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Durchbruch — Wie alles anfing - Daniela Schröder

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DURCHBRUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />

Der Mann, der Frauen auf die Beine half<br />

Manuel Jalón Corominas hat dafür gesorgt, dass heute niemand mehr<br />

auf Knien putzen muss: Er erfand den Putzlappen am Stiel, den Wischmop<br />

Saragossa, Nordspanien, 1956. Luftfahrtingenieur Manuel Jalón Corominas<br />

sitzt mit einem Freund in der Kneipe, das Bier schmeckt, die<br />

Putzfrau wischt bereits eifrig. Jalóns Freund blickt zur Putzfrau. „Die<br />

Arme“, sagt er und nimmt einen Schluck Bier. „Warum gibt es eigentlich<br />

nichts, damit sie im Stehen putzen kann?“<br />

„Ja, warum eigentlich nicht?“, fragt sich auch Jalón. Arthrose, krummer<br />

Rücken, entzündete Gelenke, rissige Hände, Nagelpilz – die Frauen putzen<br />

sich krank. Denn für blitzblanke Böden müssen sie mit einem Lappen auf<br />

Knien durch die Wohnung rutschen. Was nicht nur eine Knochenarbeit ist,<br />

sondern auch erniedrigend. Im wahrsten Sinne. Kann sich die Familie kein<br />

Dienstmädchen leisten, greift die Hausfrau nur zum Wischlappen, wenn der<br />

Gatte nicht zu Hause ist.<br />

Noch in der Kneipe kommt Jalón auf eine Idee. Während eines Arbeits-<br />

jahrs in den USA hat der junge Ingenieur gesehen, wie dort die Reinigungstrupps<br />

die ölverschmierten Flugzeughallen säuberten: mit flachen großen<br />

Bürsten, befestigt an langen Stöcken, der Putzeimer fährt auf Rollen. Bücken<br />

oder gar Hinknien ist überflüssig.<br />

Jalón denkt einen Schritt weiter. In Spanien ist damals Baumwollzwirn neu<br />

auf dem Markt: schwammig genug, um Wasser aufzunehmen, kräftig genug,<br />

um nicht auszufransen. Er überredet eine Fabrik, ihm Puschel aus langen<br />

Zwirnfäden herzustellen, und steckt sie an Eichenholzstäbe. Damit sich<br />

der klatschnasse Feudel mühelos auswringen lässt, entwickelt Jalón einen<br />

Eimer mit Klemmrollen.<br />

„Bodenputzapparat“ nennt er seine Erfindung technisch-nüchtern und<br />

gründet 1958 in Saragossa die Firma Rodex. Seine erste Wischervariante<br />

kos tet 395 Peseten, damals ein stolzer Preis. Um das neue Produkt bekannt<br />

zu machen, investiert Jalón in Werbung mit Erlebnischarakter: In Schaufenstern<br />

von Haushaltswarenläden demonstrieren Frauen die Vorzüge des Apparats,<br />

der erste Verkäufer tingelt mit dem Kofferraum voller Wischer<br />

durchs Land. Und merkt dabei schnell, dass die Revolution am Stiel einen<br />

flotteren Namen braucht. „Wir nennen den Feudel ‚Fregona‘“, schlägt er vor.<br />

Doch Fregona ist auch ein abwertendes Wort für Haushaltshilfen, Jalón<br />

sträubt sich. Bei den Kunden aber kommt der Name prima an. Und selbst<br />

die königliche Sprachakademie gibt grünes Licht.<br />

Die spanische Presse preist Jalón als „den Mann, der den Frauen auf die<br />

Beine hilft“. Professionelle Putzfrauen dagegen sind wenig begeistert, sie sehen<br />

das Produkt als Konkurrenz. Auch das Ausland ist skeptisch. Wenn das<br />

Ding tatsächlich so gut sei, bekommt Jalón auf einer Industriemesse in Köln<br />

zu hören, dann wäre es längst schon in Deutschland erfunden worden –<br />

aber doch nicht in Spanien.<br />

Jalón ist bewusst, dass sein Produkt noch Verbesserungspotenzial besitzt.<br />

Weil die Klemmrollen zum Auswringen leicht abbrechen, entwirft er ein<br />

trichterförmiges Abtropfsieb aus Plastik, das sich in den Eimer hängen lässt.<br />

So optimiert, geht es mit den Absatzzahlen bergauf, auch der Export der<br />

Fregonas blüht, in mehr als 30 Ländern vertreibt Rodex das Mopsystem.<br />

Als das Patent Mitte der 1980er ausläuft, stürzen sich Reinigungsspezialisten<br />

aus aller Welt auf den Wischer. Darunter auch der deutsche Familienkonzern<br />

Freudenberg, Erfinder des Synthetikvliesstoffs Vileda. Damit ausgestattet,<br />

erobert die Fregona als „Wischmop“ auch Deutschland. Heute<br />

kommt jeder dritte Wischmop in Europa von Vileda, in Spanien weiterhin<br />

als „Fregona“. <strong>Daniela</strong> Schröder �<br />

30<br />

enable 10/2012<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (6); Getty Images


DURCHBRUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />

Es geht um Sekunden<br />

Margarete Lihotzky hat die Einbauküche erfunden – inspiriert von<br />

US-Fabriken, in denen jeder Arbeitsschritt optimiert wurde<br />

Das Familienleben spielt sich in der Küche ab: hier der Herd, dort<br />

der Schrank, drüben die Spüle, den Weg versperrt der Tisch.<br />

Etwas chaotisch, so wie das Leben eben ist. Was Margarete<br />

Lihotzky nicht einsehen mag.<br />

Die <strong>Wie</strong>ner Architektin experimentiert in den 20er-Jahren mit Einbaumöbeln<br />

für Kochnischen und Spülküchen. Küchen fürs Kochen<br />

und Spülen – und zwar nur dafür. Ihre Arbeiten fallen dem Chef des<br />

Frankfurter Baudezernats auf, er treibt ein Programm voran, mit dem<br />

die Metropole am Main die Wohnungsnot lindern will.<br />

Schnell, praktisch und preisgünstig soll das „Neue Frankfurt“ werden.<br />

Die Planer setzen auf eine industrialisierte Bauweise mit vorgefertigten<br />

und normierten Bauteilen. Der Ansatz der Österreicherin<br />

passt dazu perfekt, Baudezernent Ernst May holt sie in sein Team.<br />

Lihotzky soll sich um ein Konzept für die Küche kümmern, denn für<br />

einzeln stehende Möbel ist in den kleinen Wohnungen kein Platz.<br />

Schütte-Lihotzky, mittlerweile verheiratet, hasst Kochen und Küchenarbeit.<br />

Doch sie besucht Treffen von Frauenvereinen, hört sich<br />

um und schaut sich die kompakten Speisewagenküchen der Bahn<br />

genau an. Vor allem aber liest die Architektin <strong>alles</strong> über das Prinzip<br />

des Taylorismus und sein Ziel, Produktionsabläufe zu optimieren.<br />

Mit Stoppuhr und Zollstock vermisst sie die einzelnen Arbeitsschritte<br />

von Hausfrauen, dann plant sie die Küche wie einen Industriearbeitsplatz:<br />

Kein Handgriff ist überflüssig, alle Arbeitsgeräte sind griffbereit,<br />

jeder Millimeter wird genutzt. So rationalisiert schrumpft die<br />

neue Küche auf sechseinhalb Quadratmeter zusammen, über eine<br />

Schiebetür ist sie mit dem Essbereich verbunden. FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (7); Getty Images<br />

30<br />

enable 09/2012<br />

Für maximalen Arbeitskomfort auf minimalem Raum sorgen<br />

schlaue Details: eine Arbeitsplatte auf Sitzhöhe mit Schublade für<br />

Schneideabfälle plus Halteleiste für kleine Küchengeräte, daneben<br />

lagern Trockenvorräte in Aluminium- und Holzschütten. Schiebeglastüren<br />

sparen das Herumsuchen nach Geschirr, außerdem stört<br />

keine offen stehende Schranktür. Das Geschirr trocknet in einem<br />

Abtropfregal, und damit auch das Putzen schneller geht, stehen die<br />

Schränke auf einem Betonsockel. Gestrichen sind sie in einem bläulichen<br />

Grün: Wissenschaftler meinten, die Farbe halte Fliegen fern.<br />

1926 sind die ersten Prototypen nach Schütte-Lihotzkys Entwurf<br />

fertig. Die Stadt Frankfurt lässt mehr als 10 000 Kompaktküchen in<br />

die neuen Wohnsiedlungen einbauen. Dank höherer Stückzahlen und<br />

Fließbandarbeit in den Holzwerken sinkt der Fertigungspreis von anfangs<br />

500 auf 238,50 Reichsmark. Dank der kleineren Wohnungen<br />

spart die Stadt Baukosten, dank der Einbauküchen sparen die Mieter<br />

beim Einrichten.<br />

Schütte-Lihotzky geht es um Komfort – und um Sekunden. Denn<br />

die eingesparte Zeit, so argumentiert sie, komme der Familie, den<br />

Kindern und vor allem der Frau selbst zugute. Die kleine, praktische<br />

Arbeitsküche sei ein „Laboratorium für die Hausfrau“, in dem sie professionell<br />

arbeiten und sich somit selbst verwirklichen könne. Kurz<br />

gesagt: Herdarbeit als Mittel der Frauenemanzipation.<br />

Es sei genau umgekehrt, kontern Zeitgenossen. Die taylorisierte<br />

Küche sei ein Arbeitskäfig, darin die Frau in Einzelhaft.<br />

Die ist mittlerweile aufgehoben. Die Kochküche weitet sich längst<br />

wieder aus zur Ess- und Wohnküche. Doch das Konzept der Modulbauweise<br />

tastet heute niemand mehr an. <strong>Daniela</strong> Schröder �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND


DURCHB RUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />

Fauchen und zischen für den Genuss<br />

Alfonso Biatelli hat die Kaffeemaschine für den wirklich schmackhaften Espresso zu<br />

Hause erfunden. Die Idee kam ihm, als er seiner Frau bem Wäschewaschen zusah<br />

Espresso, das ist was für Profis. Für Maschinen, die zischend und<br />

fauchend Wasser und Pulver verbinden zu Kaffeegenuss. Da können<br />

Haushaltskannen mit ihrem Aufbrühprinzip nicht mithalten.<br />

Die Folge: Der Italiener trinkt seinen Espresso am Bartresen.<br />

So hält es auch Alfonso Bialetti, Besitzer einer kleinen Metall- und<br />

Maschinenwerkstatt im norditalienischen Crusinallo in den 1930ern.<br />

Gelegentlich jedoch trinkt er seinen Caffè zu Hause. Auf dem Herd<br />

gekocht in einer Metallkanne mit Filterprinzip. Das dauert ewig, und<br />

der Kaffee, na ja. Dafür kann Bialetti in Ruhe Zeitung lesen und Gattin<br />

Ada beim Wäschewaschen zugucken. Beim Wäschekochen vielmehr,<br />

denn die Hausfrauen nutzen ein System, bei dem sie Seifenlauge in<br />

speziellen Wannen zum Kochen bringen, das kochend heiße Wasser<br />

steigt durch ein integriertes Rohr und verteilt sich auf der Wäsche.<br />

Bialetti hat schon x-mal zugeschaut. Eines Tages aber macht es klick.<br />

Heureka! Genau dieses simple Wasserdruckprinzip lässt sich auf das<br />

Zubereiten von Kaffee übertragen.<br />

Jahrelang tüftelt Bialetti an seiner Idee. Anders als die Hersteller<br />

der Profimaschinen setzt er auf ein Material, das bei Küchengeräten<br />

bisher unbekannt ist: Aluminium. Leicht und formbar, dabei robust<br />

und rostfrei – im Italien der 1930er gilt es als Metall der Moderne, das<br />

gleichzeitig die traditionellen Werte des Handwerks verkörpert.<br />

1933 bringt Bialetti den ersten Espressokocher für den Hausgebrauch<br />

auf den Markt. Das Prinzip ist so simpel wie beim Wäschewaschen:<br />

Der Kocher wird auf den Herd gestellt, in seinem unteren<br />

Teil erhitzt sich das Wasser. Wenn es kocht, wird der Wasserdampf<br />

durch einen Siebeinsatz mit Kaffeepulver gedrückt. Die Flüssigkeit<br />

sammelt sich in der oberen Kanne, ein weiteres Sieb hält das Kaffeepulver<br />

in der Mitte zurück. Beim Achteckdesign seiner Moka Express<br />

orientiert sich Bialetti an Kaffeekannen aus Silber im Art-déco-Stil.<br />

Simple Technik, gutes Ergebnis, günstiger Preis, schön anzusehen<br />

– klingt perfekt. Dennoch: Der <strong>Durchbruch</strong> bleibt aus. Bialetti ist<br />

Handwerker, kein Werber. Seine Erfindung bietet er nur auf Märkten<br />

in der Region an, dann kommt der Krieg, sämtliches Aluminium wird<br />

vom Militär beansprucht, Bialetti muss die Produktion einstellen.<br />

1946 kehrt Bialettis Sohn Renato aus deutscher Kriegsgefangenschaft<br />

zurück in die Heimat und übernimmt die Firma. Er konzentriert<br />

sich auf die Moka Express, schmeißt alle anderen Produkte aus<br />

dem Programm, baut das Sortiment auf Größen von zwei bis zehn<br />

Tassen aus und fährt die Produktion auf 1000 Stück pro Tag hoch.<br />

Vor allem aber zieht er im Wirtschaftsboom der 1950er eine mas-<br />

Images<br />

sive Werbekampagne auf. Schaltet Anzeigen, lässt Radiospots laufen,<br />

Getty<br />

investiert als einer der ersten italienischen Unternehmer in Fernseh-<br />

(7);<br />

werbung. Während der wichtigsten Industriemesse des Landes in<br />

Richter<br />

Mailand pflastert Bialetti Jahr für Jahr sämtliche Werbetafeln in der<br />

Stadt mit Bildern des Kaffeekochers, 1956 lässt Renato eine Riesen-<br />

Susann<br />

version der Moka auf dem Messegelände installieren.<br />

Fotos:<br />

Heute benutzen sie neun von zehn italienischen Haushalten. Die<br />

Moka Express ist weltweit bisher mehr als 280 Millionen Mal verkauft<br />

Richter;<br />

worden, die Form unverändert, ein Klassiker. Ebenso die Werbefigur,<br />

Susann<br />

der Mann mit dem Schnauzer, eine Hommage an Firmengründer<br />

Alfonso. „In casa un espresso come al bar“ verspricht der, einen guten<br />

Espresso bekommt der Mann auch zu Hause. <strong>Daniela</strong> Schröder � FTD-Collage:<br />

38<br />

enable 08/2012<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND


DURCHBRUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />

Limo-sine<br />

Entscheidend ist, was fehlt: „Sine alcohole“, also ohne Alkohol, ist die weltweit<br />

erste Markenlimonade, die Franz Hartmann 1908 als Sinalco auf den Markt bringt<br />

Franz Hartmann geht der Job auf die Leber. Für seinen Vater, der<br />

eine Likör fabrik im lippischen Lage besitzt, reist er als Handelsvertreter<br />

durchs Land. Jeden Tag steigt er in einem anderen Gasthof<br />

ab, morgens brummt ihm der Kopf. Runtergekommen fühle er<br />

sich, gesteht der Kaufmann eines Abends beim x-ten Schnaps einem<br />

Kollegen. Der versteht ihn gut – und gibt Hartmann einen Geschäftstipp:<br />

Stell doch Säfte her, die Leute wollen ohnehin weg vom Fusel.<br />

Ende des 19. Jahrhunderts boomen Abstinenzvereine, der Kampf<br />

gegen das Trinken ist europaweit eine soziale Bewegung.<br />

Hartmann fackelt nicht lange. In der väterlichen Likörfabrik<br />

entwickelt er einen Extrakt aus Limetten, mit Mineralwasser und Zucker<br />

wird daraus eine erfrischende Limonade. Seit Jahrhunderten ist<br />

die Getränkeart populär, meist von Straßenverkäufern zubereitet, eine<br />

Marke existiert bisher jedoch nicht. Hartmann baut ein Franchisesystem<br />

auf und verkauft seine Fruchtessenz, die sogenannte „Seele“,<br />

an Handelsvertreter, sie müssen ihm bestimmte Mengen Konzentrat<br />

abnehmen und das Getränk als „Hartmann-Limonade“ vertreiben.<br />

Das Geschäft läuft, aber Hartmann will mehr. So kommt er auf Friedrich<br />

Eduard Bilz. Der Naturheilkundler hat eine Gesundheitsfibel mit<br />

Tipps zum natürlichen Behandeln sämtlicher Krankheitsbilder herausgebracht,<br />

das Heilen mit Luft, Licht und Wasser ist populär.<br />

Hartmann besucht Bilz: <strong>Wie</strong> wäre es, die Limonade gemeinsam<br />

auf den Markt zu bringen? Als Gesundheitsprodukt würde die Limo<br />

den Wunsch der Menschen bedienen, ihrem Körper etwas Gutes zu<br />

tun. Bilz gefällt die Idee: Mineralsalze und Fruchtsäuren im Obst sind<br />

gesund, und der Fruchtzucker spendet schnell Energie.<br />

30<br />

enable 07/2012<br />

Mit Bilz’ Sohn entwickelt Hartmann einen Extrakt aus heimischen<br />

Obstsorten und Südfrüchten. 1901 benennt Hartmann seine Limo in<br />

„Bilz-Limetta“ um, bald darauf in „Bilz-Brause“. „Für Magen-,<br />

Nerven-, Rheumatismus- und Lungen-Leidende sehr zu empfehlen“,<br />

steht auf den Etiketten. Zwei Jahre nach dem Marktstart verkauft<br />

Hartmann 25 Millionen Liter; rund 30 000 Gaststätten, Erfrischungshallen<br />

und Kantinen in Deutschland bieten die Bilz-Brause an.Nachahmer<br />

bringen ähnliche Produkte heraus, sogar als „Pilz-Brause“.<br />

Namensgeber Bilz möchte mehr vom Gewinn abhaben und zieht<br />

gegen Hartmann vor Gericht. Dem wird das Ganze zu brenzlig. Um<br />

sich vom Namensgeber zu distanzieren, sucht er per Preisausschrei- Marks<br />

ben einen neuen Namen. „Sinalco“ heißt der Sieger, zusammengesetzt<br />

aus den lateinischen Wörtern „sine“ und „alcohole“.<br />

Ohne Alkohol – das passende Getränk für die Abstinenzbewegung.<br />

Auf den ersten Werbeplakaten schäumt die Sinalco in einem Sekt- Images/Georege<br />

glas, Hartmann macht aus dem Heilmittel ein Modegetränk. 1908 Getty<br />

gründet er die Sinalco-Aktiengesellschaft in Detmold, 1937 bekommt (7);<br />

die Flasche ihr bis heute gültiges Markenzeichen, den roten Punkt. Richter<br />

Der ursprünglich rote Beeren-Grundstoff der Limonade wird in den<br />

1950ern ersetzt durch ein Fruchtsaftgetränk auf Orangenbasis.<br />

Susann<br />

Als die Nachkriegsdeutschen ihren Durst vor allem in der Kneipe Fotos:<br />

löschen, boomt Sinalco. In den Folgejahren wechselt die Marke<br />

mehrfach den Besitzer, keiner kümmert sich so recht, es geht berg- Richter;<br />

ab. 1994 kauft die Familienfirma Hövelmann die Markenrechte und<br />

Susann<br />

gründet wenig später die Deutsche Sinalco GmbH in Duisburg. Der<br />

Relaunch funktioniert, das Sortiment wächst ständig, seitdem ist die<br />

gelbe Britzelbrause wieder weltweit vertreten. <strong>Daniela</strong> Schröder � FTD-Collage:<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND


DURCHBRUCH WIE ALLES ANFING<br />

Raus, rein, fertig<br />

Kurze, wenn’s trocken ist. Lange, wenn’s feucht ist. Die Wechselstollen für Fußballschuhe<br />

haben Adidas berühmt gemacht – doch erfunden wurden sie in Bremen<br />

Es ist immer das gleiche Spiel: Wenn die Mannschaft nach dem<br />

Match in die Kneipe zieht, trabt Zeugwart Alexander Salot mit<br />

einem Sack Fußballstiefel nach Hause. Die Stollen sind heraus<br />

oder abgebrochen. Ein paar Mal kann der Schuhmachermeister die<br />

Stiefel seiner Sportsfreunde wieder t machen, dann aber sind die<br />

Sohlen durch das ständige Stollennageln zu löchrig und brüchig.<br />

Nicht nur Salot nervt das Problem. Schon in den 1920ern fertigten<br />

Schuhmacher in England, Amerika und Frankreich Fußballerstiefel,<br />

bei denen sich die Stollen unter die Sohle schrauben lassen. Doch die<br />

waren zu umständlich. In seiner Werkstatt in Bremen-Blumenthal<br />

tüftelt Salot ein System aus, bei dem die „Stollen vermittels einer in<br />

ihnen undrehbaren Kopfschraube durch eine zwischen Laufsohle<br />

und Brandsohle ein gebrachte Gewindehülse gehalten werden“. So beschreibt<br />

es der Schuster in der Patentschrift, die er 1949 einreicht.<br />

Salot schraubt den Vereinskollegen fortan die passenden Stollen in die<br />

Lederstiefel. Taut die Wintersonne den gefrorenen Rasen, wechselt<br />

Salot vom kurzen aufs lange Modell. Rausdrehen, reindrehen, fertig:<br />

Die anderen Spieler rutschen, die Jungs des Blumenthaler Sportvereins<br />

haben Halt. Dreimal hintereinander werden sie Bremer Meister.<br />

Werder Bremen, der Hamburger SV, der 1. FC Köln, Hannover 96,<br />

Arminia Bielefeld und Schalke 04 bestellen Testmodelle. Nicht nur<br />

die Stollen überzeugen, auch das Gewicht der Stiefel gilt als Pluspunkt.<br />

Die bisherigen Systeme machten einen Sportschuh gut<br />

500 Gramm schwer, die Version aus Bremen wiegt nur 360 Gramm.<br />

Anfangs produziert Salot in der eigenen Waschküche, später im<br />

Gartenhaus. Das Werkzeug: Nähmaschine, Ausputzmaschine, Nägel<br />

30<br />

enable 06/2012<br />

und Pressen. Mit seinen zwei Gesellen kann Salot die Nachfrage bald<br />

nicht mehr bedienen. 1950 steigt eine Schuhfabrik im westfälischen<br />

Ahlen mit 100 bis 200 Paaren pro Tag in die Lizenzproduktion ein.<br />

Und steigt urplötzlich wieder aus. Die genauen Gründe liegen im<br />

Dunkeln. Salots Sohn Werner erzählt eine mysteriöse Geschichte:<br />

1952 tauchten angeblich zwei Männer auf, die den Schuster au! orderten,<br />

die Produktion unverzüglich einzustellen. Salot besitze kein<br />

Patent auf das Schraubsystem. Der war verunsichert. Zwar hatte er<br />

seine Er ndung bem Patentamt angemeldet, aber nie geprüft, ob sie<br />

angenommen worden war (keine Bange: war sie).<br />

<strong>Wie</strong> dem auch sei: Am 28. November 1952 meldet der Adidas-<br />

Gründer Adolf „Adi“ Dassler aus dem fränkischen Herzogenaurach<br />

eine „Buchse mit durchgehender Gewindebohrung zur Aufnahme<br />

von unterhalb der Sohle eines Sportschuhes angebrachten Stollen“<br />

beim Münchner Patentamt an. Salot nahm das so hin, für ihn war das<br />

" ema o! enbar durch. Bei Adidas heißt es heute zerknirscht: Wer<br />

immer den Wechselstollen erfunden hat, wir waren es leider nicht.<br />

„Adi“ Dassler jedenfalls hatte einen engen Draht zum Deutschen<br />

Fußball-Bund. Als die deutsche Elf am 4. Juli 1954 im Finale der Fußball-WM<br />

im Berner Wankdorfstadion einläuft, trägt sie leichte Adidas-Treter<br />

mit auswechselbaren Schraubstollen. Zwar aus Kunststo!<br />

und nicht wie bei Salot aus Leder, das Prinzip aber ist dasselbe. Nachdem<br />

es tüchtig geschüttet hat, tauscht Dassler in der Halbzeitpause<br />

die kurzen Stollen gegen lange aus. Rausdrehen, reindrehen, fertig.<br />

Die als unbezwingbar geltenden Ungarn können nicht wechseln,<br />

r uts chen un d schli ttern auf dem R a sen. Die De uts chen nden Halt –<br />

und werden erstmals Fußballweltmeister. <strong>Daniela</strong> Schröder 4<br />

FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND


DURCHBRUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />

Schaum-Stoff<br />

In nur fünf Monaten entwickelte Werner & Mertz den ersten Öko-Reiniger. Heute<br />

exportiert der Mainzer Mittelständler seine „Frosch“-Produkte bis nach Japan<br />

Lasst euch was einfallen, fordern die Kollegen aus dem Vertrieb:<br />

Auf dem Rhein treiben meterhohe Schaumberge, in der Nordsee<br />

krepieren Robben, Umweltskandale überall. Die Verbraucher sind<br />

verunsichert, haben die Nase voll von Chemiekeulen. Der Handel will<br />

Alternativen zum aggressiven Zeug. Also, Leute, was machen wir?<br />

Erst mal ein Brainstorming, heißt es im Herbst 1985 beim Mainzer<br />

Reinigungsmittelhersteller Werner & Mertz. Für drei Tage verziehen<br />

sich die Manager, in einem Hotel sollen Ideen wachsen. Müssen<br />

wachsen, denn das 1867 gegründete Familienunternehmen steht<br />

unter Druck. Mit seiner Schuhpflege Erdal ist Werner & Mertz zwar<br />

Marktführer, doch immer öfter werden Schuhe eher ausgetauscht als<br />

geputzt. Und mit seinen Marken für Autopflege, Boden- und Rohrreiniger<br />

steht der Mittelständler im Wettbewerb mit Konzernen.<br />

Wenn Verbraucher sich über Umweltskandale aufregen, sagen die<br />

Brainstormer, dann ist die Zeit reif für einen Wandel. „Geben wir den<br />

Leuten die Reinigungsmittel, die sie haben wollen“, propagiert der<br />

Entwicklungschef. Aber wie? Die Branche tickt blau, im Versprechen<br />

blitzblanker Sauberkeit und porentiefer Hygiene übertrumpfen sich<br />

die Hersteller mit Chemie, die man riechen, sehen, fühlen kann.<br />

Ökoreiniger gibt es nicht, nur eine dickflüssige Schmierseife, die<br />

Hersteller Haka eimerweise abfüllt und im Haustürverkauf vertreibt.<br />

Allerdings mit beachtlichem Erfolg, recherchiert Werner & Mertz,<br />

die Seife verkauft sich so gut wie das populäre Putzmittel Meister<br />

Proper. Und der Handel weiß nichts davon und hat nichts davon!<br />

Die Klassiker aus Omas Putzschrank wollen die Mainzer nicht anbieten.<br />

Sie wollen etwas Neues. Es dauert fünf Monate, dann haben<br />

38<br />

enable 05/2012<br />

sie einen Neutralreiniger entwickelt. Die Wirkstoffe auf pflanzlicher<br />

Basis und damit biologisch abbaubar, keine schädlichen Chemika lien<br />

wie Phosphate oder Formaldehyd, frei von Lösungsmitteln. Selbst bei<br />

der Verpackung setzt Werner & Mertz auf Umweltfreundlichkeit:<br />

Mit einem Geschäftspartner entwirft der Hersteller Flaschen, die zu<br />

mehr als der Hälfte aus recycelten Kunststoffen bestehen.<br />

Bei der Suche nach dem passenden Namen kramt das Unternehmen<br />

in der Tradition. Mit einem Frosch hatten die Mainzer schon<br />

seit 1903 für ihre Schuhcreme geworben, in den ersten Jahrzehnten<br />

war das Tier grün. Mit dem neuen Ökoprodukt wird er wiederbelebt.<br />

Und modernisiert. Der grüne Frosch trägt eine kurze Hose und guckt<br />

dem Verbraucher direkt in die Augen. Offenheit gilt als oberstes Gebot,<br />

die Flaschen sind transparent und die Inhaltsstoffe deklariert.<br />

Im Mai 1986, kurz nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl,<br />

kommt der Frosch-Reiniger in den Handel. Gutes Timing. „Endlich Images<br />

ohne Gummihandschuhe“ lautet der Slogan beim ersten Spülmittel, Getty<br />

wenig später heißt das Motto: „Jetzt geht der Frosch an Ihre Wäsche.“ (8);<br />

Alle Produkte basieren auf natürlichen Wirkstoffen wie Essig, Soda, Richter<br />

Lavendel- oder Orangenöl, mittlerweile gehören auch Handseifen<br />

und Raumdüfte zum Sortiment.<br />

Susann<br />

Aktuell liegt der Marktanteil der Frosch-Produkte in Deutschland Fotos:<br />

bei mehr als 14 Prozent, von den 294 Mio. Euro Gesamtumsatz von<br />

Werner & Mertz bringt die grüne Sparte 138 Mio. Euro ein. Zwei Richter;<br />

Drittel der Frosch-Reiniger verkaufen die Mainzer ins Ausland, be-<br />

Susann<br />

sonders in Japan ist er beliebt. Das liegt auch daran, dass der Frosch<br />

dort als Glücksbringer gilt. Das japanische Wort für ihn hat noch eine<br />

zweite Bedeutung: Wandel. <strong>Daniela</strong> Schröder � FTD-Collage:<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

BESTSELLER AUS BERLIN<br />

Der türkische Gastarbeiter Kadir Nurman erfand den Dönerspieß, doch erst<br />

Nachahmer machten den Fladensnack zum Verkaufsschlager der Imbissbuden<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Nichts deutete darauf hin, dass der junge<br />

Türke, der Anfang der 60er-Jahre<br />

nach Deutschland kam, die Ernährungsgewohnheiten<br />

der Deutschen umkrempeln<br />

würde. Zunächst arbeitete Kadir Nurman<br />

vier Jahre bei Daimler am Fließband.<br />

Dann trieb ihn das Heimweh wieder in die<br />

Türkei zurück. Doch dort vermisste Nurman<br />

plötzlich das Leben in Deutschland. So packte<br />

er erneut seine Koffer und zog nach Westberlin.<br />

Aber anders als bei seiner ersten Ankunft<br />

fand er keinen Job. Deutschland<br />

steckte in der Wirtschaftskrise.<br />

ZUERST VERSUCHTE Nurman sein Glück<br />

mit einem Restaurant. Ein Flop, denn seine<br />

Landsleute kochten lieber zu Hause, und bei<br />

den Deutschen kam die türkische Küche<br />

nicht an. Von einer Urlaubsreise in seine Heimat<br />

brachte Nurman schließlich eine neue<br />

Geschäftsidee mit: Dönerkebab, von einem<br />

senkrechten Drehspieß geschnittenes Grillfleisch<br />

– in Anatolien ein traditionelles Tellergericht.<br />

In der Nähe des Bahnhofs Zoo eröffnete<br />

er 1972 mit dieser Idee einen neuen<br />

Laden. Wenige Monate zuvor hatte in Mün-<br />

enable 04/2012<br />

chen das erste McDonald’s-Restaurant des<br />

Landes eröffnet. Die Ära des Fast Food begann.<br />

Der ideale Zeitpunkt, um einen neuen<br />

Imbiss auf den Markt zu bringen. Nurman<br />

grillte Kalb- und Rindfleisch am großen<br />

Spieß, füllte es in Berliner Schrippen, packte<br />

Zwiebeln dazu und ein bisschen grünen Salat,<br />

verkaufte das Ganze für 1,50 D-Mark.<br />

Die Kunden waren skeptisch. Döner? Was<br />

ist das denn? Doch Nurman war vom Erfolgspotenzial<br />

der Idee überzeugt. Deutschland<br />

ist ein Land, in dem viel gearbeitet wird,<br />

glaubte er, die Menschen haben es immer<br />

eilig, da müsse auch das Essen schnell gehen.<br />

Andere Berliner Türken kopierten sein Konzept,<br />

statt Schrippen nahmen sie oft türkisches<br />

Fladenbrot, Salat und frisches Gemüse<br />

kamen dazu, Gewürze, verschiedene<br />

Saucen. In Kreuzberg eröffnete in den 70ern<br />

eine Dönerbude nach der anderen. Plötzlich<br />

rotierten an jeder Ecke die Fleischspieße.<br />

Anfangs stellten die Imbissbesitzer ihre<br />

Döner noch selbst her, in den 80ern begann<br />

die Massenproduktion der kiloschweren<br />

Fleischkegel. Der einsetzende Preiskampf ließ<br />

den Döner vielfach zu einem Hackprodukt<br />

mutieren, deshalb stellte die Stadt Berlin eine<br />

„Verkehrsauffassung für das Fleischprodukt<br />

Dönerkebab“ auf, nach der er maximal<br />

60 Prozent Hack enthalten darf. Später legte<br />

auch das Deutsche Lebensmittelbuch Richtlinien<br />

fest.<br />

Die BSE-Krise in den 90ern wurde zur<br />

Geburtsstunde des Geflügeldöners, später<br />

kamen auch Varianten mit Schafskäse sowie<br />

reine Gemüseversionen auf den Markt, der<br />

Döner nahm Ernährungstrends auf. Nur die<br />

Biowelle ging bisher an ihm vorbei, denn die<br />

Branche sieht keine Chance, dass die Kunden<br />

einen für Ökoware angemessenen Preis zahlen<br />

würden.<br />

Der 78-jährige Nurman lebt noch immer<br />

in Berlin. Rückblickend bedauert der Rentner,<br />

dass er sich seine Erfindung nicht als<br />

Marke schützen ließ: „Dann wäre ich jetzt<br />

Millionär.“ Die neuen Kreationen lässt er übrigens<br />

nicht als Döner gelten. Er selbst isst<br />

nur die puristische Urversion.<br />

Inzwischen hat sich sein Gericht zum<br />

beliebtesten Fast Food in Deutschland entwickelt<br />

– und ist ein Wirtschaftsfaktor geworden.<br />

Etwa 60 000 Menschen verdienen hierzulande<br />

mit Döner ihr Geld, es gibt 16 000<br />

Grillbuden, Deutschland ist der größte Dönerexporteur<br />

der Welt. Der Gesamt umsatz<br />

der Branche liegt bei 3,5 Mrd. Euro. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (8); Getty Images


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

REVOLUTION IM BETT<br />

Ein Schweizer Erfinder und ein deutscher Tischler entwickelten die Matratzenunterlage<br />

aus flexiblen Holzleisten. Die Rettung für viele Rückengeplagte<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Völlig gaga, die Idee, fand das Fachpublikum.<br />

Und die Besucher der Kölner<br />

Möbelmesse 1956 wunderten sich<br />

erst recht: „Auf Holzlatten schlafen? Die<br />

spinnen ja!“, meinten sie zum neuen Produkt<br />

der Tischlerei �omas aus Bremervörde. Steife<br />

Bretter im Bett, die Zeiten waren doch<br />

längst vorbei, mittlerweile schlief man doch<br />

auf Matratzen mit Drahtgewebe oder legte<br />

sie auf einen Rahmen mit Sprungfedern;<br />

auch wenn die bei der kleinsten Bewegung<br />

quietschten und sich Kuhlen bildeten, weil<br />

der Draht schnell ausleierte. An erholsamen,<br />

Schlaf war jedenfalls nicht zu denken, nicht<br />

von ungefähr zählten Rückenschmerzen<br />

schon damals zu den großen Volksleiden.<br />

GENAU DAGEGEN aber sollte die Neuheit<br />

aus Norddeutschland wirken. „Rückenschmerzen<br />

lassen sich durch Lattoflex vermeiden“,<br />

behauptete Firmenchef Karl �omas<br />

im Prospekt für den ersten Lattenrost.<br />

Ein Kollege aus der Schweiz, der Tischler und<br />

Erfinder Karl Degen, hatte ihm die Idee<br />

geliefert. Degens Frau plagte sich mit einem<br />

Bandscheibenvorfall und konnte wegen<br />

enable 03/2012<br />

starker Schmerzen keine Nacht mehr ruhig<br />

schlafen. Ihr Mann studierte die Anatomie,<br />

las medizinische Fachbücher, dann stand für<br />

ihn fest: Bett und Matratze müssen so gestaltet<br />

sein, dass die Wirbelsäule beim Schlafen<br />

in ihrer natürlichen Form liegen kann. Und<br />

tatsächlich: Als Degen einige gebogene, flexibel<br />

nachgebende Holzleisten unter die Matratze<br />

des Ehebetts legte, ließen die Schmerzen<br />

seiner Frau nach.<br />

Als Tischlermeister �omas von dieser<br />

Idee hörte, nahm er sofort Kontakt mit dem<br />

Erfinder auf, suchte er doch nach einem Produkt,<br />

das seiner Polstermöbelwerkstatt ein<br />

Alleinstellungsmerkmal verschaffen konnte.<br />

Der eine mehr ein �eoretiker, der andere ein<br />

Praktiker – die beiden Männer waren sich<br />

schnell einig. In �omas’ Werkstatt entstand<br />

schließlich eine Konstruktion aus gebogenen,<br />

verleimten Buchenholzleisten, die in einem<br />

Rahmen aus Stahl oder Holz quer zur Körperachse<br />

lagen.<br />

Lattoflex nannten �omas und Degen<br />

ihre Neuerfindung, meldeten das Produkt<br />

zum Patent an und starteten 1957 in Bremervörde<br />

mit der Serienfertigung. Um die Kunden<br />

von der flexiblen Matratzenunterlage zu<br />

überzeugen, besorgten sie Mediziner und<br />

renommierte Schlafexperten als Fürsprecher<br />

für den Lattenrost, darunter Dr. Günter<br />

Neumeyer, den Moderator einer Arztsendung<br />

im neuen Medium Fernsehen. So entwickelte<br />

sich die kleine Tischlerei aus Bremervörde<br />

in den folgenden Jahren zu einem<br />

Industrieunternehmen, das Kunden in aller<br />

Welt belieferte.<br />

Die Firma gibt es bis heute, nur mit Holz<br />

hat sie schon lange nichts mehr zu tun. Anfang<br />

der 90er-Jahre waren die Schutzrechte<br />

auf die Erfindung ausgelaufen, selbst Discounter<br />

verkauften plötzlich Lattenroste. Wir<br />

müssen eine neue Nische finden, erkannten<br />

die Erfinder des Lattenrosts, denn die Technik<br />

von damals ließ sich nicht mehr weiter<br />

verbessern. Mittlerweile gab es neue Werkstoffe<br />

wie Glas- und Kohlefasern auf dem<br />

Markt, die auf den kleinsten Druck einzelner<br />

Körperpartien reagieren und auch nach Jahren<br />

noch stabil sind wie in der ersten Nacht.<br />

Lattoflex entschied sich daher für einen<br />

radikalen Wandel – und schmiss das Prinzip<br />

Holzlatte kurzerhand über Bord: 1996 stieg<br />

der Hersteller auf ein Federsystem um. Es besteht<br />

aus elastischen, in alle Richtungen beweglichen<br />

Glasfaserflügeln – und wird heute<br />

in mehr als 12 000 Varianten gebaut. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (4); Mauritius Images/Alamy; Getty Images/ Steve Taylor


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

DRIBBLING AUF DEM KÜCHENTISCH<br />

Der Ball ist rund? Von wegen. Dass auch ein eckiger Ball die Massen begeistern<br />

kann, zeigt das Spiel Tipp-Kick, das Edwin Mieg schon 1926 populär machte<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Für Edwin Mieg brach eine Welt zusammen.<br />

Eine Absage, in letzter Sekunde.<br />

Der junge Handelskaufmann sollte<br />

1923 für den Uhrenhersteller Junghans die<br />

Niederlassung in Indien übernehmen. Doch<br />

dann besetzte Junghans die Stelle mit einem<br />

Familienmitglied – Miegs Aussteigertraum<br />

vom Leben in Asien platzte. Frustriert reichte<br />

er auf der Stelle die Kündigung ein und<br />

beschloss, sich selbstständig zu machen.<br />

ALS DER ÄRGER verflogen war, fiel Mieg die<br />

Erfindung eines Stuttgarter Möbelherstellers<br />

namens Karl Mayer ein, von der ihm ein<br />

Freund erzählt hatte. Zwei Jahre zuvor hatte<br />

Mayer ein „Fußbrettspiel“ zum Patent angemeldet,<br />

bei dem zwei Blechfiguren auf<br />

Knopfdruck einen schwarz-weißen, zwölfeckigen<br />

Korkwürfel kicken. Tipp-Kick nannte<br />

Mayer seine Erfindung, die den Sport auf<br />

den Küchentisch brachte. Über den Prototyp<br />

kam er jedoch nicht hinaus.<br />

Mieg fand die Idee faszinierend, entdeckte<br />

aber einen Haken: Die Blechfiguren waren<br />

leicht, die Schüsse daher nur schlapp. Wären<br />

sie aus einem anderen Material gefertigt,<br />

enable 02/2012<br />

dachte Mieg, könnten die Spieler den Ball<br />

besser ins Tor bolzen. Er kaufte dem Handwerker<br />

das Patent ab und ließ die Spielfiguren<br />

aus Blei gießen. Um Tipp-Kick bekannt<br />

zu machen, fuhr Mieg 1926 zur Spielwarenmesse<br />

nach Leipzig. Weil ihm für die<br />

Standmiete das Geld fehlte, stellte er sich<br />

kurzerhand vor den Messeeingang und ließ<br />

Besucher eine Runde spielen. Als ihn die<br />

Wachleute vertrieben, zog Mieg einfach zum<br />

nächsten Tor weiter. Die Hartnäckigkeit<br />

zahl te sich aus: Ein Sporthausbesitzer aus<br />

Chemnitz bestellte über 100 Spiele.<br />

In der Folge wurde der Minikick in<br />

Deutschland rasch populär, 1938 gründete<br />

sich der erste Tipp-Kick-Verein. Im gleichen<br />

Jahr baute Mieg in Schwenningen seine<br />

gleichnamige Fab rik und stellte die Figuren<br />

aus Zink her. Den <strong>Durchbruch</strong> brachte das<br />

„Wunder von Bern“: Nachdem die Nationalmannschaft<br />

1954 Weltmeister wurde, verkaufte<br />

Mieg 180 000 Spiele. Der Erfolg lag<br />

auch an einer Inno vation: Ein Mieg-Mitarbeiter<br />

entwickelte einen Torwart, der auf<br />

Knopfdruck nach dem Ball hechten konnte.<br />

So verkaufte sich das Spiel noch besser.<br />

Ende der 60er versuchte Mieg, das Erfolgsrezept<br />

auf andere Felder zu übertragen,<br />

und brachte Boccia und Kricket als Tischversion<br />

auf den Markt. Beide waren grandiose<br />

Flops, das kleine Familienunternehmen<br />

schrammte nur knapp an der Pleite vorbei.<br />

Seitdem konzentriert sich Mieg auf Tipp-<br />

Kick und darauf, das Spiel den realen Vorbildern<br />

anzupassen. Mit Beginn der Fußballbundesliga<br />

1963 kamen die Figuren in<br />

Mannschaftstrikots auf den Markt. Die Nähe<br />

zu den echten Kickern schlug sich im Umsatz<br />

nieder: Nach miesen WM-Ergebnissen oder<br />

bei Bundesligaskandalen brachen die Verkaufszahlen<br />

ein, die WM 2006 in Deutschland<br />

dagegen bescherte dem Familienunternehmen<br />

mit fast 200 000 verkauften Exemplaren<br />

ein Rekordverkaufsjahr.<br />

Etwa sechs Millionen Tischfußballsets<br />

wurden bislang verkauft. Gegen das Auf und<br />

Ab in der Nachfrage haben sich Mathias und<br />

Jochen Mieg, die das Unternehmen in der<br />

dritten Generation führen, mit dem Auslagern<br />

der Produktion in Betriebe der Region<br />

gewappnet, eine Fertigung in China holten<br />

sie wieder zurück nach Deutschland. Das<br />

Spiel selbst hat es bisher nicht geschafft, auf<br />

dem internationalen Markt Fuß zu fassen,<br />

bekannt ist es vor allem in Deutschland,<br />

Österreich und der Schweiz. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (8); Getty Images/Epics


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

DENK AN MICH<br />

Er hatte eine Lösung, doch es fehlte das Problem dazu. Dann nutzte ein Kollege<br />

Spencer Silvers Klebstoff, um Post-its zu basteln. Und veränderte die Bürowelt<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Das nächste große Ding, Spencer Silver<br />

glaubt es in der Hand zu halten. Aus<br />

Acrylteilchen hat der amerikanische<br />

Chemiker 1968 ein Haftmittel entwickelt,<br />

das Dinge zusammenhält, aber problemlos<br />

wieder zu entfernen ist. Silver streicht den<br />

Kleber auf eine Holztafel und pappt Zettel<br />

darauf, auch sie lassen sich leicht ablösen –<br />

ohne zu zerreißen. Der Forscher will seine<br />

Erfindung als Spray auf den Markt bringen,<br />

doch sein Arbeitgeber, der Technologiekonzern<br />

Minnesota Mining and Manufacturing<br />

Company (3M), lässt mit dem Kleber eine<br />

Haft-Pinnwand ohne Pins entwickeln.<br />

DAS NEUE PRODUKT wird ein Flop. Silver<br />

ist frustriert. Er hat doch ein perfektes Produkt<br />

entwickelt. Gleichzeitig ist ihm bewusst:<br />

Es gibt einfach kein passendes Problem,<br />

das der Kleber löst. Statt die Papiere<br />

mit dem Kleber in einen Ordner zu heften<br />

und nach hinten in sein Regal zu schieben,<br />

geht er jedoch in die Öffentlichkeit. Er erzählt<br />

jedem Kollegen von seinem Kleber, in<br />

Kaffeepausen, beim Mittagessen und auf Seminaren,<br />

jahrelang. Irgendeinem, hofft Sil-<br />

enable 01/2012<br />

ver, wird doch wohl die zündende Idee für<br />

seinen genialen Einfall kommen.<br />

Auch Art Fry hört von der Erfindung.<br />

Während Silver als Ausgleich zum Arbeitsleben<br />

das Malen mit Ölfarben für sich entdeckt,<br />

verbringt Chemie-Ingenieur Fry seine<br />

Freizeit im Kirchenchor. Eines Sonntags verpasst<br />

er seinen Einsatz, denn die Papierschnipsel,<br />

die er sich in sein Gesangbuch gelegt<br />

hat, fallen immer heraus. <strong>Wie</strong> nervig,<br />

denkt Fry, wenn sie doch nur an ihrem Platz<br />

blieben. Da erinnert er sich an den Klebstoff.<br />

Am nächsten Morgen in der Firma holt sich<br />

Fry bei Silver ein Produktmuster. Er streicht<br />

den Kleber auf Papierstreifen, so bastelt er<br />

Lesezeichen, die zuverlässig an der richtigen<br />

Stelle bleiben und beim <strong>Wie</strong>derabnehmen<br />

keine Spuren oder Schäden hinterlassen.<br />

Das Management von 3M ist skeptisch.<br />

Man ist zwar offen für Neues, auch die ersten<br />

Klebebänder für den Overheadprojektor hat<br />

sich der Konzern ausgedacht. Aber das hier<br />

ist nur ein klebriges Stück Papier, sagen die<br />

Chefs, so was kauft niemand. Fry ist verzweifelt.<br />

<strong>Wie</strong> soll er sie von seiner Idee überzeugen?<br />

Als er eines Tages einen Bericht abgeben<br />

muss und dazu noch eine Frage an seinen<br />

Vorgesetzten hat, schreibt er sie auf einen der<br />

Klebezettel und pappt ihn auf die Mappe.<br />

Minuten später bringt der Bürobote sie zurück,<br />

auf dem Deckel klebt der Zettel – mit<br />

einer Antwort vom Chef. Fry ist elektrisiert.<br />

Eine Haftnotiz, das ist es! Um die Prototypen<br />

reißt sich die ganze Firma, ob Sekretärin oder<br />

Vorstandschef, die Leute können nicht genug<br />

bekommen von dem neuen Kommunikationsmittel.<br />

Kurz darauf startet 3M einen Feldversuch<br />

und verteilt Gratismuster der Klebeblöcke in<br />

einer Kleinstadt in Idaho. Dort entpuppen<br />

sich die Post-its als Renner: 95 Prozent der<br />

Nutzer sind begeistert. 1980 kommt die erste<br />

Version in die Geschäfte, kanarienvogelgelb<br />

und 76 mal 76 Millimeter groß. Schnell<br />

erobern sie die Büros im ganzen Land, ein<br />

Jahr später auch in Kanada und Europa.<br />

Als das Basispatent ausläuft, entwickeln<br />

sich aus der Urform des Klebezettels Hunderte<br />

weitere Varianten, in schrillen und sanften<br />

Tönen, in Herzchen-, Schweinchen- und<br />

Weihnachtsbaumform, vom Indexstreifen bis<br />

zum 61 mal 51 Zentimeter großen Meeting-<br />

Chart. Zuletzt vollzog das Konzept sogar einen<br />

radikalen Wandel, denn 3M verzichtete<br />

auf Papier und Klebstoff: Das digitale Post-it<br />

lässt sich an Textdateien heften. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (5)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

LACHEN IM LAZARETT<br />

Aus einer Hutschachtel bastelte Josef Schmidt „Mensch ärgere Dich nicht“. Und<br />

machte es mithilfe von Soldaten zu Deutschlands populärstem Brettspiel<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Josef Friedrich Schmidt stand kurz vor dem<br />

Nervenzusammenbruch. Mit wüstem Geschrei<br />

galoppierten seine drei kleinen Jun-<br />

gen im Jahr 1907 auf ihren Steckenpferden<br />

durch die winzige Wohnküche im Münchner<br />

Arbeiterviertel Giesing, fochten mit Holzschwertern,<br />

lärmten und tobten. Der Vater<br />

ermahnte, er drohte. Aber Franz, Karl und<br />

Heinrich gaben keine Ruhe.<br />

DA HATTE ER EINEN EINFALL. Ein alter<br />

Hutkarton, der auf dem Küchentisch lag,<br />

brachte ihn auf die Idee, dass ein Spiel die<br />

Kinder beruhigen könnte. Möglichst einfach<br />

müsste es sein, selbst für den Jüngsten schnell<br />

zu verstehen. Schmidt zerlegte die Hutschachtel,<br />

zeichnete ein kreuzförmiges Spielfeld<br />

auf den Karton. Vier Holzkegel pro<br />

Spieler mussten darauf eine Runde drehen, es<br />

gewann, wer seine Figuren als Erster ins Ziel<br />

brachte. Aber Vorsicht – jeder Spieler schwebte<br />

in der Gefahr, durch nachrückende Figuren<br />

rausgeschmissen zu werden, auch kurz<br />

vor dem Ziel.<br />

Die Spielidee selbst war nicht neu.<br />

Schmidt hatte sie beim fast 2000 Jahre alten<br />

enable 12/2011<br />

Laufspiel Pachisi abgeschaut. Bis heute existieren<br />

in asiatischen Ländern Varianten des<br />

Strategiespiels, das den Glauben an die <strong>Wie</strong>dergeburt<br />

des Menschen symbolisiert.<br />

Schmidt streicht viele Regeln, er reduziert<br />

das Spiel auf seinen Kern: mit den eigenen<br />

Kegeln um das Kreuz auf dem Spielfeld laufen<br />

und möglichst häufig die Figuren der anderen<br />

Spieler schlagen. Das ist kinderleicht –<br />

Schmidts Söhne sind begeistert. Und ihr Vater<br />

ahnt: Das Spiel hat Verkaufspotenzial.<br />

Aus seiner Kaufmannskarriere weiß<br />

Schmidt, dass das Aussehen und der Name<br />

des Spiels eine entscheidende Rolle spielen.<br />

Für den Prototypen wählt er ein blassgelbes<br />

Spielfeld und eine knallrote Verpackung, darauf<br />

zeichnet er einen Mann im schwarzen<br />

Anzug, der haareraufend am Spielbrett sitzt.<br />

„Mensch ärgere Dich nicht“ tauft Schmidt<br />

seine Kreation, denn es geht auch darum, mit<br />

Anstand zu verlieren.<br />

Im Jahr 1912 richtet Schmidt eine Werkstatt<br />

ein, um sein Spiel in Serie zu produzieren.<br />

Doch kaum jemand interessiert sich für<br />

seinen Zeitvertreib. Vor allem nicht, als kurz<br />

darauf der Erste Weltkrieg ausbricht. Da hat<br />

Schmidt eine Verkaufsidee: Er produziert<br />

3000 Exemplare seines Spiels und schickt sie<br />

mit den damals beliebten Sachspenden-<br />

Sammlungen an Armee und Lazarette. Das<br />

Geschenk kommt an. Und der Frieden bringt<br />

den <strong>Durchbruch</strong>: Die zurückkehrenden Soldaten<br />

wollen auch zu Hause „Mensch ärgere<br />

Dich nicht“ spielen. So entwickelt sich das<br />

Brettspiel zum Bestseller in Deutschland.<br />

Dabei hilft auch der Preis: 35 Reichspfennig<br />

kostet es damals – weniger als ein Pfund Zucker.<br />

Schon 1920 erreicht „Mensch ärgere Dich<br />

nicht“ die Verkaufsmarke von einer Million<br />

Exemplaren. Schmidt, mittlerweile Chef<br />

eines Verlags, hat sich das Spiel patentieren<br />

lassen. Doch der Schutz gilt nur für den Titel<br />

und das Design. Schmidts Konkurrenten<br />

bringen immer wieder ähnliche Ärger-Spiele<br />

heraus, von „Der Mann muss hinaus“ und<br />

„Mensch, verdrück’ Dich“ bis zu „Immer mit<br />

der Ruhe“ und „Darum keine Feindschaft<br />

mehr“.<br />

Das Original aber leidet nicht unter den<br />

zahlreichen Kopien. Im Gegenteil: Auch<br />

heute gilt „Mensch ärgere Dich nicht“ als<br />

In begriff des Gesellschaftsspiels. Die Berliner<br />

Blatz-Gruppe, seit 1997 Inhaber der Schmidt<br />

Spiele GmbH, verkauft jedes Jahr rund<br />

100 000 Stück dieses Bestsellers. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (7)


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

HALT MICH FEST<br />

Um seine Zettelwirtschaft zu bändigen, erfand der Uhrmacher Johann Kirsten<br />

die Heftzwecke. Reich wurden durch die Erfindung jedoch zwei Brüder<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Auftrag notiert. Johann Kirsten schnappt<br />

sich den Zettel mit der Bestellung,<br />

drückt ihn mit einem Nagel in die<br />

Holzwand – und schreit laut auf. Verflucht!<br />

Der Nagel hat sich schon wieder in seinen<br />

Daumen gebohrt statt in die Wand.<br />

In Lychen tratschen sie über den Uhrmachermeister<br />

Kirsten. Der trinkt gern einen<br />

über den Durst. Im Vollrausch, so erzählen<br />

sich die Bewohner des kleinen Ortes in Brandenburg,<br />

bestellt er schon mal eine Kutsche<br />

zur Kneipe und lässt sich die zwei Straßen<br />

nach Hause fahren – während seine Kinder<br />

nicht genug zu essen haben. Dazu das Chaos<br />

in der vollgestopften Werkstatt. Und statt<br />

ordentlich Buch zu führen, kritzelt Kirsten<br />

<strong>alles</strong> einfach auf Zettel, mit denen er die<br />

Wände gepflastert hat. Ein Wunder, dass der<br />

Mann überhaupt noch arbeiten kann.<br />

Kirsten aber stört nur eines an seiner Zettelwirtschaft:<br />

dass sie so oft zu Schmerzen<br />

führt. Dem will er nun ein Ende bereiten.<br />

Mit einer Stanze presst er ein kleines Metallplättchen<br />

auf einen Kopf eines Nagels. Jetzt<br />

kann er den Nagel bequem und sicher mit<br />

dem Daumen in die Wand pinnen. So sim-<br />

enable 11/2011<br />

pel wie die Idee ist auch der Name, den Kirsten<br />

seiner Erfindung gibt: „Pinne“. Zusammen<br />

mit zwei Mitarbeiterinnen stellt er einige<br />

Tütchen mit Pinnen her und verkauft das<br />

Produkt an seine Kunden.<br />

BEREITS 20 JAHRE ZUVOR benutzte der<br />

österreichische Unternehmer Heinrich Sachs<br />

Nägel mit umgebogenen Köpfen. Zeitgleich<br />

entwickelte ein Berliner Zeichner ein Produkt,<br />

das er Reißzwecke nannte, abgeleitet<br />

von seiner Funktion: dem Festhalten von<br />

Zeichnungen auf Reißbrettern.<br />

Kirstens Erfindung allerdings ist die einzige,<br />

die es zu einem Patent bringt. Unter<br />

dem Namen „Heftzwecke“ wird sie 1904<br />

beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin angemeldet.<br />

Allerdings nicht von Kirsten, sondern<br />

von den Brüdern Paul und Otto<br />

Lindstedt. Die Brüder betreiben in Lychen<br />

eine Metallkurzwarenfabrik und haben ein<br />

Jahr zuvor dem unter Geldnot leidenden<br />

Uhrmacher seine Erfindung abgekauft. Vor<br />

der Patenteinreichung haben sie die Pinne jedoch<br />

entscheidend verbessert. Weil bei den<br />

ersten Modellen die Kopfplatte unter starkem<br />

Druck nachgab, wurden zusätzliche kleine<br />

Metallzungen eingestanzt und umgebogen.<br />

„Durchdrücken unmöglich“ steht fortan auf<br />

den Heftzwecken-Verpackungen, die das<br />

Werk in Lychen als „Record Sicherheits-<br />

Reißbrettstifte“ vertreibt. Die Lindstedts vertreiben<br />

ihr Produkt in ganz Europa und werden<br />

schnell zu Millionären.<br />

In Spitzenzeiten beschäftigt die Fabrik<br />

100 Mitarbeiterinnen. Jede schafft bis zu<br />

7000 Pinnen pro Tag. In der DDR wird das<br />

Unternehmen zum Volkseigenen Betrieb.<br />

Zunehmend verbreitert sich das Produktspektrum,<br />

hin zu Motoren für Autoheizungen,<br />

Armaturen und Temperaturfühlern. Die<br />

Heftzwecke gerät ins Abseits, 1966 wird ihre<br />

Produktion in Lychen eingestellt.<br />

In den 90er-Jahren gab es in ganz Deutschland<br />

noch ein gutes Dutzend Reißzweckenhersteller.<br />

Seit 2011 ist die Arnsberger Firma<br />

Gottschalk der letzte verbliebene Produzent<br />

hier zu Lande – und einer von zweien weltweit.<br />

Das Unternehmen fertig mehr als zehn<br />

Millionen Reißzwecken täglich.<br />

Einmal wurde in Lychen aber doch noch<br />

eine Heftzwecke angefertigt: Im Jahr 2003<br />

setzte die Stadt eine überdimensionierte Pinne<br />

auf eine zwei Meter hohe Säule – ein<br />

Denkmal zu Ehren des Uhrmachermeisters<br />

Johann Kirsten. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (3)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

AB IN DIE KISTE<br />

Laster abladen, Kisten schleppen, im Schiffsrumpf verstauen. Das muss doch<br />

auch einfacher gehen, dachte Malcom McLean. Und erfand den Container<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Malcom McLean ist sauer. Es ist Ende<br />

November des Jahres 1937. Nur<br />

noch wenige Tage bis zum Erntedankfest.<br />

Und er sitzt im Hafen von New<br />

York fest. Schon vor Tagen hat der Chef einer<br />

kleinen Spedition aus North Carolina eine<br />

Ladung Baumwolle nach New York gefahren.<br />

Zurück kann er erst, wenn die Ware an Bord<br />

ist. Und das dauert. <strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> im Hafen.<br />

Stück für Stück schleppen Arbeiter dort Kisten,<br />

Säcke und Fässer aus den Lagerhallen,<br />

verpacken sie bruchsicher für die Überfahrt<br />

und hieven sie an Bord. Wenn das in dem<br />

Tempo weitergeht, denkt McLean, essen sie<br />

den Truthahn zu Hause ohne mich.<br />

AUF DEM WEG ZURÜCK grübelt er. Warum<br />

muss man Güter eigentlich einzeln verladen?<br />

Warum kann man nicht einen ganzen Transporter<br />

an Bord heben, der die Ladung anschließend<br />

gleich ausliefert? McLean erarbeitet<br />

ein Konzept. Schnell wird dabei klar, dass<br />

die Zugmaschinen der Trucks überflüssige<br />

Last für die Schiffe sind. Obendrein fehlen sie<br />

während der Überfahrt für Transporte an<br />

Land. Besser wäre es, nur die Lkw-Anhänger<br />

enable 10/2011<br />

und Sattelauflieger zu verschiffen. Aber auch<br />

das wäre noch Platzverschwendung, denn die<br />

Trailer lassen sich nicht stapeln. Am Ende ist<br />

er überzeugt: Auch die Räder und Fahrgestelle<br />

müssen weg. Aus den Fahrzeugen werden<br />

Container. In den folgenden Jahren versucht<br />

McLean immer wieder, Reeder als Investoren<br />

für seinen Plan zu gewinnen – ohne Erfolg.<br />

Parallel arbeiten auch in Europa Experten<br />

an der Entwicklung von Containern. Bereits<br />

1933 wurde dafür sogar eine Organisation<br />

gegründet, das Bureau International des<br />

Containers (BIC). Aber das kommt nach vielen<br />

Berechnungen immer wieder zum gleichen<br />

Ergebnis: Die Sache lohnt nicht. Passende<br />

Kräne und Lastwagen wären zu teuer.<br />

McLean aber gibt nicht auf. Fast 20 Jahre<br />

nach dem ersten Einfall verkauft er 1955<br />

seine Spedition, die inzwischen rund 1800<br />

Fahrzeuge umfasst. Vom Gewinn kauft er<br />

eine Reederei, die Pan Atlantic Steamship<br />

Company. Im April 1956 fährt der umgebaute<br />

Tanker „Ideal X“ von New York nach<br />

Texas. Dort hebt ein Kran 58 Metallkisten<br />

von Bord und setzt sie auf Lkw-Fuhrwerke.<br />

Ein Jahr später schickt McLean ein Schiff<br />

nach Miami, das 226 Container in einem<br />

eigens gefertigten Haltegerüst transportiert.<br />

Stolz verkündet er: „Ich habe keine Schiffe,<br />

ich habe seetüchtige Transporter.“ Andere<br />

US-Reeder steigen in das Geschäft ein. 1966<br />

wachen auch die Europäer auf, die die<br />

„Schachtelschiffe“ bislang verlacht haben.<br />

Auslöser dafür ist die Ankunft von McLeans<br />

Frachter „Fairland“ in Bremen. Das Schiff<br />

transportiert etwa die dreifache Ladung eines<br />

gleich großen Stückgutfrachters. McLean<br />

dirigiert höchstpersönlich das Abladen. Der<br />

Siegeszug des neuen Transportbehälters ist<br />

nicht mehr aufzuhalten. 1975 gibt es weltweit<br />

1,3 Millionen Container. Seit Ende der<br />

70er-Jahre gilt als Standard der 20-Fuß-Container.<br />

Die „Twenty-Foot Equivalent Unit“<br />

(TEU) ist sechs Meter lang, 2,44 Meter breit<br />

und 2,60 Meter hoch. 2010 wurden rund 25<br />

Millionen TEU auf Schiffen transportiert.<br />

Der Pionier McLean steigt aus dem Containertransport<br />

auf See bereits Ende der 60er-<br />

Jahre wieder aus, verkauft seine Reederei und<br />

gründet mehrere Speditionen, die er bis zu<br />

seinem Tod im Jahr 2001 leitet. Gleichzeitig<br />

erhalten die Experten des BIC, das dem Container<br />

einst keine Zukunftschancen gab,<br />

doch noch eine Existenzberechtigung. Seit<br />

40 Jahren vergeben sie weltweit die<br />

Registriernummern für Container. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (9); Logistik Hall of Fame


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

RÜHRGEBIET<br />

Ende der 20er eroberte ein Kakaopulver ganz Deutschland: Kaba. Weil es sich<br />

durch Rühren in Milch auflöste, ohne dass man sie au�ochen musste<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Es ist der 20. März 1929, der Tag, an<br />

dem die Zweigstellen der Kaffee-Handels-Aktien-Gesellschaft<br />

einen Brandbrief<br />

vom Chef bekommen. Die Aussichten<br />

seien schlecht, schreibt der Bremer Kaffeehändler<br />

Ludwig Roselius. Weil das Patent für<br />

den entkoffeinierten Kaffee Hag ausgelaufen<br />

sei, werde die Konkurrenz bald ähnliche Produkte<br />

auf den Markt bringen. Zudem stagniere<br />

bereits jetzt der Absatz des einzigen Artikels.<br />

Der Chef weiß auch, warum: „Kaffee<br />

Hag ist kein Artikel, mit dem man die Massen<br />

erreichen kann.“<br />

EIN ERSCHWINGLICHES PRODUKT für<br />

die ganze Familie muss her, findet Roselius.<br />

Die Idee dazu liegt schon in der Schublade.<br />

Zwei Jahre zuvor hat er auf brasilianischen<br />

Kaffeeplantagen ein Getränk kennengelernt,<br />

das die Kaffeepflücker aus Kakaobohnen zubereiten.<br />

Milder als Kaffee schmeckte der<br />

Trunk, aber kräftiger und herber als Schokolade.<br />

Nach seiner Rückkehr probierte Roselius<br />

kurz an der Rezeptur eines Kakaogetränks<br />

herum, nun, da er seine Firma gefährdet<br />

sieht, nimmt er die Versuche wieder auf.<br />

enable 09/2011<br />

Der Gesundheitsfaktor spielt für ihn eine<br />

wichtige Rolle, Traubenzucker und Mineralien<br />

sollen das Produkt nahrhaft machen.<br />

Um es von den Kakaopulvern abzuheben, die<br />

damals viele Schokoladenfirmen herstellen,<br />

lässt Roselius ein Instantmittel entwickeln:<br />

Der Kakao löst sich ohne Kochen in heißer<br />

Milch auf. Kaba nennt er sein Produkt – ein<br />

angeblich aus „Kakao“ plus „Banane“ zusammengesetzter<br />

Fantasiename als Anspielung<br />

auf die exotische Herkunft des Getränks.<br />

Noch im selben Jahr gründet Roselius die<br />

Plantagengesellschaft, sie soll Kaba zur eigenständigen<br />

Marke aufbauen. „Was trinkt der<br />

Plantagenbesitzer?“, fragen die ersten Werbeplakate.<br />

Über das Hag-Vertriebssystem verbreitet<br />

er das Getränk in ganz Deutschland.<br />

Neben den Außendienstlern beschäftigt<br />

Roselius sogenannte Propagandistinnen, die<br />

Kaba auf Messen und in Läden ausschenken.<br />

Selbst auf Bahnhöfen verteilen die Damen<br />

Flaschen mit Kaba als Probe.<br />

Die Bremer Kaufleute halten das für<br />

Quatsch. „Die Ware lobt sich selbst“, meinen<br />

sie. Doch Roselius lässt sich nicht beirren:<br />

Erst gute Reklame macht für ihn eine Marke<br />

aus. Die Packung färbt er sonnengelb ein, das<br />

Palmenlogo weckt Gedanken an warme<br />

Überseewelten. Als Blickfang nutzt er ein<br />

Motiv mit maximalem <strong>Wie</strong>dererkennungswert:<br />

Dorit Nitykowski, Miss Germany<br />

1930. Ein günstiges, gesundes Getränk, das<br />

aus einer verlockenden Ferne zu stammen<br />

scheint – die Verbraucher sind begeistert.<br />

Früh setzt Roselius auch auf Mütter mit<br />

Kindern, „Mutti, gib uns Kaba!“ steht in den<br />

Annoncen. Der Appell zahlt sich aus: 1934<br />

verkauft er eine Million Pfund Kakaopulver,<br />

im Jahr darauf legt der Absatz um 85 Prozent<br />

zu. Erst im Kriegsjahr 1943 stoppt die Produktion,<br />

weil es zu wenig Rohstoffe gibt.<br />

1949 ist Kaba noch vor Kaffee Hag wieder<br />

auf dem Markt. In den 60er-Jahren kommt<br />

eine in kalter Milch lösliche Variante dazu,<br />

später folgen die Sorten Erdbeer, Zitrone, Banane<br />

und Heidelbeer. Die Werbung knüpft<br />

an alte Wurzeln an: Kaba zieht eine gigantische<br />

Kampagne um Disney-Figuren auf, die<br />

Abenteuer in der Südsee erleben. Mitte der<br />

80er verkaufen die Bremer die Firma an den<br />

US-Konzern General Foods, heute Kraft<br />

Foods; die Rolle als Sympathieträger übernimmt<br />

ein Bär mit Tropenhut. Der Hut ist<br />

inzwischen verschwunden, der Slogan aber<br />

klingt immer noch wie damals: „Kaba, der<br />

Plantagentrank“. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Interfoto/TV-yesterday; ullstein bild; Susann Richter (4)


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

AUF DEN LEIM GEGANGEN<br />

Fliegen sind eine Plage. Für Theodor Kayser aber wurden sie zum Segen:<br />

1909 erfand er den Fliegenfänger. Der Beginn eines weltweiten Siegeszugs<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Ein herrlicher Sommer im Schwäbischen,<br />

�eodor Kayser wünscht sich nur eins:<br />

Eis und Schnee. Wenn es warm ist, sind<br />

die Menschen gesund, niemand kauft Kaysers<br />

„Brust-Caramellen“. Dabei wollte sich<br />

der Konditormeister mit den Hustenbonbons<br />

ein zweites Standbein aufbauen. Läuft<br />

aber nur im Herbst und Winter, grummelt<br />

Kayser und zieht frustriert ein Blech mit<br />

Kuchen aus dem Ofen, immerhin den wollen<br />

die Kunden zu jeder Jahreszeit.<br />

KAUM ABER steht das Blech zum Abkühlen<br />

im Regal, stürzt sich eine Schar Fliegen drauf.<br />

Kayser flucht. Überall hängen zwar mit Zuckersirup<br />

bestrichene Pappstreifen, doch in<br />

der warmen Backstube tropft das Lockmittel<br />

schneller herunter, als eine Fliege daran kleben<br />

bleiben kann. Völlig nutzlos, die Dinger,<br />

findet Kayser. Doch was bleibt ihm übrig,<br />

Gift sprühen ist als Bäcker natürlich tabu.<br />

Kurz darauf reist der Konditor zum Urlaub<br />

nach Böhmen. Dort entdeckt er eine<br />

andere Fliegenfalle: dünne Papierstreifen mit<br />

einer Leimschicht, die in einer Papphülse aufgerollt<br />

werden. Kayser ist erst begeistert – er-<br />

enable 08/2011<br />

kennt aber schnell ein großes Manko: Schon<br />

nach kurzer Zeit bleibt keine Fliege mehr an<br />

den Streifen hängen; die Klebschicht wird<br />

binnen wenigen Tagen hart und trocken.<br />

Mit einem lange haltbaren Leim, überlegt<br />

sich Kayser, wäre das Produkt perfekt: Geschäfte<br />

können das Produkt lagern, der Kunde<br />

kann es auf Vorrat kaufen. <strong>Wie</strong>der zu Hause<br />

in der Kleinstadt Waiblingen erzählt Kayser<br />

einem befreundeten Chemiker von seiner<br />

Entdeckung. Zusammen machen sie sich ans<br />

Werk, mischen Harze, Fette, Honig und Öle.<br />

Etliche Versuche und Fehlschläge später haben<br />

die beiden die richtige Mischung gefunden:<br />

ein Leim, der weder tropft noch trocknet<br />

und den die Fliegen trotzdem mögen.<br />

1909 bringt Kayser die ersten Exemplare<br />

des neuen Produkts als „Aeroplan“ auf den<br />

Markt. Gegen den Namen gehen jedoch die<br />

deutschen Flugzeugpioniere auf die Barrikaden,<br />

Kayser ändert die Marke in „Aeroxon“<br />

um. Zunächst stellen Heimarbeiterinnen die<br />

Fliegenfänger per Hand her, doch Kayser will<br />

sein Produkt über den Handel vertreiben, also<br />

muss er die Fertigung industrialisieren. Er<br />

meldet das Produkt zum Patent an, baut eine<br />

Fabrik und stellt mehr als 100 Arbeiter ein.<br />

1922 liegt die Jahresproduktion des Waiblin-<br />

ger Werks bereits bei knapp 20 Millionen<br />

Fliegenfängern.<br />

Vier Jahre später steigt Kayser ins Exportgeschäft<br />

ein. Der erste Auslandsmarkt ist die<br />

Schweiz, weitere europäische Länder folgen,<br />

bald gibt es den Fliegenfänger aus Schwaben<br />

auch in Brasilien, Argentinien, Kanada und<br />

den USA. Bis Ende der 20er-Jahre gründet<br />

Kayser ein Dutzend Auslandsfirmen, um den<br />

Bedarf an Fliegenfängern zu decken. 1930<br />

sind es weltweit 124 Millionen.<br />

Während des Zweiten Weltkriegs gehen<br />

viele Auslandsfirmen verloren, dann erobert<br />

das Insektengift DDT die Märkte. Kaysers<br />

Nachkommen bleiben jedoch bei umweltfreundlichen<br />

Methoden, 1966 kommt als<br />

zweites Produkt die Fliegenklatsche ins Programm.<br />

In den nächsten Jahrzehnten wächst<br />

das Sortiment von Silberfischchen- und Motten-Köderboxen<br />

über Ameisenstreifen und<br />

Lebensmittelmotten-Fallen bis zu Lavendelbeuteln<br />

und Zedernholzringen gegen Motten.<br />

Rund 40 Anti-Schädlings-Produkte bietet die<br />

Aeroxon Insect Control GmbH heute an und<br />

macht damit knapp 20 Mio. Euro Umsatz.<br />

Nur in den Kampf gegen Mücken ist sie nie<br />

gezogen: Sprühmittel, so die Begründung,<br />

passen nicht zur Firmenphilosophie. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (2); dpa Picture-Alliance/Zoonar/Alfred; Your Photo Today/Heinz Schmidbauer; FTD/Ulla Deventer


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

SCHAU MIR IN DIE AUGEN, KLEINES<br />

Der Kieler Konstrukteur Heinrich Wöhlk verträgt die dicken Sehschalen<br />

aus Glas nicht. So entwickelt er in den 40er-Jahren die Kontaktlinse<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Heinrich Wöhlk hat einen Traum. Er<br />

möchte so gut sehen können wie<br />

andere Menschen. Acht Dioptrien<br />

weitsichtig, das machte Wöhlk bereits als<br />

Kind zum Außenseiter, an Fußballspielen<br />

oder Schwimmen war mit zentimeterdicken<br />

Brillengläsern nicht zu denken. Als er 23 ist,<br />

hält es Wöhlk nicht länger aus. An der Kieler<br />

Augenklinik lässt er sich 1923 Augenschalen<br />

aus Glas einsetzen, hergestellt vom Optikunternehmen<br />

Carl Zeiss in Jena.<br />

DIE IDEE, eine Sehhilfe direkt am Auge statt<br />

vor dem Auge zu tragen, ist nicht neu. Schon<br />

Universalgenie Leonardo da Vinci hatte erste<br />

Konzepte für eine mit Wasser gefüllte Glaslinse<br />

skizziert. Der große <strong>Durchbruch</strong> gelang<br />

jedoch keinem. Noch in den 20er-Jahren bedeckten<br />

die sogenannten Skleralschalen das<br />

ganze Auge, das Glas ist geschliffen oder geblasen.<br />

Länger als eine halbe Stunde kann<br />

Wöhlk sie nicht tragen, zu sehr drücken die<br />

Schalen auf die Augen. Und sie verbessern<br />

das Sehvermögen kaum. Das Prinzip an sich<br />

aber fasziniert den jungen Maschinenkonstrukteur.<br />

Wöhlk tüftelt nächtelang, um<br />

enable 07/2011<br />

maßgeschneiderte Sehschalen herzustellen.<br />

Dafür braucht er den Abdruck seiner Augen.<br />

Er legt sich hauchdünne Wachsplättchen auf<br />

die Augäpfel, beschleunigt mit einer Wärmelampe<br />

den Anpasseffekt, dann taucht er den<br />

Kopf in Eiswasser. Die Wachsplättchen werden<br />

sofort hart – und Wöhlk fischt die Abdrücke<br />

seiner Augenform aus dem Wasser.<br />

In der Firma, in der er angestellt ist, arbeitet<br />

er seit Kurzem mit einem neuen, glasklaren<br />

Kunststoff: Plexiglas. Wöhlk experimentiert<br />

mit Reststücken davon, und nach<br />

zig Versuchen gelingt es ihm 1940, eine<br />

Augenschale aus Plexiglas herzustellen. Weil<br />

die optische Linse fehlt, kann er zwar nichts<br />

sehen, doch die Schalen lassen sich problemlos<br />

stundenlang tragen.<br />

Nach dem Krieg nimmt Wöhlk die Produktion<br />

wieder auf. Er meldet ein Gewerbe<br />

zur „Herstellung unsichtbarer Haftgläser“ an.<br />

Doch die meisten Augenschalen kommen<br />

wieder zurück, weil die Nutzer sie nicht vertragen.<br />

Auch Wöhlks Idee, die Schalenrohlinge<br />

mit einer auswechselbaren Innenlinse<br />

zu versehen, bringt nicht den erhofften Erfolg.<br />

Eines Tages aber setzt er sich den optischen<br />

Kern der Sehschale auf die Pupille<br />

und ist verblüfft, dass er die Linse den ganzen<br />

Tag über tragen und gut damit sehen kann.<br />

Die ersten Maschinen für die Contactlinse,<br />

wie er seine Sehhilfe nennt, baut Wöhlk<br />

selbst. 1949 eröffnet er in Kiel ein Fachgeschäft,<br />

kurz darauf beginnt er, sein Produkt<br />

an Augenoptiker in ganz Deutschland zu liefern.<br />

Später baut der Kieler Konstrukteur die<br />

Fertigung der harten Kontaktlinsen weiter<br />

aus, 1971 bringt er zusätzlich eine weiche<br />

Linse auf den Markt. Denn die Konkurrenz<br />

schläft nicht.<br />

DER US-OPTIKKONZERN Bausch & Lomb<br />

hatte eine weiche Kontaktlinse auf den Markt<br />

gebracht, basierend auf der Erfindung des<br />

Prager Chemikers Otto Wichterle, der Kontaktlinsen<br />

aus Hydrogel entwickelt hatte.<br />

1965 verkaufte der tschechoslowakische Staat<br />

die Erfindung der ersten weichen Kontaktlinse<br />

an den US-Konzern Bausch & Lomb.<br />

1990 kamen die einstigen Konkurrenten<br />

zunächst zusammen. Wöhlks Unternehmen<br />

war zwischenzeitlich von einer Tochter von<br />

Carl Zeiss Jena aufgekauft worden – die sie<br />

später an den Bausch & Lomb-Konzern verkaufte.<br />

Seit 2005 ist Wöhlk wieder ein eigenständiges<br />

Unternehmen, das seine Kontaktlinsen<br />

in 60 Ländern verkauft. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Getty Images; Susann Richter (5)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

BLUTIGER EINSATZ AM ZUCKERHUT<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts muss der Zucker zum Kaffee mit grobem Werkzeug<br />

zerkleinert werden. Deshalb erfindet ein Fabrikdirektor den süßen Würfel<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Der Kaffee ist fertig, die Dame des<br />

Hauses holt Hammer und Hacke.<br />

Mit ganzer Kraft schlägt Juliana Rad<br />

den wuchtigen Zuckerkegel in Stücke. Dann<br />

zieht sie Zuckerbrecher und -zangen aus der<br />

Schublade, nimmt einen der Brocken und<br />

macht sich an die Feinarbeit. Plötzlich schreit<br />

sie auf, Blut spritzt, die Zuckerstückchen färben<br />

sich rot. Nach einer Schreck sekunde holt<br />

die Hausfrau eine Mullbinde und umwickelt<br />

den verletzten Finger. Dann füllt sie die<br />

weiß-roten Zuckerstücke in ein Silberschälchen,<br />

stellt es auf den Servierwagen und<br />

rauscht damit in den Salon.<br />

IMMER WIEDER hackt sich eines der<br />

Dienstmädchen der Industriellenfamilie in<br />

Datschitz, in der damaligen Donaumonarchie<br />

Österreich-Ungarn gelegen, oder eine<br />

der Töchter beim Zuckerschneiden in den<br />

Finger – und heute ist es sogar die Hausherrin<br />

selbst. Also soll Jakob Christoph Rad, meint<br />

seine Gattin, sich um eine Alternative zu dieser<br />

blut gefährlichen Schinderei kümmern.<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts kommt weißer<br />

Zucker in Hutform auf den Markt: ein Kegel<br />

enable 06/2011<br />

aus raffiniertem Rohrzucker, steinhart und<br />

mehr als einen Meter hoch. Mit Werkzeugen<br />

müssen die monströsen Zuckerhüte gebrauchsfertig<br />

zerkleinern werden, die Verletzungsgefahr<br />

ist hoch.<br />

Jacob Christoph Rad rührt sich drei Löffel<br />

rot-weißen Zucker in die Tasse und grübelt.<br />

Er ist Direktor der Zuckerraffinerie in<br />

Datschitz, damals eine der größten Zuckerfabriken<br />

im Land. Über das unhandliche<br />

Format seiner Produkte beschweren sich seine<br />

Frau und ihre Freundinnen schon lange.<br />

Als sich die Gäste verabschiedet haben,<br />

zieht sich der Fabrikdirektor in die Küche zurück,<br />

fortan verbringt er dort jeden Tag einige<br />

Stunden. Nach wenigen Wochen hat Rad<br />

eine Lösung gefunden: Aus Blechstreifen bastelt<br />

er eine in kleine Quadrate unterteilte<br />

Schale, dann raspelt er den Zuckerhut in feine<br />

Brösel, feuchtet sie mit Wasser an und<br />

füllt die Masse in die Form. Als der Zuckerbrei<br />

trocken ist, löst er die Würfel aus der<br />

Schale, in eine Pappschachtel gepackt schenkt<br />

er die Prototypen seiner Frau.<br />

Die ist hellauf begeistert, und so lässt der<br />

Direktor aus dem einfachen Grundmodell<br />

eine Würfelpresse aus Messing entwickeln.<br />

Kurz darauf produzieren die Arbeiter in sei-<br />

ner Fabrik mit sechs der neuen Maschinen<br />

bereits 200 Zentner Würfelzucker pro Tag.<br />

Im Januar 1843 erhält Rad das kaiserliche<br />

Patent zur Herstellung von Zucker in Würfelform.<br />

Die <strong>Wie</strong>ner Zeitung berichtet über<br />

eine neue Art Zucker, die „vorzüglich den<br />

ökonomischen Damen gefällt“: Ein zuverlässiger<br />

Maßstab für die gewünschte Süße von<br />

Speisen und Getränken, der Einkauf ist kalkulierbar,<br />

beim Zerkleinern entsteht kein<br />

Abfall. Der Handel führt das neue Produkt<br />

als „�ee-Zucker“ oder „<strong>Wie</strong>ner Würfelzucker“,<br />

schnell verbreitet sich Rads Erfindung<br />

auch in Preußen und Sachsen, in der Schweiz<br />

und in England.<br />

Neben importiertem Rohrzucker verarbeitet<br />

Rads Fabrik auch heimischen Rübenzucker.<br />

Rad wechselt später als Sekretär an<br />

die Handelskammer nach <strong>Wie</strong>n und kann<br />

sich nicht mehr um die Fabrik kümmern.<br />

1852 wird die Würfelzuckerproduktion in<br />

Datschitz, heute das tschechische Dačice,<br />

eingestellt. Auch Tüftler in Frankreich und<br />

Belgien hatten ähnliche Maschinen zur Zuckerverarbeitung<br />

gebaut. Mittlerweile läuft<br />

die Produktion in Datschitz wieder. Der dort<br />

hergestellte Würfelzucker heißt so wie die<br />

Auslöserin seiner Erfindung: Juliana. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Getty Images/Susann Richter (5)


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

BÄRENHUNGER AUF GUMMIBONBONS<br />

Hans Riegel experimentiert mit Akazienbaumharz – und entdeckt so die<br />

Erfolgsformel für das Fruchtgummi Haribo, das fortan nicht nur Kinder lieben<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Ein Sack Zucker, eine Marmorplatte, ein<br />

gemauerter Herd, ein Kupferkessel, eine<br />

Walze. Als Hans Riegel sich selbstständig<br />

macht, fällt das Anfangsinventar<br />

übersichtlich aus. In einer kleinen Hinterhof-<br />

Waschküche in Bonn-Kessenich startet der<br />

Bonbonkocher Ende 1920 mit der Produktion.<br />

Im Handelsregister lässt er den Betrieb<br />

als Haribo eintragen, ein einprägsamer Mix<br />

aus Inhabername plus Standort.<br />

SÜSS SIND HARIBO-BONBONS damals,<br />

fruchtig – und hart. Trotz der Konkurrenz<br />

am Ort verkauft Riegel gut, es gefällt ihm,<br />

endlich sein eigener Chef zu sein. Ganz zufrieden<br />

ist er mit dem Start in die Selbstständigkeit<br />

jedoch nicht. Manchmal langweilt<br />

ihn die Arbeit sogar. Es muss was Neues her.<br />

Riegel überlegt, wie er den damals sehr beliebten,<br />

weichen Kaugummi mit der fruchtigen<br />

Süße der Hartbonbons verbinden kann.<br />

Das wäre auch was für Kinder, findet der<br />

Bonbonmacher, für die die Branche bisher<br />

wenig bietet. So kauft Riegel zum ersten Mal<br />

Akazienbaumharz ein, das Gummiarabikum.<br />

enable 05/2011<br />

Dann mischt und probiert er tagelang in seiner<br />

Bonbonküche. Das Ergebnis sind Fruchtgummis<br />

genau nach seinem Geschmack: süß<br />

und weich. Doch um für Kinder attraktiv zu<br />

sein, überlegt Riegel, braucht das neue Produkt<br />

auch eine ansprechende Form. Er erinnert<br />

sich gut daran, wie sehr ihn als Kind<br />

dressierte Bären faszinierten, die auf Jahrmärk<br />

ten tanzten. Also bastelt Riegel einen<br />

Gießstempel in Bärenform, den er in einen<br />

mit Stärkepuder gefüllten Kasten drückt. Die<br />

Negativformen gießt er mit flüssiger Gummibonbonmasse<br />

aus. Am nächsten Morgen<br />

überzieht Riegel die Bonbons mit Bienenwachs,<br />

damit sie nicht aneinanderkleben und<br />

schön glänzen. Die essbaren Bärchen messen<br />

sieben Zentimeter, zwei Stück kosten in den<br />

20er-Jahren einen Pfennig.<br />

Zunächst fährt Riegels Frau die Tagesproduktion<br />

mit dem Fahrrad zum Bonner<br />

Markt. Doch schnell sind die Bärchen so beliebt,<br />

dass er einen Lieferwagen braucht. Drei<br />

Jahre nach der Erfindung des Tanzbären gelingt<br />

Riegel der nächste große Wurf: Er stellt<br />

Süßwaren aus Lakritz her. Zuerst in Stangenform,<br />

später kommt die Schnecke dazu, auch<br />

zum Tanzbär gesellt sich ein schwarzer<br />

Lakritzbruder. Dann geht es Schlag auf<br />

Schlag: 1930 beschäftigt Haribo bereits 160<br />

Mitarbeiter, Handelsvertreter vertreiben die<br />

Produkte in ganz Deutschland, 1935 entsteht<br />

in Dänemark das erste Auslandswerk. Mit<br />

dem simplen Satz „Haribo macht Kinder<br />

froh“ schreibt das Unternehmen Werbegeschichte.<br />

Kurz darauf folgt die zweite Generation<br />

des Gummibärchens: Riegel bringt<br />

eine kleinere und rundlichere Bärenversion<br />

auf den Markt.<br />

Jahrzehntelang verkauft Haribo die Bärchen<br />

in Dekodosen aus Blech oder als lose<br />

Ware in Pappkartons. Doch als die Supermärkte<br />

Europa zu erobern beginnen, steckt<br />

Haribo seine Gummibären in goldfarbene<br />

Zellophanbeutel. <strong>Wie</strong>der die richtige Idee zur<br />

rechten Zeit.<br />

DER ABSATZ BOOMT, und Riegels Nachfolgern<br />

wird klar, dass die berühmteste Erfindung<br />

des Unternehmens endlich einen Markenschutz<br />

braucht: 1967 trägt das Deutsche<br />

Patentamt die Goldbären als Warenzeichen<br />

ein. Haribo erweitert derweil die Zielgruppe<br />

und den berühmten Slogan mit dem Zusatz:<br />

„und Erwachsene ebenso“. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (7); action press/Martina Seydel


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

DES KAISERS KONSERVE<br />

Um seine Soldaten mit Nahrung zu versorgen, schrieb Napoleon einen<br />

Wettbewerb aus. Ein Koch kam auf die Idee, das Essen luftdicht zu verpacken<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Der Kaiser tobt. Schon wieder haben<br />

ihm seine Generäle herbe Verluste<br />

gemeldet. Mehr als über die Zahl der<br />

Toten selbst regt sich Napoleon Bonaparte jedoch<br />

über die Todesursachen auf. Denn seine<br />

Männer fallen in den Eroberungskriegen<br />

nicht mehr nur in Gefechten mit feindlichen<br />

Armeen. Immer mehr französische Soldaten<br />

sterben an Hunger.<br />

Lebensmittel haltbar zu machen ist Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts ein großes, ungelöstes<br />

Problem. Fleisch wird gepökelt, geräuchert<br />

oder in Fett gepackt, Gemüse mit Essig<br />

oder Salz eingemacht, Obst in Alkohol gelegt,<br />

gedörrt oder mit Zucker zu Marmelade<br />

verkocht. Für den Hausgebrauch existieren<br />

genug Möglichkeiten, doch warum gibt es<br />

keine haltbare Verpflegung für Soldaten?<br />

Schließlich hängt der Sieg auch vom Essen<br />

ab: „Une armée marche à son estomac“, findet<br />

Napoleon, ein Heer marschiert sozusagen<br />

mit dem Magen.<br />

EIN WETTBEWERB unter Frankreichs Wissenschaftlern<br />

soll helfen, das Problem zu<br />

lösen. Die beste Idee belohnt Bonaparte mit<br />

enable 04/2011<br />

12 000 Francs. Doch es ist kein Wissenschaftler,<br />

der den <strong>Durchbruch</strong> schafft. „Für<br />

die Kunst, alle animalischen und vegetabilischen<br />

Substanzen in voller Frische zu erhalten“,<br />

erhält 1810 der Koch und Konditor<br />

Nicolas Appert die Prämie. Apperts Technik<br />

ist simpel: Fleisch oder Gemüse vorkochen,<br />

in ein Glasgefäß füllen und fest verkorken,<br />

die Gläser längere Zeit in kochendem Wasser<br />

erhitzen. Beim Sirupkochen war Appert auf<br />

den Gedanken gekommen, dass Hitze die<br />

Basis des Haltbarmachens ist.<br />

<strong>Wie</strong> wichtig das luftdichte Verschließen<br />

der Lebensmittel ist, erkennt er zufällig. Geduldig<br />

erforscht er die nötige Einkochzeit für<br />

6000 einzelne Lebensmittel, und weil er auch<br />

Weinhändler ist, füllt er das zerkleinerte<br />

Essen anfangs in Champagnerflaschen. Mit<br />

dem Preisgeld baut Appert eine Konservierungsfabrik.<br />

Die französische Marine ist<br />

einer seiner besten Kunden, bemängelt aber<br />

die hohe Quote an Glasbruch auf See.<br />

Derweil erhält der nach England ausgewanderte<br />

Franzose Peter Durand vom britischen<br />

König George III. ein Patent auf eine<br />

ähnliche Idee. Es sei das Konzept eines<br />

Freundes im Ausland, betont Durand in<br />

seiner Patentschrift, und noch sehr verbesse-<br />

rungsbedürftig. Den Namen des Ideengebers<br />

lässt er jedoch im Dunkeln. Auch Durand<br />

macht Lebensmittel durch Erhitzen im Wasserbad<br />

haltbar. Allerdings benutzt der Kaufmann<br />

dafür keine Glasbehälter wie Appert,<br />

sondern Eisenkanister. Diese ersten Konservendosen<br />

nimmt die britische Marine mit an<br />

Bord. Als die Schiffe nach einem halben Jahr<br />

zurück in die Heimat kommen, sind die Lebensmittel<br />

„so frisch, als ob sie am Tag zuvor<br />

abgefüllt wurden“, schreibt Durand.<br />

TROTZ DES WIRTSCHAFTLICHEN Potenzials<br />

verkauft er sein Patent an zwei Ingenieure.<br />

Sie verfeinern das Konzept und überziehen<br />

die Boxen mit rostfreiem Blech. 1813<br />

startet die Fabrikproduktion der Konservendose.<br />

Aber die Essensrationen der frühen<br />

Fast-Food-Kultur sind problematisch. Denn<br />

die damals mit Blei verlöteten Dosen lassen<br />

sich oft nur mit dem Meißel aufbrechen. Der<br />

Verzehr der Speisen bringt oft den Tod: Dutzende<br />

Soldaten sterben an schleichender Bleivergiftung.<br />

Den Siegeszug der Konservendose<br />

kann das nicht aufhalten. 1851 öffnen<br />

die Veranstalter der Weltausstellung in Paris<br />

mit viel Tamtam fast 40 Jahre alte Konserven.<br />

Ihr Inhalt ist immer noch essbar. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Getty Images/The Bridgeman Art Library/Antoine Jean Gros; Susann Richter (7)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

ROHMATERIAL FÜR DIE FANTASIE<br />

Der dänische Tischler Ole Kristiansen erfand den Plastikbaustein mit Noppen.<br />

Doch erst sein Sohn eroberte mit einem kleinen Kniff die Kinderzimmer<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Der Alte wieder mit seinen neumodischen<br />

Ideen. Die Söhne von Ole<br />

Kirk Kristiansen verstehen die Welt<br />

nicht mehr. Jahrzehntelang konnte sich die<br />

Familie mit Tischlerarbeiten kaum über Wasser<br />

halten. Jetzt, wo sie mit Holzspielzeug<br />

endlich ein sicheres Einkommen hat, will der<br />

Vater plötzlich auf Plastik umstellen. Viel zu<br />

riskant, finden die vier jungen Männer, wir<br />

müssen bei Holz bleiben, sagen sie.<br />

DOCH VATER OLE lässt sich nicht bremsen.<br />

Schließlich ist der bescheidene Erfolg ebenfalls<br />

aus einer mutigen Entscheidung hervorgegangen.<br />

Denn als die Weltwirtschaftskrise<br />

Anfang der 30er-Jahre auch die ohnehin<br />

arme dänische Region Jütland trifft und Oles<br />

Tischlerwerkstatt vor dem Aus steht, sattelt<br />

er auf Kinderspielzeug um. Sein Kalkül: Je<br />

trostloser die Zeit, desto mehr möchten die<br />

Eltern wenigstens die Kleinen aufheitern.<br />

Fortan stellt der Tischler Möbel für Puppenstuben,<br />

Jo-Jos und Kreisel her. Am Wochenende<br />

zieht er mit seinem Sortiment<br />

durch die Dörfer, doch das Geschäft läuft<br />

schleppend, immer wieder muss er seine<br />

enable 03/2011<br />

Geschwister anpumpen. Kannst du nicht<br />

etwas Sinnvolles machen, fragen sie ihn. Aber<br />

Kristiansen hält durch, und allmählich<br />

wächst die Zahl der Spielzeugkäufer.<br />

Der Umstieg war damals gewagt, sagt er<br />

nun seinen Söhnen, aber das Risiko habe sich<br />

doch gelohnt. Dann kauft er 1947 als erster<br />

dänischer Spielwarenhersteller eine Kunststoffspritzgussmaschine,<br />

das Geld für die<br />

Großinvestition muss er sich leihen.<br />

Damit kann die Firma in Billund kleine<br />

Kunststoffbausteine herstellen, die an der<br />

Oberfläche Noppen tragen. Damit sollen<br />

sich die Klötzchen leichter miteinander verbinden<br />

lassen. Aus den Steinen, so Kristiansens<br />

Idee, sollen die Kinder <strong>alles</strong> Mögliche<br />

bauen können. Sein neues Produkt sieht er<br />

nur als Rohmaterial, das erst durch die Kreativität<br />

und die Fantasie der Kinder zum richtigen<br />

Spielzeug wird.<br />

Doch die damit gebauten Häuser und<br />

Burgen fallen rasch wieder in sich zusammen.<br />

Es funktioniert nicht, die Kinder sind frus triert.<br />

Kristiansen lässt Rillen in die Seiten fräsen,<br />

aber stabil sind die Bauten damit immer<br />

noch nicht. Anfang der 50er-Jahre übernimmt<br />

dann sein Sohn Godtfred das Geschäft,<br />

ein kreativer Kopf. Sein Vater hatte<br />

ihn schon als Ideengeber in die Firma geholt,<br />

als Godtfred erst 14 Jahre alt war.<br />

Jetzt ist er Anfang 30 und hat nur ein Ziel:<br />

Er will ein Spielzeug schaffen, das unzählige<br />

Spielmöglichkeiten bietet. Auf einer Fähre<br />

lernt Godtfred den Händler eines Kopenhagener<br />

Warenhauses kennen. Der beklagt<br />

sich darüber, dass dem Spielzeugmarkt genau<br />

das fehlt: ein Spielzeug mit Systemcharakter.<br />

Godtfred fühlt sich bestätigt, denn das Produkt<br />

dazu gibt es ja bereits in seinem Unternehmen:<br />

den Baustein mit den Noppen.<br />

DIE KLEMMKRAFT DER STEINE müsse<br />

jedoch verbessert werden, sagt er zu seinen<br />

Mitarbeitern. Und plötzlich, nach vielen Versuchen,<br />

ist die naheliegende Lösung gefunden:<br />

Die Unterseiten der Steinchen aus Plastik<br />

werden mit schmalen Röhren versehen,<br />

die genau zu den Noppen passen. Damit halten<br />

die Steine gut zusammen.<br />

Im Jahr 1958 meldet Godtfred das Sys tem<br />

seiner Firma zum Patent an. Der Name Lego<br />

entstand aus den ersten Buchstaben der dänischen<br />

Wörter „leg godt“, das heißt „spiel<br />

gut“. Dass „lego“ außerdem die lateinische<br />

Form für „ich lege zusammen“ ist, war den<br />

Lego-Erfindern gar nicht bewusst. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (6)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

HÄLT KALT, HÄLT HEISS<br />

Der Glastechniker Reinhold Burger sollte ein Gefäß entwickeln, in dem sich<br />

flüssige Luft au�ewahren lässt. Und erfand so nebenbei die Thermoskanne<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Reinhold Burger soll einen Behälter<br />

zum Aufbewahren verflüssigter Luft<br />

entwickeln. Auftraggeber ist der Eismaschinenfabrikant<br />

Carl von Linde. Er hat<br />

eine neue Methode ausgetüftelt, bei der sich<br />

durch das Verflüssigen von Luft Kälte erzeugen<br />

lässt. Der Fabrikant hält Burger für den<br />

perfekten Partner, denn der Glastechniker<br />

hat bereits zusammen mit Medizinern neuartige<br />

Laborapparate konstruiert, für Wilhelm<br />

Conrad Röntgen hat er die ersten Röntgenröhren<br />

gebaut.<br />

Seine Erfolge bezieht Burger aus zwei<br />

Quellen: In seiner Arbeit kombiniert er traditionelles<br />

Handwerkswissen mit dem Stand<br />

der Forschung. Nach der Lehre lässt sich der<br />

Sohn einer märkischen Glasmacherfamilie<br />

weiter in den USA ausbilden, nach der Rückkehr<br />

gründet er eine Firma in Berlin. Burger<br />

ist ein Arbeitstier, von morgens um acht bis<br />

abends um acht ist er in der Werkstatt, Ruhe<br />

gönnt er sich nur sonntags.<br />

Burger beschäftigt sich schon seit Längerem<br />

mit Doppelwandgefäßen aus Glas.<br />

Der Chemnitzer Physiker Adolf Ferdinand<br />

Weinhold hatte das Isolierprinzip der Behäl-<br />

enable 02/2011<br />

ter 1881 beschrieben, der Engländer James<br />

Dewar stellte 1893 eine ähnliche Konstruktion<br />

vor, bei der eine Innenverkleidung aus<br />

Silberfolie die Temperatur des Inhalts konstant<br />

hält. Dewar-Gefäß heißen die Isolierbehälter<br />

in England nach ihrem Erfinder. Ein<br />

Patent hat Dewar darauf jedoch nicht angemeldet,<br />

seine Erfindung bleibt ein Prototyp.<br />

Burger gelingt es, das Gefäß marktreif zu<br />

machen. In vielen Versuchen verbessert er das<br />

Vakuum und die Silberschicht des Behälters.<br />

Beim Test der Isolierfähigkeit gibt es aber ein<br />

Problem: Woher soll er die flüssige Luft nehmen,<br />

die das Gefäß später aufnehmen wird?<br />

„WAS SOLL’S“, sagt sich der Glastechniker.<br />

Ob heiß oder kalt, das Prinzip ist ohnehin<br />

das gleiche. Also füllt er heißes Wasser in die<br />

kugelförmigen Behälter. Und während er den<br />

nächsten Kessel auf den Herd stellt, kommt<br />

ihm auch schon ein neuer Gedanke. Burger<br />

holt Kannen und Töpfe, gießt Kaffee und Tee<br />

auf, macht Milch warm. Damit füllt er die<br />

Gefäße und verschließt sie mit einem Korken.<br />

Als er die Getränke 24 Stunden später in<br />

Tassen gießt, sind sie „so gebrauchsfertig, als<br />

wären sie eben erst hergerichtet worden“, wie<br />

Burger später notiert.<br />

Um das für die Kühlindustrie gedachte<br />

Gefäß alltagstauglich zu machen, gibt Burger<br />

ihm eine Flaschenform, einen handlichen<br />

Verschluss und einen aufsteckbaren Trinkbecher.<br />

Am 1. Oktober 1903 meldet er sein<br />

„Gefäß mit doppelten, einen luftleeren Hohlraum<br />

einschließenden Wandungen“ zum Patent<br />

an. Abgeleitet vom griechischen Wort<br />

„thermos“ für Wärme lässt sich Burger den<br />

Namen „�ermosflasche“ schützen. Der britische<br />

Forscher Dewar versucht vergeblich,<br />

ihn wegen Ideenraubs zu verklagen. Auf<br />

Weltausstellungen in den USA und in Italien<br />

räumt die Isolierflasche Goldmedaillen ab,<br />

1906 gründet Burger die Berliner �ermos-<br />

Gesellschaft mbH.<br />

„Hält kalt, hält heiß – ohne Feuer, ohne<br />

Eis“, bewirbt die Fabrik ihr einziges Produkt.<br />

Doch Burger versteht sich zu wenig als Kaufmann,<br />

um den Erfolg seiner Erfindung vorantreiben<br />

zu können. Schon nach drei Jahren<br />

verkauft er das Unternehmen inklusive<br />

Patent und Warenzeichen nach Berlin-Charlottenburg.<br />

Gleichzeitig überträgt Burger die<br />

Auslandsrechte an �ermos-Fabriken in<br />

Amerika. Von dort aus erobert seine Erfindung<br />

die Welt. Allerdings unter dem Namen<br />

seines Konkurrenten, als „Dewar flask“. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: TV-Yesterday/Wolfgang Maria Weber; Corbis/Horace Bristol; Susann Richter (4)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

IN ALLER STILLE<br />

Straßenlärm und laute Maschinen plagen die Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts.<br />

So erfindet ein Apotheker das Rezept für absolute Ruhe: Ohropax<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Autos rattern übers Kopfsteinpflaster,<br />

Bremsen quietschen, Straßenbahnen<br />

bimmeln sich den Weg frei, am Bahnhof<br />

fauchen Dampflokomotiven. Aus den<br />

Hinterhöfen dröhnen, brummen und surren<br />

Maschinen. Wenn Maximilian Negwer vor<br />

die Tür geht, hält er sich die Ohren zu und<br />

denkt an Schlesien, seine Heimat. Weite<br />

<strong>Wie</strong>sen und Wälder, abgelegene Dörfer. Vor<br />

allem aber: Ruhe, himmlische Ruhe.<br />

UNERTRÄGLICHER LÄRM plagt Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts viele Stadtbewohner.<br />

Mit der Industrialisierung entstehen immer<br />

mehr Fabriken, der Verkehr verstopft die<br />

Straßen. Vielen Leuten wie dem Berliner<br />

Apotheker Negwer geht der Lärm auf die<br />

Nerven. Um die Geräusche des Alltags abzuwehren,<br />

stecken sich manche Pfropfen aus<br />

Baumwollwatte in die Ohren, andere nehmen<br />

Holzkugeln oder Hartgummi.<br />

Negwer hat sich gerade mit einer Apotheke<br />

selbstständig gemacht, er verkauft Eigenkreationen<br />

wie Fleckenwasser und Hustenbonbons.<br />

Das Geschäft läuft ganz gut, aber<br />

Negwer will mehr, er will umsatzstarke Prä-<br />

enable 01/2011<br />

parate herstellen, und das im großen Stil.<br />

Denn alle bisherigen Methoden sind wirkungslos.<br />

Eine Marktlücke also.<br />

Negwer grübelt und grübelt, doch er hat<br />

keine Idee für ein gutes Produkt. Auch mit<br />

seinen Freunden redet er über das �ema, einer<br />

Clique junger Intellektueller. Irgendwann<br />

diskutieren sie über griechische Mythologie,<br />

über die Werke von Homer und über die<br />

Odyssee. Negwer horcht auf: Das ist es.<br />

Odysseus hat sich und seinen Mannen<br />

damals Bienenwachs in die Ohren gesteckt,<br />

damit sie den betörenden Gesang der Sirenen<br />

nicht hören mussten.<br />

Also rollt Negwer Kugeln aus Bienenwachs<br />

und steckt sie zur Probe ins Ohr. Doch<br />

das Vorbild aus der Antike zerfällt schon<br />

nach kurzer Zeit. Negwer beginnt zu experimentieren,<br />

mischt pflanzliche Fette und Öle,<br />

probiert tierische Talge aus. Doch auch das<br />

funktioniert nicht, es mangelt an Stabilität.<br />

Baumwollwatte könnte dieses Problem lösen,<br />

und so tränkt Negwer einen Wattebausch mit<br />

einer hautfreundlichen Mischung aus Vaseline<br />

und Paraffin.<br />

Nach einem Tag auf den Straßen Berlins<br />

ist ihm klar: Das ist die Lösung für Ruhe im<br />

Leben. „Ohropax“ nennt Negwer seine Erfin-<br />

dung, der deutsch-lateinische Name sagt <strong>alles</strong><br />

aus, was das neue Produkt erreichen soll:<br />

Frieden für die Ohren schaffen. Der Erfinder<br />

gründet eine „Fabrik pharmazeutischer und<br />

kosmetischer Spezialitäten“, im Herbst 1908<br />

liegen die ersten Ohropax-Stöpsel in den<br />

Sanitätsgeschäften und Kaufhäusern Berlins.<br />

Eine Dose mit sechs Wachskugeln kostet eine<br />

Mark, viele Städter sind begeistert.<br />

Auch die landesweite Antilärmkampagne<br />

des Philosophen �eodor Lessing, Verfasser<br />

einer „Kampfschrift gegen die Geräusche unseres<br />

Lebens“, kurbelt die Verkaufszahlen an.<br />

Den Erfolg seiner Marke verdankt Negwer<br />

aber nicht allein dem Lärm der Metropole.<br />

Der endgültige <strong>Durchbruch</strong> kommt mit dem<br />

Krieg: 1917 bestellt das deutsche Militär<br />

massenweise Ohropax in einer eigens entworfenen<br />

runden Armeedose. Von da an geht es<br />

für Negwers Firma steil bergauf.<br />

Noch heute sind die klassischen Wachskugeln<br />

das Hauptprodukt des Unternehmens.<br />

Mehr als 30 Millionen der kleinen<br />

Ruhestifter verlassen das Werk pro Jahr, gefertigt<br />

aus Wachs und Watte oder aus buntem<br />

Schaumstoff. Letztere werden von einer weiteren<br />

Kundengruppe geschätzt: Klubgänger<br />

schützen sich so vor allzu harten Beats. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Getty Images/Tony Cordoza (2); Corbis/H. Armstrong Roberts; AP Photo/Ohropax; Susann Richter (2)


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

FRUSTKONZEPT<br />

Hunderte Löcher bohren, mühsam per Hand? Das muss auch anders gehen,<br />

dachten sich zwei Mechaniker und bauten die erste elektrische Bohrmaschine<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Keine drei Stunden ist die neue Arbeitswoche<br />

alt, da haben Friedrich Heep<br />

und Jakob Wahl die Nase bereits<br />

gestrichen voll. Hunderte Antriebsmotoren<br />

müssen schnellstmöglich fertig werden, lautet<br />

die Anweisung, sonst gehen künftige Aufträge<br />

an die Konkurrenz. Im Frühjahr 1895<br />

liegen in der Werkstatt des Stuttgarter Geräteherstellers<br />

Fein die Nerven blank.<br />

Frustriert machen sich die beiden jungen<br />

Mechaniker wieder ans Werk. Denn in jeden<br />

einzelnen dieser Motoren müssen sie mit<br />

einem Handbohrer viele kleine Löcher bohren,<br />

das ist äußerst mühselig und dauert<br />

scheinbar ewig.<br />

Nicht weit von ihrem Arbeitsplatz stehen<br />

einige wuchtige Kisten mit ungewöhnlich<br />

kleinen Elektromotoren, vor ein paar Tagen<br />

erst ist die Ware aus England eingetroffen.<br />

Der Chef Wilhelm Emil Fein hat einige<br />

seiner Lehrjahre in London verbracht und<br />

bestellt dort hin und wieder Technik, die es<br />

in Deutschland so noch nicht gibt. Sehr<br />

handliche Geräte, denken sich Heep und<br />

Wahl, als sie sich die Motoren in der Mittagspause<br />

einmal gründlich anschauen.<br />

enable 12/2010<br />

Dann haben sie eine Idee – und setzen sie<br />

auch sofort um: Die Mechaniker nehmen einen<br />

der Minimotoren und verbinden ihn mit<br />

einem Bohrfutter. Dann bohren sie ein Loch<br />

nach dem anderen, sauber und schnell.<br />

Schaut her, rufen sie ihren Kollegen zu, mit<br />

einem Elektromotor geht es viel schneller<br />

und bequemer als mit dem Handbohrer.<br />

EMIL FEIN, der älteste Sohn des Chefs, ist<br />

hellauf begeistert. So können wir die Elektrotechnik<br />

in einem ganz neuen Bereich einsetzen,<br />

schwärmt er seinem Vater vor. Diese<br />

Kombination müssen wir auch bauen. Der<br />

Senior zögert, aber nur kurz. Denn Wilhelm<br />

Emil Fein ist ein Erfindergeist. Während seiner<br />

Lehre hat er einen Morse-Telegrafenapparat<br />

gebaut, während seiner London-<br />

Jahre eine automatische Kaffeemaschine<br />

konstruiert, später das erste tragbare Telefon<br />

und den ersten elektrischen Feuermelder entworfen,<br />

eine Vielzahl weiterer Geräte folgte.<br />

Maschinen und Werkzeuge mit einem<br />

Einzelantrieb auszustatten, auch darüber hat<br />

der Senior bereits nachgedacht. Der große<br />

<strong>Durchbruch</strong> war ihm mit seinen ersten Konstruktionen<br />

jedoch nie gelungen. Vielleicht<br />

ist die Bohrmaschine die Chance dazu, über-<br />

legt sich der Vater und gibt dem Sohn freie<br />

Hand. Zusammen mit Feinkonstrukteur Otto<br />

von Fellenbach baut Emil die erste elektrische<br />

Handbohrmaschine der Welt. Trotz<br />

der zwei Griffe an den Seiten ist sie nicht sehr<br />

handlich – sie wiegt 7,5 Kilo. Ihre Bohrleistung<br />

liegt bei vier Millimetern in Stahl.<br />

Das neue Produkt geht in Serie, schnell<br />

kopieren andere Hersteller wie AEG und<br />

Metabo die revolutionäre Idee. Ein Patent<br />

hat Fein nicht angemeldet. Trotz seiner Erfahrungen<br />

hat der Seniorchef das Potenzial<br />

der Erfindung unterschätzt. Das Verschmelzen<br />

von Werkzeug und Elektromotor erweist<br />

sich als Schlüssel zu einer neuen Arbeitsweise.<br />

Als Emil Fein nach dem Tod seines Vaters<br />

1898 die Firma übernimmt, überträgt er das<br />

Prinzip Elektromotor daher auf andere Werkzeuge<br />

und richtet das Unternehmen auf die<br />

Produktion von Elektrowerkzeugen aus.<br />

Nach einer Reihe neuer Bohrmaschinen<br />

bringt Fein 1906 das erste Handschleifgerät<br />

auf den Markt. 1922 kommt der elektrische<br />

Hammer heraus, 1925 der erste Elektroschrauber,<br />

1927 die erste Blechschere und die<br />

erste Stichsäge. Und der Erfindergeist lebt<br />

weiter – heute hält das Unternehmen 500 Patente<br />

und Patentanmeldungen. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Interfoto/Classicstock; Susann Richter (3)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

DER TRICK MIT DER DOPPELKAMMER<br />

Ein Amerikaner erfand vor rund 100 Jahren den Tee im Beutel, ein deutscher<br />

Schlosser die Maschine mit der wegweisenden Falttechnik dazu<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

N<br />

ew York 1908. Der Teeimporteur<br />

�omas Sullivan bekommt Kisten<br />

mit neuen Sorten geliefert. Dieses<br />

Mal hat er eine Idee, wie er eine Menge Geld<br />

sparen kann. Statt seine Teeproben in Blechdosen<br />

an die Kunden zu senden, verschickt er<br />

sie in kleinen Seidenbeuteln. So spart er am<br />

Tee, an der Packung, am Porto und hat zufällig<br />

eine wegweisende Erfindung gemacht.<br />

Wenige Tage später erhält er begeisterte<br />

Briefe. Grandiose Idee, schwärmen die Kunden:<br />

Jetzt lässt sich der Tee auch ohne Abseihen<br />

und Umfüllen zubereiten – man braucht<br />

nur die Beutel ins heiße Wasser zu hängen.<br />

IN DEUTSCHLAND bleibt die amerikanische<br />

Zufallserfindung nicht unbemerkt.<br />

Die Mitarbeiter des Dresdner Unternehmens<br />

Teekanne verfeinern das Konzept: Sie füllen<br />

den Tee in Mullsäckchen und verschließen sie<br />

anschließend mit einem Faden, der sich an<br />

der Kanne oder der Tasse befestigen lässt.<br />

„Tee-Pompadour“ werden die Beutel genannt,<br />

weil sie aussehen wie die feinen Handtaschen<br />

der Rokoko-Damen. Als Deutsch-<br />

enable 11/2010<br />

lands Soldaten kurz darauf in den Ersten<br />

Weltkrieg ziehen, erhält Teekanne einen<br />

Großauftrag: Mit gemahlenem Tee und der<br />

passenden Portion Zucker gefüllt wird der<br />

handgefertigte Mullbeutel fester Teil der<br />

Marschverpflegung. Doch der Geschmack<br />

kann sich in dem Säckchen nicht richtig entfalten.<br />

Mit Ende des Krieges stellt Teekanne<br />

deshalb die Produktion ein.<br />

In den USA dagegen wird der Portionstee<br />

immer beliebter, dort stecken die Teeblätter<br />

mittlerweile in Beuteln aus Filterpapier. Angespornt<br />

von den Erfolgsmeldungen aus dem<br />

Ausland entschließt sich Teekanne, die Produktion<br />

wieder aufzunehmen. Allerdings verwendet<br />

die Firma wieder Mullbeutel, abgefüllt<br />

per Hand. Von Innovation keine Spur.<br />

Da tritt 1924 ein junger Schlosser in das<br />

Unternehmen ein, Adolf Rambold. Zunächst<br />

kümmert er sich um die Produktion und<br />

baut die weltweit erste Teebeutel-Packmaschine,<br />

pro Minute schafft sie 35 Mullsäckchen.<br />

Rambold aber will mehr, er will den<br />

perfekten Teebeutel schaffen. Das Mullgewebe<br />

hinterlässt einen Beigeschmack, und seine<br />

Fasern saugen Aromastoffe aus dem Getränk.<br />

Rambold testet durchlöchertes Zellophan-<br />

papier, dann füllt er den Tee in Pergamentbeutel.<br />

Auch die Maschine für den Papierbeutel<br />

konstruiert er selbst. Als „Teefix“ werden<br />

die Papierbeutel ein Hit.<br />

Fortan baut die Firma auch Packmaschinen<br />

für Tee, Perforiergeräte und Stanzautomaten.<br />

1937 gründet Teekanne sogar eine<br />

eigene Maschinenfabrik. Doch die Kunden<br />

sind nicht restlos zufrieden, sie beschweren<br />

sich über Klebstoffgeschmack im Tee. Also<br />

entwickelt Rambold eine raffinierte Falttechnik,<br />

bei der das Papier nur mit einer winzigen<br />

Metallklammer geheftet wird. Außerdem soll<br />

der Teebeutel künftig aus zwei Kammern bestehen,<br />

weil das Wasser den Tee dann von vier<br />

Seiten umspült, erkennt Rambold; das feine<br />

Aroma kann sich voll entfalten.<br />

Als der Zweite Weltkrieg beginnt, sind seine<br />

Pläne für die neue Maschine fertig. Um<br />

den perfekten Teebeutel verkaufen zu können,<br />

fehlt Teekanne jedoch das Entscheidende:<br />

das passende Papier. <strong>Wie</strong>der kommt<br />

die Lösung aus den USA: ein Spezialfilterpapier,<br />

das allein durch Falten hält. 1949 präsentiert<br />

Teekanne dem Fachpublikum die<br />

Packmaschine „Constanta“ – das Zeitalter<br />

des Doppelkammerteebeutels beginnt. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Interfoto/Classicstock;Getty Images/Glowimages; Susann Richter (2)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

DAS WETTER? PFFFT. VÖLLIG EGAL<br />

In den 30er-Jahren kamen hochtoupierte Haare in Mode. Doch die Damen<br />

litten unter den klebrigen Festigern – bis Schwarzkopf das Haarspray erfand<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

In den 30er-Jahren trägt die modische Frau<br />

hochtoupierte Haare. Allein mit Lockenstab<br />

und Glätteisen sind diese Frisuren<br />

aber nicht hinzukriegen. Also werden die<br />

Köpfe der Damen mit Haarfixativ eingenebelt,<br />

einer Flüssigkeit, die hauptsächlich<br />

aus Schellack besteht – einem Laussekret,<br />

gelöst in Alkohol. Die Friseure müssen den<br />

Fes tiger dazu in Pumpfläschchen füllen und<br />

mit einem Gummiballzerstäuber umständlich<br />

versprühen. Das stört ihre Kundinnen<br />

gewaltig, denn der Sprühkopf verteilt den<br />

Glanzlack viel zu grob: Das Haar verklebt,<br />

die Frisur wird hart wie ein Brett.<br />

DER HERSTELLER des Festigers ist die Firma<br />

des Chemikers Hans Schwarzkopf, der<br />

1898 eine Drogerie in Berlin gegründet hat.<br />

Der Kosmetikpionier entwickelt nicht nur<br />

Deutschlands erstes Shampoo, sondern auch<br />

eine Lotion, mit der sich Dauerwellen ohne<br />

Hitze formen lassen. Für Haarprobleme<br />

fanden seine Forscher bisher immer eine<br />

Lösung, nur der Glanzlack für die modischen<br />

Hochfrisuren macht ihnen Ärger. Und das<br />

enable 10/2010<br />

liegt nach Meinung der Schwarzkopf-Experten<br />

nicht am Festiger, sondern am schlechten<br />

Sprühsystem.<br />

Etwa zur gleichen Zeit soll Robert Abplanalp,<br />

ein Mechaniker in den USA, ein leckes<br />

Ventil an einer Sprühdose reparieren. Die<br />

Behälter, deren Inhalt sich mithilfe eines<br />

komprimierten Gases per Knopfdruck verteilen<br />

lässt, verlieren das Treibgas allmählich;<br />

und sie sind zu schwer.<br />

Abplanalp fängt an zu tüfteln. Einige<br />

Monate später hat der ehemalige Ingenieurstudent<br />

zwar nicht das kaputte Ventil seines<br />

Kunden repariert, aber dafür ein Sprühventil<br />

entwickelt, das die Dose zuverlässig dicht<br />

hält und die Flüssigkeit fein verteilt. Auch<br />

über die Dose selbst hat Abplanalp sich Gedanken<br />

gemacht und das dicke Metall durch<br />

leichtes Aluminium ersetzt. 1953 erhält er<br />

das Patent auf sein Sprühsystem, sofort startet<br />

die Massenproduktion der modernen<br />

Aerosoldose.<br />

In Deutschland sind die praktischen Alubehälter<br />

noch völlig unbekannt. Als die<br />

Schwarzkopf-Inhaber aber von Abplanalps<br />

Idee hören, erkennen sie sogleich die Chance,<br />

mit der neuen Dose den kräftig wachsen-<br />

den Kosmetikmarkt zu erobern. In den<br />

Schwarzkopf-Labors entsteht daraufhin eine<br />

neue Festigermixtur und darauf abgestimmt<br />

ein nicht entflammbares Treibmittel aus Fluorkohlenwasserstoffen.<br />

Die schwierigste Aufgabe hat die Marketingabteilung<br />

– wie soll das neue Produkt<br />

heißen? Weil die Frauen ihre Frisuren mittlerweile<br />

mit dünnen Netzen in Form halten,<br />

nennen sie das erste Haarspray in Deutschland<br />

„flüssiges Haarnetz“.<br />

DIE PRODUKTBEZEICHNUNG steht also<br />

fest, jetzt fehlt nur noch ein einprägsamer<br />

Markenname. „Charme“ lautet ein Vorschlag<br />

der Schwarzkopf-Mitarbeiter. Der Begriff<br />

taugt nicht als Markenname, weil sich das<br />

Wort nicht als Marke schützen lässt. Zudem<br />

sagt es nicht, wie die neue Erfindung wirkt.<br />

An Glanz und Halt sollen die Frauen denken,<br />

wie bei Kleidern aus Taftstoff. Dieser Einfall<br />

kommt gut an. Taft – das klingt nicht nur so,<br />

wie Frisuren aussehen sollen, der Begriff imitiert<br />

auch das typische Sprühgeräusch der<br />

leichten Dosen: „pffft“. Im Mai 1955 geht<br />

Taft in Serie. Und sich die Haare zu „taften“<br />

wird Teil der deutschen Sprache. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Foto:Getty Images/SuperStock


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

SCHLUSS MIT DER SAUEREI<br />

Igitt! Ein pfiffiger Wirtshaustrinker hielt den Geruch stinkender Filzplatten<br />

irgendwann nicht mehr aus – und erfand den Bierdeckel aus Pappe<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Ende des 19. Jahrhunderts kommt sich<br />

der Dorfkrugwirt stets vor wie ein<br />

Waschweib. Sind die letzten Zecher aus<br />

der Tür gewankt, zieht er ihre Bierfilze kurz<br />

durchs Wasser und hängt sie zum Trocknen<br />

auf. Am nächsten Tag pflückt er den stinkenden<br />

Filzstoff wieder von der Leine. Da muss<br />

es doch eine bessere Lösung geben als den<br />

muffigen Stoffdeckel, denkt sich der sächsische<br />

Mühlenbesitzer Robert Ludwig Sputh<br />

und bestellt ein neues Pils.<br />

Saugfähig und dennoch stabil muss es<br />

sein, vor allem aber billig. Sputh nimmt einen<br />

kräftigen Schluck. Saugfähig, stabil und<br />

billig, überlegt er. Im Prinzip so wie Papier.<br />

Sputh sitzt buchstäblich an der Quelle. Seit<br />

einigen Jahrzehnten werden Papier und Pappe<br />

nicht mehr aus den Zellstofffasern alter<br />

Leinenkleidung hergestellt, sondern aus zermahlenem<br />

Holz. Der gelernte Kaufmann<br />

besitzt eine gut gehende Holzschliffmühle in<br />

Sachsen. Doch Sputh will endlich etwas<br />

Eigenes auf den Markt bringen.<br />

Er beginnt, mit Holzfasern zu experimentieren.<br />

Eines Abends gießt er Papierbrei in<br />

eine Siebform, presst die Feuchtigkeit heraus<br />

enable 09/2010<br />

und lässt die Papierplatte über Nacht trocknen.<br />

Am nächsten Morgen ist der erste Pappbierdeckel<br />

fertig und Sputh ein Erfinder. Er<br />

lässt seine kleine Papiermühle ausbauen und<br />

stellt neue Arbeiter ein. Am 25. Oktober<br />

1892 erhält er das Patent 68499 für sein<br />

„Verfahren der Herstellung von Holzfilzplatten<br />

oder Holzfilzdeckeln“.<br />

Die Bierdeckel der ersten Generation sind<br />

dicker und saugfähiger als die heutigen Modelle,<br />

ihr Durchmesser von 107 Millimetern<br />

aber ist nach wie vor Standard. Auch der<br />

Werbefaktor gilt von Anfang an. Oben tragen<br />

die Pappen die Namen und Wappen der<br />

Brauereien, unten sinnige Sprüche wie „Bier<br />

ist unter den Getränken das nützlichste, unter<br />

den Arzneien die schmackhafteste, unter<br />

den Nahrungsmitteln das angenehmste“.<br />

ZUM MASSENPRODUKT macht den Bierdeckel<br />

dann aber ein Unternehmer aus dem<br />

Schwarzwald: Casimir Otto Katz. Auch er<br />

betreibt eine Holzmühle, anders als Sputh<br />

jedoch sucht Katz zunächst nur eine Möglichkeit,<br />

Holzreste weiterzuverwerten. Als er<br />

von dem neuen Bierdeckel aus Sachsen hört,<br />

wittert er sofort eine Riesenchance. Katz<br />

modernisiert seine Anlagen. 1903 beginnt er<br />

damit, Bierdeckel im großen Stil zu produzieren.<br />

Die Fichten und Tannen des Schwarzwalds<br />

liefern Massen an Rohstoff, Katz’<br />

Geschäft brummt. Die großen Brauereien<br />

können gar nicht genug bekommen von dem<br />

perfekten Werbeträger. Um die große Nachfrage<br />

zu bedienen, entwickelt das Unternehmen<br />

Ende der 60er-Jahre ein Gerät, das die<br />

Arbeitsgänge Drucken und Stanzen kombiniert<br />

und die Produktionszeit auf ein<br />

Minimum drückt. Die neue Maschine schafft<br />

täglich eine Million Bierdeckel, später stellt<br />

die Katz-Gruppe bis zu 15 Millionen Bierdeckel<br />

pro Tag her – fast zwei Drittel der<br />

Gesamtproduktion in Europa. Weltweit lag<br />

der Marktanteil des Unternehmens bis vor<br />

Kurzem bei knapp 70 Prozent.<br />

Gegen moderne Bierwerbung sah der<br />

Pappdeckel dennoch irgendwann alt aus.<br />

Über kreatives Design und neue Untersetzer<br />

für Trendgetränke machte sich bei Katz lange<br />

keiner Gedanken. Auch an neue Auslandsmärkte<br />

traute sich der Fastmonopolist erst<br />

spät heran. Im Frühjahr 2009 dann der<br />

Absturz: Die Katz-Gruppe musste Insolvenz<br />

anmelden. Ein halbes Jahr später wurde die<br />

Bierdeckelfirma von einem badischen Unternehmen<br />

gekauft – einem Papierhersteller.<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Interfoto/TV-yesterday (3);J.Koehler/bildermeer; akg-images


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

RRRTSCH!<br />

Von der Natur lernen? Georges de Mestral wurde ausgelacht, als er die Klette<br />

zum Vorbild nahm, um einen Verschluss mit elastischen Häkchen zu erfinden<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Jaulend hüpft der Hund zur Seite. Dummes<br />

Vieh, schimpft Georges de Mestral, jetzt<br />

halt endlich still. Dabei tut ihm das Tier<br />

leid, richtig herausreißen muss man die<br />

Kletten aus dem struppigen Fell. Auch an<br />

Mestrals Hose kleben nach jedem Waldspaziergang<br />

Dutzende der hartnäckigen Dinger.<br />

Als der Hund gesäubert ist, pflückt sich sein<br />

Herrchen – rrrtsch – eine Klette vom Bein.<br />

Rrrtsch – die nächste. Mestral stutzt, hält die<br />

kleinen Kugeln einen Moment gegen das<br />

Licht. Dann läuft er in sein Arbeitszimmer<br />

und klemmt sie unter das Mikroskop.<br />

Bisher dachte der Schweizer Ingenieur, die<br />

Borsten der Klette seien gerade wie Stacheln<br />

eines Igels. Doch als er im Sommer 1941 die<br />

Früchte der Arctium lappa unter die Lupe<br />

nimmt, sieht er an ihren Enden winzige<br />

Haken. Kein Wunder, findet Mestral, dass<br />

die Kletten so hartnäckig an Hund und Hose<br />

halten. Der Ingenieur weiß, dass viele Pflanzen<br />

ihre Samen über das System des Verhakens<br />

und Verknüpfens verbreiten. Die Besonderheit<br />

der Klette, stellt er fest, ist jedoch die<br />

Elastizität ihrer Häkchen. Sie garantiert, dass<br />

sich Klette und Träger immer wieder ver-<br />

enable 08/2010<br />

haken können, ohne dass einer der beiden<br />

dabei beschädigt wird.<br />

Verbinden, trennen, verbinden, trennen –<br />

die perfekte Konkurrenz zum Reißverschluss,<br />

findet Mestral. Denn das Klettprinzip<br />

klemmt nicht, funktioniert jedoch genauso<br />

einfach wie der metallene Gegenpart.<br />

Ein Verschluss, der das Fortpflanzungsverhalten<br />

einer Pflanze imitiert? Mestrals<br />

Kollegen lachen über seine Idee. Der aber<br />

lässt sich nicht beirren, befragt Stoffhersteller<br />

und beginnt zu experimentieren. Entscheidend<br />

am neuen Verschluss ist ein robuster<br />

und leistungsfähiger Haken. Nach jahrelanger<br />

Tüftelei gelingt Mestral der <strong>Durchbruch</strong>:<br />

Er entdeckt, dass unter Infrarotlicht vernähter<br />

Nylonfaden dem Haken eine stabile und<br />

dennoch flexible Form verleiht. Eine Art Gedächtnis<br />

quasi, durch das er sich beim Lösen<br />

vom Stoff-Gegenstück wieder in seine Ursprungsform<br />

zurückbiegt.<br />

ALS VELCRO meldet Mestral seine Erfindung<br />

1951 zum Patent an, eine Zusammensetzung<br />

aus „velours“ und „crochet“, den<br />

französischen Begriffen für Samt und Häkchen.<br />

Acht weitere Jahre dauert es, bis die<br />

von ihm gegründete Firma Velcro Industries<br />

den ers ten Klettverschluss auf den Markt<br />

bringt. Die 300 Häkchen pro Quadratzentimeter<br />

Stoff lässt Mestral anfangs von Hand<br />

nähen. Der neue Klettverschluss besteht aus<br />

zwei Nylonstreifen, einer ist mit Minihaken<br />

versehen, der andere trägt die entsprechenden<br />

Schlaufen. So lassen sich zwei Textilien zum<br />

ersten Mal zuerst verbinden und dann wieder<br />

voneinander lösen.<br />

Mestrals Kopie der Naturtechnik erobert<br />

in kürzester Zeit die Welt, Velcro verbindet<br />

in allen Bereichen des Lebens – Kleidung<br />

und Wohnung, Industrie und Schifffahrt,<br />

Sport und Militär. Selbst die Raumfahrt benutzt<br />

Klettverschlüsse, und sogar das erste<br />

künstliche Herz wurde mithilfe von Velcro<br />

zusammengehalten.<br />

1978 läuft Mestrals Patent aus. Andere<br />

Forscher entwickeln seine Grundidee zu zigfachen<br />

Variationen weiter. Mittlerweile gibt<br />

es mehr als 3500 verschiedene Haken- und<br />

Flauschsysteme aus den unterschiedlichsten<br />

Kunststoffen. Doch die Evolution des künstlichen<br />

Klettsystems ist noch nicht beendet.<br />

Als nächste Stufe steht der Schritt in die<br />

Lautlosigkeit an. Forscher arbeiten an einem<br />

stummen Velcro: endlich Schluss mit dem<br />

markanten Rrrrtsch. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage: FTD/Susann Richter, Fotos: Susann Richter (2); mauritius images/Alamy; Susann Richter


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

DA DIE FREIFRAU SO LEICHT FRIERT<br />

Urlaub am Meer? Wunderbar, bloß die steife Brise stört. Elfriede von Maltzahn<br />

allerdings nicht – die hat im Sommer 1882 den ersten Strandkorb bestellt<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Elfriede von Maltzahn steht im Frühjahr<br />

1882 in der Werkstatt von Wilhelm<br />

Bartelmann in Rostock, Lange Straße.<br />

Die frische Ostseeluft wirke wahre Wunder<br />

gegen ihr Rheuma, schwärmt die Dame dem<br />

Hof-Korbmachermeister des Großherzogs<br />

von Mecklenburg vor. Doch um das gesunde<br />

Klima genießen zu können, brauche es eine<br />

Sitzgelegenheit für den Strand als Schutz vor<br />

Sonne und Wind. Ob Bartelmann so etwas<br />

anfertigen könne? Der junge Handwerker<br />

zögert nicht und flicht der Freifrau einen<br />

kastigen Korbstuhl aus Weidenzweigen.<br />

Selbst nachzudenken braucht Bartelmann<br />

dabei kaum: Ein Kieler Korbmacher hatte<br />

schon vor Jahren detaillierte Bauanleitungen<br />

für einen sogenannten Strandstuhl ersonnen.<br />

Die waren zwar branchenweit bekannt, wurde<br />

allerdings zugleich belächelt: Wer bitte<br />

schön braucht am Strand einen Stuhl?<br />

Elfriede von Maltzahn ist die Erste. Den<br />

Rest ihrer Sommerfrische verbringt sie gut<br />

geschützt und sehr entspannt in ihrem neuen<br />

Strandmöbel in Warnemünde.<br />

Anfangs belächelt, wird Korbmacher Bartelmann<br />

bald mit Aufträgen überflutet. Das<br />

enable 07/2010<br />

fördert seine Kreativität: Ein Jahr nach dem<br />

Bau des Einsitzer-Strandkorbs bringt er ein<br />

Modell mit Platz für zwei auf den Markt.<br />

Seine Frau Elisabeth gründet unterdessen<br />

den ersten Strandkorbverleih in der Nähe des<br />

Warnemünder Leuchtturms.<br />

Bald beliefert Bartelmann Seebäder von<br />

den Nordseeinseln bis nach Ostpreußen. Ein<br />

Unternehmer aber wird aus ihm nicht, der<br />

Korbmacher sieht sich weiterhin als Handwerker.<br />

Nicht mal ein Patent meldet er an<br />

und verpasst so die Chance, durch den immer<br />

beliebteren Strandkorb reich zu werden.<br />

Bald ziehen andere Korbmacher nach, die<br />

komfortable Modelle mit Fußstützen, Armlehnen<br />

und Seitentischen entwickeln. Den<br />

Halblieger, einen Strandkorb mit verstellbarer<br />

Rückenlehne, erfindet der frühere Bartelmann-Lehrling<br />

Johann Falck.<br />

ALS PRIVATER ORT im öffentlichen Urlaubsvergnügen<br />

erobert der Strandkorb in<br />

den 20er-Jahren endgültig die Nord- und<br />

Ostseebäder. Im Laufe der Jahre bilden sich<br />

zwei Spezies aus: An der Ostsee sind Strandkörbe<br />

rund, an der Nordsee eher eckig. Beide<br />

Formen entstehen bis heute in Handarbeit.<br />

Geflochten wird aus Rattan oder<br />

Kunststoff, die charakteristische Haube eines<br />

Strandkorbs besteht aus acht Stoffteilen plus<br />

des Materials für die Kissen. Renner beim<br />

Design ist nach wie vor das Streifenmuster.<br />

Gut 70 000 Strandkörbe stehen in den<br />

Sommermonaten an den deutschen Küsten.<br />

Gemütlichkeit und Ordnung selbst am<br />

Strand, das Konzept gefällt auch Urlaubern<br />

aus dem Ausland. An den Stränden anderer<br />

Länder setzt sich die deutsche Erfindung<br />

trotzdem nicht durch, nur als Vorgartendeko<br />

taucht sie hin und wieder außerhalb Deutschlands<br />

auf. Völkerverbindend präsentierte sich<br />

jedoch der berühmteste Strandkorb, in den<br />

sich die Staats- und Regierungschefs plus der<br />

Präsident der EU-Kommission beim G8-<br />

Treffen 2007 in Heiligendamm für das traditionelle<br />

Gipfelfoto setzten.<br />

Zwei Kilometer Flechtband, 35 Quadratmeter<br />

Stoff und ein Kubikmeter Kiefernholz<br />

stecken in dem Mammutexemplar. Allerdings<br />

ist der G8-Strandkorb nicht der größte,<br />

den der Hersteller je gebaut hat. Für den<br />

FC Insel Usedom fertigte er sechs Meter lange<br />

Möbel, die den Fußballern als Wechselbänke<br />

dienen. Der Betrieb – die Korb GmbH<br />

aus Heringsdorf – gilt mittlerweile als größter<br />

Strandkorbhersteller Deutschlands. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

FTD-Collage:FTD/Susann Richter;Fotos:akg-images/Guenter Rubitzsch; Susann Richter


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

KINDER? SPÄTER VIELLEICHT<br />

<strong>Wie</strong> lassen sich ungewollte Schwangerschaften verhindern? Mit 70 Jahren<br />

stößt Margaret Sanger die Forschungen für die Antibabypille an<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Als ihre Mutter mit 49 Jahren stirbt,<br />

steht für die angehende Krankenschwester<br />

Margaret Sanger die Ursache fest.<br />

„Du bist schuld!“, klagt sie ihren Vater bei<br />

der Beerdigung an. 18-mal war die Mutter<br />

schwanger, elf Kinder hatte sie geboren.<br />

Verhütung ist Ende des 19. Jahrhunderts ein<br />

Tabuthema in Amerika, Informationen zur<br />

Geburtenkontrolle sind per Gesetz als „obszön“<br />

verboten.<br />

Wir müssen uns das Recht auf Kontrolle<br />

über unseren Körper erkämpfen, beschließt<br />

Sanger. Sie startet eine Aufklärungskampagne<br />

und eröffnet eine Klinik zur Familienplanung.<br />

Die muss schließen, Sanger kommt ins<br />

Gefängnis. Aber sie macht weiter, tourt<br />

durchs Land und gründet eine Organisation<br />

zur Geburtenkontrolle. Eine Frage beschäftigt<br />

sie: Wann entwickelt die Wissenschaft<br />

endlich eine Art magische Pille, damit Frauen<br />

nicht ungewollt schwanger werden müssen?<br />

„Das ist schon möglich“, antwortet ihr<br />

1951 der Biologe Gregory Pincus bei einem<br />

Abendessen. Die Frauenrechtlerin, mittlerweile<br />

70, verschluckt sich fast an ihrem<br />

Weißwein. Jahrzehntelang musste sich die<br />

enable 06/2010<br />

dreifache Mutter als „lüsternes Monster“ und<br />

„Mörderin der Ungeborenen“ beschimpfen<br />

lassen. Nun steht ein junger Forscher vor ihr,<br />

der eine Lösung für das Verhütungsproblem<br />

zu kennen scheint. Was ihm fehlt: Geld. Mit<br />

am Tisch sitzt jedoch die reiche Industrieerbin<br />

Katherine McCormick – ihr ist das<br />

Projekt „sichere Verhütung“ 2 Mio. $ wert.<br />

DIE WISSENSCHAFTLICHE BASIS für<br />

Pincus’ Arbeit ist längst gelegt. Bereits in den<br />

1920er-Jahren hat der Innsbrucker Chemiker<br />

Ludwig Haberlandt entdeckt, dass Extrakte<br />

aus den Eierstöcken trächtiger Säugetiere andere<br />

Weibchen unfruchtbar machen. Wissenschaftlern<br />

der Pharmafirma Schering gelingt<br />

es 1938, das weibliche Geschlechtshormon<br />

Östrogen künstlich herzustellen. In den USA<br />

entwickelt ein Searle-Chemiker ein Hormon<br />

für ein Mittel gegen Menstruationsbeschwerden,<br />

das auch den Eisprung hemmt.<br />

Damit hat Pharmahersteller Searle die<br />

Technik für die Pille in der Hand. Doch<br />

fürchtet das Unternehmen die heikle Rechtslage<br />

– und einen möglichen Kaufboykott der<br />

Katholiken, damals ein Viertel aller Amerikaner.<br />

Außerdem sehen die Searle-Chefs kein<br />

Marktpotenzial: Welche Frau käme auf die<br />

Idee, etwas einzunehmen, das Krankheiten<br />

weder vorbeugt noch behandelt?<br />

Weil Pincus die nötigen Tests finanzieren<br />

kann, zieht Searle dennoch mit. 1953 findet<br />

er die richtige Hormonzusammensetzung.<br />

Nach erfolgreichen Versuchen mit Kaninchen<br />

und Ratten testet Pincus die Wirkung<br />

bei Frauen in Puerto Rico. 1957 bringt Searle<br />

die erste Pille als „Mittel gegen menstruelle<br />

Beschwerden“ auf den Markt – in 30 US-<br />

Bundesstaaten gilt das Antiverhütungs gesetz<br />

noch. Ärzte diagnostizieren plötzlich bei<br />

Millionen Frauen Zyklusstörungen und verschreiben<br />

das neue Medikament.<br />

Dass „Enovid“ im Mai 1960 offiziell als<br />

Verhütungsmittel zugelassen wird, gelingt<br />

dank der geschickten Argumentation eines<br />

Gynäkologieprofessors: Die Pille ahme mit<br />

Hormonen nur nach, bestätigt er den Behörden,<br />

was im Körper ohnehin passiert.<br />

In Deutschland hat die Pille am 1. Juni<br />

1961 Premiere: Anovlar heißt das Produkt<br />

von Schering. Auch hier ist es getarnt als ein<br />

Mittel gegen Menstruationsstörungen. Der<br />

eigentliche Zweck steht im Beipackzettel<br />

kleingedruckt unter Nebenwirkungen: bei<br />

regelmäßiger Einnahme „temporäre Konzeptionsverhinderung“.<br />

�<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: Susann Richter (2); Cinetext Bildarchiv; Getty Images/Lars Klove; doc-stock/Medicus/George Ksandr; Alberto Pizzoli/AFP/Getty Images; Getty Images/Christian Baitg; Colourbox.com


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

AM SEIDENEN FADEN<br />

Was waren die Amerikaner stolz auf ihre hauchdünne Kunstfaser namens<br />

Nylon. Bis sie nach Berlin kamen – und dort Perlon kennenlernten<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Deutsches Nylon! Kann nicht wahr sein,<br />

murmeln die Manager. <strong>Wie</strong> konnte<br />

das passieren? Juli 1938, die Vertreter<br />

des US-Chemiekonzerns DuPont sind nach<br />

Berlin gereist, um der I.G. Farben eine Lizenz<br />

für Kunstfasern zu verkaufen. Neben Stoffen<br />

und Garnen haben die Amerikaner Damenstrümpfe<br />

im Gepäck, auf die hauchdünnen<br />

Dinger sind sie besonders stolz. Schön, sagen<br />

die Deutschen. Und legen ihre Version von<br />

Synthetikseide auf den Tisch.<br />

Die DuPont-Manager verstehen die Welt<br />

nicht mehr. Nylon sowie andere Kunstfasererfindungen<br />

aus sogenannten Polyamiden hat<br />

der Konzern patentieren lassen. Keine Chance<br />

also für Konkurrenten. Doch die deutsche Nylon-Version<br />

erweist sich als juristisch wasserdicht.<br />

Ihr Geheimnis heißt Caprolactam – ein<br />

Stoff, von dem Wallace Hume Carothers gesagt<br />

hat: nicht tauglich für einePolyamidfaser.<br />

Carothers ist der Kopf hinter dem US-<br />

Nylon. DuPont hat ihn von Harvard geholt,<br />

um eine Superfaser zu erfinden. Jahrelang experimentiert<br />

er mit Säuren und Alkoholen,<br />

DuPont investiert 27 Mio. $ in das Prestigeprojekt.<br />

Im Februar 1938 schließlich erzeugt<br />

enable 05/2010<br />

Carothers aus Adipinsäure und Hexamethylendiamin<br />

eine perlmuttfarbene, matt glänzende<br />

Masse. „12,5 Gramm Polymer wurden<br />

gewonnen“, kritzelt ein Mitarbeiter in seinen<br />

Notizblock – die erste synthetische Faser.<br />

„STARK WIE STAHL, fein wie ein Spinnennetz“,<br />

verkündet DuPont, als das Garn aus<br />

Kohle, Wasser und Luft fünf Monate später auf<br />

den Markt kommt. Als Erstes bekommen die<br />

Zahnbürsten neue Borsten aus Nylon. Doch<br />

der Siegeszug der Erfindung beginnt am Bein:<br />

Aus Kunstseide her gestellte Strümpfe ziehen<br />

kaum Laufmaschen. Als Material ist Nylon teuer,<br />

ein Pfund Seide kostet damals fast 2 $ weniger<br />

als ein Pfund der neuen Kunstfaser. Aber<br />

der Damenstrumpfmarkt ist riesig, nicht nur in<br />

den USA, und DuPont will ihn erobern.<br />

In Deutschland bremst Paul Schlack den<br />

Expansionsplan überraschend aus. Auch der<br />

I.G.-Farben-Forscher hat sich das Ziel gesetzt,<br />

eine synthetische Alternative zur Naturseide zu<br />

entwickeln. Dafür arbeitet er mit dem aus<br />

Steinkohle gewonnenen Molekül Caprolactam,<br />

ebenso wie auch sein US-Kollege Carothers.<br />

Beide kommen nicht weiter. Doch während<br />

der Amerikaner auf andere Substanzen<br />

ausweicht, stellt Schlack seine Experimente<br />

ein. Jahre später liest er frustriert über Carothers’<br />

<strong>Durchbruch</strong> mit Polyamiden.<br />

Und macht dort weiter, wo er in den 20er-<br />

Jahren aufgehört hat: mit Caprolactam. Von<br />

Carothers’ Fehlschlag mit der Substanz weiß er<br />

nichts. „Vielleicht hätte mich die Kenntnis des<br />

völlig negativen Resultats davon abgehalten“,<br />

wird Schlack später sagen. Nur dank seiner Unwissenheit<br />

gelingt ihm schließlich der Coup: Er<br />

erzeugt eine künstliche Faser, die robuster ist als<br />

das Vorbild, der Seidenfaden. Perluran heißt sie<br />

zunächst, daraus entsteht die Marke Perlon.<br />

Im Mai 1939 bilden DuPont und die I.G.<br />

Farben ein Kartell. Sie tauschen ihre Patente<br />

aus und teilen sich die Absatzmärkte auf.<br />

Nach dem Krieg ist die deutsche Kunstfaserindustrie<br />

zerstört, Nylonstrümpfe werden<br />

zur Schwarzmarktwährung. 1950 beginnt eine<br />

Fabrik bei Augsburg wieder mit der Perlonproduktion.<br />

Schnell ist das Werk überlastet.<br />

Deutschlands Frauen wollen Nylons tragen,<br />

der Preis ist egal. Doch die Zukunft der Kunststoffära<br />

hängt an mehr als nur einem Faden.<br />

Trevira, Diolen und Dralon ergänzen die synthetische<br />

Stofffamilie.<br />

Heute liegen Perlon und Nylon auf dem<br />

Boden: Statt zu Strümpfen spinnt die Industrie<br />

aus den Fasern vor allem Teppiche. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: Interfoto/Archiv Friedrich (2); Ullstein Bild/Imagebroker; Interfoto/Mary Evans/National Magazines


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

WIE DER ZAHNWURM AUSSTARB<br />

Zahnpflege? <strong>Wie</strong> geht das denn? Ottomar Heinsius von Mayenburg leistete vor<br />

100 Jahren mit der Zahnpasta Chlorodont entscheidende Au�lärungsarbeit<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Schuld ist der Zahnwurm. Ottomar Heinsius<br />

von Mayenburg hört den Satz fast<br />

täglich, er stinkt ihm gewaltig. Mehr<br />

noch stinkt ihm der Mundgeruch derjenigen,<br />

die ihn sagen. In Mayenburgs Löwen-Apotheke<br />

kauft Dresdens bessere Gesellschaft ihre<br />

Pillen und Pülverchen. Die Gesundheit ist<br />

den Damen und Herren enorm wichtig. Saubere<br />

Zähne aber sind Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

Nebensache, ihr faules Gebiss schieben<br />

die Menschen auf einen vermeintlichen<br />

Zahnwurm. „Eine böse Sache, Herr von Mayenburg,<br />

was soll man da schon machen?“<br />

Anfangen, eure Zähne zu putzen, denkt<br />

der Apotheker. Doch womit? Zahnseife ist<br />

zwar schon auf dem Markt, allerdings gibt es<br />

sie nur in einer unpraktischen Dose. Außerdem<br />

schmeckt sie fies. Nur mit Mundwasser<br />

zu gurgeln, findet Mayenburg, ist für die<br />

Zahngesundheit zu wenig. Gleichwohl sieht<br />

er beifällig, wie viele Abnehmer Odol findet.<br />

Mit gesunden Zähnen lässt sich gut Geld<br />

machen, erkennt Mayenburg und liest sich in<br />

die Materie ein. Als er im Frühjahr 1907 in<br />

seinem kleinen Labor auf dem Dachboden<br />

über der Apotheke neue Cremes und Tink-<br />

enable 04/2010<br />

turen mischt, rührt er zum ersten Mal eine<br />

Zahncreme zusammen. Bimssteinpulver, Kalziumkarbonat,<br />

Seife, Glyzerin und Kaliumchlorat,<br />

dazu eine Spur Minzöl, fertig. Damit<br />

die Paste lange haltbar ist und einfach zu benutzen<br />

ist, füllt er sie in kleine Metalltuben.<br />

MAYENBURGS IDEEN sind nicht neu. Inspiriert<br />

von den Farbtuben der Pariser Maler<br />

brachte ein US-Unternehmer 1892 eine<br />

Zahnpasta in der Tube auf den Markt, vier<br />

Jahre später kopierte Colgate das Konzept, in<br />

Deutschland übernahm es Beiersdorf mit der<br />

Tubenpaste Pebeco. Doch die kennt kaum jemand.<br />

Mayenburg weiß auch, warum: „Das<br />

Wichtigste ist die Werbung.“<br />

Bei seiner Werbekampagne für seine Paste<br />

Chlorodont – „chloros“ bedeutet im Griechischen<br />

grün, das steht für Frische, „odous“<br />

ist der Zahn – nutzt Mayenburg <strong>alles</strong>, was damals<br />

möglich ist: Er schaltet Zeitungsannoncen,<br />

lässt Plakate kleben, Emailleschilder aufhängen<br />

und Hauswände bemalen. Schnell erobert<br />

die blaue Tube mit der grün karierten<br />

Kante und dem schneeweißen Schriftzug das<br />

Land. Chlorodont gilt als Weltneuheit und<br />

Mayenburg als Erfinder eines revolutionären<br />

Produkts. „Der Zahn lebt – denke daran und<br />

handle danach!“ So räumt der Werbefeldzug<br />

mit der Mär vom Zahnwurm auf.<br />

Die ersten zehn Jahre stellt Mayenburg die<br />

Zahnpasta in der Apotheke her, 1917 lässt er<br />

die Leo-Werke bauen, im selben Jahr beginnt<br />

der Export. Mit einem Sortiment von Zahnpflegemitteln<br />

steigt das Unternehmen an die<br />

Spitze der Kosmetikindustrie in Deutschland<br />

auf. Die Tuben und Pappschachteln stellt<br />

Mayenburg selbst her, moderne Mühlen,<br />

Füll- und Schließmaschinen kurbeln die Produktion<br />

ordentlich an. Mit eigenen Kalkstein-<br />

und Kalziumwerken in Ulm und Riesa<br />

sowie Pfefferminzplantagen in Siebenbürgen<br />

macht Mayenburg seine Werke nahezu unabhängig<br />

vom Rohstoffmarkt.<br />

Anfang der 30er-Jahre arbeiten am Dresdner<br />

Hauptsitz mehr als 1500 Beschäftigte.<br />

Die Maschinen laufen rund um die Uhr, an<br />

manchen Tagen stellen die Leo-Werke fast<br />

150 000 Tuben Zahnpasta her. In mehr als<br />

20 Ländern lässt Mayenburg seine Marke<br />

produzieren und vertreiben.<br />

In der DDR verkommt die Marke, Mayenburgs<br />

Nachfahren verkaufen die Namensrechte<br />

in den Westen, zuletzt gehören sie der Firma<br />

Schwarzkopf. Die nimmt Chlorodont Anfang<br />

der 80er aus den Verkaufsregalen. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: BPK/Ernst Schneider; Getty Images/Brand X/Burke/Triolo Productions; FTD/Susann Richter


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

GESUND DARF AUCH SCHMECKEN<br />

Bei einer Bergwanderung wird Maximilian Bircher-Benner ein schmackhaftes<br />

und gesundes Mus kredenzt, das der junge Arzt zum ersten „Müsli“ veredelt<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Hinter vorgehaltener Hand reden die<br />

Mediziner Klartext: Der Bircher-<br />

Benner ist ein Spinner. Quatsch sein<br />

Gerede von Sonnenlichtnahrung. Hat wohl<br />

schon zu viel Grünzeug in sich reingestopft,<br />

kein Wunder, dass der Geist versagt. Dem<br />

gehört die Zulassung entzogen! Die offizielle<br />

Reaktion bleibt sachlich: „Der Vortragende<br />

hat das wissenschaftliche Gebiet verlassen“,<br />

urteilt kühl die Zürcher Ärzteschaft.<br />

Vernichtende Worte, aber Maximilian<br />

Bircher-Benner treffen sie nicht. „Es glaubt<br />

doch wohl niemand“, kontert er, „dass es egal<br />

ist, ob eine Ziege sich mit frischem oder mit<br />

gekochtem Gras ernährt.“ Da soll es beim<br />

Menschen anders sein? Der junge Arzt setzt<br />

seine Tuberkulosepatienten weiter auf Rohkost.<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts ist das ein<br />

Bruch mit der Lehrmeinung. Fleisch gilt als<br />

das wertvollste Lebensmittel. Je höher der<br />

Eiweißgehalt, so argumentieren die Wissenschaftler,<br />

desto nahrhafter ist das Essen.<br />

Bircher-Benner predigt stur das Gegenteil.<br />

Fleisch hält er für wertlos, denn das getötete<br />

Tier habe die Energie der Pflanzen bereits für<br />

sein eigenes Leben verbraucht. In den rohen<br />

enable 03/2010<br />

Pflanzenteilen stecke die ganze Energie des<br />

Sonnenlichts. Die übliche Einteilung nach<br />

Nährstoffen ist ihm egal, entscheidend sei allein<br />

die – leider nicht messbare – „energetische<br />

Spannung“ im Essen. Daher solle sich auch<br />

der gesunde Mensch rein pflanzlich ernähren<br />

und vor allem Ungekochtes verzehren.<br />

„LEBENDIGE KRAFT“ nennt Bircher-Benner<br />

das Sanatorium, das er bei Zürich eröffnet,<br />

um seine Ideen zu verwirklichen: richtig<br />

essen, viel bewegen. Bircher-Benner selbst<br />

macht frühmorgens Gymnastik, tagsüber<br />

wühlt er im Garten oder geht wandern.<br />

Als Bircher-Benner mit seiner Frau in<br />

einem Sommer urlaub die x-te Bergtour<br />

macht, es beginnt gerade zu dämmern, da<br />

kommen sie an einer Berghütte vorbei. Ob<br />

die beiden nicht mit zu Abend essen wollen,<br />

ruft der Sennhirte und winkt sie zu sich. Seine<br />

Frau bringt zwei Holznäpfe, randvoll mit<br />

einem Brei aus Weizenschrot, Nüssen und<br />

honigsüßer Milch, dazu gibt es Äpfel. „Mit<br />

Apfel macht das Mus länger satt und liegt<br />

nicht so schwer im Magen“, erklärt der Senner<br />

kauend. Zweimal am Tag esse er den Brei,<br />

morgens und abends. „Siebzig bin ich jetzt,<br />

und in meinem ganzen Leben hab ich noch<br />

nie einen Doktor gesehen.“ Bircher-Benner<br />

ist beeindruckt. Im Getreidebrei findet er die<br />

Quintessenz seiner Ernährungsphilosophie:<br />

Rohkost als Mittel gegen die Degeneration<br />

der Gesellschaft. Zurück im Sanatorium lässt<br />

der Arzt die Alpenkost ab 1902 als Frühstück<br />

und als Abendbrot servieren.<br />

Haferflocken, Wasser, Zitronensaft, Kondensmilch<br />

und Nüsse bilden die Basis, als<br />

Krönung kommt ein samt Schale und Kerngehäuse<br />

geriebener Apfel in die Schüssel.<br />

Bircher-Benner verwendet Dosenmilch, weil<br />

frische Milch als Tuberkuloserisiko gilt.<br />

Seine Kreation nennt er kurz „d Spys“, auf<br />

Vorträgen und in Kochbüchern bewirbt er<br />

ihren Gesundheitseffekt. So wird der Bauernbrei<br />

in der Schweiz schnell als Birchermüesli<br />

bekannt und beliebt.<br />

Auch in Deutschland kommt die gesunde<br />

Mischung gut an. Bircher-Benner empört<br />

sich, dass die Müslirezepte in deutschen<br />

Reformhaus-Ratgebern zu haferflockenlastig<br />

seien. Mit dem Urrezept des Schweizer Arztes<br />

haben die Müslis schon bald nichts mehr<br />

gemeinsam. Und die „Knusper Plus Double<br />

Chocolate“-Mixturen von heute würde der<br />

Vollwertpionier vermutlich noch mehr hassen<br />

als Schweinebraten. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: Getty Images/Comstock Images ; Getty Images/Stockdisc; Mauritius Images; FTD/Susann Richter (4)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

BESTENS GETARNT<br />

Es sieht nicht aus wie Fisch, riecht nicht wie Fisch, schmeckt nicht wie Fisch.<br />

Genau deshalb ist das Fischstäbchen so erfolgreich – nicht nur bei Kindern<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Ein Ruck geht durch die Angel, Clarence<br />

Birdseye ist plötzlich wieder hellwach –<br />

endlich hat einer angebissen. Verzweifelt<br />

windet sich der Fisch am Haken, Sekunden<br />

später liegt er steinhart gefroren auf dem<br />

Eis der kanadischen Arktis. Die minus 40<br />

Grad kalte Polarluft wirkt wie ein Schnellfroster.<br />

Trotzdem schmeckt der Fisch nach dem<br />

Auftauen wie frisch gefangen, findet Birdseye,<br />

kein Vergleich zur faden Einfrierware zu<br />

Hause. Zurück in New York kombiniert der<br />

Biologe die traditionelle Konserviermethode<br />

der Inuit mit moderner Technik und bringt<br />

die weltweit ersten Tiefkühl-Fischfilets auf<br />

den Markt.<br />

ANFANG DER 20ER-JAHRE ist das, die<br />

Erwachsenen sind von der praktischen Neuheit<br />

begeistert. Doch den Nachwuchs lässt sie<br />

kalt, kaum ein Kind isst gern Fisch. Davon<br />

aber gibt es reichlich. Und Birdseye will ihn<br />

verkaufen. Also steht der Hobbykoch ständig<br />

in der Küche und experimentiert mit neuen<br />

Kindergerichten. Als er eines Tages in einen<br />

grätenfreien, in Würzpanade gewendeten<br />

Streifen Fischfilet beißt, stimmt einfach <strong>alles</strong>:<br />

enable 02/2010<br />

Das Ding sieht nicht aus wie Fisch, es riecht<br />

nicht nach Fisch, und vor allem schmeckt es<br />

nicht nach Fisch. Ein perfektes Tarnessen<br />

also. 1955 hat der „fish finger“ Premiere in<br />

den USA und in Großbritannien, vier Jahre<br />

später brutzeln die ersten Fischstäbchen auch<br />

in Deutschlands Küchen.<br />

„Solo Feinfrost“ heißen damals Marke<br />

und Hersteller, der Vorgänger des Tiefkühlproduzenten<br />

Iglo. Für Kinder klingt das langweilig,<br />

also erfinden Werbeleute den Sympathieträger<br />

Käpt’n Iglo. Als das Original einem<br />

smarten Jungkapitän Platz machen muss,<br />

geht die Umsatzkurve prompt nach unten.<br />

Pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum feiert<br />

der alte Seebär daher ein Comeback.<br />

Mittlerweile ist der Werbeauftrag von<br />

Käpt’n Iglo gewachsen, zum klassischen<br />

Fischstäbchen haben sich exotische Arten<br />

gesellt, mit Zitronengeschmack aufgepeppt<br />

oder mit Chili verschärft. Viel Freiraum für<br />

Experimente haben die Hersteller nicht: Ein<br />

Fischstäbchen muss zu mindestens 65 Prozent<br />

aus Fischfilet bestehen, da lässt sich nur<br />

die Panade variieren.<br />

Festgelegt ist auch die erlaubte Zahl der<br />

Gräten, maximal zwei pro Kilogramm Fertigware.<br />

Ebenfalls der Norm unterworfen sind<br />

die Maße eines Fischstäbchens: neun Zentimeter<br />

lang, 26 Millimeter breit und elf Millimeter<br />

hoch, das ist internationaler Standard.<br />

Vor 50 Jahren steckte Hering in der<br />

Panadehülle des Fischstäbchens, später<br />

Kabeljau. Heute stellt Marktführer Iglo den<br />

Klassiker aus Alaska-Pollack her, von der<br />

Industrie zum „Seelachs“ befördert, obwohl<br />

er wie der Kabeljau zur Familie der Dorsche<br />

gehört. Fisch ist zu einer knappen Rohware<br />

geworden, die Nachfrage steigt, und die<br />

Meere werden leerer. Anders als sein Verwandter<br />

gilt der Pollack zwar noch nicht als<br />

überfischt, doch als Fischstäbchenfisch der<br />

Zukunft wird der in Südostasien erfolgreich<br />

gezüchtete Pangasius gehandelt.<br />

Täglich sieben Millionen Fischstäbchen<br />

produziert Iglo in seinem Werk in Bremerhaven,<br />

rund 60 Prozent davon für den europäischen<br />

Export. Aneinandergereiht ergäbe<br />

das eine Strecke von 630 Kilometern, rechnet<br />

das Unternehmen vor. Wegen ihrer Hülle<br />

und dem Zubereiten in Fett sind Fischstäbchen<br />

kein leichtes Essen. Dennoch mögen<br />

die Bundesbürger sie von allen Tiefkühlfischsorten<br />

am liebsten. Insgesamt 188 Millionen<br />

verputzen wir pro Jahr, dabei essen zwei von<br />

drei Fischstäbchen die Erwachsenen. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter: Fotos: Michael Beerlage; Mauritius; www.fotex.de


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

IM MAUL DES KROKODILS<br />

<strong>Wie</strong> die Schraube in der Wand verschwand: Unter der Dusche kam Artur Fischer<br />

auf die Erkenntnis, warum ein sich spreizender Dübel die Schrauben besser hält<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Im Frühling hängen die Fensterläden schief,<br />

im Sommer kracht eine Lade nach der anderen<br />

herunter. So hat sich Artur Fischer<br />

den Häuschenbau nicht vorgestellt. Zumal er<br />

den Montagebolzen selbst entwickelt hatte.<br />

Aber die als Verankerung gedachten Gummiwülste<br />

an den Schrauben verlieren in der<br />

Sonne ihre Form. Mist, denkt Fischer. Und<br />

nimmt den Reinfall als Herausforderung.<br />

Wer in den 50er-Jahren etwas befestigen<br />

will, gipst die Schraube ein oder dreht sie in<br />

einen Dübel aus Hanf oder Blech. Stabil ist<br />

keine der Methoden, praktisch sowieso nicht.<br />

Ein neues Produkt muss endlich her, sagt sich<br />

Fischer, möglichst aus einem neuen Material.<br />

Zum Beispiel aus Kunststoff. Damit hat er<br />

bereits gute Erfahrungen gemacht, bei einem<br />

selbst erfundenen Blitzgerät für Fotoapparate.<br />

Zubehör für Fotografen – damit verdient der<br />

gelernte Schlosser sein Geld.<br />

Auf den Geistesblitz für „Lumetta“ war<br />

Fischer beim Duschen gekommen, dort lässt<br />

er seine Gedanken ungestört fließen. So auch<br />

an diesem Samstag im Spätsommer 1958. Als<br />

das Wasser auf seinen Körper prasselt, fällt<br />

ihm die Lösung des Dübelproblems ein: Was<br />

enable 01/2010<br />

halten soll, überlegt er sich, muss Widerstand<br />

gegen die Umgebung leisten. Den Nachmittag<br />

verbringt Fischer in seiner Werkstatt. Er<br />

spannt ein rundes Polyamidstück in den<br />

Schraubstock und feilt an den Seiten tiefe<br />

Kerben ein. Den so mit Zähnen versehenen<br />

Kunststoffstab sägt er auf drei Viertel der<br />

Länge ein. Dann bohrt er am Kopfstück ein<br />

Loch und dreht vorsichtig eine Schraube<br />

hinein. Je weiter er dreht, desto weiter klaffen<br />

die beiden Dübelhälften auf. <strong>Wie</strong> das Maul<br />

eines Krokodils, denkt Fischer, genau so habe<br />

ich es mir vorgestellt.<br />

AM MONTAG führt er den Spreiz dübel vor.<br />

<strong>Wie</strong> einbetoniert halten die Schrauben im<br />

Dübel und die Dübel in der Wand. Fischers<br />

Leute sind begeistert, der Erfinder aber noch<br />

nicht: Der Dübel soll fest im Bohrloch sitzen,<br />

bevor ihn die Schraube auseinanderdrückt.<br />

Zwei abstehende Sperrzungen bringen<br />

schließlich die gewünschte Stabilität, egal ob<br />

in einer harten oder einer weichen Wand.<br />

Am 8. November 1958 bekommt Fischer<br />

die Patentschrift für den Spreizdübel. Viel<br />

wichtiger aber ist die Anerkennung von den<br />

Handwerkern. Und die sind vom ersten Tag<br />

an überzeugt. Wenige Tage nur ist Fischers<br />

Vertreter mit dem S-Dübel im Land unterwegs,<br />

da telegrafiert er schon eine Wochenbestellung<br />

von 10 000 Dübeln. Anfangs sind<br />

sie schwarz, doch in hellen Tapeten fällt die<br />

Farbe zu sehr auf, also steigt Fischer schnell<br />

auf Arbeitskittel-Grau um. Die Farbe handwerklicher<br />

Alltagstüchtigkeit, findet er. Der<br />

kleine Graue aus dem Schwarzwald tritt<br />

einen Siegeszug um die ganze Welt an und<br />

wird zum meistproduzierten und meistkopierten<br />

Dübel der Welt.<br />

So macht der Coup des Artur Fischer aus<br />

seiner Firma im Norden des Schwarzwalds<br />

ein florierendes Unternehmen, das später<br />

auch die Fischertechnik-Baukästen auf den<br />

Markt bringt. Mehr als 2300 Patente hat das<br />

Unternehmen bislang angemeldet. Viele davon<br />

kommen vom Chef selbst, der am<br />

31. Dezember seinen 90. Geburtstag gefeiert<br />

hat. Sein Lebensmotto hat er bei beim Ingenieur<br />

und Dichter Max Eyth gefunden:<br />

„Nicht die Not macht erfinderisch, sondern<br />

die Erfindungen haben die größte Not, den<br />

Widerstand zu überwinden, mit denen ihnen<br />

eine wohlgeordnete, im Großen und Ganzen<br />

selbstzufriedene Welt von allen Seiten entgegentritt.“<br />

Nur auf Fischers Spreizdübel passt<br />

das nicht. Der hält die Welt zusammen. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Sudann Richter; Fotos: dpa-Report (4); Fischer


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

DAS PRINZIP TÜTENSUPPE<br />

Zuerst erfand Julius Maggi die Rezeptur für nährstoffreiche Trockensuppen.<br />

Anschließend sorgte er dafür, dass die Suppen auch nach etwas schmecken<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Die industrielle Revolution läuft auf<br />

Hochtouren, Bauern und Hausfrauen<br />

werden zu Fabrikarbeitern,<br />

die Menschen sind arm und unterernährt.<br />

Um die Not der neuen Arbeiterklasse im<br />

Land zu lindern, beauftragt ein gemeinnütziger<br />

Schweizer Verband in den 1880er-<br />

Jahren den Mühlenbesitzer Julius Maggi mit<br />

dem Entwickeln von Nahrungsmitteln aus<br />

Hülsenfrüchten. Die sind schließlich billig<br />

und stecken voller Proteine. Schnell zubereiten<br />

lassen soll sich das neue Essen auch. Wer<br />

arbeitet, hat wenig Zeit zum Kochen.<br />

Ein Produkt erfinden, das hat Maggi bisher<br />

noch nie gemacht. Trotzdem sagt er sofort<br />

zu, denn in seiner Branche kriselt es heftig.<br />

Dank neuer Technik mahlen die Mühlen<br />

zwar mehr Mehl, doch damit wächst nur die<br />

Konkurrenz. Ein wachsender Importhandel<br />

verschärft die Lage, die ersten Müller gehen<br />

bereits pleite. Maggi kommt der ungewöhnliche<br />

Auftrag daher wie gerufen. Er lässt sich<br />

von Chemikern und Ernährungsexperten<br />

beraten, analysiert die Eigenschaften von<br />

Erbsen, Bohnen und Linsen, experimentiert<br />

an seinen Mahlmaschinen. Zwei Jahre später<br />

enable 12/2009<br />

gelingt es Maggi endlich, die Hülsenfrüchte<br />

in leicht verdauliches und nährwertreiches<br />

Mehl zu verwandeln.<br />

Das Mehl ist die Basis für seine ersten<br />

Instantsuppen. Drei Sorten sind Maggi zu<br />

wenig, also investiert er in neue Versuche und<br />

entwickelt ein Verfahren zum Trocknen von<br />

Gemüse. Damit bringt er 1886 ein Sortiment<br />

von kochfertigen Trockensuppen auf den<br />

Markt. Verpackt sind sie in einer handlichen<br />

Rolle. Aufreißen, in kochendes Wasser einrühren,<br />

ein paar Minuten köcheln lassen, fertig.<br />

Das Prinzip Tütensuppe ist geboren. So<br />

stand Maggi schon vor mehr als hundert Jahren<br />

für das, was heute als „Convenience“ bekannt<br />

ist: Kochen für Faule.<br />

Für den Schweizer Unternehmer bedeutet<br />

die schnelle Nahrung den wirtschaftlichen<br />

<strong>Durchbruch</strong>. Vom Erfolg seiner Produkte<br />

überzeugt, gründet er innerhalb von nur drei<br />

Jahren Niederlassungen in ganz Europa und<br />

in den USA. So erobern die Suppen die Welt.<br />

Doch Julius Maggi denkt weiter als andere<br />

Industrielle. Um die Leistungsfähigkeit seines<br />

Unternehmens zu sichern, macht er sich daran,<br />

das Leben seiner Arbeiter zu verbessern.<br />

Maggi baut Firmenkantinen, Wohnungen<br />

und Ferienheime, gibt seinen Leuten den<br />

Samstagnachmittag frei, gründet eine eigene<br />

Kranken- und Rentenkasse und schließt Arbeitsverträge<br />

ab. So verbindet er als einer der<br />

ersten Unternehmer seiner Ära Profit interesse<br />

mit sozialem Engagement.<br />

Auch beim Marketing erweist sich Maggi<br />

als Pionier. Die firmeneigene „Abteilung für<br />

Presse und Reklame“ sorgt dafür, dass der<br />

Name Maggi in Zeitungsannoncen weltweit<br />

erscheint. Mit Emailleschildern wird eine der<br />

ersten großen Straßenkampagnen gestartet.<br />

Früh erkennt der Unternehmer, wie wichtig<br />

flotte Werbesprüche sind. „Alles Wohl beruht<br />

auf Paarung. <strong>Wie</strong> dem Leben Poesie fehle<br />

Maggi’s Suppen-Nahrung Maggi’s Speise-<br />

Würze nie!“, textet sein Werbechef, der spätere<br />

Skandaldramatiker Frank Wedekind.<br />

Schon im Jahr der ersten Tütensuppe hatte<br />

Maggi ein weiteres Produkt entwickelt, die<br />

Maggi-Würze. Aus Sojabohnen und Weizen<br />

gewonnen, sollte die dunkelbraune Tunke<br />

den Geschmack von Fleischextrakt ersetzen.<br />

Erst mit einem ordentlichen Spritzer aus der<br />

viereckigen Glasflasche wurde Maggis Tütenterrine<br />

lecker. Dass Suppe auch nach etwas<br />

schmecken muss, hatte der Schweizer Verband<br />

bei seinem Auftrag an Maggi nämlich<br />

völlig vergessen. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: Fotex/Camerique; akg-images; Getty Images/Apic ; FTD/Susann Richter (6)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

HASTE TÖNE?<br />

Dass ihm bei der Erfindung des Telefons jemand zuvorgekommen war, spornte<br />

Emil Berliner zusätzlich an. Seine Schallplatte wurde fast ebenso wegweisend<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Amerika steht unter Strom. Ein Netz<br />

aus Telegrafendrähten zieht sich über<br />

das Land, Tüftler erproben, was <strong>alles</strong><br />

mit Strom möglich ist. Auch neben dem Bett<br />

von Emil Berliner stapeln sich Bücher über<br />

Elektrizität und Akustik; wenn der Einwanderer<br />

aus Hannover von seinem Aushilfsjob in<br />

einem Textilgeschäft kommt, liest er bis spät<br />

in die Nacht. Vor allem faszinieren ihn die<br />

Versuche, menschliche Stimmen auf elektrischem<br />

Weg zu übertragen. Berliner skizziert<br />

Entwürfe und bastelt an einem Fernsprechgerät.<br />

Als Alexander Graham Bell 1876 das<br />

Telefon zum Patent anmeldet, ist Berliner keineswegs<br />

entmutigt. Er konzentriert sich auf<br />

den Mikrofonteil des Apparats, ein Jahr später<br />

lässt er die Fernsprechmuschel patentieren.<br />

Bell ist beeindruckt, der Ton ist viel besser als<br />

bei seinem Gerät. Für 75 000 $ kauft er dem<br />

Deutschen die Erfindung ab und bietet ihm<br />

eine Stelle in seiner Firma an.<br />

Berliner schlägt ein. In Bells Betrieb aber<br />

fühlt der junge Erfinder sich schnell unwohl,<br />

für das Tüfteln bleibt ihm keine Zeit. Also<br />

macht Berliner sich selbstständig und arbei-<br />

enable 11/2009<br />

tet an einer neuen Technik zum Aufnehmen<br />

der Stimme, besser als die von �omas<br />

Alva Edison. Dessen Phonograph von 1877<br />

nimmt Stimmen über zinn- oder wachsbeschichtete<br />

Walzen auf: aufwendig und für<br />

eine große Zahl an Kopien zu teuer.<br />

Berliner ändert beim Schallaufzeichnen<br />

den Winkel zwischen Nadel und Trägerfolie<br />

um 90 Grad. Das Gerät ritzt aufgenommene<br />

Töne nicht mehr in die Oberfläche eines sich<br />

drehenden Zylinders wie bei Edison, sondern<br />

in eine mit Ruß überzogene, sich horizontal<br />

drehende Glasscheibe. Den Ruß härtet Berliner,<br />

so kann er ein Positiv aus Zink und von<br />

diesem ein Negativ der Platte fertigen, das<br />

wiederum als Stempel zum Pressen beliebig<br />

vieler Positive dient.<br />

IM HERBST 1887 meldet Berliner sein „Verfahren<br />

und Apparat für das Registrieren und<br />

<strong>Wie</strong>derhervorbringen von Tönen“ zum Patent<br />

an. Ein Jahr später stellt er das Abspielgerät<br />

dazu vor, das Grammofon. Investoren<br />

findet er nicht. Also pumpt Berliner Freunde<br />

und Gönner an und gründet in Philadelphia<br />

die Berliner Gramophone Company. Dort<br />

produziert er sowohl Geräte als auch Platten.<br />

Doch die Menschen kaufen sie nicht: vier<br />

Minuten Laufzeit, grauenhafter Klang. Das<br />

bleibt, auch als Berliner das Zinkblech erst<br />

durch Zelluloid, dann durch Hartgummi<br />

ersetzt. Erst die Ausscheidungen der Kerria<br />

lacca bringen den <strong>Durchbruch</strong>. Das als<br />

Schellack bekannte Sekret der Lackschildläuse<br />

bindet Gesteinsmehl, Ruß und Pflanzenfasern<br />

zu einer verschleißfesten Masse. Berliner<br />

ist begeistert, die Musikliebhaber sind es<br />

auch. Schellackplatten sind nicht nur haltbarer,<br />

vor allem klingen sie auch klasse.<br />

1900 vertreibt Berliner von Kanada aus<br />

Schallplatten und Grammofone unter dem<br />

Label „His Master’s Voice“. Markenzeichen<br />

ist ein Foxterrier namens Nipper, der am<br />

Trichter eines Grammofons lauscht. Schnell<br />

ist das Label bekannt wie ein bunter Hund,<br />

ein Jahr später sind bereits zwei Millionen<br />

schwarze Scheiben verkauft.<br />

Das Geschäft brummt, auch ohne Emil<br />

Berliner. Das lässt dem Erfinder die Zeit zum<br />

Erfinden. Am liebsten sitzt er in seiner Werkstatt<br />

und macht sich Gedanken, über die<br />

Rundfunktechnik zum Beispiel. Das beschert<br />

dem kanadischen Montreal nach Ende des<br />

Ersten Weltkriegs den ersten Radiosender. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (10), Interfoto/Lebrecht Music Collection; W. M. Weber/TV-yesterday


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

DAS GEHEIMNIS DER PYRAMIDE<br />

Fast ein halbes Jahrhundert wurde an Kartonverpackungen für Milch getüftelt.<br />

Dann gab Elisabeth Rausing den entscheidenden Tipp für den Tetra Pak<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Als Ruben Rausing in New York studiert,<br />

verbringt er seine Zeit gern in Lebensmittelgeschäften.<br />

Die amerikanische<br />

Einkaufsart fasziniert den jungen Schweden:<br />

Während sich die Menschen in Europa in<br />

den 20er-Jahren ihre Waren individuell abwiegen<br />

und verpacken lassen, nehmen die<br />

New Yorker <strong>alles</strong> selbst aus dem Regal und<br />

tragen es zur Kasse.<br />

Nachahmenswert, findet Rausing. Doch<br />

in Europa lassen sich Lebensmittel nicht so<br />

einfach transportieren und lagern. Voraussetzung<br />

dafür sind entsprechende Verpackungen<br />

wie die in den USA. Dort gibt es bereits seit<br />

1906 Milchkartons, durchgesetzt haben sie<br />

sich nach zwei Jahrzehnten immer noch<br />

nicht. Die Qualität ist nicht so überzeugend,<br />

dass die Amerikaner auf ihre traditionellen<br />

Glas flaschen verzichten würden.<br />

Aber die Zukunft liegt im Karton, davon<br />

ist Rausing überzeugt. Nach seiner Rückkehr<br />

gründet er 1929 in Lund die erste Verpackungsfirma<br />

Schwedens. Kartons und Tüten<br />

für Lebensmittel wie Mehl, Salz und Zucker<br />

sind bald auf dem Markt. Die Händler bauen<br />

Regale in ihre Geschäfte ein und stellen<br />

enable 10/2009<br />

auf Selbstbedienung um, die ersten Supermärkte<br />

eröffnen.<br />

Nur die Milch gibt es auch in Schweden<br />

weiterhin in Flaschen. Rausings Team forscht<br />

jahrelang, experimentiert mit verschiedenen<br />

Kartonformaten. Der Chef wird immer genervter:<br />

Das muss doch gehen!<br />

GEHT AUCH. Endlich, im Februar 1944,<br />

kommt Laborassistent Erik Wallenberg auf<br />

die Lösung. Er versiegelt den Boden eines<br />

Papp zylinders und danach in einem rechten<br />

Winkel dazu stehend dessen Dach. So entsteht<br />

eine Verpackung mit vier Dreiecksflächen,<br />

ein Tetraeder. Milch in einer Papppyramide?<br />

Rausing ist skeptisch. Wallenbergs<br />

Argument, „ein Minimum an Material, aber<br />

ein Maximum an Volumen“, überzeugt den<br />

Chef schließlich, er meldet das Format zum<br />

Patent an und tauft es Tetra Pak.<br />

Milchkäufer lernen das Tetra Pak vorerst<br />

nicht kennen. Die Pappe mit einer Kunststoffschicht<br />

zu überziehen ist für die Forscher<br />

zwar kein Problem – an der Konstruktion<br />

einer Abfüllmaschine dagegen verzweifeln sie<br />

fast. Sieben Jahre pusselt das Team herum,<br />

bis Rausings Frau Elisabeth eines Tages beim<br />

Mittagessen die Lösung liefert: Warum ver-<br />

siegelt ihr die Kartons nicht, während die<br />

Milch in sie hineinfließt?, fragt sie. Denk an<br />

Würste, Ruben, wenn man Würste stopft, ist<br />

es genau das gleiche Prinzip.<br />

Elisabeth Rausing hat recht. 1951 stellt<br />

die schwedische Firma ihre Abfüllanlage vor.<br />

Die Maschine pumpt von oben Milch in den<br />

Pappzylinder und schnürt jeden Tetra Pak ein<br />

Stück unterhalb des Flüssigkeitspegels ab. So<br />

dringt keine Luft hinein, die Milch bleibt<br />

keimfrei und ist mehrere Tage bei Zimmertemperatur<br />

haltbar. Außerdem lässt sich die<br />

neue Verpackung einfach flachlegen und entsorgen.<br />

Mit der „Packung von der Rolle“<br />

krempelt Tetra Pak das Verhältnis der Verbraucher<br />

zur Milch grundlegend um.<br />

Firmenchef Rausing und seine Söhne<br />

setzen sofort auf Expansion, wollen weltweit<br />

den Standard setzen. Heute bietet der Konzern<br />

neun verschiedene Verpackungssysteme<br />

und etwa 300 Formen und Größen für<br />

Getränke aller Art. Bei H-Milch hält Tetra<br />

Pak einen Marktanteil von 83 Prozent, längst<br />

ist es zum Synonym für alle ähnlichen Konzepte<br />

geworden.<br />

Die klassische Papppyramide allerdings ist<br />

fast völlig verschwunden. Nur Kaffeesahne<br />

gibt es mitunter noch im Mini-Tetraeder. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (2); Stills-Online (2); picture-alliance/dpa/Pressens Bild; Tetra Pak Deutschland; Interfoto/Günter Höhne; Food Centrale Hamburg/Seiffe


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

ALLES EINE SOSSE<br />

Die Tunke aus dem Reich der Legenden: Hamburg und Berlin streiten sich,<br />

wo die Currywurst denn nun wirklich erfunden worden ist<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Herta Heuwer guckt in die Regennacht<br />

und seufzt, in den Straßengossen<br />

fließen kleine Bäche, seit Stunden ist<br />

kein hungriger Arbeiter an ihrer Imbissbude<br />

aufgetaucht. Gelangweilt rührt sie in den<br />

Töpfen, mischt Tomatenmark mit Wasser<br />

und Gewürzen, ein weiterer Versuch für eine<br />

neue Soße, bisher war sie mit ihren Kreationen<br />

nie zufrieden. Heuwer schmeckt ab<br />

und würzt nach, ein bisschen Pfeffer, eine<br />

Spur Paprika. Nicht schlecht, findet sie, aber<br />

noch zu fad. Vielleicht sollte sie etwas ganz<br />

Neues wagen, einen Hauch Curry zum Beispiel,<br />

das gibt es erst seit Kurzem, bisher kam<br />

ihr das gelbe Zeug nicht ins Essen. Kaum hat<br />

sie die neue Mischung probiert, ist sie überzeugt:<br />

Würzig und nicht zu scharf, der Curry<br />

macht’s, einfach herrlich!<br />

Es ist der 4. September 1949, als Herta<br />

Heuwer in Berlin zum ersten Mal die Currysoße<br />

anrührt. US-Soldaten haben Heuwer auf<br />

die Idee gebracht, denn ein ordentliches Stück<br />

Fleisch mit Ketchup vermissen die Amerikaner<br />

in der besetzten Stadt. Ketchup? Gibt’s<br />

nicht. Also experimentiert Heuwer immer<br />

enable 09/2009<br />

wieder in ihrer Charlottenburger Bratbude.<br />

Als ihr der Mix endlich schmeckt, ist das<br />

„Steak des kleinen Mannes“ fertig und<br />

Deutschlands beliebtestes Fast Food geboren.<br />

NICHTS DA! Bei uns gab es die Currywurst<br />

schon viel früher, heißt es in Hamburg. Ihre<br />

Erfinderin sei angeblich Lena Brücker. Als<br />

die mit drei Flaschen Ketchup und einer<br />

Dose Currypulver auf der Treppe stolpert,<br />

vermischt sich <strong>alles</strong> zu einer fruchtig-scharfen<br />

Soße, die sie fortan zu zerschnittenen Kalbsbratwürsten<br />

serviert. So erzählt es Uwe Timm<br />

in seinem Roman „Die Erfindung der Currywurst“.<br />

Darin geht es zwar weniger um die<br />

Wurst als um die deutsche Nachkriegszeit,<br />

aber Timm beharrt: Seine erste Currywurst<br />

habe er 1947 an einer Bude am Hamburger<br />

Großneumarkt gegessen. Bei Frau Brücker.<br />

Damit war, wir schreiben die 90er-Jahre,<br />

der Streit entbrannt. „Ich hab das Patent und<br />

damit basta!“, wetterte die 83-jährige Herta<br />

Heuwer in der Berliner Lokalpresse. 1959<br />

ließ sie sich ihre „Chillup“-Soße als Marke<br />

schützen, ihre Bude an der Kaiser-Friedrich-<br />

Straße, Ecke Kantstraße nannte sie stolz „Erste<br />

Currywurst Braterei der Welt“. Heuwers<br />

Fans brachten dort 2003 eine Gedenktafel<br />

an, Tage später konterten Hamburger Wurstfreaks<br />

mit dem Aufhängen eines entsprechenden<br />

Schilds für Romanheldin Brücker.<br />

Im Deutschland werden jedes Jahr rund<br />

860 Millionen Currywürste gegessen. Von<br />

Hamburger, Döner, Sushi und Falafel hat<br />

sich die „Curry“ nie kleinkriegen lassen. Entstanden<br />

aus dem Zwang zum Improvisieren<br />

in schlechten Zeiten, ist sie auch ein Produkt<br />

der Tradition. Schließlich kamen Bratwürste<br />

schon früher mit einer Soße auf den Tisch,<br />

damit man sie besser schlucken konnte. Bei<br />

der „Curry“ aber ist die scharfe Tomatentunke<br />

wichtiger als die Wurst.<br />

In Berlin wird in Öl gebrutzelte Curry<br />

„mit“ und „ohne“ verkauft. Gemeint ist die<br />

Pelle. Die zwei Varianten stammen aus DDR-<br />

Zeiten – Naturdarm war im Osten knapp. Im<br />

Ruhrgebiet hat die Curry eine Bratwurstbasis,<br />

zerstückelt wird sie im eigens dafür entwickelten<br />

Schneide gerät. Außerdem gehört ihr<br />

dort eine eigene Hymne. „Gehse inne Stadt,<br />

wat macht dich da satt?“, fragt Herbert Grönemeyer<br />

und antwortet: „‚Ne Currywurst.“<br />

Das können auch die Hamburger und die<br />

Berliner sofort unterschreiben. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (4); Ullstein Bild - von der Becke; Caro/Hechtenberg; Caro/Muhs


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

NEUES SPIEL, NEUES GLÜCK<br />

Lothar Lammers und Peter Weiand geben dem Glücksspiel einen neuen Schub<br />

und erfinden die Lottoformel „6 aus 49“<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Immer nur Fußball. Genervt sitzt Lothar<br />

Lammers vor einem Stapel Wettscheine.<br />

Mit dem Auswerten der Zettel für die<br />

Westdeutsche Toto-Gesellschaft finanziert er<br />

sich sein Studium in Köln, Anfang der 50er-<br />

Jahre ist das kein schlechter Nebenjob. Aber<br />

Lammers geht es um mehr, er will das System<br />

verändern. Nachts schreibt der künftige<br />

Betriebswirt trockene Uni-Arbeiten über die<br />

Organisation von Lotto-Toto-Gesellschaften,<br />

tagsüber grübelt er darüber nach, wie sich<br />

mit Glücksspiel richtig Geld machen lässt.<br />

Auch Peter Weiand arbeitet als Hilfskraft<br />

in der Toto-Auswertung, „unser Rechenaugust“<br />

nennt ihn Lammers. Mathematiker<br />

und Marketingexperte verbünden sich. Sie<br />

brauchen ein Spiel, für das man keine<br />

Ahnung haben muss von Fußball, überlegen<br />

sie, denn das schreckt beim Toto vor allem<br />

die Frauen ab. Ein Spiel mit Gleichberechtigungsfaktor<br />

also. Und eins mit Demokratiefaktor,<br />

bei dem mit kleinem Einsatz nicht<br />

nur einer groß abräumt, sondern ganz viele<br />

ein bisschen gewinnen.<br />

Monatelang tüfteln die jungen Männer an<br />

einer neuen Spielformel. Sie analysieren die<br />

enable 08/2009<br />

Wettsysteme in anderen Ländern und testen<br />

auch die „5 aus 90“-Formel, entstanden im<br />

16. Jahrhundert im italienischen Genua, als<br />

dort auf das Auslosen von fünf Senatoren aus<br />

90 Kandidaten hohe Wetten liefen. Doch die<br />

Trefferquote dieser Urformel ist zu gering,<br />

um das Spiel attraktiv zu machen. Mit sechs<br />

Kreuzchen in 49 Kästchen aber, errechnet<br />

Weiand, damit kann es klappen. Stift und<br />

Tippschein, schon ist man dabei. Einfacher<br />

kann der Weg zum Lottoglück nicht sein.<br />

DAS POTENZIAL der neuen Spielformel<br />

erkennt bei der Toto-Gesellschaft niemand.<br />

„Ihr seid doch wahnsinnig!“, bügelt der damalige<br />

Geschäftsführer seine Aushilfskräfte<br />

ab. Lammers und Weiand kochen, dann holen<br />

sie tief Luft und kündigen den Job. Doch<br />

anstatt ihre Idee zu begraben, fahren die beiden<br />

nach Hamburg zum Bankenkonsortium,<br />

das die vom Fußballtoto fast ins Aus geschossene<br />

Nordwestdeutsche Klassenlotterie betreibt.<br />

Dort rennen sie mit ihrem „6 aus<br />

49“-Konzept offene Türen ein. Ein neues Unternehmen<br />

entsteht, und am 9. Oktober 1955<br />

zieht die el�ährige Elvira Hahn in Hamburg<br />

aus einem Kasten mit 49 Plexiglaskugeln die<br />

erste Gewinnzahl, ausgerechnet eine 13.<br />

Lammers und Weiand aber haben das<br />

Glück auf ihrer Seite. Für die erste Ziehung<br />

waren fast 260 000 Scheine abgegeben worden.<br />

Ein Jahr später liegt der Lottoumsatz bei<br />

1 Mio. DM. Toto spielen nur noch beinharte<br />

Fußballfans. Die nordrhein-westfälische Regierung<br />

überträgt den Toto-Betrieb auf die<br />

boomende Lottogesellschaft – späte Genugtuung<br />

für die Lotto-Geschäftsführer Lammers<br />

und Weiand, so werden ihre ehemaligen<br />

Chefs ihre Angestellten.<br />

Der Rheinländer Weiand kommt trotz<br />

Lotto vom Fußball nicht los, von 1973 bis<br />

1987 ist er Präsident des 1. FC Köln. Lammers<br />

aber widmet sein Leben dem neuen<br />

Glücksspiel. Bis in die 80er-Jahre führt er die<br />

Westdeutsche Lotteriegesellschaft. Nebenbei<br />

macht er das Glücksspiel in aller Welt bekannt.<br />

Lammers selbst spielt selten, einmal<br />

hatte er vier Richtige, kokettiert er.<br />

Trotzdem genießt er heute das Rentnerleben<br />

in einem luxuriösen Jachtstädtchen am<br />

Golf von Saint-Tropez. Gewinnen wollte<br />

Lammers nie im, immer nur am Lotto. Vermutlich<br />

hat er sich das vom Goldrausch in<br />

Kalifornien abgeguckt. Dort wurden nicht<br />

die Schatzsucher reich, sondern die Verkäufer<br />

von Schaufeln und Sieben. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (2); Ullstein Bild - Bethke


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

URLAUB FÜR DIE FÜSSE<br />

So bequem und praktisch Badelatschen auch sind, so hässlich sind sie meist.<br />

Stefanie Schulze mochte das nicht akzeptieren – und kreierte die Flip-Flops<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Beim Frühstück im Hotel tragen die<br />

Typen am Nebentisch Gummisandalen,<br />

später schlappen drei Schönheiten<br />

darin aus dem Aufzug, jetzt steht ein Pärchen<br />

in blauen Adiletten vor der Rezeption. Stefanie<br />

Schulzes ästhetische Toleranzgrenze ist<br />

überschritten. Warum bloß so viel Hässlichkeit<br />

an gepflegten Füßen? Im selben Moment<br />

weiß sie die Antwort: weil es keine schicke<br />

Alternative gibt zu prolligen Badelatschen.<br />

Als Schulze Anfang der 90er-Jahre aus den<br />

USA zurückzieht nach Deutschland, hat sie<br />

ihn im Gepäck: den Traum von der eigenen<br />

Sandalenmarke. Schulze denkt an die billigen<br />

Badelatschen, die ihr als Kind im Italienurlaub<br />

die Füße wund scheuerten. Hart die<br />

Sohle, dünn der Zehenriemen, das erinnert<br />

an Armeleutesandalen in Asien und Südamerika.<br />

Dennoch findet Schulze das simple<br />

Sommermodell nach wie vor cool und praktisch.<br />

Warum etwas Neues erfinden? Die<br />

Dinger müssen wieder auf den Markt! Die<br />

Werbefachfrau ist keine Modeschöpferin,<br />

sondern eine Macherin. Für einen <strong>Durchbruch</strong>,<br />

das ist ihr klar, brauchen die Treter,<br />

was ihnen bisher fehlte: ein positives Image.<br />

enable 07/2009<br />

flop<br />

flop<br />

flip flip<br />

flop<br />

flip<br />

Das beginnt bei einem markanten Namen.<br />

In San Francisco hat Schulze die Sandalen als<br />

„thongs“ kennengelernt; wegen des Geräuschs,<br />

das sie beim Gehen machen, sprachen fast alle<br />

nur von „flip-flops“. Eigentlich perfekt, findet<br />

die deutsche Werbefrau. 1997 lässt sie sich<br />

den Namen als Marke schützen, beantragt<br />

Existenzgründungsgeld und verwandelt ihr<br />

Wohnzimmer in eine Firmenzentrale. Von<br />

dort aus arbeitet die damals 39-Jährige daran,<br />

die Urlaubssandale unter einem amerikanischen<br />

Slangbegriff wiederzubeleben.<br />

WEICH, ABER STABIL sollen die Schuhe<br />

sein. Ganz Osteuropa klappert Schulze ab,<br />

bis ein Hersteller gefunden ist, der das optimale<br />

Schaumstoffgemisch entwirft. Mit einer<br />

Werbeagentur kreiert Schulze das Logo der<br />

Flip-Flops, eine schlichte Blüte ähnlich der<br />

Pril-Blume aus den 70ern. Damit ist das<br />

Revivalprodukt komplett.<br />

Schulze lässt eine Musterkollektion in<br />

kräftigen Farben produzieren und fährt mit<br />

einem Kofferraum voller Schlappen zur Düsseldorfer<br />

Schuhmesse. Viele Einkäufer sind<br />

begeistert. Endlich sind die Badeschlappen<br />

wieder da, doch jetzt sehen sie auch schön<br />

aus und sind freundlich zum Fuß.<br />

Mit Bestellungen für mehrere Tausend<br />

Paar Flip-Flops reist die Jungunternehmerin<br />

wieder ab. Für teure Werbeanzeigen fehlt ihr<br />

das Geld, also schickt sie Probeexemplare an<br />

Frauenzeitschriften. „�e shoe must go on“<br />

betitelt Schulze ihre erste Pressemitteilung<br />

und dekoriert das Ganze mit Papierblümchen.<br />

Die Redaktionen finden das Konzept<br />

klasse, ein Magazin widmet den neuen Badelatschen<br />

eine ganze Seite im Heft, andere verpassen<br />

den Models auf den Modeseiten die<br />

lässigen Schlappen. Das bedeutet Trendalarm,<br />

alle müssen sie haben. 2002 werden<br />

sechs Millionen Paar verkauft. Schnell kopieren<br />

die Billigmodeketten das Konzept, Modedesigner<br />

gestalten Nobelversionen.<br />

Flip-Flop wird zum Synonym für Zehenriemensandalen.<br />

Badelatschen sind von gestern<br />

und sowieso proll. Schulze nutzt den<br />

Erfolg, um die Marke auszubauen, und bringt<br />

ähnliche Produkte heraus. 2003 verkauft sie<br />

die Rechte an den Schuhhersteller Hummel.<br />

Auch er will das Urlaubsgefühl der Flip-Flops<br />

auf Mode und Accessoires übertragen. Heute<br />

gehören sogar winterkompatible Lederstiefel<br />

zum Sortiment. Aber auch mit den Originalen<br />

schafft man es durch die kalten Tage –<br />

schließlich gibt es Flip-Flop-Socken. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (8)


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

MÄDCHENBIER<br />

Echte Männer trinken Bier, wahre Frauen nippen lieber an Sektkelchen. So war<br />

das früher. Bis Beck’s Gold für die Emanzipation des Bieres gesorgt hat<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Es war einmal, vor nicht allzu langer<br />

Zeit, da galt Biertrinken als Männersache.<br />

Herb der Geschmack, derb das<br />

Image. Frauen feierten mit Prosecco. Wollten<br />

sie sich im Sommer ausnahmsweise mit Bier<br />

beduseln, bestellten sie eine milde Sorte aus<br />

Mexiko und quetschten ein Stück Limette<br />

tief in den Flaschenhals.<br />

Wenn die Frauen nicht ans Bier wollen,<br />

muss das Bier weiblicher werden, überlegten<br />

sich vor acht Jahren die Manager der Bremer<br />

Brauerei Beck & Co. Jeder kannte das Beck’s<br />

in der grünen Flasche, doch das herbe Gesöff<br />

war ausgereizt. Trotz des Beck’s-Schiffs mit<br />

grünen Segeln galt die Marke nicht mehr als<br />

cool. Vor allem 25- bis 35-jährige Großstädter<br />

fanden das deutsche Traditionsgetränk<br />

spießig. Eine Folge: Deutschlandweit sackte<br />

der Bierkonsum ab.<br />

Die Brauereien versuchten mit Hinweisen<br />

auf das Reinheitsgebot gegenzusteuern und<br />

warben mit glasklaren Gebirgsbächen,<br />

munteren Singvögeln und alternden Fußballstars.<br />

Das kann nichts werden, dachte sich<br />

Andreas Hilger, damals Marketingchef der<br />

Beck’s-Schwestermarke Haake-Beck. Er trieb<br />

enable 06/2009<br />

die Revolution am Braukessel voran. Beck’s<br />

muss schicker aussehen und milder schmecken,<br />

lautete seine Parole, nur so gewinnen<br />

wir neue Käufer, nur so erobern wir die<br />

Frauen. Niemals, hielten die Traditionalisten<br />

im Haus entschieden dagegen: Wir stellen<br />

Bier her, keine Limonade!<br />

EIN VERWÄSSERN der Marke hatten die<br />

Lordsiegelbewahrer bei Beck’s schon Anfang<br />

der 90er-Jahre befürchtet, als ein alkohol freies<br />

Bier eingeführt wurde. Jetzt ging es wieder<br />

rund. Die Revoluzzer präsentierten die Ergebnisse<br />

von Marktforschungstests, ihre Gegner<br />

schnaubten nur: <strong>Wie</strong> oft hatten solche<br />

Tests in die Irre geführt. Nach monatelangen<br />

Diskussionen schlug sich die Geschäftsführung<br />

auf die Seite der Modernisierer: Das<br />

Argument mit den Frauen überzeugte sie.<br />

Anschließend wurde nur noch über das <strong>Wie</strong><br />

diskutiert. Die neue Marke muss als Beck’s-<br />

Baby erkennbar sein, waren sich die Bremer<br />

schnell einig, durfte aber auch nicht zu nah<br />

am grünen Klassiker liegen.<br />

Dann ging es Schlag auf Schlag. Die Braumeister<br />

verwendeten weniger Hopfen, so<br />

schmeckte das neue Bier weniger nach Bier.<br />

Die Glashütte entwickelte eine Klarglas-<br />

flasche mit Schutz vor ultraviolettem Licht,<br />

darin sah das neue Bier so schick aus wie seine<br />

exotischen Schwestern aus Mexiko. Und es<br />

verlor auch bei Sonnenschein nicht den<br />

Geschmack. Weil es golden in der Flasche<br />

schimmerte, stand der Name sofort fest:<br />

Beck’s Gold tauften die Bremer ihren Familienzuwachs,<br />

im Mai 2002 stellten sie ihn auf<br />

einer Party in Düsseldorf offiziell vor. Die<br />

weiblichen Gäste waren begeistert, endlich<br />

ein Bier, das etwas hermacht. Neben dem<br />

Namen sorgte ein uralter Marketingtrick für<br />

ein exklusives Image: Beck’s Gold wurde zunächst<br />

in kleinen Mengen produziert und war<br />

nur in ausgewählten Szeneläden zu haben.<br />

Ein Jahr später stand das Gold-Bier in den<br />

Supermarktregalen, 2004 kletterte der Absatz<br />

bereits über die 200 000-Hektoliter-Marke,<br />

mittlerweile wird etwa dreimal so viel verkauft.<br />

Heute gilt Beck’s Gold damit als erfolgreichste<br />

Produktneuheit in der deutschen<br />

Biergeschichte.<br />

Vom Erfolg des Lifestyle-Bieres wollen<br />

auch andere deutsche Brauereien profitieren<br />

und kopieren das Konzept. Marktforschern<br />

zufolge ist Beck’s Gold jedoch der Platzhirsch<br />

und hält aktuell mehr als 85 Prozent des<br />

Marktsegments. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: GettyImages: Bilderberg/Till Leeser; gettyimages/Adam Crowley; Inbev (3); FTD/Peter Raffelt (2)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

IM FALLE EINES FALLES ...<br />

… klebt Uhu wirklich <strong>alles</strong>. Und das vor allem, weil der Apotheker August Fischer<br />

den Gestank von Fischleim nicht mehr ertragen wollte<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Eigentlich war die Konkurrenz nicht zu<br />

toppen. Wer in den 20er-Jahren Klebstoff<br />

meint, sagt Syndetikon. Kein<br />

Wun der, der mit Fischleim hergestellte Alleskleber<br />

wird seit Jahrzehnten intelligent und<br />

ironisch beworben, Gratisextras wie Bastelbögen<br />

halten die Verkaufszahlen oben. „Syndetikon<br />

klebt, leimt und kittet <strong>alles</strong>“, den<br />

Slogan kennt damals jedes Kind.<br />

Dem Apotheker August Fischer im badischen<br />

Bühl stinken der fischige Kleber und<br />

alle anderen Knochenkleister ganz gewaltig.<br />

Klar, sie halten. Aber nicht gut genug, findet<br />

Fischer. Auch mit den selbst produzierten<br />

Klebstoffen auf Naturbasis ist er unzufrieden.<br />

Vor allem aber steht Fischer unter Druck,<br />

denn für seine kleine Büroartikelfabrik sieht<br />

es duster aus. Der Erste Weltkrieg hat den Familienbetrieb<br />

hart getroffen. Die wichtigsten<br />

Verkaufsregionen Elsass-Lothringen und das<br />

Saarland gehören dem Kriegsgegner Frankreich.<br />

Inflation und Weltwirtschaftskrise verschärfen<br />

die Lage, Fischers Firma hält sich<br />

kaum mehr über Wasser.<br />

Der vom Forschergeist getriebene Chef<br />

überträgt seinem ältesten Sohn die Geschäfte<br />

enable 05/2009<br />

und zieht sich ins Labor zurück. Nacht für<br />

Nacht experimentiert Fischer senior mit verschiedenen<br />

neuen Stoffen. 1932 schließlich<br />

gelingt dem ausgebildeten Lebensmittelchemiker<br />

der große Wurf. Aus verschiedenen<br />

Kunstharzen mixt er einen glasklaren Klebstoff,<br />

der schnell und dauerhaft einfach <strong>alles</strong><br />

verbindet: Papier, Pappe, Leder, Keramik,<br />

Porzellan, sogar den damals neuen Kunststoff<br />

Bakelit. Außerdem bleibt die Klebestelle elastisch,<br />

ist wasserfest und unempfindlich. Ein<br />

echter Alleskleber also.<br />

ERFINDER UND SOHN sind euphorisch:<br />

Das wird der Renner, damit ist sogar Syndetikon<br />

zu schlagen! Ein Name ist schnell gefunden.<br />

Bei Büroartikeln sind gerade Vogelnamen<br />

angesagt: Pelikan, Marabu, Greif und<br />

Schwan. Hugo Fischer kombiniert Trend mit<br />

Heimat und wählt als Wappentier den damals<br />

noch im Schwarzwald lebenden Uhu.<br />

Kaum sind die ersten Tuben in Handarbeit<br />

produziert, schickt der Juniorchef Gratisproben<br />

an Tausende Schulen in ganz Deutschland.<br />

Die Schüler sind so begeistert, dass 1938<br />

mit „Uhu hart“ ein Spezialklebstoff für Modellbaufreunde<br />

auf den Markt kommt. Als<br />

bes te Werbung entpuppt sich das Luftschiff<br />

„Hindenburg“. Der Zeppelin wurde mit Uhu<br />

gebaut, heißt es, weil im Inneren des Fliegers<br />

Klebstoff aus Bühl verwendet worden war.<br />

Der Zweite Weltkrieg unterbricht den<br />

Höhenflug. Uhu gilt zwar als „kriegswichtig“<br />

und darf weiterproduzieren, doch es gibt<br />

kaum mehr Rohstoffe. Eine Zeit lang kommt<br />

der Klebstoff nur in Tablettenform auf den<br />

Markt. In den 50ern aber geht es schnell wieder<br />

aufwärts. 1971 endet die Zeit des Familienunternehmens,<br />

Fischer & Fischer wird<br />

Teil der britischen Beecham-Gruppe. Heute<br />

gehört die Uhu GmbH & Co. KG zur niederländischen<br />

Bolton Group.<br />

Längst steht der schwarz-gelb verpackte<br />

Kleber als Synonym für Klebstoff allgemein.<br />

Eine ständig wachsende Produktpalette hat die<br />

Erfindung des August Fischer zum Haushaltsklebstoff<br />

Nummer eins werden lassen. Dutzende<br />

von Spezialklebern sind auf dem Markt;<br />

kein Problem, das sich nicht kleben lässt. Zu<br />

den Klassikern gehören die Flinke Flasche, der<br />

Sekundenkleber und der Uhu Stic.<br />

Vor allem aber liegt der Erfolg am eingängigen<br />

Werbeslogan. „Im Falle eines F<strong>alles</strong><br />

klebt Uhu wirklich <strong>alles</strong>.“ Dass der Fischleim<br />

Syndetikon einst mit fast den selben Worten<br />

warb, ist längst vergessen. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Susann Richter: Fotos: FTD/Maxim Sergienko (10); Uhu GmbH & Co. KG


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

HEISSE LUFT<br />

Alle anderen sind nur Haartrockner: In einem gelungenen Marketingcoup<br />

hat sich AEG den Namen „Fön“ gesichert<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Höllenlärm im Ankleidezimmer, dunkle<br />

Rauchwölkchen steigen auf, helle<br />

Funken sprühen. Die Dame des<br />

Hauses föhnt sich die Locken. Immer wieder<br />

drückt sie den Ausschalter und legt das<br />

monströse Metallgerät auf den Schminktisch.<br />

90 Grad heiße Luft speit es aus dem Düsenrohr<br />

und wiegt gut zwei Kilo. Anfang des<br />

20. Jahrhunderts ist Haarstyling gefährliches<br />

Krafttraining.<br />

Um Frisuren geht es damals eher selten.<br />

Rheuma, Gicht und Furunkel therapieren<br />

soll die elektrische Luftdusche, klamme Bettwäsche<br />

anwärmen, schlappe Federboas aufplustern,<br />

nasse Hunde trocknen. 1899 bringt<br />

die Allgemeine Electricitäts Gesellschaft,<br />

kurz AEG, die klobige Urform des heutigen<br />

Föhns auf den Markt. Das Prinzip: Ein Gebläse<br />

leitet die Luft über strombeheizte Glühdrahtschnecken.<br />

Doch der Apparat hat nur<br />

schlappe 300 Watt, und sein schwerer Motor<br />

steckt im Griff.<br />

ELEKTRIZITÄT IST LUXUS, nur wohlhabende<br />

Familien nutzen Neuheiten wie Bügeleisen,<br />

elektrische Teekessel und Zigarren anzünder.<br />

enable 04/2009<br />

Erst als der Strom billiger wird, die Heißluftdusche<br />

leichter und die Frisuren mode aufwendiger,<br />

setzt sich der Föhn durch: Ohne kommt<br />

in den 20ern kein Bubikopf aus.<br />

Pionier AEG hat da längst Konkurrenz<br />

bekommen, von Maybaum, Schott oder<br />

Grossag. Und von Sanitas, einem Familienunternehmen<br />

aus Berlin, das sich in den<br />

20er-Jahren vom warmen Wind in den Alpen<br />

inspirieren lässt, das „h“ in der Mitte streicht<br />

und seine Haartrockner mit dem Markenbegriff<br />

„Foen“ schützen lässt. Die Marke entwickelt<br />

sich zum Gattungsbegriff, die höchste<br />

Weihe in der Markenwelt.<br />

1957 übernimmt die AEG die kleine Firma,<br />

zwei Jahre später kommt der 800 Gramm<br />

leichte AEG-„Original Foen“ auf den Markt.<br />

Damals bekommt der Föhn ein Kunststoffgehäuse,<br />

erst aus Bakelit, dann aus �ermoplast.<br />

Die Form der Puster bleibt weitgehend<br />

klar, umso stärker ändern sie die Haarpracht<br />

vor allem der Damenwelt. Ob „Dallas“,<br />

„Den ver“ oder „Drei Engel für Charlie“ – die<br />

80er bauen auf windiges Volumen.<br />

Daran ändert auch nichts, als der Föhn<br />

1987 verstummt: Nach jahrzehntelanger<br />

Tüf te lei am lärmenden Produkt kommt erstmals<br />

ein fast lautloser Haartrockner von<br />

AEG auf den Markt. Heute geht es um Glanz<br />

und Frisierbarkeit, Ionenföhne sollen statisches<br />

Aufladen verhindern. Doch die Ursprungstechnik<br />

ist geblieben, die meisten<br />

Apparate trocknen nach wie vor über das<br />

gute alte Warmluftgebläse.<br />

HAARE SPALTEN lassen sich mit dem Föhn<br />

ebenfals: Während der Duden bereits 1934<br />

den „Föhn“ zum Wind und den „Fön“ zum<br />

Gerät erklärt, schließt sich der Brockhaus erst<br />

1976 dieser Schreibweise an. Zwei Jahre später<br />

ruft auch die Gesellschaft für deutsche<br />

Sprache zur Schreibweise „Fön“ auf. Die<br />

DDR hatte dem Problem vorgebeugt, dort<br />

hieß der Föhn Luftdusche.<br />

Heute ist der Name ein eingetragenes und<br />

streng geschütztes AEG-Warenzeichen, andere<br />

Hersteller dürfen lediglich für „Haartrockner“<br />

und Ähnliches werben. Über das F-Wort<br />

wacht Electrolux, im Bereich Haushaltsgeräte<br />

Nachfolgekonzern der AEG, die nur noch als<br />

Marke existiert.<br />

Was der Duden mit dem Puster macht,<br />

hat Electrolux allerdings nicht im Griff: Mit<br />

der Rechtschreibreform bekommt der Haar-<br />

trockner erneut den Namen des Alpenwinds.<br />

Seitdem verwirrt er wieder als „Föhn“. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: Electrolux (3); Stills-Online


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

GANZ GELÖST<br />

Jahrelang tüftelten Forscher, damit Instantkaffee tatsächlich nach Kaffee<br />

schmeckt. 1938 schafften es die Nestlé-Chemiker. Dann kam der Krieg<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Sack für Sack kippen die Männer ins<br />

Meer. Oder sie schaufeln die grünen<br />

Bohnen in die Heizkessel von Lokomotiven.<br />

Ihre Regierung hat es befohlen,<br />

denn die Lager quellen von Kaffee über. Wegen<br />

Börsencrash und Weltwirtschaftskrise<br />

trinken Amerikaner und Europäer weniger<br />

Kaffee. Die ohnehin niedrigen Preise fallen<br />

weiter, Brasilien bleibt auf seinem wichtigsten<br />

Exportgut sitzen, 1930 ist das Land<br />

nahezu pleite.<br />

Um die Überschüsse guter Ernten künftig<br />

über Krisenzeiten hinwegretten zu können,<br />

suchen die Brasilianer Hilfe in der Schweiz.<br />

Ist es nicht möglich, fragen sie den damaligen<br />

Nestlé-Präsidenten Louis Dapples, Kaffeekonzentrat<br />

in Würfelform zu entwickeln?<br />

Keine neue Idee, doch bislang ist Instantkaffee<br />

daran gescheitert, dass er so gar nicht<br />

nach Kaffee schmeckte. Das können wir besser,<br />

denkt sich Dapples. Das Nestlé-eigene<br />

Forschungslabor in Vevey soll eine Lösung<br />

finden, wie sich ein sofort löslicher Kaffee<br />

herstellen lässt, der den Namen auch verdient.<br />

Sieben Jahre tüftelt das Team um Chemiker<br />

Max Rudolf Morgenthaler, bis es das ge-<br />

enable 03/2009<br />

wünschte Ergebnis erreicht. Morgenthaler<br />

selbst ist es, der herausfindet, dass sich die<br />

flüchtigen Aromastoffe durch den Zusatz von<br />

Kohlenhydraten konservieren lassen.<br />

Statt der Trommelmethode, bei der aufgebrühter<br />

Kaffee zu Kristallen eingedampft<br />

wird, setzt Nestlé die Sprühtrocknungstechnik<br />

ein. Dabei wird der Kaffee zusammen<br />

mit warmer Luft in eine Trockenkammer gespritzt.<br />

Dort bildet er Tröpfchen, die sofort<br />

getrocknet werden. Damit sich der Instantkaffee<br />

individuell dosieren lässt, entscheidet<br />

sich Nestlé gegen die Würfel- und für die<br />

Pulverform. <strong>Wie</strong> die Innovation heißen soll,<br />

steht sofort fest: Nescafé.<br />

AM 1. APRIL 1938 gibt es den Instantkaffee,<br />

verpackt in einer braunen Dose, erstmals in<br />

den Schweizer Lebensmittelläden zu kaufen.<br />

Werbung macht Nestlé zunächst nicht, denn<br />

die Fertigung ist noch nicht ausgereift, und<br />

die Produktionszahlen sind entsprechend gering.<br />

Schnell folgen Werke in Frankreich,<br />

Groß britannien und den USA.<br />

Zum <strong>Durchbruch</strong> verhilft Nescafé der<br />

Kriegseintritt der USA. Die amerikanische<br />

Regierung kauft den Instantkaffee in rauen<br />

Mengen; der Jahresumsatz schießt zwischen<br />

1938 und 1945 von 100 auf 225 Mio. $<br />

hoch. Im Gepäck der GI verbreitet sich das<br />

Kaffeepulver in Europa und in Japan; die<br />

Deutschen bekommen Nescafé auch in<br />

Carepaketen aus den USA geschickt. Trotz<br />

der Beliebtheit des Originals ist die Konkurrenz<br />

stark: Amerikanische Hersteller kopieren<br />

Nescafé, ein Patentschutz lässt sich in<br />

Kriegszeiten nicht durchsetzen.<br />

1950 bringt Nestlé eine entkoffeinierte<br />

Version auf den Markt. Drei Jahre später<br />

entwickeln die Schweizer Kaffeeforscher ein<br />

Verfahren, das den Aromaschutz durch Kohlenhydrate<br />

überflüssig macht. 1965 gehen sie<br />

zur Gefriertrocknung über. Dabei wird die<br />

Kaffeemasse schockgefrostet, dann gemahlen,<br />

anschließend wird die enthaltene Flüssigkeit<br />

verdampft.<br />

Weltweit werden heute rund 354 Millionen<br />

Tassen Nescafé pro Tag getrunken, das<br />

sind gut 4100 Tassen pro Sekunde. Heißes<br />

Wasser drauf, umrühren, fertig – diesem<br />

Prinzip folgen mittlerweile zig Nescafé-<br />

Varianten, darunter Espresso, Cappuccino,<br />

Milchkaffee und Eiskaffee. Trotz der vielen<br />

Nachahmer: Die Marke ist mit dem Produkt<br />

verschmolzen, der Name Nescafé gilt global<br />

als Synonym für löslichen Kaffee. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: www.stills-online.de ; Wolfgang Deuter; Nescafé Deutschland AG (3)


30<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

GESUNDER AUFTRITT<br />

Nicht der Fuß hat sich dem Schuh anzupassen, sondern der Schuh der Fußform:<br />

Karl Birkenstock bringt 1964 eine komplett neuartige Sandale auf den Markt<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Die erste Sandale hätte ihre Erfinder<br />

fast in den Ruin getrieben. „Ausgehöhlte<br />

Baumstämme sind das!“, motzen<br />

die Schuhhändler, als Karl Birkenstock<br />

und sein Vater Konrad auf einer Fachmesse<br />

ihre Weltneuheit präsentieren. Rund und<br />

flach ist die und verstößt damit 1964 gegen<br />

jeden Modekodex. Musterpaare kommen mit<br />

wütenden Briefen zurück, der Handel storniert<br />

aus Protest auch die Bestellungen für<br />

Birkenstock-Schuheinlagen, Verkaufsvertreter<br />

kündigen, innerhalb von zwei Wochen ist<br />

das Familienunternehmen so gut wie pleite.<br />

Dabei hat Karl Birkenstock es doch nur<br />

gut gemeint mit allen, die in ihren engen<br />

Schuhen nicht mehr gehen und stehen können.<br />

Tag für Tag verbringt er im firmeneigenen<br />

Geschäft in Bad Honnef und verkauft<br />

ein Kork-Plastik-Fußbett, das sein Vater einst<br />

für „naturgewolltes Gehen“ entwickelt hat.<br />

So recht überzeugt ist der junge Birkenstock<br />

nicht von dem Markenartikel aus dem<br />

eigenen Haus. Ständig klagen Kunden, sie<br />

könnten auch mit Einlagen kaum mehr laufen;<br />

eine Krankenschwester erzählt sogar, sie<br />

müsse ihren Beruf aufgeben.<br />

enable 02/2009<br />

Karl Birkenstock hat einen Geistesblitz:<br />

Wenn der Schuh schuld ist, muss sich der<br />

Schuh eben der Einlage anpassen. Aus einer<br />

Kork-Latex-Mischung stellt er eine Sohle her,<br />

geformt wie ein gesunder Fuß, mit viel Platz<br />

für die Bewegungen der Zehen, das fördert<br />

die Durchblutung. Soweit kein großer Unterschied<br />

zum alten Birkenstock-Fußbett. Revolutionär<br />

aber die Form: Damit der Fuß nicht<br />

seitlich abrutscht und der Träger ein sicheres<br />

Gehgefühl bekommt, zieht Birkenstock den<br />

Rand der Sohle leicht in die Höhe.<br />

GESUND? JA. Aber das Ding sieht so klobig<br />

aus, dass es selbst den Erfinder graust. Unmodischer<br />

geht’s nicht. Wer das kauft, muss<br />

es nötig haben. Birkenstock versteht die<br />

Gymnastiksandale mit Zehenriemen als<br />

Zusatzangebot für kranke Kunden. In den<br />

Schuhhandel bringen wollen die Birkenstocks<br />

ihre Neuheit trotzdem. Gefertigt wird<br />

sie in zwei Weiten, in einer für normale, einer<br />

für besonders schmale Füße. Als sich die<br />

Händler sperren und der Firma das Aus<br />

droht, wirbt Karl Birkenstock bei denen, die<br />

sich beruflich um die Gesundheit kümmern:<br />

Er lässt eine Anzeige inklusive Bestellcoupon<br />

in eine Ärztezeitung setzen. Nur vier Wochen<br />

später stapeln sich Tausende von Dankesschreiben.<br />

Das ist der <strong>Durchbruch</strong>.<br />

Außerhalb von Arztpraxen und Krankenhäusern<br />

gelten Birkenstocks jedoch als No-<br />

Go. Bis Margot Fraser, junge Amerikanerin<br />

auf Deutschlandbesuch, einen Koffer voll<br />

Sandalen mit nach Hause nimmt und in den<br />

USA einen Vertrieb startet. Dort rebelliert<br />

gerade die Flowerpower-Jugend gegen bürgerliche<br />

Spießigkeit, die Treter aus Europa<br />

passen perfekt in ihr Weltbild. Auf dem<br />

Woodstock-Festival werden die „Birks“<br />

endgültig zum Kultschuh der Hippies. Bald<br />

darauf auch in Deutschland.<br />

Heute sind Birkenstocks in 80 Ländern<br />

auf dem Markt. In 250 Modellen gibt es sie –<br />

mit Zehensteg, mit Riemen, als Clogs und<br />

sogar als geschlossenen Schuh. In den USA<br />

entwickelte sich die Sandale vom Schuh der<br />

liberalen Weltverbesserer und College-<br />

Studenten zum Accessoire vieler Hollywood-<br />

Promis. In ihrem Heimatland dagegen klebt<br />

ein hartnäckiges Öko-Image an ihr, auch die<br />

Designberatung durch Topmodel Heidi Klum<br />

verhalf nicht zum Trendschuhstatus. Das<br />

Unternehmen stört das nicht, es definiert sich<br />

über den Ursprung der Sandale, und der ist<br />

schließlich ein Gesundheitsschuh. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: Birkenstock Orthopädie GmbH & Co. KG


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

ZEIT, DASS SICH WAS DREHT<br />

Oscar Troplowitz steckte den Lippenstift in eine feste Hülse. Und erfand dann<br />

den Namen, der heute in ganz Europa für Lippenpflege steht: Labello<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Lippenstifte waren anfangs eine eher<br />

schmierige Sache. Von Seiden- oder<br />

Pergamentpapier umhüllt, bröckelten<br />

und schmolzen sie in den Handtaschen ihrer<br />

Benutzerinnen. Umständlich waren sie<br />

außerdem. Erst musste die Dame den Stift<br />

vorsichtig aus der dünnen Hülle pulen, danach<br />

ihn wieder sorgsam einwickeln, außerdem<br />

ständig das Papier abschneiden.<br />

ZU UMSTÄNDLICH, findet der Hamburger<br />

Unternehmer Oscar Troplowitz. Den Mix<br />

aus Wachs und Wollfett will er weiter in Stiftform<br />

anbieten, aber das mit dem Papier will<br />

er radikal ändern.<br />

Troplowitz weiß, was Frauen wünschen.<br />

Ob Haarwasser, Zahncreme, Pflaster oder<br />

Puder – egal was der gelernte Apotheker entwickelt,<br />

die Kunden kaufen es. Sein Pharmazeutiklabor,<br />

das er 1890 von Paul Carl Beiersdorf<br />

gekauft hat, ist innerhalb weniger Jahre<br />

zu einer modernen Fabrik gewachsen. Beiersdorf<br />

war ein Erfinder, der nur auf Ärzte hörte<br />

und allein auf die Wirkung seiner Produkte<br />

setzte. Troplowitz dagegen ist ein Unterneh-<br />

enable 12/2008<br />

mer mit Fantasie, der ein Gefühl für überzeugende<br />

Werbung hat und ein sicheres Gespür<br />

dafür, was bei den Kunden ankommt.<br />

Zum Beispiel eine Zinnhülse für Lippenstifte,<br />

in der weiße Paste mit dem Finger immer<br />

weiter nach oben geschoben werden<br />

kann. Viel besser, urteilen die Käuferinnen,<br />

als der Stift 1907 zum ersten Mal als „Beiersdorfs<br />

Weiße Lippenpomade Nr. 1331 in<br />

Metall-Schiebedosen“ in den Regalen der<br />

Apotheken liegt.<br />

Ein Verkaufsschlager wird das neue Produkt<br />

jedoch nicht. Troplowitz ahnt, warum.<br />

Technik ist nicht genug, ein neuer Name<br />

muss her. Einer, der weniger sperrig ist.<br />

Einer, der angenehm klingt und sich gut aussprechen<br />

lässt. Vor allem aber einer, der den<br />

Zweck des Produkts beschreibt.<br />

Im Lateinischen findet der Apotheker die<br />

Lösung: Lippe heißt labium, schön heißt bellus.<br />

Troplowitz verschmilzt die Wörter und<br />

hat damit einen prägnanten Markennamen<br />

gefunden: Labello. 1909 wird der erste Lippenstift<br />

unter dem neuen Namen verkauft,<br />

dann schnellen die Absatzzahlen rasant nach<br />

oben. Fünf Jahre später gibt es Labellos auch<br />

in Dänemark, Großbritannien, Italien und in<br />

den Niederlanden. Den weltweiten Erfolg<br />

seiner Erfindung erlebt der Unternehmer jedoch<br />

nicht mehr. 1918 stirbt er im Alter von<br />

55 Jahren an einem Gehirnschlag.<br />

Ende der 30er-Jahre erscheint eine rote<br />

Version, „Pflege – keine Schminke!“ betonen<br />

die Werbeplakate. Die Zink- wird durch eine<br />

Aluminiumhülle ersetzt. Allmählich etabliert<br />

sich der Labello auch als Kosmetikprodukt<br />

für Männer, die Werbung zeigt kussbereite<br />

Paare. In den 50er-Jahren ersetzt Beiersdorf<br />

die Aluhülse durch Kunststoff. 15 Jahre,<br />

nachdem in den USA der Drehlippenstift<br />

erfunden wurde, bekommt 1964 auch der<br />

Labello eine praktische Drehhülse. Im bekannten<br />

Blau gibt es ihn seit 1973.<br />

Der Markenname steht in ganz Europa als<br />

Synonym für Lippenpflege. „Keiner küsst<br />

besser!“ lautet der aktuelle Slogan für die<br />

18 verschiedenen Labello-Typen, einige davon<br />

in Tuben und in der Dose. Alpin, Anti-<br />

Falten, Sport, For Men, SOS, Gute-Nacht-<br />

Kuss, Milk & Honey, Pearl & Shine, Gloss &<br />

Shine, dazu in Asien Lovely Lips.<br />

2009 kommt noch ein Jubiläums-Labello<br />

dazu. Nicht in Zinnhülse und zum Schieben,<br />

aber wenigstens im klassischen Blau. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: FTD/Henner Flohr (9), Beiersdorf (7)


38<br />

DURCHBRUCH<br />

<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />

ALLE WETTER<br />

Schirme sind nützlich, wenn sie vor Regen schützen. Schirme sind zu unhandlich,<br />

um sie in die Tasche zu stecken. Zumindest, bis Hans Haupt den Knirps erfand<br />

Text: DANIELA SCHRÖDER<br />

Berlin 1928. Ob Sonne oder Wolken,<br />

die Damen und Herren der höheren<br />

Gesellschaft gehen nie ohne ihn flanieren:<br />

Zum mondänen Look der Goldenen<br />

Zwanziger gehört ein langer Regenschirm.<br />

Für Hans Haupt ist das obligatorische Accessoire<br />

mehr als unpraktisch. Im Krieg am Bein<br />

verletzt, kann der 30-Jährige nur mit Stock<br />

gehen. Den Schirm als Gehstock nutzen, das<br />

dürfen jedoch nur die Damen.<br />

DAS DIKTAT DER MODE macht den Bergbauassessor<br />

zum Erfinder. Nächtelang bastelt<br />

der technisch versierte Beamte an einem zusammenschiebbaren<br />

Schirm. Ergebnis seiner<br />

Tüfteleien ist ein Teleskopgestell, das sich<br />

ruck, zuck kleinmachen lässt. „Revolutionär,<br />

dieser Knirps“, meint Haupt und meldet<br />

seine Erfindung sofort zum Patent an.<br />

Auch die Modebranche findet den kleinen<br />

Taschenschirm prima, doch die deutschen<br />

Schirmfabrikanten sind skeptisch. Wegen der<br />

Weltwirtschaftskrise schrumpfen die Exportzahlen.<br />

Auch für Deutschland gilt: Wer<br />

keine Arbeit hat, kauft keine modischen<br />

Schirme. Regenmäntel sind billiger und<br />

praktischer, greinen die Fabrikanten, außer-<br />

enable 10/2008<br />

dem bringen in den Großstädten Europas<br />

immer mehr Busse und Bahnen die Menschen<br />

trocken ans Ziel.<br />

Allein der Solinger Unternehmer Fritz<br />

Bremshey glaubt an den Erfolg. Haupt liefert<br />

Konstruktionszeichnungen und Muster für<br />

die ersten Schirmgestelle, die Firma Bremshey<br />

entwickelt sie weiter und lässt „Knirps“<br />

als Warenzeichen eintragen. Als 1932 das<br />

erste Knirps-Damenmodell auf den Markt<br />

kommt, setzt Bremshey auf unkonventionelle<br />

Werbung. In den Schaufenstern der Fachgeschäfte<br />

stehen Verkäuferinnen versteckt<br />

hinter Wandschirmen. Die Passanten sehen<br />

nur Hände, die vorführen, wie der kleine<br />

Schirm mit wenigen Griffen geöffnet, geschlossen<br />

und wieder in der Tasche verstaut<br />

werden kann. Die aus den USA importierte<br />

Marketingidee sorgt für Menschenmassen<br />

vor den Schirmgeschäften, ganz Deutschland<br />

redet über den Knirps.<br />

Um die neue Marke zu schützen, gründet<br />

Bremshey ein Konsortium. Der Zusammenschluss<br />

der führenden Schirmfabrikanten bezieht<br />

Knirps-Gestelle als Halbfabrikate und<br />

bespannt sie mit Stoffen aus der eigenen<br />

Kollektion. So setzt sich der Schirm schnell<br />

durch, und die Modelle der Hersteller bleiben<br />

individuell. Bremsheys Knirpse liegen in<br />

der oberen Preisklasse. Der Damenschirm<br />

kostet 12,50 Reichsmark; dafür schuftet ein<br />

Fabrikarbeiter drei Tage.<br />

Den markantesten Einschnitt in der Geschichte<br />

des kleinen Schirms setzt die Automatiktechnik<br />

mit Druckknopf. Als 1965 eingetragenes<br />

Warenzeichen wird der „rote<br />

Punkt“ zum weltweiten Erkennungsmerkmal<br />

des Original-Knirps. Nylonstoffe machen<br />

Haupts Erfindung leichter und haltbarer. Neben<br />

Armbanduhr und Schmuck etabliert sich<br />

der Knirps als Standardgeschenk bei allen<br />

Anlässen. Ende der 60er ist Knirps die erste<br />

Schirmmarke, die Fernsehspots schaltet. Bald<br />

redet die Nation nicht mehr von Regen-,<br />

sondern von „Knirps-Wetter“.<br />

Trotz Knirps muss Bremshey Anfang der<br />

80er-Jahre Konkurs anmelden, das Unternehmen<br />

hat sich mit einer zu großen Produktpalette<br />

aufgerieben. Heute gehört Knirps zum<br />

österreichischen Unternehmen Doppler. „Das<br />

Aussehen der kleinen Schirme spielt weiterhin<br />

eine entscheidende Rolle, Knirpse gehen<br />

stets mit der Mode“, sagt Produktmanager<br />

Kurt Schröder. Auch an der Technik wird<br />

getüftelt. Immer kleiner und leichter wird<br />

Hans Haupts Erfindung. 16,5 Zentimeter<br />

und 228 Gramm lauten die aktuellen Maße,<br />

kaum größer und schwerer als ein Handy. �<br />

FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />

Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: Knirps (6)

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