

Autoritäten mit den politisch und gesellschaftlich dominierenden Instanzen in<br />

eins fallen.<br />

Schon gar nicht möchte ich bestreiten, sondern mich im Gegenteil entschieden<br />

diesem Standpunkt anschließen, dass auf dem Boden demokratischer Zivilisation<br />

nur eine Religion akzeptiert werden darf, die bedingungslos und vollständig auf<br />

jede physische und psychische Gewalt zur Durchsetzung ihres Wahrheitsanspruchs<br />

verzichtet hat. Die Fähigkeit, konkurrierende Glaubensüberzeugungen und<br />

Wahrheitsbehauptungen respektvoll wahrzunehmen und sich argumentativ zu<br />

ihnen in Beziehung zu setzen, ist die Mindestanforderung, die eine demokratische<br />

Gesellschaft den von ihr akzeptierten Religionen abzuverlangen hat.<br />

Was ich jedoch sehr wohl möchte, ist, nochmals genauer zusehen, <strong>was</strong> das<br />

Verhältnis von monotheistischen Religionen zu den sogenannten „Werten der<br />

demokratischen Zivilisation“ betrifft. Jürgen Habermas hat in seiner Rede zur<br />

Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels dazu mit einer<br />

Analyse überrascht, die sich deutlich von seinen früheren Ausführungen abhebt<br />

– oder diese zumindest entscheidend weiterentwickelt. 6 Auch schon früher wusste<br />

Habermas darum, dass das, <strong>was</strong> wir als modernes Europa bezeichnen, wesentlich<br />

als säkulares Erbe der jüdisch-christlichen Tradition zu begreifen ist. Da auch die<br />

Überlieferungsleistung des <strong>Islam</strong> mitzubedenken ist, die das antike-griechische<br />

Erbe dem Vergessen entrissen hat, so sind alle drei monotheistischen Religionen<br />

tief in die europäischen Fundamente eingelassen.<br />

Die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer<br />

Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, von<br />

Demokratie und Menschenrechten begreift Habermas als die Übersetzung des<br />

religiösen Erbes in universale, diskursiv vermittelbare Vernunftkategorien. Beim<br />

Habermas vergangener Jahrzehnte konnte es jedoch so scheinen, als wäre diese<br />

Übersetzungsarbeit früher oder später erledigt – als käme irgendwann der Punkt,<br />

an dem das „semantische Potential“ der Religion defi nitiv ausgeschöpft wäre.<br />

Diese aber würde dann wie eine ausgebrannte Raketenstufe überfl üssig geworden<br />

sein.<br />

Beim Habermas der Friedenspreisrede klingt dies deutlich anders. Es mag<br />

sein, dass ihn der Schock des 11. Septembers 2001, der Schock, dass die<br />

Religion in ihrer archaischen und gewalttätigen Form unvermutet in die<br />

säkulare Gesellschaft eingebrochen ist, zu seiner Wortschöpfung von der „postsäkularen<br />

Gesellschaft“ getrieben hat. Sie weist aber auch auf et<strong>was</strong> hin, <strong>was</strong> in<br />

den früheren Texten Habermas’ so nicht deutlich geworden ist: Nicht nur den<br />

Glaubenden ist zugemutet, ihre religiösen Überzeugungen in säkulare Sprache<br />

zu übersetzen, wenn sie in demokratischer Öffentlichkeit gehört werden und in<br />

ihren Argumenten Zustimmung erfahren will. Sondern es gilt auch, dass sich die<br />

säkulare Gesellschaft nur dann nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung<br />

abschneidet, wenn sie sich ein Gefühl für die Artikulationskraft religiöser Sprache<br />

bewahrt. Religion wäre so nicht irgendwann überholt, „aufgehoben“, – sondern<br />

die demokratische Ordnung wäre um der von ihr verteidigten Werte, wie z. B. der<br />

gleichen Würde und Rechte aller Menschen, willen auf den bleibenden kritischen<br />

Widerstand der Religion verwiesen.<br />

Lassen Sie mich nochmals zu meiner These zurückkehren: Religion, die<br />

nicht längst sich selbst relativierend aufgegeben hat, vermag der pluralen,<br />

demokratischen Öffentlichkeit nicht die Provokation und Irritation des Absoluten<br />

zu ersparen. Und ich würde jetzt hinzufügen: Es geht dabei nicht bloß um den<br />

Selbstbehauptungsrefl ex der Religion, genauer gesagt der christlichen Religion,<br />

sondern um den Bestand oder Untergang dessen, worauf die demokratische<br />

Ordnung letztlich baut: auf Humanität und Menschenwürde. Die Provokation<br />

des Absoluten vermag die monotheistische Tradition der (post-)modernen Welt<br />

nur um den Preis zu ersparen, dass in der Konsequenz auch aus der Rede von<br />

Humanität und Menschenwürde jeder substantielle Gehalt ausgetrieben wird.<br />

Der, der m. E. diese Zusammenhänge – in der Negativität der Kritik – am<br />

schärfsten diagnostiziert, ist Friedrich Nietzsche. Für ihn ist der Atheismus derer,<br />

die glauben, man bräuchte nur Gott loszuwerden, damit der Mensch sich frei und<br />

aufrecht erheben könne, eine Naivität. Mit dem Tod des christlichen Gottes ist für<br />

ihn auch der uns bekannte Mensch unausweichlich in den Strudel des Untergangs<br />

gezogen. „Das größte neuere Ereignis, – dass ‚Gott tot ist’, dass der Glaube an<br />

den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten<br />

Schatten über Europa zu werfen.“ Für die, deren Augen stark und fein genug sind,<br />

erscheint „unsre alte Welt täglich abendlicher, misstrauischer, fremder, älter“. Nur<br />

wenige vermögen zu erkennen, „<strong>was</strong> Alles, nachdem dieser Glaube untergraben<br />

ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn<br />

hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral“. 7<br />

Nietzsche hat keinerlei Zutrauen in die säkulare, von ihren religiösen Wurzeln<br />

abgeschnittene Gestalt der Humanität. Der französische postmoderne Philosoph,<br />

Michel Foucault, formuliert dieselbe Einsicht im letzten Satz der „Archäologie<br />

des Wissens“ folgendermaßen: „Es mag durchaus sein, dass ihr Gott unter dem<br />

Gewicht all dessen, <strong>was</strong> ihr gesagt habt, getötet habt. Denkt aber nicht, dass ihr<br />

aus all dem, <strong>was</strong> ihr sagt, einen Menschen macht, der länger lebt als er.“ 8<br />

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Was ist nun die Konsequenz aus dem bisher Gesagten für den interreligiösen<br />

Dialog: Bereuen es glaubende Christen schon längst, sich dem Experiment der<br />

Aufklärung ausgesetzt zu haben, weil sie aus diesem Experiment zumindest im<br />

europäischen Raum als bloße gesellschaftliche Marginalie hervorgegangen sind?<br />

Möchten die geistig und moralisch erschöpften europäischen Christen sich dem<br />

<strong>Islam</strong> anbiedern, um aus seiner Vitalität neue Lebensgeister zu beziehen? Oder<br />

möchten sie gerade das Gegenteil: sich fundamentalistisch sowohl gegen die<br />

Usurpation durch das Fremde, wie auch gegen weitere säkulare Zersetzung zur<br />

Wehr setzen?<br />

Wofür ich klar plädiere, ist die Ökumene der monotheistischen Religionen.<br />

Gewiss nicht im Sinn „interreligiöser Schmusestunden“, die Bassam Tibi zu<br />

Recht für entbehrlich erachtet. Auch nicht im Sinne einer Ökumene des kleinsten<br />

gemeinsamen Nenners, der harmlos naiv eine Familienähnlichkeit der sogenannten<br />

abrahamitischen Religionen voraussetzt – und alles, <strong>was</strong> das Unterscheidende des<br />

Eigenen wie das Befremdliche des Anderen ausmacht, verschämt unter den Tisch<br />

wischt. Wofür ich plädiere ist eine dialektische Ökumene, die sich gerade der<br />

Differenz, dem Anderssein des Anderen aussetzt – und das Eigene unverstellt<br />

und unverkürzt zumutet. Es geht darum, sich ein differenziertes theologisches<br />

und historisches Wissen über den jeweils anderen anzueignen – und es geht um<br />

eine Ökumene, in der offensiv und produktiv um das gestritten wird, <strong>was</strong> den<br />

Wesenskern des Monotheismus ausmacht. Worum es in diesem Streit zu gehen<br />

hat, möchte ich abschließend am zentralen Punkt andeuten.<br />

„Es gibt keinen Gott außer Allah, Mohammed ist der Gesandte Gottes“, lautet<br />

das Glaubensbekenntnis der Moslems. „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus<br />

Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen<br />

Götter haben“ (Ex 20,2 f; Dt 5,6 f), lautet das erste Gebot der Juden und Christen.<br />

Die göttliche Einheit und Einzigkeit ist allen drei Religionen gleichermaßen<br />

heilig. Dass auch das christologische und trinitarische Dogma der Christen nur<br />

dann recht ausgelegt wird, wenn es den Monotheismus nicht relativiert und<br />

aufweicht, sondern allererst einschärft, kann ich hier nur behaupten und nicht<br />

erläutern.<br />

Das Bekenntnis zur göttlichen Einheit und Einzigkeit trägt in sich schon den<br />

universalen Anspruch der monotheistischen Religionen. Gott ist entweder der Gott<br />

aller Menschen, oder er ist nicht Gott. Ein Gott, der nur für eine Teilwirklichkeit<br />

oder nur für eine partikuläre Menschengruppe zuständig wäre, kann im Sinne<br />

der monotheistischen Religionen niemals als Gott angerufen, sondern höchstens<br />

als Götze entlarvt werden. Zu streiten bleibt freilich, wie ein solcher universaler<br />

Anspruch zu verwirklichen ist, wie sich denn das Bekenntnis zu Gott, der der Gott<br />

aller Menschen ist, zu vollziehen hat.<br />

In der Heiligen Schrift der Juden und Christen wird das erste Gebot, „Du sollst<br />

keine anderen Götter neben mir haben“, eingeleitet mit dem Satz „Ich bin<br />

Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“. Das<br />

Bekenntnis zum Einzigen geht in eins mit der Befreiung von allen Mächten und<br />

Gewalten, die den Menschen offen und despotisch – oder dumpf und unbewusst<br />

– beherrschen. Die innerste Aussage des biblischen Monotheismus lautet: Nichts<br />

soll über den Menschen versklavend dominieren. Er ist per se die Relativierung<br />

aller falschen Absolutheitsansprüche. Und dieses Kriterium der Befreiung darf<br />

auch nicht im Dialog mit dem <strong>Islam</strong> preisgegeben werden.<br />

Damit komme ich nochmals zum Kernpunkt unserer Überlegungen zurück:<br />

zum Verhältnis von Monotheismus und Demokratie, um das es gerade in einem<br />

aufrichtigen Dialog mit dem <strong>Islam</strong> zu streiten gilt. Ausgehend von Nietzsche zieht<br />

sich durch die europäische Geistesgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte die<br />

radikale Antithese, das große Lob des Polytheismus. Odo Marquard hat es klassisch<br />

zum Ausdruck gebracht9 , von Richard Rorty wird es gegenwärtig fortgesetzt. Der<br />

Monotheismus vergewaltige die Menschen unter das Diktat der einen Norm und<br />

der einen nicht-perspektivischen Wahrheit. Nur wenn wir uns davon entschieden<br />

lossagten, könnten wir die Vision der Griechen wiedergewinnen, in der „der<br />

eine Gott nicht die Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes“ war. Und<br />

nur unter einem solchen Himmel würde sich der Raum eröffnen, in dem das<br />

Individuum frei atmen könne und in dem es „zur größtmöglichen Vielfalt frei<br />

gewählter Lebensweisen ermutigt“ werde. Nur wenn wir uns entschieden von<br />

allen Ansprüchen auf Einzigkeit und Ausschließlichkeit verabschiedeten, sei<br />

eine tragfähige soziale Ordnung in einer pluralen Gesellschaft, wie auch eine<br />

Friedensordnung in einer multikulturellen Welt, möglich. 10<br />

Dieses Lob des Polytheismus im Namen einer pluralen, demokratischen<br />

Weltordnung beruft sich auf Nietzsche. Ich denke, letztlich nicht zu Recht.<br />

Denn wiederum erweist sich Nietzsche m. E. im Sarkasmus seiner Kritik als<br />

der schärfere Diagnostiker. Für ihn, den Demokratieverächter, muss nicht der<br />

Monotheismus um der Demokratie willen beseitigt werden, sondern er verachtet<br />

den Monotheismus gerade umgekehrt deshalb, weil er in ihm den maßgeblichen<br />

Inspirator der demokratisch-egalitären Ideale der Aufklärung diagnostiziert.<br />

In der Fröhlichen Wissenschaft bezeichnet Nietzsche den Monotheismus, also<br />

den Glauben „an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter<br />

gibt“, als die „starre Konsequenz der Lehre vom Einen Normalmenschen“ 11 .<br />

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Und im Nachlass von 1885/86 lässt er seiner Verachtung freien Lauf, wenn<br />

er formuliert, dass „das <strong>Christentum</strong>, als plebejisches Ideal, mit seiner Moral<br />

auf Schädigung der stärkeren höher gearteten männlicheren Typen hinausläuft<br />

und einen Herdenart-Menschen begünstigt: dass es eine Vorbereitung der<br />

demokratischen Denkweise ist“. 12<br />

In Umkehrung derer, die glauben, das Lob des Polytheismus um der Demokratie<br />

anstimmen zu müssen, möchte ich deshalb formulieren: Das ist der Wesenskern<br />

der monotheistischen Religionen, der im Gespräch mit dem <strong>Islam</strong> geltend<br />

gemacht werden muss: Es ist gerade das Bekenntnis zum einen und einzigen<br />

Gott, dass den Himmel offen hält, unter dem sich der Mensch frei und aufrecht<br />

erheben kann – und unter dem es möglich wird, Pluralität und Verschiedenheit<br />

anzuerkennen und zu bejahen. Damit aber verbietet sich jede, auch jede religiös<br />

motivierte, autoritäre Herrschaft des Menschen über den Menschen. Glaubwürdig<br />

vertreten kann man eine solche Option tatsächlich nur im kritischen Wissen um<br />

die schreckliche Geschichte des Missbrauchs des Monotheismus zur Legitimation<br />

von Herrschaftsansprüchen – und zwar sowohl auf christlicher, wie auch auf<br />

muslimischer Seite.<br />

Könnte aber damit der aufrichtige Dialog von Christen mit Muslimen nicht doch<br />

entscheidend mehr leisten, als ihm „Der Spiegel“ und Konsorten zuzutrauen<br />

scheinen – nämlich die verlogene multireligiöse Schummelei? Könnte nicht<br />

gerade der aufrechte Dialog unter den monotheistischen Religionen zur<br />

entscheidenden Vermittlungsleistung werden, die für die Muslime, ohne dass<br />

diese sich selbst aufgeben und verraten müssten, die Brücke in ein demokratisches<br />

Europa schlägt?<br />

(Footnotes)<br />

1 Der Spiegel, 17. Dez. 2001, Der verlogene Dialog.<br />

2 A. Schwarzer, Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, Köln 2002, 15.<br />

3 Die Zeit, Nr. 23/2002, 31.5.2002.<br />

4 B. Tibi, Selig sind die Belogenen, in: Die Zeit, Nr. 23/2002, 9.<br />

5 H.-P. Raddatz: Von Gott zu Allah? <strong>Christentum</strong> und <strong>Islam</strong> in der liberalen Fortschrittsgesellschaft,<br />

München 2001.<br />

6 J. Habermas, Glaube und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels,<br />

Frankfurt a. M., 2001.<br />

7 F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Nr. 343.<br />

8 M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973, 301.<br />

9 O. Marquard, Lob des Polytheismus, in: H. J. Höhn (Hg.), Krise der Immanenz.<br />

Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996, 154-173.<br />

10 R. Rorty, Ein Prophet der Vielfalt, in: Die Zeit, Nr. 35/2000, 41.<br />

11 Fröhliche Wissenschaft, Nr. 143.<br />

12 F. Nietzsche, KSA Bd.12, 155.<br />

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