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Willemsens Musikwoche - Arche Kalender Verlag

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John Coltrane<br />

Meine Koordinaten<br />

Als John Coltrane, zu seiner letzten Tournee in Japan<br />

gelandet, das Flugzeug verließ, war der Flughafen schwarz<br />

vor Menschen. Da drehte er sich auf der Gangway zu<br />

seinen Musikern um und sagte: »Es muss ein Prominenter<br />

an Bord gewesen sein.« Der er selbst war.<br />

John Coltrane hat das musikalische Universum des Jazz<br />

wohl weiträumiger abgeschritten als irgendjemand vor<br />

oder nach ihm. Er ist der Solitär, der aus Musik bestand,<br />

den nichts so interessierte wie Musik, der sie atemlos<br />

vor sich her trieb und über ihre Grenzen hinaus ins Noch-<br />

Hörbare und Nicht-Mehr-Hörbare erweiterte.


<strong>Willemsens</strong> <strong>Musikwoche</strong><br />

2012<br />

<strong>Arche</strong> <strong>Kalender</strong> Buch


Zur Empfehlung<br />

Ob man es will oder nicht, Musik begleitet jedes Jahr. Sie macht sich<br />

breit als Konsum flankierender Geschmacksverstärker, als Stimmungsaufheller,<br />

als Medium der Zerstreuung. Nimmt man sie aber ernst,<br />

also persönlich, wählt man sie aus, statt sie zu erleiden, und hört sie<br />

bewusst, dann kann sie sich zum Soundtrack einer Zeit, eines Jahres,<br />

eines ganzen Lebensabschnitts verdichten. Dann erkennt man sich<br />

wieder auch in der Musik, mit der man gelebt hat, und lässt sich von<br />

ihr die Frage beantworten nach dem the way we were.<br />

Die beiden musikalischen Welten, in denen ich mich zuerst bewegte,<br />

waren die der sogenannten »Klassischen Musik« und des »Jazz«.<br />

Ich hatte gelernt, sie ihrer Ausdruckssprache nach zu unterscheiden.<br />

Ihre Ausdrucksimpulse aber korrespondierten mit meiner Erfahrung<br />

ohne Umweg über eine musikgeschichtliche Einordnung. Daneben<br />

faszinierten mich die Biografien von Musikern, ihre programmatischen<br />

Aussagen und ihre Auseinandersetzungen mit der bestehenden Musik<br />

gleichermaßen. Doch während mir die Klassische Musik zunächst<br />

wie eingeweihtes Wissen vermittelt wurde, wollte jene andere Musik<br />

eher selbst entdeckt und eigenständig bewertet werden.<br />

Der Jazz wählte viele Wege in mein Leben. Einer hieß Domenico<br />

Scarlatti. Dieser barocke neapolitanische Glücksspieler im portugiesischen<br />

Exil ist Welt-Musiker und radikaler Neutöner. Bei aller Oberflächen-Brillanz,<br />

allem improvisatorischen Ungestüm befreit er Gefühle<br />

aus der konventionellen Sprache und lässt sie neu und frisch und<br />

wie eben geboren klingen. Dieser Drang in ein Klima der Freiheit, der<br />

Selbstbefreiung und Emanzipation vom autoritären Bann der Tradition<br />

besitzt in jeder Musik etwas Hypnotisches, besonders im Jazz.<br />

Die meisten musikalischen Strömungen, gleich welcher Richtung, sind<br />

deshalb an ihrem Anfang Jugendbewegungen.<br />

Das andere Einfallstor fand die Musik durch das Radio. Während meine<br />

Eltern dort klassische Konzerte suchten, klangen für mich Swing und<br />

Bebop wie die aus weiter Ferne herangespülten Stimmungsbilder<br />

von Festen, aus Ballräumen und Gottesdiensten. Dies war Musik aus<br />

dem Sehnsuchtsraum, und der Melancholie der Kindheit antwortend,<br />

war sie Sprache des Mangels, des Fernwehs. Als sich mir diese Musik –<br />

gleich nach der »Klassischen« und teilweise wie ein Gegenmittel –<br />

eröffnete, hatte ich längst begriffen, dass der Jazz »falsche« Musik<br />

war, dass sie nicht nur erlaubte, sondern forderte, was Thelonious<br />

Monk zu einem Drummer gesagt hatte: »Du weißt, wie man richtig<br />

spielt. Jetzt spiel falsch und mach es richtig.«<br />

Später las ich, dass Gustav Mahler sich auf den Jahrmärkten gerne<br />

zwischen die Musikquellen stellte und sich dem Verfließen der Sounds<br />

auslieferte. Als ich es auch versuchte, hörte ich keine Kirmes mehr,<br />

nur noch Mahler. Und mehr als das: Architektur und Musik sind die<br />

einzigen Künste, die Räume erschaffen. Im Durcheinanderfließen der<br />

akustischen Ströme auf den Jahrmärkten und Rummelplätzen fand ich<br />

die erste moderne Klangarchitektur, simultan und eklektisch. So setzte<br />

sich das Musik-Erfahren über Genregrenzen hinweg und vereinte mit<br />

dem nämlichen Ernst Johann Sebastian Bach und Bill Evans, Hector<br />

Berlioz und Gil Evans, Alban Berg und John Coltrane.<br />

In diesem musikalischen Jahreskalender finden Sie die Galerie einiger<br />

der Musiker, die mich seit langem begleiten, versehen mit Schlaglichtern<br />

zu Leben und Werk, begleitet von marginalen Empfehlungen für<br />

das Hören oder Lesen. Ich wünschte, dass mancher Impuls musikalisch<br />

überspränge, dass also manches Ohr die Seiten wechselte.<br />

Hamburg, April 2011<br />

Roger Willemsen


Klassik<br />

Ludwig van Beethoven 42<br />

Alban Berg 50<br />

Johannes Brahms 30<br />

Ferruccio Busoni 115<br />

Frédéric Chopin 54<br />

François Couperin 46<br />

Claude Debussy 94<br />

Antonín Dvořák 38<br />

Gabriel Fauré 74<br />

Kathleen Ferrier 106<br />

John Field 110<br />

César Franck 102<br />

Christoph Willibald Gluck 82<br />

Joseph Haydn 59<br />

Johann Nepomuk Hummel 78<br />

Gustav Mahler 98<br />

Felix Mendelssohn Bartholdy 90<br />

Wolfgang Amadeus Mozart 62<br />

Francis Poulenc 86<br />

Sergej Rachmaninow 10<br />

Jean-Philippe Rameau 22<br />

Maurice Ravel 66<br />

Camille Saint-Saëns 35<br />

Domenico Scarlatti 14<br />

Clara Schumann 26<br />

Robert Schumann 19<br />

Carl Maria von Weber 71<br />

Jazz<br />

Cannonball Adderley 96<br />

Andy Bey 85<br />

John Coltrane 72<br />

Chris Connor 16<br />

Miles Davis 12<br />

Eric Dolphy 80<br />

Kenny Dorham 68<br />

Duke Ellington 20<br />

Bill Evans 93<br />

Gil Evans 32<br />

Tommy Flanagan 112<br />

Tsegué-Maryam Guèbrou 100<br />

Billie Holiday 76<br />

Wynton Kelly 28<br />

Krzysztof Komeda 56<br />

Charles Mingus 44<br />

Oliver Nelson 105<br />

Charlie Parker 64<br />

Art Pepper 49<br />

Michel Petrucciani 117<br />

Sonny Rollins 25<br />

Little Jimmy Scott 88<br />

Zoot Sims 108<br />

Art Tatum 60<br />

Lennie Tristano 36<br />

Sarah Vaughan 52<br />

Lester Young 41


10 / 11<br />

Sergej Rachmaninow<br />

Montag<br />

Dienstag<br />

Mittwoch<br />

Donnerstag<br />

Freitag<br />

Sergej Rachmaninow geht als ein Solitär, einsam und<br />

unbeirrbar rückwärtsgewandt, durch eine Zeit, in der die<br />

Zwölftonmusik, die Aufbrüche durch Strawinsky und<br />

Prokofjew, durch den französischen Impressionismus und<br />

den Jazz das Gesicht der Musik verändern. Doch seit den<br />

Tagen seines ersten Ruhms am Moskauer Konservatorium<br />

bis zu seinem Tod in Beverly Hills, 1943, wirkt er wie einer,<br />

der unter Abstrakten gegenständlich malt, der die Melodie<br />

liebt, die schöne Linie, die reiche Harmonie. So berühmt<br />

er auch war als Pianist und Dirigent wie als Komponist,<br />

zog er sich lieber mit seiner Frau und der kleinen Tochter<br />

in den Wintermonaten 1906–1908 nach Dresden zurück,<br />

wo er in Ruhe leben und komponieren konnte.<br />

Sonnabend<br />

Sonntag 1<br />

Neujahr<br />

Hörtipp: Sergej Rachmaninow, Zehn Préludes für Klavier op. 23 (1903) sowie<br />

Dreizehn Préludes für Klavier op. 32 (1910)


12 / 13<br />

Montag<br />

2<br />

Dienstag<br />

3<br />

Miles Davis<br />

Mittwoch<br />

4<br />

Donnerstag<br />

5<br />

Er mochte den Ausdruck »Jazz« nicht, und den Ausdruck »cool«<br />

mochte er auch nicht. »Musik« sollte man nennen, was er in<br />

die Welt brachte. Doch nannte man es »Cool Jazz«, und das war<br />

eigentlich nicht abwegig. Schließlich eiferte Miles Davis gegen<br />

den »Amüsierneger« in der Musik, zeigte sich brüsk, schwer<br />

nahbar, animos. Doch war sein abgeklärter, »cool« genannter<br />

Stil nicht bloß eine Antwort auf das Fahrige der Bebop-Phrasen.<br />

Er war auch eine Antwort auf das Leiden der Sklaven, der von<br />

Rassismus geschlagenen Schwarzen. In dieser Situation war<br />

Miles Davis nicht der Virtuose seines Instruments, sondern die<br />

Verkörperung einer Haltung, und diese ist es, die er, der Meister<br />

des Timings, in immer neuen Stilen schillern ließ. »Miles Davis<br />

ist der Picasso der unsichtbaren Kunst«, sagte Duke Ellington.<br />

Freitag<br />

Heilige Drei Könige<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Miles Davis, Kind of Blue. Aufnahmen vom 2. März und<br />

22. April 1959 mit Miles Davis (Trompete), Cannonball Adderley (Altsaxophon),<br />

John Coltrane (Tenorsaxophon), Wynton Kelly/Bill Evans (Klavier), Paul<br />

Chambers (Bass) und Jimmy Cobb (Schlagzeug). Columbia Records 1959<br />

Lesetipp: Wolfgang Sandner, Miles Davis. Eine Biographie.<br />

Berlin: Rowohlt 2010<br />

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Montag<br />

9<br />

Dienstag<br />

10<br />

Mittwoch<br />

11<br />

Donnerstag<br />

12<br />

Domenico Scarlatti<br />

Er gibt seine sichere Stelle am Vatikan auf, geht zuerst<br />

nach Portugal, dann nach Sevilla, dann an den spanischen<br />

Hof in Madrid ins Exil, wo er nur noch Privatcembalist ist<br />

und nur noch Esercizi schreibt, Sonatinen, aus einem<br />

Satz bestehend. Gleichzeitig schwingt die neapolitanische<br />

Volksmusik wie in Schwaden von Heimweh durch diese<br />

Esercizi – »wilde Blumen am Zaun der Klassik«, wie sie eine<br />

Musikwissenschaftlerin einmal nannte. Kaum jemals hat<br />

jemand so radikal mit den Konventionen der Musik seiner<br />

Zeit gebrochen wie er. Ja, dies ist unkonventionelles,<br />

Profanes und Feierliches wild mischendes Komponieren.<br />

Hier herrscht ein Überschwang, ein »Swing«, ein tänzerischer<br />

Geist, der etwas Kapriziöses, Launisches verrät.<br />

Hörtipp: Domenico Scarlatti, Sonaten für Klavier (ab 1738)<br />

Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

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Montag<br />

16<br />

ChrIs Connor<br />

Dienstag<br />

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Mittwoch<br />

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Donnerstag<br />

19<br />

Freitag<br />

20<br />

Eine weiße Sängerin mit Swing, mit einem unvergleichlichen<br />

Timbre, von hoher Intelligenz in der Melodiebehandlung.<br />

Zugleich liegt über der Hitze ihrer Gefühle eine Selbstbeherrschung,<br />

ja Verstandeskühle, die jeder Behandlung eines<br />

Songs Plausibilität gibt. Ihr Klavierbegleiter Ralph Sharon<br />

bemerkte einmal: »Dieses Mädchen hat ein großes Paar<br />

Ohren, sie phrasiert jedes Mal anders, jedes Mal nach ihrer<br />

Stimmung, und sie befindet sich manchmal so weit hinter<br />

dem Beat, dass sie einem förmlich die Hände fesselt.«<br />

Deshalb bevorzugte Chris Connor Trios, denn mit ihnen,<br />

anders als mit den schwerfälligen Big Bands, konnte man<br />

jeden Abend neu und wendig manövrieren.<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Chris Connor, A Jazz Date with Chris Connor. Zoot Sims (Saxophon),<br />

Oscar Pettiford (Bass) u. a. und das Ralph Burns Orchestra. Atlantic Records 1956<br />

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Montag<br />

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Mittwoch<br />

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Donnerstag<br />

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Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Robert Schumann, Klavieralbum für die Jugend op. 68 (1848).<br />

Enthält als Nr. 16 das Stück Erster Verlust.<br />

Robert Schumann<br />

»Das Klavier wird mir zu enge, ich höre bei meinen<br />

jetzigen Kompositionen eine Menge Sachen, die ich<br />

kaum andeuten kann«, schrieb Robert Schumann 1838.<br />

Seine ganze Welt wurde ihm zu eng. Sie ist voll Aufbruch,<br />

voller Schwirren und Changieren, manchmal<br />

verwildert, manchmal fantastisch, und nicht selten wird<br />

darin etwas so Mutwilliges frei wie in einer Jazz-Improvisation.<br />

Als er einmal ein Vögelchen mit Grießklößen<br />

fütterte, starb es. Schumann aber löste seine Trauer<br />

auf in eine Miniatur mit dem Titel Erster Verlust.


20 / 21<br />

Montag<br />

30<br />

Dienstag<br />

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Mittwoch<br />

1<br />

Donnerstag<br />

2<br />

Duke Ellington<br />

Freitag<br />

3<br />

Eines Abends zogen Duke Ellington und sein Orchestra<br />

zu einem Auftritt durch Florida. Es war Sonnenuntergang,<br />

und sie hörten einen Vogel so wunderschön singen,<br />

dass sein Ruf Ellington tagelang nicht aus dem Kopf<br />

ging. Da sie keine Zeit hatten, anzuhalten und sich den<br />

Ruf einzuprägen, pfiff er ihn dauernd den Einheimischen<br />

vor, bis er erfuhr, der Vogel sei ein Mockingbird, also<br />

eine Spottdrossel. Darauf setzte er sich hin und schrieb<br />

eine Komposition rund um diesen Vogelruf: Sunset<br />

and the Mocking Bird, und er hielt dies fest als eine der<br />

»Erfahrungen von Schönheit« in seinem Leben.<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Duke Ellington, The Ellington Suites. Studioalbum. Enthält u. a.<br />

Queen’s Suite (darin als erste Komposition: Sunset and the Mocking Bird),<br />

aufgenommen am 4. April 1959 mit Duke Ellington und seiner Big Band.<br />

Pablo 1976<br />

4<br />

5


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Montag<br />

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Dienstag<br />

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Mittwoch<br />

8<br />

Donnerstag<br />

9<br />

Jean-Philippe Rameau<br />

Jean-Philippe Rameau war hager, wortkarg, Voltaire<br />

angeblich ähnlich, hochgewachsen, zurückgezogen<br />

lebend. Ein Zeitgenosse erzählt, die Welt sei ihm<br />

versunken, wenn er sich dem Cembalo gewidmet habe,<br />

tief versunken. Sein Gönner, ein Pariser Bankier, der ihn<br />

unter anderen mit Voltaire bekannt machte, überließ<br />

ihm zwölf Jahre lang ein kleines Privatorchester, mit<br />

dem er, ein leidenschaftlicher Sucher nach dem Wesen<br />

der Musik, wunderbar experimentieren konnte. –<br />

Eines Tages warf er das Hündchen einer Dame aus dem<br />

Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

10<br />

11<br />

12<br />

Fenster mit der Begründung: »Es bellt falsch.« Hörtipp: Jean-Philippe Rameau, Suiten für Cembalo (1706, 1724, 1728)


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Montag<br />

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Dienstag<br />

Valentinstag<br />

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Mittwoch<br />

Sonny Rollins<br />

16<br />

Donnerstag<br />

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Freitag<br />

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Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Sonny Rollins, Saxophone Colossus. Studioalbum. Aufnahme vom<br />

22. Juni 1956 mit Sonny Rollins (Tenorsaxophon), Tommy Flanagan (Klavier),<br />

Ding Watkins (Bass) und Max Roach (Schlagzeug). Prestige Records 1956<br />

Sonny Rollins, Sonny, Please. Studioalbum. Aufnahme vom November<br />

2005 mit Sonny Rollins (Tenorsaxophon), Clifton Anderson (Posaune), Bob<br />

Cranshaw (Bass), Bobby Broom (Gitarre), Steve Jordan (Schlagzeug), Kimati<br />

Dinizulu (Percussion). Doxy 2006<br />

Sonny Rollins, der greise Legendäre, ein Unergründlicher des<br />

Jazz, ein »Saxophone Colossus«, begann an der Seite von Bud<br />

Powell, produzierte Platten mit Miles und Monk, nahm sich<br />

mehrmals für Jahre Auszeiten, wusste nicht,ob er aus der Hinter-<br />

Welt zurückkommen würde. Doch dann war er zurück, ein Melancholiker<br />

auf dem Tenorsaxophon mit der Fähigkeit, unfertig zu<br />

bleiben. Er war immer wieder da, ein Purist, ein Radikaler, immer<br />

noch suchend. Sonny Rollins war 47 Jahre mit Lucille Rollins<br />

verheiratet, als diese im November 2004 stirbt. Sein nächstes<br />

Album nennt er nach einer Mahnung seiner Frau Sonny, Please,<br />

zu Deutsch »Nu reiß dich zusammen«. Das hat er getan, aber<br />

hörbar sind Tränen auch, wenn sie nach innen laufen.


26 / 27<br />

Montag<br />

20<br />

Rosenmontag<br />

Dienstag<br />

21<br />

Fastnacht<br />

Mittwoch<br />

22<br />

Aschermittwoch<br />

Donnerstag<br />

23<br />

Clara Schumann<br />

1856 schreibt Clara Schumann ihre Romanze in h-Moll,<br />

der Tonart für Messen und reife Sonaten. Jenseits dieser<br />

Romanze wird sie zwar weitgehend in das übliche Frauenleben<br />

des 19. Jahrhunderts eintreten, sich der Erziehung<br />

ihrer acht Kinder widmen, aber gleichzeitig als erfolgreiche<br />

Klaviervirtuosin auftreten. Ein Spätwerk, ein Abschied<br />

von der Musik ist Clara Schumanns 40 Jahre vor ihrem Tod<br />

komponierte Romanze aber vor allem, weil sie sich entscheidet,<br />

nach dem Tod ihres Mannes Robert in ebenjenem<br />

Jahr 1856 nicht mehr zu komponieren. Was also ist<br />

dieses Stück anderes als eine Meditation im Angesicht<br />

des Sterbens und ein Abgesang auf das eigene Musizieren,<br />

eine Miniatur voller Wehmut und Melancholie<br />

Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Clara Schumann, Romanze für Klavier in h-Moll (1856)<br />

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25<br />

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Montag<br />

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Wynton Kelly<br />

Dienstag<br />

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Mittwoch<br />

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Donnerstag<br />

1<br />

Miles Davis hat über seinen staunenswerten Pianisten ehemals<br />

gesagt: »Er ist wie das Feuer für die Zigarette. Ohne ihn gibt<br />

es kein Rauchen.« Und dennoch gehört dieser Pianist immer<br />

noch zu den unterschätzten Meistern ihres Fachs. Vielleicht hat<br />

man angesichts seiner Herkunft aus dem Rhythm and Blues und<br />

angesichts des Funk-Stils, den er mit den Jahren entwickelte,<br />

vielleicht auch angesichts des hellen, trockenen und oft Rhythmus<br />

betonten Stils, den er kultivierte, überhört, wie zerbrechlich<br />

sein Anschlag, wie melancholisch seine Phrasierung,<br />

wie originell und verinnerlicht seine Musikalität auch waren,<br />

wie er Läufe verschleifen, sich ins Pianissimo, ins beiläufige<br />

Spielen verirren, wie er selbst Soli in den Mittelgrund rücken<br />

konnte und noch in den späteren Jahren unfest bleibt, fragend<br />

Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

2<br />

3<br />

4<br />

und zweifelnd – in diesem Spiel brennt immer Licht. Hörtipp: Wynton Kelly, Complete Blue Note Trio Sessions. 2002


30 / 31<br />

Montag<br />

5<br />

Dienstag<br />

6<br />

Mittwoch<br />

7<br />

Johannes Brahms<br />

Donnerstag<br />

Freitag<br />

8<br />

9<br />

Johannes Brahms, dieser spätromantische Grübler,<br />

manchmal als der »deutscheste« unter den deutschen<br />

Komponisten empfunden, war in seiner Jugend Stadtmusikant,<br />

verdiente in Matrosenkneipen den Unterhalt<br />

für die Familie, zog aus der Enge der Armengegend,<br />

des Hamburger Hafenmilieus auf Wanderschaft bis<br />

nach Wien, entkam aber dem Heimweh nie. In seinem<br />

Werk klingt dieses Heimweh nicht nach dem Fehlen<br />

der Heimat allein. Man höre nur sein Lied Gestillte<br />

Sehnsucht und erkennt: Brahms ist der Komponist des<br />

Sehnens über alle Grenzen hinaus.<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Johannes Brahms, Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll op. 15 (1857) sowie<br />

Gestillte Sehnsucht op. 91, Nr. 1 (siehe auch unter Kathleen Ferrier,<br />

Seite 106)<br />

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Montag<br />

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Mittwoch<br />

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Gil Evans<br />

Donnerstag<br />

15<br />

Freitag<br />

16<br />

Als Svengali bezeichnet man eine Person im Hintergrund,<br />

die eine andere Person stark beeinflusst oder sogar<br />

manipuliert, beispielsweise den besonders einflussreichen<br />

Manager eines Künstlers. Gil Evans, ein scheuer, eher<br />

unzugänglicher, vielen rätselhafter Gentleman mit einem<br />

schmalen Werk, an dem er lang arbeitete, hat vor allem<br />

als Arrangeur den Sound vieler junger Musiker geprägt, ein<br />

versessen Moderner, ein Klangbildhauer. Vor allem die<br />

Zusammenarbeit mit Miles Davis zwischen 1957 und 1963<br />

war wegweisend für die Musik, die noch kommen sollte.<br />

Das Anagramm seines Namens ist Svengali.<br />

Hörtipp: Gil Evans, The Individualism of Gil Evans. Studioalbum.<br />

Aufnahmen zwischen September 1963 und Juli 1964 mit Gil Evans<br />

in verschiedenen Besetzungen. Verve Records 1964<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

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Montag<br />

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Dienstag<br />

Frühlingsanfang<br />

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Mittwoch<br />

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Donnerstag<br />

Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Camille Saint-Saëns, Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 78 (Orgelsinfonie, 1886)<br />

sowie Le carnaval des animaux. Grande fantaisie zoologique. Suite für<br />

Kammerorchester (1886)<br />

Camille Saint-Saëns<br />

Als seine Mutter 1888 stirbt, ist Camille Saint-Saëns<br />

53 Jahre alt und trifft eine radikale Entscheidung.<br />

Er verlässt die bisherige gemeinsame Wohnung, löst alle<br />

Verbindungen, deponiert einige Besitztümer in einem<br />

Lager und verschwindet. In Paris kursieren Gerüchte, der<br />

Komponist sei tot, verrückt oder verschollen. Tatsächlich<br />

wird er von nun an 14 Jahre lang keinen festen Wohnsitz<br />

mehr haben und meist unter Pseudonym von Hotel zu<br />

Hotel, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent reisen.<br />

Bis nach Ceylon, in die USA und nach Südamerika<br />

führt ihn sein Weg, und auch musikalisch schlagen sich<br />

diese Reisen nieder. Der Karneval der Tiere war sein<br />

Unglück. Seine Popularität überschattete das riesige<br />

Gesamtwerk. Noch Glenn Gould sagte 1976: »Wirklich,<br />

ich bewundere Saint-Saëns!«


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Montag<br />

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Lennie Tristano<br />

Donnerstag<br />

29<br />

Lennie Tristano war nach einer Erkrankung an der Spanischen<br />

Grippe schon im Kindesalter blind. Er wurde dennoch<br />

seit den 1940er Jahren zu einem der wichtigsten Impulsgeber<br />

und Lehrer des Jazz, ein stiller Radikaler, den Maler,<br />

Künstler, andere Musiker wie Charlie Parker bewunderten.<br />

Doch das Publikum nannte ihn »intellektuell« – auch damals<br />

ein Kampfbegriff. Darauf erwiderte Tristano: »Es wäre<br />

sinnlos, versuchte ich etwas zu spielen, das ich nicht fühlen<br />

kann. Es wäre nichts wert.« Er suchte die reine Musik, die<br />

sich, wie er glaubte, nur durch die Zurücknahme der eigenen<br />

Person finden ließ: »Ich möchte, dass der Jazz aus dem<br />

Es fließt ... Wirklicher Jazz ist, was einer spielen kann, bevor<br />

er ganz verformt ist, das andere ist das, was nach der<br />

Verformung passiert.« Miles Davis fand, Tristano habe die<br />

Avantgarde um 15 Jahre vorweggenommen.<br />

Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Lennie Tristano. Studioalbum. Solo- und Trio-Aufnahmen aus den<br />

Jahren 1954 und 1955 in verschiedenen Besetzungen. Atlantic Records 1956<br />

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31<br />

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Montag<br />

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Dienstag<br />

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Mittwoch<br />

4<br />

Donnerstag<br />

5<br />

Antonín Dvořák<br />

Antonín Dvořák hat sich in seinem Leben oft umorientiert.<br />

Er begann unter dem Einfluss von Mozart und Beethoven<br />

zu komponieren. Später suchte er nach einem böhmischen<br />

Nationalstil und lernte von Brahms und Wagner. Schließlich<br />

entdeckte er durch das Studium der Gospels auch<br />

das amerikanische Idiom für sich. »In den Negermelodien<br />

Amerikas«, so sagte er, »habe ich alles entdeckt, was<br />

für die Schaffung einer großen und edlen musikalischen<br />

Richtung nötig ist. Diese wunderschönen und abwechslungsreichen<br />

Themen sind das Produkt der Erde. Sie sind<br />

die Volkslieder Amerikas, und eure Komponisten müssen<br />

sich an sie halten. Alle großen Musiker haben Anleihen bei<br />

den Liedern der einfachen Leute gemacht.«<br />

Hörtipp: Antonín Dvořák, Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95<br />

(Aus der neuen Welt, 1893)<br />

Freitag<br />

Karfreitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Ostersonntag<br />

6<br />

7<br />

8


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9<br />

Montag<br />

Ostermontag<br />

10<br />

Dienstag<br />

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14<br />

15<br />

Mittwoch<br />

Donnerstag<br />

Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Lester Young, The Complete Verve Studio Sessions. Enthält alle<br />

zwischen 1946 und 1958 auf Mercury, Clef, Norgran und Verve Records<br />

produzierten Aufnahmen.<br />

Lester Young<br />

Lester Young war ein so leidensfähiger wie gefährdeter Musiker.<br />

Seinen Einberufungsbefehl zum Militär hatte er lange missachtet,<br />

gemäß der Überzeugung »Öffne nie einen Umschlag mit<br />

Fenster«. Doch eines Abends im Jahr 1944 wird er von der<br />

Bühne weg verhaftet und eingezogen. Nach einer Verletzung<br />

kommt er ins Lazarett, wo er freimütig gesteht, früher einmal<br />

Marihuana geraucht zu haben. Dafür erhält er fünf Jahre Gefängnis,<br />

umgewandelt in ein Jahr Lagerhaft in Georgia. Traumatisiert<br />

kehrt er zurück. Offenbar gebrochen und zunehmend<br />

dem Alkohol verfallen, wird er vor seinem Tod im Jahr 1959<br />

für viele Zeitgenossen der wichtigste Tenorsaxophonist bleiben,<br />

an seine großen Jahre aber nicht anknüpfen können.


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Montag<br />

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17<br />

Mittwoch<br />

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Ludwig van Beethoven<br />

Das Bild des erhabenen, des einschüchternden sinfonischen<br />

Beethoven, der im Sound der Neunten spricht, hat<br />

jedes andere überlagert. Er ist jener Erratische geblieben,<br />

dessen Ode an die Freude Thomas Manns Tonsetzer in<br />

seinem Roman Doktor Faustus zurücknehmen will, weil<br />

sich die Menschheit am Geist dieser humanen Utopie<br />

vergangen hat. Doch ist er ebenso der Komponist, der<br />

seine gewichtige Siebte Sinfonie mit einem Satz beendet,<br />

der »Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp« anklingen<br />

lässt. Und eigentlich hat Beethoven weit mehr Kammermusik<br />

als sinfonische Musik geschrieben. Außerdem<br />

nimmt das Feierliche in seinem Werk weniger Raum ein<br />

als das Lyrische. Vor allem aber ist seine Musik von einer<br />

Zielstrebigkeit, die aus den späten Streichquartetten<br />

bis zu Schönbergs frühem Sextett Verklärte Nacht weist.<br />

Donnerstag<br />

Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111 (1822)<br />

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Donnerstag<br />

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Freitag<br />

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Charles Mingus<br />

Ich hörte The Black Saint and the Sinner Lady zum ersten<br />

Mal im Keller eines Londoner Gerümpelladens und erinnere<br />

mich, dass ich mich lange nicht von der Stelle rührte, fassungslos,<br />

dass es solche Musik gab. Nachdem mir der Verkäufer<br />

den Titel genannt hatte, ließ ich alles stehen und liegen und<br />

kaufte mir mein erstes Mingus-Album: nichts zum Tanzen und<br />

Swingen, keine nette Platte, aber ein wunderbares, wildes<br />

Ungeheuer, vor Kraft, von brütender Sinnlichkeit strotzend,<br />

kakophonisch, voller Husten, Rotzen und Röhren.<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

Hörtipp: Charles Mingus, The Black Saint and the Sinner Lady. Studioalbum.<br />

Aufnahme vom 20. Januar 1963 in verschiedener Besetzung. Impulse!<br />

Records 1963<br />

Lesetipp: Charles Mingus, Beneath the Underdog. Autobiographie.<br />

Aus d. Engl. v. Günter Pfeiffer. Hamburg: Nautilus 2003<br />

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Montag<br />

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Dienstag<br />

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Maifeiertag<br />

Mittwoch<br />

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Donnerstag<br />

3<br />

François Couperin<br />

François Couperin, genannt »der Große«, die prägende<br />

musikalische Persönlichkeit Frankreichs zwischen Lully<br />

und Rameau, war Hofkomponist des alternden Sonnenkönigs<br />

Ludwig XIV. Als dieser erkrankt, wendet sich der<br />

Musikgeschmack bei Hof den getragenen Stücken zu. Für<br />

sie fühlt sich Couperin prädestiniert, vereint er doch nach<br />

eigenen Worten italienische Heiterkeit mit französischem<br />

Ernst. Den einzelnen Sätzen der über 230 reich ornamentierten<br />

Cembalowerke aus seiner Feder hat er Titel gegeben,<br />

die ein Thema, eine Stimmung, ein Gefühl bezeichnen.<br />

Bei ihm wohnt man der Geburt der Musik aus dem Geist<br />

der Verzierung bei, der Entfaltung reiner Spielfreude,<br />

deren Voraussetzung das Ritual, das Zeremoniell ist.<br />

Hörtipp: François Couperin, Werke für Cembalo (1713–1730)<br />

Freitag<br />

Sonnabend<br />

Sonntag<br />

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