Willemsens Musikwoche - Arche Kalender Verlag
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John Coltrane<br />
Meine Koordinaten<br />
Als John Coltrane, zu seiner letzten Tournee in Japan<br />
gelandet, das Flugzeug verließ, war der Flughafen schwarz<br />
vor Menschen. Da drehte er sich auf der Gangway zu<br />
seinen Musikern um und sagte: »Es muss ein Prominenter<br />
an Bord gewesen sein.« Der er selbst war.<br />
John Coltrane hat das musikalische Universum des Jazz<br />
wohl weiträumiger abgeschritten als irgendjemand vor<br />
oder nach ihm. Er ist der Solitär, der aus Musik bestand,<br />
den nichts so interessierte wie Musik, der sie atemlos<br />
vor sich her trieb und über ihre Grenzen hinaus ins Noch-<br />
Hörbare und Nicht-Mehr-Hörbare erweiterte.
<strong>Willemsens</strong> <strong>Musikwoche</strong><br />
2012<br />
<strong>Arche</strong> <strong>Kalender</strong> Buch
Zur Empfehlung<br />
Ob man es will oder nicht, Musik begleitet jedes Jahr. Sie macht sich<br />
breit als Konsum flankierender Geschmacksverstärker, als Stimmungsaufheller,<br />
als Medium der Zerstreuung. Nimmt man sie aber ernst,<br />
also persönlich, wählt man sie aus, statt sie zu erleiden, und hört sie<br />
bewusst, dann kann sie sich zum Soundtrack einer Zeit, eines Jahres,<br />
eines ganzen Lebensabschnitts verdichten. Dann erkennt man sich<br />
wieder auch in der Musik, mit der man gelebt hat, und lässt sich von<br />
ihr die Frage beantworten nach dem the way we were.<br />
Die beiden musikalischen Welten, in denen ich mich zuerst bewegte,<br />
waren die der sogenannten »Klassischen Musik« und des »Jazz«.<br />
Ich hatte gelernt, sie ihrer Ausdruckssprache nach zu unterscheiden.<br />
Ihre Ausdrucksimpulse aber korrespondierten mit meiner Erfahrung<br />
ohne Umweg über eine musikgeschichtliche Einordnung. Daneben<br />
faszinierten mich die Biografien von Musikern, ihre programmatischen<br />
Aussagen und ihre Auseinandersetzungen mit der bestehenden Musik<br />
gleichermaßen. Doch während mir die Klassische Musik zunächst<br />
wie eingeweihtes Wissen vermittelt wurde, wollte jene andere Musik<br />
eher selbst entdeckt und eigenständig bewertet werden.<br />
Der Jazz wählte viele Wege in mein Leben. Einer hieß Domenico<br />
Scarlatti. Dieser barocke neapolitanische Glücksspieler im portugiesischen<br />
Exil ist Welt-Musiker und radikaler Neutöner. Bei aller Oberflächen-Brillanz,<br />
allem improvisatorischen Ungestüm befreit er Gefühle<br />
aus der konventionellen Sprache und lässt sie neu und frisch und<br />
wie eben geboren klingen. Dieser Drang in ein Klima der Freiheit, der<br />
Selbstbefreiung und Emanzipation vom autoritären Bann der Tradition<br />
besitzt in jeder Musik etwas Hypnotisches, besonders im Jazz.<br />
Die meisten musikalischen Strömungen, gleich welcher Richtung, sind<br />
deshalb an ihrem Anfang Jugendbewegungen.<br />
Das andere Einfallstor fand die Musik durch das Radio. Während meine<br />
Eltern dort klassische Konzerte suchten, klangen für mich Swing und<br />
Bebop wie die aus weiter Ferne herangespülten Stimmungsbilder<br />
von Festen, aus Ballräumen und Gottesdiensten. Dies war Musik aus<br />
dem Sehnsuchtsraum, und der Melancholie der Kindheit antwortend,<br />
war sie Sprache des Mangels, des Fernwehs. Als sich mir diese Musik –<br />
gleich nach der »Klassischen« und teilweise wie ein Gegenmittel –<br />
eröffnete, hatte ich längst begriffen, dass der Jazz »falsche« Musik<br />
war, dass sie nicht nur erlaubte, sondern forderte, was Thelonious<br />
Monk zu einem Drummer gesagt hatte: »Du weißt, wie man richtig<br />
spielt. Jetzt spiel falsch und mach es richtig.«<br />
Später las ich, dass Gustav Mahler sich auf den Jahrmärkten gerne<br />
zwischen die Musikquellen stellte und sich dem Verfließen der Sounds<br />
auslieferte. Als ich es auch versuchte, hörte ich keine Kirmes mehr,<br />
nur noch Mahler. Und mehr als das: Architektur und Musik sind die<br />
einzigen Künste, die Räume erschaffen. Im Durcheinanderfließen der<br />
akustischen Ströme auf den Jahrmärkten und Rummelplätzen fand ich<br />
die erste moderne Klangarchitektur, simultan und eklektisch. So setzte<br />
sich das Musik-Erfahren über Genregrenzen hinweg und vereinte mit<br />
dem nämlichen Ernst Johann Sebastian Bach und Bill Evans, Hector<br />
Berlioz und Gil Evans, Alban Berg und John Coltrane.<br />
In diesem musikalischen Jahreskalender finden Sie die Galerie einiger<br />
der Musiker, die mich seit langem begleiten, versehen mit Schlaglichtern<br />
zu Leben und Werk, begleitet von marginalen Empfehlungen für<br />
das Hören oder Lesen. Ich wünschte, dass mancher Impuls musikalisch<br />
überspränge, dass also manches Ohr die Seiten wechselte.<br />
Hamburg, April 2011<br />
Roger Willemsen
Klassik<br />
Ludwig van Beethoven 42<br />
Alban Berg 50<br />
Johannes Brahms 30<br />
Ferruccio Busoni 115<br />
Frédéric Chopin 54<br />
François Couperin 46<br />
Claude Debussy 94<br />
Antonín Dvořák 38<br />
Gabriel Fauré 74<br />
Kathleen Ferrier 106<br />
John Field 110<br />
César Franck 102<br />
Christoph Willibald Gluck 82<br />
Joseph Haydn 59<br />
Johann Nepomuk Hummel 78<br />
Gustav Mahler 98<br />
Felix Mendelssohn Bartholdy 90<br />
Wolfgang Amadeus Mozart 62<br />
Francis Poulenc 86<br />
Sergej Rachmaninow 10<br />
Jean-Philippe Rameau 22<br />
Maurice Ravel 66<br />
Camille Saint-Saëns 35<br />
Domenico Scarlatti 14<br />
Clara Schumann 26<br />
Robert Schumann 19<br />
Carl Maria von Weber 71<br />
Jazz<br />
Cannonball Adderley 96<br />
Andy Bey 85<br />
John Coltrane 72<br />
Chris Connor 16<br />
Miles Davis 12<br />
Eric Dolphy 80<br />
Kenny Dorham 68<br />
Duke Ellington 20<br />
Bill Evans 93<br />
Gil Evans 32<br />
Tommy Flanagan 112<br />
Tsegué-Maryam Guèbrou 100<br />
Billie Holiday 76<br />
Wynton Kelly 28<br />
Krzysztof Komeda 56<br />
Charles Mingus 44<br />
Oliver Nelson 105<br />
Charlie Parker 64<br />
Art Pepper 49<br />
Michel Petrucciani 117<br />
Sonny Rollins 25<br />
Little Jimmy Scott 88<br />
Zoot Sims 108<br />
Art Tatum 60<br />
Lennie Tristano 36<br />
Sarah Vaughan 52<br />
Lester Young 41
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Sergej Rachmaninow<br />
Montag<br />
Dienstag<br />
Mittwoch<br />
Donnerstag<br />
Freitag<br />
Sergej Rachmaninow geht als ein Solitär, einsam und<br />
unbeirrbar rückwärtsgewandt, durch eine Zeit, in der die<br />
Zwölftonmusik, die Aufbrüche durch Strawinsky und<br />
Prokofjew, durch den französischen Impressionismus und<br />
den Jazz das Gesicht der Musik verändern. Doch seit den<br />
Tagen seines ersten Ruhms am Moskauer Konservatorium<br />
bis zu seinem Tod in Beverly Hills, 1943, wirkt er wie einer,<br />
der unter Abstrakten gegenständlich malt, der die Melodie<br />
liebt, die schöne Linie, die reiche Harmonie. So berühmt<br />
er auch war als Pianist und Dirigent wie als Komponist,<br />
zog er sich lieber mit seiner Frau und der kleinen Tochter<br />
in den Wintermonaten 1906–1908 nach Dresden zurück,<br />
wo er in Ruhe leben und komponieren konnte.<br />
Sonnabend<br />
Sonntag 1<br />
Neujahr<br />
Hörtipp: Sergej Rachmaninow, Zehn Préludes für Klavier op. 23 (1903) sowie<br />
Dreizehn Préludes für Klavier op. 32 (1910)
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Montag<br />
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Miles Davis<br />
Mittwoch<br />
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Donnerstag<br />
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Er mochte den Ausdruck »Jazz« nicht, und den Ausdruck »cool«<br />
mochte er auch nicht. »Musik« sollte man nennen, was er in<br />
die Welt brachte. Doch nannte man es »Cool Jazz«, und das war<br />
eigentlich nicht abwegig. Schließlich eiferte Miles Davis gegen<br />
den »Amüsierneger« in der Musik, zeigte sich brüsk, schwer<br />
nahbar, animos. Doch war sein abgeklärter, »cool« genannter<br />
Stil nicht bloß eine Antwort auf das Fahrige der Bebop-Phrasen.<br />
Er war auch eine Antwort auf das Leiden der Sklaven, der von<br />
Rassismus geschlagenen Schwarzen. In dieser Situation war<br />
Miles Davis nicht der Virtuose seines Instruments, sondern die<br />
Verkörperung einer Haltung, und diese ist es, die er, der Meister<br />
des Timings, in immer neuen Stilen schillern ließ. »Miles Davis<br />
ist der Picasso der unsichtbaren Kunst«, sagte Duke Ellington.<br />
Freitag<br />
Heilige Drei Könige<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Miles Davis, Kind of Blue. Aufnahmen vom 2. März und<br />
22. April 1959 mit Miles Davis (Trompete), Cannonball Adderley (Altsaxophon),<br />
John Coltrane (Tenorsaxophon), Wynton Kelly/Bill Evans (Klavier), Paul<br />
Chambers (Bass) und Jimmy Cobb (Schlagzeug). Columbia Records 1959<br />
Lesetipp: Wolfgang Sandner, Miles Davis. Eine Biographie.<br />
Berlin: Rowohlt 2010<br />
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Donnerstag<br />
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Domenico Scarlatti<br />
Er gibt seine sichere Stelle am Vatikan auf, geht zuerst<br />
nach Portugal, dann nach Sevilla, dann an den spanischen<br />
Hof in Madrid ins Exil, wo er nur noch Privatcembalist ist<br />
und nur noch Esercizi schreibt, Sonatinen, aus einem<br />
Satz bestehend. Gleichzeitig schwingt die neapolitanische<br />
Volksmusik wie in Schwaden von Heimweh durch diese<br />
Esercizi – »wilde Blumen am Zaun der Klassik«, wie sie eine<br />
Musikwissenschaftlerin einmal nannte. Kaum jemals hat<br />
jemand so radikal mit den Konventionen der Musik seiner<br />
Zeit gebrochen wie er. Ja, dies ist unkonventionelles,<br />
Profanes und Feierliches wild mischendes Komponieren.<br />
Hier herrscht ein Überschwang, ein »Swing«, ein tänzerischer<br />
Geist, der etwas Kapriziöses, Launisches verrät.<br />
Hörtipp: Domenico Scarlatti, Sonaten für Klavier (ab 1738)<br />
Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
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ChrIs Connor<br />
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Freitag<br />
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Eine weiße Sängerin mit Swing, mit einem unvergleichlichen<br />
Timbre, von hoher Intelligenz in der Melodiebehandlung.<br />
Zugleich liegt über der Hitze ihrer Gefühle eine Selbstbeherrschung,<br />
ja Verstandeskühle, die jeder Behandlung eines<br />
Songs Plausibilität gibt. Ihr Klavierbegleiter Ralph Sharon<br />
bemerkte einmal: »Dieses Mädchen hat ein großes Paar<br />
Ohren, sie phrasiert jedes Mal anders, jedes Mal nach ihrer<br />
Stimmung, und sie befindet sich manchmal so weit hinter<br />
dem Beat, dass sie einem förmlich die Hände fesselt.«<br />
Deshalb bevorzugte Chris Connor Trios, denn mit ihnen,<br />
anders als mit den schwerfälligen Big Bands, konnte man<br />
jeden Abend neu und wendig manövrieren.<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Chris Connor, A Jazz Date with Chris Connor. Zoot Sims (Saxophon),<br />
Oscar Pettiford (Bass) u. a. und das Ralph Burns Orchestra. Atlantic Records 1956<br />
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Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Robert Schumann, Klavieralbum für die Jugend op. 68 (1848).<br />
Enthält als Nr. 16 das Stück Erster Verlust.<br />
Robert Schumann<br />
»Das Klavier wird mir zu enge, ich höre bei meinen<br />
jetzigen Kompositionen eine Menge Sachen, die ich<br />
kaum andeuten kann«, schrieb Robert Schumann 1838.<br />
Seine ganze Welt wurde ihm zu eng. Sie ist voll Aufbruch,<br />
voller Schwirren und Changieren, manchmal<br />
verwildert, manchmal fantastisch, und nicht selten wird<br />
darin etwas so Mutwilliges frei wie in einer Jazz-Improvisation.<br />
Als er einmal ein Vögelchen mit Grießklößen<br />
fütterte, starb es. Schumann aber löste seine Trauer<br />
auf in eine Miniatur mit dem Titel Erster Verlust.
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Donnerstag<br />
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Duke Ellington<br />
Freitag<br />
3<br />
Eines Abends zogen Duke Ellington und sein Orchestra<br />
zu einem Auftritt durch Florida. Es war Sonnenuntergang,<br />
und sie hörten einen Vogel so wunderschön singen,<br />
dass sein Ruf Ellington tagelang nicht aus dem Kopf<br />
ging. Da sie keine Zeit hatten, anzuhalten und sich den<br />
Ruf einzuprägen, pfiff er ihn dauernd den Einheimischen<br />
vor, bis er erfuhr, der Vogel sei ein Mockingbird, also<br />
eine Spottdrossel. Darauf setzte er sich hin und schrieb<br />
eine Komposition rund um diesen Vogelruf: Sunset<br />
and the Mocking Bird, und er hielt dies fest als eine der<br />
»Erfahrungen von Schönheit« in seinem Leben.<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Duke Ellington, The Ellington Suites. Studioalbum. Enthält u. a.<br />
Queen’s Suite (darin als erste Komposition: Sunset and the Mocking Bird),<br />
aufgenommen am 4. April 1959 mit Duke Ellington und seiner Big Band.<br />
Pablo 1976<br />
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Donnerstag<br />
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Jean-Philippe Rameau<br />
Jean-Philippe Rameau war hager, wortkarg, Voltaire<br />
angeblich ähnlich, hochgewachsen, zurückgezogen<br />
lebend. Ein Zeitgenosse erzählt, die Welt sei ihm<br />
versunken, wenn er sich dem Cembalo gewidmet habe,<br />
tief versunken. Sein Gönner, ein Pariser Bankier, der ihn<br />
unter anderen mit Voltaire bekannt machte, überließ<br />
ihm zwölf Jahre lang ein kleines Privatorchester, mit<br />
dem er, ein leidenschaftlicher Sucher nach dem Wesen<br />
der Musik, wunderbar experimentieren konnte. –<br />
Eines Tages warf er das Hündchen einer Dame aus dem<br />
Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
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Fenster mit der Begründung: »Es bellt falsch.« Hörtipp: Jean-Philippe Rameau, Suiten für Cembalo (1706, 1724, 1728)
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Valentinstag<br />
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Sonny Rollins<br />
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Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Sonny Rollins, Saxophone Colossus. Studioalbum. Aufnahme vom<br />
22. Juni 1956 mit Sonny Rollins (Tenorsaxophon), Tommy Flanagan (Klavier),<br />
Ding Watkins (Bass) und Max Roach (Schlagzeug). Prestige Records 1956<br />
Sonny Rollins, Sonny, Please. Studioalbum. Aufnahme vom November<br />
2005 mit Sonny Rollins (Tenorsaxophon), Clifton Anderson (Posaune), Bob<br />
Cranshaw (Bass), Bobby Broom (Gitarre), Steve Jordan (Schlagzeug), Kimati<br />
Dinizulu (Percussion). Doxy 2006<br />
Sonny Rollins, der greise Legendäre, ein Unergründlicher des<br />
Jazz, ein »Saxophone Colossus«, begann an der Seite von Bud<br />
Powell, produzierte Platten mit Miles und Monk, nahm sich<br />
mehrmals für Jahre Auszeiten, wusste nicht,ob er aus der Hinter-<br />
Welt zurückkommen würde. Doch dann war er zurück, ein Melancholiker<br />
auf dem Tenorsaxophon mit der Fähigkeit, unfertig zu<br />
bleiben. Er war immer wieder da, ein Purist, ein Radikaler, immer<br />
noch suchend. Sonny Rollins war 47 Jahre mit Lucille Rollins<br />
verheiratet, als diese im November 2004 stirbt. Sein nächstes<br />
Album nennt er nach einer Mahnung seiner Frau Sonny, Please,<br />
zu Deutsch »Nu reiß dich zusammen«. Das hat er getan, aber<br />
hörbar sind Tränen auch, wenn sie nach innen laufen.
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Rosenmontag<br />
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Fastnacht<br />
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Aschermittwoch<br />
Donnerstag<br />
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Clara Schumann<br />
1856 schreibt Clara Schumann ihre Romanze in h-Moll,<br />
der Tonart für Messen und reife Sonaten. Jenseits dieser<br />
Romanze wird sie zwar weitgehend in das übliche Frauenleben<br />
des 19. Jahrhunderts eintreten, sich der Erziehung<br />
ihrer acht Kinder widmen, aber gleichzeitig als erfolgreiche<br />
Klaviervirtuosin auftreten. Ein Spätwerk, ein Abschied<br />
von der Musik ist Clara Schumanns 40 Jahre vor ihrem Tod<br />
komponierte Romanze aber vor allem, weil sie sich entscheidet,<br />
nach dem Tod ihres Mannes Robert in ebenjenem<br />
Jahr 1856 nicht mehr zu komponieren. Was also ist<br />
dieses Stück anderes als eine Meditation im Angesicht<br />
des Sterbens und ein Abgesang auf das eigene Musizieren,<br />
eine Miniatur voller Wehmut und Melancholie<br />
Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Clara Schumann, Romanze für Klavier in h-Moll (1856)<br />
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Wynton Kelly<br />
Dienstag<br />
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Miles Davis hat über seinen staunenswerten Pianisten ehemals<br />
gesagt: »Er ist wie das Feuer für die Zigarette. Ohne ihn gibt<br />
es kein Rauchen.« Und dennoch gehört dieser Pianist immer<br />
noch zu den unterschätzten Meistern ihres Fachs. Vielleicht hat<br />
man angesichts seiner Herkunft aus dem Rhythm and Blues und<br />
angesichts des Funk-Stils, den er mit den Jahren entwickelte,<br />
vielleicht auch angesichts des hellen, trockenen und oft Rhythmus<br />
betonten Stils, den er kultivierte, überhört, wie zerbrechlich<br />
sein Anschlag, wie melancholisch seine Phrasierung,<br />
wie originell und verinnerlicht seine Musikalität auch waren,<br />
wie er Läufe verschleifen, sich ins Pianissimo, ins beiläufige<br />
Spielen verirren, wie er selbst Soli in den Mittelgrund rücken<br />
konnte und noch in den späteren Jahren unfest bleibt, fragend<br />
Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
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und zweifelnd – in diesem Spiel brennt immer Licht. Hörtipp: Wynton Kelly, Complete Blue Note Trio Sessions. 2002
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Montag<br />
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Mittwoch<br />
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Johannes Brahms<br />
Donnerstag<br />
Freitag<br />
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Johannes Brahms, dieser spätromantische Grübler,<br />
manchmal als der »deutscheste« unter den deutschen<br />
Komponisten empfunden, war in seiner Jugend Stadtmusikant,<br />
verdiente in Matrosenkneipen den Unterhalt<br />
für die Familie, zog aus der Enge der Armengegend,<br />
des Hamburger Hafenmilieus auf Wanderschaft bis<br />
nach Wien, entkam aber dem Heimweh nie. In seinem<br />
Werk klingt dieses Heimweh nicht nach dem Fehlen<br />
der Heimat allein. Man höre nur sein Lied Gestillte<br />
Sehnsucht und erkennt: Brahms ist der Komponist des<br />
Sehnens über alle Grenzen hinaus.<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Johannes Brahms, Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll op. 15 (1857) sowie<br />
Gestillte Sehnsucht op. 91, Nr. 1 (siehe auch unter Kathleen Ferrier,<br />
Seite 106)<br />
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Gil Evans<br />
Donnerstag<br />
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Freitag<br />
16<br />
Als Svengali bezeichnet man eine Person im Hintergrund,<br />
die eine andere Person stark beeinflusst oder sogar<br />
manipuliert, beispielsweise den besonders einflussreichen<br />
Manager eines Künstlers. Gil Evans, ein scheuer, eher<br />
unzugänglicher, vielen rätselhafter Gentleman mit einem<br />
schmalen Werk, an dem er lang arbeitete, hat vor allem<br />
als Arrangeur den Sound vieler junger Musiker geprägt, ein<br />
versessen Moderner, ein Klangbildhauer. Vor allem die<br />
Zusammenarbeit mit Miles Davis zwischen 1957 und 1963<br />
war wegweisend für die Musik, die noch kommen sollte.<br />
Das Anagramm seines Namens ist Svengali.<br />
Hörtipp: Gil Evans, The Individualism of Gil Evans. Studioalbum.<br />
Aufnahmen zwischen September 1963 und Juli 1964 mit Gil Evans<br />
in verschiedenen Besetzungen. Verve Records 1964<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
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Frühlingsanfang<br />
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Donnerstag<br />
Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Camille Saint-Saëns, Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 78 (Orgelsinfonie, 1886)<br />
sowie Le carnaval des animaux. Grande fantaisie zoologique. Suite für<br />
Kammerorchester (1886)<br />
Camille Saint-Saëns<br />
Als seine Mutter 1888 stirbt, ist Camille Saint-Saëns<br />
53 Jahre alt und trifft eine radikale Entscheidung.<br />
Er verlässt die bisherige gemeinsame Wohnung, löst alle<br />
Verbindungen, deponiert einige Besitztümer in einem<br />
Lager und verschwindet. In Paris kursieren Gerüchte, der<br />
Komponist sei tot, verrückt oder verschollen. Tatsächlich<br />
wird er von nun an 14 Jahre lang keinen festen Wohnsitz<br />
mehr haben und meist unter Pseudonym von Hotel zu<br />
Hotel, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent reisen.<br />
Bis nach Ceylon, in die USA und nach Südamerika<br />
führt ihn sein Weg, und auch musikalisch schlagen sich<br />
diese Reisen nieder. Der Karneval der Tiere war sein<br />
Unglück. Seine Popularität überschattete das riesige<br />
Gesamtwerk. Noch Glenn Gould sagte 1976: »Wirklich,<br />
ich bewundere Saint-Saëns!«
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Lennie Tristano<br />
Donnerstag<br />
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Lennie Tristano war nach einer Erkrankung an der Spanischen<br />
Grippe schon im Kindesalter blind. Er wurde dennoch<br />
seit den 1940er Jahren zu einem der wichtigsten Impulsgeber<br />
und Lehrer des Jazz, ein stiller Radikaler, den Maler,<br />
Künstler, andere Musiker wie Charlie Parker bewunderten.<br />
Doch das Publikum nannte ihn »intellektuell« – auch damals<br />
ein Kampfbegriff. Darauf erwiderte Tristano: »Es wäre<br />
sinnlos, versuchte ich etwas zu spielen, das ich nicht fühlen<br />
kann. Es wäre nichts wert.« Er suchte die reine Musik, die<br />
sich, wie er glaubte, nur durch die Zurücknahme der eigenen<br />
Person finden ließ: »Ich möchte, dass der Jazz aus dem<br />
Es fließt ... Wirklicher Jazz ist, was einer spielen kann, bevor<br />
er ganz verformt ist, das andere ist das, was nach der<br />
Verformung passiert.« Miles Davis fand, Tristano habe die<br />
Avantgarde um 15 Jahre vorweggenommen.<br />
Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Lennie Tristano. Studioalbum. Solo- und Trio-Aufnahmen aus den<br />
Jahren 1954 und 1955 in verschiedenen Besetzungen. Atlantic Records 1956<br />
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Mittwoch<br />
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Donnerstag<br />
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Antonín Dvořák<br />
Antonín Dvořák hat sich in seinem Leben oft umorientiert.<br />
Er begann unter dem Einfluss von Mozart und Beethoven<br />
zu komponieren. Später suchte er nach einem böhmischen<br />
Nationalstil und lernte von Brahms und Wagner. Schließlich<br />
entdeckte er durch das Studium der Gospels auch<br />
das amerikanische Idiom für sich. »In den Negermelodien<br />
Amerikas«, so sagte er, »habe ich alles entdeckt, was<br />
für die Schaffung einer großen und edlen musikalischen<br />
Richtung nötig ist. Diese wunderschönen und abwechslungsreichen<br />
Themen sind das Produkt der Erde. Sie sind<br />
die Volkslieder Amerikas, und eure Komponisten müssen<br />
sich an sie halten. Alle großen Musiker haben Anleihen bei<br />
den Liedern der einfachen Leute gemacht.«<br />
Hörtipp: Antonín Dvořák, Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95<br />
(Aus der neuen Welt, 1893)<br />
Freitag<br />
Karfreitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Ostersonntag<br />
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9<br />
Montag<br />
Ostermontag<br />
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Dienstag<br />
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Mittwoch<br />
Donnerstag<br />
Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Lester Young, The Complete Verve Studio Sessions. Enthält alle<br />
zwischen 1946 und 1958 auf Mercury, Clef, Norgran und Verve Records<br />
produzierten Aufnahmen.<br />
Lester Young<br />
Lester Young war ein so leidensfähiger wie gefährdeter Musiker.<br />
Seinen Einberufungsbefehl zum Militär hatte er lange missachtet,<br />
gemäß der Überzeugung »Öffne nie einen Umschlag mit<br />
Fenster«. Doch eines Abends im Jahr 1944 wird er von der<br />
Bühne weg verhaftet und eingezogen. Nach einer Verletzung<br />
kommt er ins Lazarett, wo er freimütig gesteht, früher einmal<br />
Marihuana geraucht zu haben. Dafür erhält er fünf Jahre Gefängnis,<br />
umgewandelt in ein Jahr Lagerhaft in Georgia. Traumatisiert<br />
kehrt er zurück. Offenbar gebrochen und zunehmend<br />
dem Alkohol verfallen, wird er vor seinem Tod im Jahr 1959<br />
für viele Zeitgenossen der wichtigste Tenorsaxophonist bleiben,<br />
an seine großen Jahre aber nicht anknüpfen können.
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Ludwig van Beethoven<br />
Das Bild des erhabenen, des einschüchternden sinfonischen<br />
Beethoven, der im Sound der Neunten spricht, hat<br />
jedes andere überlagert. Er ist jener Erratische geblieben,<br />
dessen Ode an die Freude Thomas Manns Tonsetzer in<br />
seinem Roman Doktor Faustus zurücknehmen will, weil<br />
sich die Menschheit am Geist dieser humanen Utopie<br />
vergangen hat. Doch ist er ebenso der Komponist, der<br />
seine gewichtige Siebte Sinfonie mit einem Satz beendet,<br />
der »Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp« anklingen<br />
lässt. Und eigentlich hat Beethoven weit mehr Kammermusik<br />
als sinfonische Musik geschrieben. Außerdem<br />
nimmt das Feierliche in seinem Werk weniger Raum ein<br />
als das Lyrische. Vor allem aber ist seine Musik von einer<br />
Zielstrebigkeit, die aus den späten Streichquartetten<br />
bis zu Schönbergs frühem Sextett Verklärte Nacht weist.<br />
Donnerstag<br />
Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111 (1822)<br />
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Charles Mingus<br />
Ich hörte The Black Saint and the Sinner Lady zum ersten<br />
Mal im Keller eines Londoner Gerümpelladens und erinnere<br />
mich, dass ich mich lange nicht von der Stelle rührte, fassungslos,<br />
dass es solche Musik gab. Nachdem mir der Verkäufer<br />
den Titel genannt hatte, ließ ich alles stehen und liegen und<br />
kaufte mir mein erstes Mingus-Album: nichts zum Tanzen und<br />
Swingen, keine nette Platte, aber ein wunderbares, wildes<br />
Ungeheuer, vor Kraft, von brütender Sinnlichkeit strotzend,<br />
kakophonisch, voller Husten, Rotzen und Röhren.<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
Hörtipp: Charles Mingus, The Black Saint and the Sinner Lady. Studioalbum.<br />
Aufnahme vom 20. Januar 1963 in verschiedener Besetzung. Impulse!<br />
Records 1963<br />
Lesetipp: Charles Mingus, Beneath the Underdog. Autobiographie.<br />
Aus d. Engl. v. Günter Pfeiffer. Hamburg: Nautilus 2003<br />
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3<br />
François Couperin<br />
François Couperin, genannt »der Große«, die prägende<br />
musikalische Persönlichkeit Frankreichs zwischen Lully<br />
und Rameau, war Hofkomponist des alternden Sonnenkönigs<br />
Ludwig XIV. Als dieser erkrankt, wendet sich der<br />
Musikgeschmack bei Hof den getragenen Stücken zu. Für<br />
sie fühlt sich Couperin prädestiniert, vereint er doch nach<br />
eigenen Worten italienische Heiterkeit mit französischem<br />
Ernst. Den einzelnen Sätzen der über 230 reich ornamentierten<br />
Cembalowerke aus seiner Feder hat er Titel gegeben,<br />
die ein Thema, eine Stimmung, ein Gefühl bezeichnen.<br />
Bei ihm wohnt man der Geburt der Musik aus dem Geist<br />
der Verzierung bei, der Entfaltung reiner Spielfreude,<br />
deren Voraussetzung das Ritual, das Zeremoniell ist.<br />
Hörtipp: François Couperin, Werke für Cembalo (1713–1730)<br />
Freitag<br />
Sonnabend<br />
Sonntag<br />
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