Durchbruch — Wie alles anfing - Daniela Schröder
Durchbruch — Wie alles anfing - Daniela Schröder
Durchbruch — Wie alles anfing - Daniela Schröder
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DURCHBRUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />
Der Mann, der Frauen auf die Beine half<br />
Manuel Jalón Corominas hat dafür gesorgt, dass heute niemand mehr<br />
auf Knien putzen muss: Er erfand den Putzlappen am Stiel, den Wischmop<br />
Saragossa, Nordspanien, 1956. Luftfahrtingenieur Manuel Jalón Corominas<br />
sitzt mit einem Freund in der Kneipe, das Bier schmeckt, die<br />
Putzfrau wischt bereits eifrig. Jalóns Freund blickt zur Putzfrau. „Die<br />
Arme“, sagt er und nimmt einen Schluck Bier. „Warum gibt es eigentlich<br />
nichts, damit sie im Stehen putzen kann?“<br />
„Ja, warum eigentlich nicht?“, fragt sich auch Jalón. Arthrose, krummer<br />
Rücken, entzündete Gelenke, rissige Hände, Nagelpilz – die Frauen putzen<br />
sich krank. Denn für blitzblanke Böden müssen sie mit einem Lappen auf<br />
Knien durch die Wohnung rutschen. Was nicht nur eine Knochenarbeit ist,<br />
sondern auch erniedrigend. Im wahrsten Sinne. Kann sich die Familie kein<br />
Dienstmädchen leisten, greift die Hausfrau nur zum Wischlappen, wenn der<br />
Gatte nicht zu Hause ist.<br />
Noch in der Kneipe kommt Jalón auf eine Idee. Während eines Arbeits-<br />
jahrs in den USA hat der junge Ingenieur gesehen, wie dort die Reinigungstrupps<br />
die ölverschmierten Flugzeughallen säuberten: mit flachen großen<br />
Bürsten, befestigt an langen Stöcken, der Putzeimer fährt auf Rollen. Bücken<br />
oder gar Hinknien ist überflüssig.<br />
Jalón denkt einen Schritt weiter. In Spanien ist damals Baumwollzwirn neu<br />
auf dem Markt: schwammig genug, um Wasser aufzunehmen, kräftig genug,<br />
um nicht auszufransen. Er überredet eine Fabrik, ihm Puschel aus langen<br />
Zwirnfäden herzustellen, und steckt sie an Eichenholzstäbe. Damit sich<br />
der klatschnasse Feudel mühelos auswringen lässt, entwickelt Jalón einen<br />
Eimer mit Klemmrollen.<br />
„Bodenputzapparat“ nennt er seine Erfindung technisch-nüchtern und<br />
gründet 1958 in Saragossa die Firma Rodex. Seine erste Wischervariante<br />
kos tet 395 Peseten, damals ein stolzer Preis. Um das neue Produkt bekannt<br />
zu machen, investiert Jalón in Werbung mit Erlebnischarakter: In Schaufenstern<br />
von Haushaltswarenläden demonstrieren Frauen die Vorzüge des Apparats,<br />
der erste Verkäufer tingelt mit dem Kofferraum voller Wischer<br />
durchs Land. Und merkt dabei schnell, dass die Revolution am Stiel einen<br />
flotteren Namen braucht. „Wir nennen den Feudel ‚Fregona‘“, schlägt er vor.<br />
Doch Fregona ist auch ein abwertendes Wort für Haushaltshilfen, Jalón<br />
sträubt sich. Bei den Kunden aber kommt der Name prima an. Und selbst<br />
die königliche Sprachakademie gibt grünes Licht.<br />
Die spanische Presse preist Jalón als „den Mann, der den Frauen auf die<br />
Beine hilft“. Professionelle Putzfrauen dagegen sind wenig begeistert, sie sehen<br />
das Produkt als Konkurrenz. Auch das Ausland ist skeptisch. Wenn das<br />
Ding tatsächlich so gut sei, bekommt Jalón auf einer Industriemesse in Köln<br />
zu hören, dann wäre es längst schon in Deutschland erfunden worden –<br />
aber doch nicht in Spanien.<br />
Jalón ist bewusst, dass sein Produkt noch Verbesserungspotenzial besitzt.<br />
Weil die Klemmrollen zum Auswringen leicht abbrechen, entwirft er ein<br />
trichterförmiges Abtropfsieb aus Plastik, das sich in den Eimer hängen lässt.<br />
So optimiert, geht es mit den Absatzzahlen bergauf, auch der Export der<br />
Fregonas blüht, in mehr als 30 Ländern vertreibt Rodex das Mopsystem.<br />
Als das Patent Mitte der 1980er ausläuft, stürzen sich Reinigungsspezialisten<br />
aus aller Welt auf den Wischer. Darunter auch der deutsche Familienkonzern<br />
Freudenberg, Erfinder des Synthetikvliesstoffs Vileda. Damit ausgestattet,<br />
erobert die Fregona als „Wischmop“ auch Deutschland. Heute<br />
kommt jeder dritte Wischmop in Europa von Vileda, in Spanien weiterhin<br />
als „Fregona“. <strong>Daniela</strong> Schröder �<br />
30<br />
enable 10/2012<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (6); Getty Images
DURCHBRUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />
Es geht um Sekunden<br />
Margarete Lihotzky hat die Einbauküche erfunden – inspiriert von<br />
US-Fabriken, in denen jeder Arbeitsschritt optimiert wurde<br />
Das Familienleben spielt sich in der Küche ab: hier der Herd, dort<br />
der Schrank, drüben die Spüle, den Weg versperrt der Tisch.<br />
Etwas chaotisch, so wie das Leben eben ist. Was Margarete<br />
Lihotzky nicht einsehen mag.<br />
Die <strong>Wie</strong>ner Architektin experimentiert in den 20er-Jahren mit Einbaumöbeln<br />
für Kochnischen und Spülküchen. Küchen fürs Kochen<br />
und Spülen – und zwar nur dafür. Ihre Arbeiten fallen dem Chef des<br />
Frankfurter Baudezernats auf, er treibt ein Programm voran, mit dem<br />
die Metropole am Main die Wohnungsnot lindern will.<br />
Schnell, praktisch und preisgünstig soll das „Neue Frankfurt“ werden.<br />
Die Planer setzen auf eine industrialisierte Bauweise mit vorgefertigten<br />
und normierten Bauteilen. Der Ansatz der Österreicherin<br />
passt dazu perfekt, Baudezernent Ernst May holt sie in sein Team.<br />
Lihotzky soll sich um ein Konzept für die Küche kümmern, denn für<br />
einzeln stehende Möbel ist in den kleinen Wohnungen kein Platz.<br />
Schütte-Lihotzky, mittlerweile verheiratet, hasst Kochen und Küchenarbeit.<br />
Doch sie besucht Treffen von Frauenvereinen, hört sich<br />
um und schaut sich die kompakten Speisewagenküchen der Bahn<br />
genau an. Vor allem aber liest die Architektin <strong>alles</strong> über das Prinzip<br />
des Taylorismus und sein Ziel, Produktionsabläufe zu optimieren.<br />
Mit Stoppuhr und Zollstock vermisst sie die einzelnen Arbeitsschritte<br />
von Hausfrauen, dann plant sie die Küche wie einen Industriearbeitsplatz:<br />
Kein Handgriff ist überflüssig, alle Arbeitsgeräte sind griffbereit,<br />
jeder Millimeter wird genutzt. So rationalisiert schrumpft die<br />
neue Küche auf sechseinhalb Quadratmeter zusammen, über eine<br />
Schiebetür ist sie mit dem Essbereich verbunden. FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (7); Getty Images<br />
30<br />
enable 09/2012<br />
Für maximalen Arbeitskomfort auf minimalem Raum sorgen<br />
schlaue Details: eine Arbeitsplatte auf Sitzhöhe mit Schublade für<br />
Schneideabfälle plus Halteleiste für kleine Küchengeräte, daneben<br />
lagern Trockenvorräte in Aluminium- und Holzschütten. Schiebeglastüren<br />
sparen das Herumsuchen nach Geschirr, außerdem stört<br />
keine offen stehende Schranktür. Das Geschirr trocknet in einem<br />
Abtropfregal, und damit auch das Putzen schneller geht, stehen die<br />
Schränke auf einem Betonsockel. Gestrichen sind sie in einem bläulichen<br />
Grün: Wissenschaftler meinten, die Farbe halte Fliegen fern.<br />
1926 sind die ersten Prototypen nach Schütte-Lihotzkys Entwurf<br />
fertig. Die Stadt Frankfurt lässt mehr als 10 000 Kompaktküchen in<br />
die neuen Wohnsiedlungen einbauen. Dank höherer Stückzahlen und<br />
Fließbandarbeit in den Holzwerken sinkt der Fertigungspreis von anfangs<br />
500 auf 238,50 Reichsmark. Dank der kleineren Wohnungen<br />
spart die Stadt Baukosten, dank der Einbauküchen sparen die Mieter<br />
beim Einrichten.<br />
Schütte-Lihotzky geht es um Komfort – und um Sekunden. Denn<br />
die eingesparte Zeit, so argumentiert sie, komme der Familie, den<br />
Kindern und vor allem der Frau selbst zugute. Die kleine, praktische<br />
Arbeitsküche sei ein „Laboratorium für die Hausfrau“, in dem sie professionell<br />
arbeiten und sich somit selbst verwirklichen könne. Kurz<br />
gesagt: Herdarbeit als Mittel der Frauenemanzipation.<br />
Es sei genau umgekehrt, kontern Zeitgenossen. Die taylorisierte<br />
Küche sei ein Arbeitskäfig, darin die Frau in Einzelhaft.<br />
Die ist mittlerweile aufgehoben. Die Kochküche weitet sich längst<br />
wieder aus zur Ess- und Wohnküche. Doch das Konzept der Modulbauweise<br />
tastet heute niemand mehr an. <strong>Daniela</strong> Schröder �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND
DURCHB RUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />
Fauchen und zischen für den Genuss<br />
Alfonso Biatelli hat die Kaffeemaschine für den wirklich schmackhaften Espresso zu<br />
Hause erfunden. Die Idee kam ihm, als er seiner Frau bem Wäschewaschen zusah<br />
Espresso, das ist was für Profis. Für Maschinen, die zischend und<br />
fauchend Wasser und Pulver verbinden zu Kaffeegenuss. Da können<br />
Haushaltskannen mit ihrem Aufbrühprinzip nicht mithalten.<br />
Die Folge: Der Italiener trinkt seinen Espresso am Bartresen.<br />
So hält es auch Alfonso Bialetti, Besitzer einer kleinen Metall- und<br />
Maschinenwerkstatt im norditalienischen Crusinallo in den 1930ern.<br />
Gelegentlich jedoch trinkt er seinen Caffè zu Hause. Auf dem Herd<br />
gekocht in einer Metallkanne mit Filterprinzip. Das dauert ewig, und<br />
der Kaffee, na ja. Dafür kann Bialetti in Ruhe Zeitung lesen und Gattin<br />
Ada beim Wäschewaschen zugucken. Beim Wäschekochen vielmehr,<br />
denn die Hausfrauen nutzen ein System, bei dem sie Seifenlauge in<br />
speziellen Wannen zum Kochen bringen, das kochend heiße Wasser<br />
steigt durch ein integriertes Rohr und verteilt sich auf der Wäsche.<br />
Bialetti hat schon x-mal zugeschaut. Eines Tages aber macht es klick.<br />
Heureka! Genau dieses simple Wasserdruckprinzip lässt sich auf das<br />
Zubereiten von Kaffee übertragen.<br />
Jahrelang tüftelt Bialetti an seiner Idee. Anders als die Hersteller<br />
der Profimaschinen setzt er auf ein Material, das bei Küchengeräten<br />
bisher unbekannt ist: Aluminium. Leicht und formbar, dabei robust<br />
und rostfrei – im Italien der 1930er gilt es als Metall der Moderne, das<br />
gleichzeitig die traditionellen Werte des Handwerks verkörpert.<br />
1933 bringt Bialetti den ersten Espressokocher für den Hausgebrauch<br />
auf den Markt. Das Prinzip ist so simpel wie beim Wäschewaschen:<br />
Der Kocher wird auf den Herd gestellt, in seinem unteren<br />
Teil erhitzt sich das Wasser. Wenn es kocht, wird der Wasserdampf<br />
durch einen Siebeinsatz mit Kaffeepulver gedrückt. Die Flüssigkeit<br />
sammelt sich in der oberen Kanne, ein weiteres Sieb hält das Kaffeepulver<br />
in der Mitte zurück. Beim Achteckdesign seiner Moka Express<br />
orientiert sich Bialetti an Kaffeekannen aus Silber im Art-déco-Stil.<br />
Simple Technik, gutes Ergebnis, günstiger Preis, schön anzusehen<br />
– klingt perfekt. Dennoch: Der <strong>Durchbruch</strong> bleibt aus. Bialetti ist<br />
Handwerker, kein Werber. Seine Erfindung bietet er nur auf Märkten<br />
in der Region an, dann kommt der Krieg, sämtliches Aluminium wird<br />
vom Militär beansprucht, Bialetti muss die Produktion einstellen.<br />
1946 kehrt Bialettis Sohn Renato aus deutscher Kriegsgefangenschaft<br />
zurück in die Heimat und übernimmt die Firma. Er konzentriert<br />
sich auf die Moka Express, schmeißt alle anderen Produkte aus<br />
dem Programm, baut das Sortiment auf Größen von zwei bis zehn<br />
Tassen aus und fährt die Produktion auf 1000 Stück pro Tag hoch.<br />
Vor allem aber zieht er im Wirtschaftsboom der 1950er eine mas-<br />
Images<br />
sive Werbekampagne auf. Schaltet Anzeigen, lässt Radiospots laufen,<br />
Getty<br />
investiert als einer der ersten italienischen Unternehmer in Fernseh-<br />
(7);<br />
werbung. Während der wichtigsten Industriemesse des Landes in<br />
Richter<br />
Mailand pflastert Bialetti Jahr für Jahr sämtliche Werbetafeln in der<br />
Stadt mit Bildern des Kaffeekochers, 1956 lässt Renato eine Riesen-<br />
Susann<br />
version der Moka auf dem Messegelände installieren.<br />
Fotos:<br />
Heute benutzen sie neun von zehn italienischen Haushalten. Die<br />
Moka Express ist weltweit bisher mehr als 280 Millionen Mal verkauft<br />
Richter;<br />
worden, die Form unverändert, ein Klassiker. Ebenso die Werbefigur,<br />
Susann<br />
der Mann mit dem Schnauzer, eine Hommage an Firmengründer<br />
Alfonso. „In casa un espresso come al bar“ verspricht der, einen guten<br />
Espresso bekommt der Mann auch zu Hause. <strong>Daniela</strong> Schröder � FTD-Collage:<br />
38<br />
enable 08/2012<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND
DURCHBRUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />
Limo-sine<br />
Entscheidend ist, was fehlt: „Sine alcohole“, also ohne Alkohol, ist die weltweit<br />
erste Markenlimonade, die Franz Hartmann 1908 als Sinalco auf den Markt bringt<br />
Franz Hartmann geht der Job auf die Leber. Für seinen Vater, der<br />
eine Likör fabrik im lippischen Lage besitzt, reist er als Handelsvertreter<br />
durchs Land. Jeden Tag steigt er in einem anderen Gasthof<br />
ab, morgens brummt ihm der Kopf. Runtergekommen fühle er<br />
sich, gesteht der Kaufmann eines Abends beim x-ten Schnaps einem<br />
Kollegen. Der versteht ihn gut – und gibt Hartmann einen Geschäftstipp:<br />
Stell doch Säfte her, die Leute wollen ohnehin weg vom Fusel.<br />
Ende des 19. Jahrhunderts boomen Abstinenzvereine, der Kampf<br />
gegen das Trinken ist europaweit eine soziale Bewegung.<br />
Hartmann fackelt nicht lange. In der väterlichen Likörfabrik<br />
entwickelt er einen Extrakt aus Limetten, mit Mineralwasser und Zucker<br />
wird daraus eine erfrischende Limonade. Seit Jahrhunderten ist<br />
die Getränkeart populär, meist von Straßenverkäufern zubereitet, eine<br />
Marke existiert bisher jedoch nicht. Hartmann baut ein Franchisesystem<br />
auf und verkauft seine Fruchtessenz, die sogenannte „Seele“,<br />
an Handelsvertreter, sie müssen ihm bestimmte Mengen Konzentrat<br />
abnehmen und das Getränk als „Hartmann-Limonade“ vertreiben.<br />
Das Geschäft läuft, aber Hartmann will mehr. So kommt er auf Friedrich<br />
Eduard Bilz. Der Naturheilkundler hat eine Gesundheitsfibel mit<br />
Tipps zum natürlichen Behandeln sämtlicher Krankheitsbilder herausgebracht,<br />
das Heilen mit Luft, Licht und Wasser ist populär.<br />
Hartmann besucht Bilz: <strong>Wie</strong> wäre es, die Limonade gemeinsam<br />
auf den Markt zu bringen? Als Gesundheitsprodukt würde die Limo<br />
den Wunsch der Menschen bedienen, ihrem Körper etwas Gutes zu<br />
tun. Bilz gefällt die Idee: Mineralsalze und Fruchtsäuren im Obst sind<br />
gesund, und der Fruchtzucker spendet schnell Energie.<br />
30<br />
enable 07/2012<br />
Mit Bilz’ Sohn entwickelt Hartmann einen Extrakt aus heimischen<br />
Obstsorten und Südfrüchten. 1901 benennt Hartmann seine Limo in<br />
„Bilz-Limetta“ um, bald darauf in „Bilz-Brause“. „Für Magen-,<br />
Nerven-, Rheumatismus- und Lungen-Leidende sehr zu empfehlen“,<br />
steht auf den Etiketten. Zwei Jahre nach dem Marktstart verkauft<br />
Hartmann 25 Millionen Liter; rund 30 000 Gaststätten, Erfrischungshallen<br />
und Kantinen in Deutschland bieten die Bilz-Brause an.Nachahmer<br />
bringen ähnliche Produkte heraus, sogar als „Pilz-Brause“.<br />
Namensgeber Bilz möchte mehr vom Gewinn abhaben und zieht<br />
gegen Hartmann vor Gericht. Dem wird das Ganze zu brenzlig. Um<br />
sich vom Namensgeber zu distanzieren, sucht er per Preisausschrei- Marks<br />
ben einen neuen Namen. „Sinalco“ heißt der Sieger, zusammengesetzt<br />
aus den lateinischen Wörtern „sine“ und „alcohole“.<br />
Ohne Alkohol – das passende Getränk für die Abstinenzbewegung.<br />
Auf den ersten Werbeplakaten schäumt die Sinalco in einem Sekt- Images/Georege<br />
glas, Hartmann macht aus dem Heilmittel ein Modegetränk. 1908 Getty<br />
gründet er die Sinalco-Aktiengesellschaft in Detmold, 1937 bekommt (7);<br />
die Flasche ihr bis heute gültiges Markenzeichen, den roten Punkt. Richter<br />
Der ursprünglich rote Beeren-Grundstoff der Limonade wird in den<br />
1950ern ersetzt durch ein Fruchtsaftgetränk auf Orangenbasis.<br />
Susann<br />
Als die Nachkriegsdeutschen ihren Durst vor allem in der Kneipe Fotos:<br />
löschen, boomt Sinalco. In den Folgejahren wechselt die Marke<br />
mehrfach den Besitzer, keiner kümmert sich so recht, es geht berg- Richter;<br />
ab. 1994 kauft die Familienfirma Hövelmann die Markenrechte und<br />
Susann<br />
gründet wenig später die Deutsche Sinalco GmbH in Duisburg. Der<br />
Relaunch funktioniert, das Sortiment wächst ständig, seitdem ist die<br />
gelbe Britzelbrause wieder weltweit vertreten. <strong>Daniela</strong> Schröder � FTD-Collage:<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND
DURCHBRUCH WIE ALLES ANFING<br />
Raus, rein, fertig<br />
Kurze, wenn’s trocken ist. Lange, wenn’s feucht ist. Die Wechselstollen für Fußballschuhe<br />
haben Adidas berühmt gemacht – doch erfunden wurden sie in Bremen<br />
Es ist immer das gleiche Spiel: Wenn die Mannschaft nach dem<br />
Match in die Kneipe zieht, trabt Zeugwart Alexander Salot mit<br />
einem Sack Fußballstiefel nach Hause. Die Stollen sind heraus<br />
oder abgebrochen. Ein paar Mal kann der Schuhmachermeister die<br />
Stiefel seiner Sportsfreunde wieder t machen, dann aber sind die<br />
Sohlen durch das ständige Stollennageln zu löchrig und brüchig.<br />
Nicht nur Salot nervt das Problem. Schon in den 1920ern fertigten<br />
Schuhmacher in England, Amerika und Frankreich Fußballerstiefel,<br />
bei denen sich die Stollen unter die Sohle schrauben lassen. Doch die<br />
waren zu umständlich. In seiner Werkstatt in Bremen-Blumenthal<br />
tüftelt Salot ein System aus, bei dem die „Stollen vermittels einer in<br />
ihnen undrehbaren Kopfschraube durch eine zwischen Laufsohle<br />
und Brandsohle ein gebrachte Gewindehülse gehalten werden“. So beschreibt<br />
es der Schuster in der Patentschrift, die er 1949 einreicht.<br />
Salot schraubt den Vereinskollegen fortan die passenden Stollen in die<br />
Lederstiefel. Taut die Wintersonne den gefrorenen Rasen, wechselt<br />
Salot vom kurzen aufs lange Modell. Rausdrehen, reindrehen, fertig:<br />
Die anderen Spieler rutschen, die Jungs des Blumenthaler Sportvereins<br />
haben Halt. Dreimal hintereinander werden sie Bremer Meister.<br />
Werder Bremen, der Hamburger SV, der 1. FC Köln, Hannover 96,<br />
Arminia Bielefeld und Schalke 04 bestellen Testmodelle. Nicht nur<br />
die Stollen überzeugen, auch das Gewicht der Stiefel gilt als Pluspunkt.<br />
Die bisherigen Systeme machten einen Sportschuh gut<br />
500 Gramm schwer, die Version aus Bremen wiegt nur 360 Gramm.<br />
Anfangs produziert Salot in der eigenen Waschküche, später im<br />
Gartenhaus. Das Werkzeug: Nähmaschine, Ausputzmaschine, Nägel<br />
30<br />
enable 06/2012<br />
und Pressen. Mit seinen zwei Gesellen kann Salot die Nachfrage bald<br />
nicht mehr bedienen. 1950 steigt eine Schuhfabrik im westfälischen<br />
Ahlen mit 100 bis 200 Paaren pro Tag in die Lizenzproduktion ein.<br />
Und steigt urplötzlich wieder aus. Die genauen Gründe liegen im<br />
Dunkeln. Salots Sohn Werner erzählt eine mysteriöse Geschichte:<br />
1952 tauchten angeblich zwei Männer auf, die den Schuster au! orderten,<br />
die Produktion unverzüglich einzustellen. Salot besitze kein<br />
Patent auf das Schraubsystem. Der war verunsichert. Zwar hatte er<br />
seine Er ndung bem Patentamt angemeldet, aber nie geprüft, ob sie<br />
angenommen worden war (keine Bange: war sie).<br />
<strong>Wie</strong> dem auch sei: Am 28. November 1952 meldet der Adidas-<br />
Gründer Adolf „Adi“ Dassler aus dem fränkischen Herzogenaurach<br />
eine „Buchse mit durchgehender Gewindebohrung zur Aufnahme<br />
von unterhalb der Sohle eines Sportschuhes angebrachten Stollen“<br />
beim Münchner Patentamt an. Salot nahm das so hin, für ihn war das<br />
" ema o! enbar durch. Bei Adidas heißt es heute zerknirscht: Wer<br />
immer den Wechselstollen erfunden hat, wir waren es leider nicht.<br />
„Adi“ Dassler jedenfalls hatte einen engen Draht zum Deutschen<br />
Fußball-Bund. Als die deutsche Elf am 4. Juli 1954 im Finale der Fußball-WM<br />
im Berner Wankdorfstadion einläuft, trägt sie leichte Adidas-Treter<br />
mit auswechselbaren Schraubstollen. Zwar aus Kunststo!<br />
und nicht wie bei Salot aus Leder, das Prinzip aber ist dasselbe. Nachdem<br />
es tüchtig geschüttet hat, tauscht Dassler in der Halbzeitpause<br />
die kurzen Stollen gegen lange aus. Rausdrehen, reindrehen, fertig.<br />
Die als unbezwingbar geltenden Ungarn können nicht wechseln,<br />
r uts chen un d schli ttern auf dem R a sen. Die De uts chen nden Halt –<br />
und werden erstmals Fußballweltmeister. <strong>Daniela</strong> Schröder 4<br />
FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND
DURCHBRUCH W I E A L L E S A N F I N G<br />
Schaum-Stoff<br />
In nur fünf Monaten entwickelte Werner & Mertz den ersten Öko-Reiniger. Heute<br />
exportiert der Mainzer Mittelständler seine „Frosch“-Produkte bis nach Japan<br />
Lasst euch was einfallen, fordern die Kollegen aus dem Vertrieb:<br />
Auf dem Rhein treiben meterhohe Schaumberge, in der Nordsee<br />
krepieren Robben, Umweltskandale überall. Die Verbraucher sind<br />
verunsichert, haben die Nase voll von Chemiekeulen. Der Handel will<br />
Alternativen zum aggressiven Zeug. Also, Leute, was machen wir?<br />
Erst mal ein Brainstorming, heißt es im Herbst 1985 beim Mainzer<br />
Reinigungsmittelhersteller Werner & Mertz. Für drei Tage verziehen<br />
sich die Manager, in einem Hotel sollen Ideen wachsen. Müssen<br />
wachsen, denn das 1867 gegründete Familienunternehmen steht<br />
unter Druck. Mit seiner Schuhpflege Erdal ist Werner & Mertz zwar<br />
Marktführer, doch immer öfter werden Schuhe eher ausgetauscht als<br />
geputzt. Und mit seinen Marken für Autopflege, Boden- und Rohrreiniger<br />
steht der Mittelständler im Wettbewerb mit Konzernen.<br />
Wenn Verbraucher sich über Umweltskandale aufregen, sagen die<br />
Brainstormer, dann ist die Zeit reif für einen Wandel. „Geben wir den<br />
Leuten die Reinigungsmittel, die sie haben wollen“, propagiert der<br />
Entwicklungschef. Aber wie? Die Branche tickt blau, im Versprechen<br />
blitzblanker Sauberkeit und porentiefer Hygiene übertrumpfen sich<br />
die Hersteller mit Chemie, die man riechen, sehen, fühlen kann.<br />
Ökoreiniger gibt es nicht, nur eine dickflüssige Schmierseife, die<br />
Hersteller Haka eimerweise abfüllt und im Haustürverkauf vertreibt.<br />
Allerdings mit beachtlichem Erfolg, recherchiert Werner & Mertz,<br />
die Seife verkauft sich so gut wie das populäre Putzmittel Meister<br />
Proper. Und der Handel weiß nichts davon und hat nichts davon!<br />
Die Klassiker aus Omas Putzschrank wollen die Mainzer nicht anbieten.<br />
Sie wollen etwas Neues. Es dauert fünf Monate, dann haben<br />
38<br />
enable 05/2012<br />
sie einen Neutralreiniger entwickelt. Die Wirkstoffe auf pflanzlicher<br />
Basis und damit biologisch abbaubar, keine schädlichen Chemika lien<br />
wie Phosphate oder Formaldehyd, frei von Lösungsmitteln. Selbst bei<br />
der Verpackung setzt Werner & Mertz auf Umweltfreundlichkeit:<br />
Mit einem Geschäftspartner entwirft der Hersteller Flaschen, die zu<br />
mehr als der Hälfte aus recycelten Kunststoffen bestehen.<br />
Bei der Suche nach dem passenden Namen kramt das Unternehmen<br />
in der Tradition. Mit einem Frosch hatten die Mainzer schon<br />
seit 1903 für ihre Schuhcreme geworben, in den ersten Jahrzehnten<br />
war das Tier grün. Mit dem neuen Ökoprodukt wird er wiederbelebt.<br />
Und modernisiert. Der grüne Frosch trägt eine kurze Hose und guckt<br />
dem Verbraucher direkt in die Augen. Offenheit gilt als oberstes Gebot,<br />
die Flaschen sind transparent und die Inhaltsstoffe deklariert.<br />
Im Mai 1986, kurz nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl,<br />
kommt der Frosch-Reiniger in den Handel. Gutes Timing. „Endlich Images<br />
ohne Gummihandschuhe“ lautet der Slogan beim ersten Spülmittel, Getty<br />
wenig später heißt das Motto: „Jetzt geht der Frosch an Ihre Wäsche.“ (8);<br />
Alle Produkte basieren auf natürlichen Wirkstoffen wie Essig, Soda, Richter<br />
Lavendel- oder Orangenöl, mittlerweile gehören auch Handseifen<br />
und Raumdüfte zum Sortiment.<br />
Susann<br />
Aktuell liegt der Marktanteil der Frosch-Produkte in Deutschland Fotos:<br />
bei mehr als 14 Prozent, von den 294 Mio. Euro Gesamtumsatz von<br />
Werner & Mertz bringt die grüne Sparte 138 Mio. Euro ein. Zwei Richter;<br />
Drittel der Frosch-Reiniger verkaufen die Mainzer ins Ausland, be-<br />
Susann<br />
sonders in Japan ist er beliebt. Das liegt auch daran, dass der Frosch<br />
dort als Glücksbringer gilt. Das japanische Wort für ihn hat noch eine<br />
zweite Bedeutung: Wandel. <strong>Daniela</strong> Schröder � FTD-Collage:<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
BESTSELLER AUS BERLIN<br />
Der türkische Gastarbeiter Kadir Nurman erfand den Dönerspieß, doch erst<br />
Nachahmer machten den Fladensnack zum Verkaufsschlager der Imbissbuden<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Nichts deutete darauf hin, dass der junge<br />
Türke, der Anfang der 60er-Jahre<br />
nach Deutschland kam, die Ernährungsgewohnheiten<br />
der Deutschen umkrempeln<br />
würde. Zunächst arbeitete Kadir Nurman<br />
vier Jahre bei Daimler am Fließband.<br />
Dann trieb ihn das Heimweh wieder in die<br />
Türkei zurück. Doch dort vermisste Nurman<br />
plötzlich das Leben in Deutschland. So packte<br />
er erneut seine Koffer und zog nach Westberlin.<br />
Aber anders als bei seiner ersten Ankunft<br />
fand er keinen Job. Deutschland<br />
steckte in der Wirtschaftskrise.<br />
ZUERST VERSUCHTE Nurman sein Glück<br />
mit einem Restaurant. Ein Flop, denn seine<br />
Landsleute kochten lieber zu Hause, und bei<br />
den Deutschen kam die türkische Küche<br />
nicht an. Von einer Urlaubsreise in seine Heimat<br />
brachte Nurman schließlich eine neue<br />
Geschäftsidee mit: Dönerkebab, von einem<br />
senkrechten Drehspieß geschnittenes Grillfleisch<br />
– in Anatolien ein traditionelles Tellergericht.<br />
In der Nähe des Bahnhofs Zoo eröffnete<br />
er 1972 mit dieser Idee einen neuen<br />
Laden. Wenige Monate zuvor hatte in Mün-<br />
enable 04/2012<br />
chen das erste McDonald’s-Restaurant des<br />
Landes eröffnet. Die Ära des Fast Food begann.<br />
Der ideale Zeitpunkt, um einen neuen<br />
Imbiss auf den Markt zu bringen. Nurman<br />
grillte Kalb- und Rindfleisch am großen<br />
Spieß, füllte es in Berliner Schrippen, packte<br />
Zwiebeln dazu und ein bisschen grünen Salat,<br />
verkaufte das Ganze für 1,50 D-Mark.<br />
Die Kunden waren skeptisch. Döner? Was<br />
ist das denn? Doch Nurman war vom Erfolgspotenzial<br />
der Idee überzeugt. Deutschland<br />
ist ein Land, in dem viel gearbeitet wird,<br />
glaubte er, die Menschen haben es immer<br />
eilig, da müsse auch das Essen schnell gehen.<br />
Andere Berliner Türken kopierten sein Konzept,<br />
statt Schrippen nahmen sie oft türkisches<br />
Fladenbrot, Salat und frisches Gemüse<br />
kamen dazu, Gewürze, verschiedene<br />
Saucen. In Kreuzberg eröffnete in den 70ern<br />
eine Dönerbude nach der anderen. Plötzlich<br />
rotierten an jeder Ecke die Fleischspieße.<br />
Anfangs stellten die Imbissbesitzer ihre<br />
Döner noch selbst her, in den 80ern begann<br />
die Massenproduktion der kiloschweren<br />
Fleischkegel. Der einsetzende Preiskampf ließ<br />
den Döner vielfach zu einem Hackprodukt<br />
mutieren, deshalb stellte die Stadt Berlin eine<br />
„Verkehrsauffassung für das Fleischprodukt<br />
Dönerkebab“ auf, nach der er maximal<br />
60 Prozent Hack enthalten darf. Später legte<br />
auch das Deutsche Lebensmittelbuch Richtlinien<br />
fest.<br />
Die BSE-Krise in den 90ern wurde zur<br />
Geburtsstunde des Geflügeldöners, später<br />
kamen auch Varianten mit Schafskäse sowie<br />
reine Gemüseversionen auf den Markt, der<br />
Döner nahm Ernährungstrends auf. Nur die<br />
Biowelle ging bisher an ihm vorbei, denn die<br />
Branche sieht keine Chance, dass die Kunden<br />
einen für Ökoware angemessenen Preis zahlen<br />
würden.<br />
Der 78-jährige Nurman lebt noch immer<br />
in Berlin. Rückblickend bedauert der Rentner,<br />
dass er sich seine Erfindung nicht als<br />
Marke schützen ließ: „Dann wäre ich jetzt<br />
Millionär.“ Die neuen Kreationen lässt er übrigens<br />
nicht als Döner gelten. Er selbst isst<br />
nur die puristische Urversion.<br />
Inzwischen hat sich sein Gericht zum<br />
beliebtesten Fast Food in Deutschland entwickelt<br />
– und ist ein Wirtschaftsfaktor geworden.<br />
Etwa 60 000 Menschen verdienen hierzulande<br />
mit Döner ihr Geld, es gibt 16 000<br />
Grillbuden, Deutschland ist der größte Dönerexporteur<br />
der Welt. Der Gesamt umsatz<br />
der Branche liegt bei 3,5 Mrd. Euro. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (8); Getty Images
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
REVOLUTION IM BETT<br />
Ein Schweizer Erfinder und ein deutscher Tischler entwickelten die Matratzenunterlage<br />
aus flexiblen Holzleisten. Die Rettung für viele Rückengeplagte<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Völlig gaga, die Idee, fand das Fachpublikum.<br />
Und die Besucher der Kölner<br />
Möbelmesse 1956 wunderten sich<br />
erst recht: „Auf Holzlatten schlafen? Die<br />
spinnen ja!“, meinten sie zum neuen Produkt<br />
der Tischlerei �omas aus Bremervörde. Steife<br />
Bretter im Bett, die Zeiten waren doch<br />
längst vorbei, mittlerweile schlief man doch<br />
auf Matratzen mit Drahtgewebe oder legte<br />
sie auf einen Rahmen mit Sprungfedern;<br />
auch wenn die bei der kleinsten Bewegung<br />
quietschten und sich Kuhlen bildeten, weil<br />
der Draht schnell ausleierte. An erholsamen,<br />
Schlaf war jedenfalls nicht zu denken, nicht<br />
von ungefähr zählten Rückenschmerzen<br />
schon damals zu den großen Volksleiden.<br />
GENAU DAGEGEN aber sollte die Neuheit<br />
aus Norddeutschland wirken. „Rückenschmerzen<br />
lassen sich durch Lattoflex vermeiden“,<br />
behauptete Firmenchef Karl �omas<br />
im Prospekt für den ersten Lattenrost.<br />
Ein Kollege aus der Schweiz, der Tischler und<br />
Erfinder Karl Degen, hatte ihm die Idee<br />
geliefert. Degens Frau plagte sich mit einem<br />
Bandscheibenvorfall und konnte wegen<br />
enable 03/2012<br />
starker Schmerzen keine Nacht mehr ruhig<br />
schlafen. Ihr Mann studierte die Anatomie,<br />
las medizinische Fachbücher, dann stand für<br />
ihn fest: Bett und Matratze müssen so gestaltet<br />
sein, dass die Wirbelsäule beim Schlafen<br />
in ihrer natürlichen Form liegen kann. Und<br />
tatsächlich: Als Degen einige gebogene, flexibel<br />
nachgebende Holzleisten unter die Matratze<br />
des Ehebetts legte, ließen die Schmerzen<br />
seiner Frau nach.<br />
Als Tischlermeister �omas von dieser<br />
Idee hörte, nahm er sofort Kontakt mit dem<br />
Erfinder auf, suchte er doch nach einem Produkt,<br />
das seiner Polstermöbelwerkstatt ein<br />
Alleinstellungsmerkmal verschaffen konnte.<br />
Der eine mehr ein �eoretiker, der andere ein<br />
Praktiker – die beiden Männer waren sich<br />
schnell einig. In �omas’ Werkstatt entstand<br />
schließlich eine Konstruktion aus gebogenen,<br />
verleimten Buchenholzleisten, die in einem<br />
Rahmen aus Stahl oder Holz quer zur Körperachse<br />
lagen.<br />
Lattoflex nannten �omas und Degen<br />
ihre Neuerfindung, meldeten das Produkt<br />
zum Patent an und starteten 1957 in Bremervörde<br />
mit der Serienfertigung. Um die Kunden<br />
von der flexiblen Matratzenunterlage zu<br />
überzeugen, besorgten sie Mediziner und<br />
renommierte Schlafexperten als Fürsprecher<br />
für den Lattenrost, darunter Dr. Günter<br />
Neumeyer, den Moderator einer Arztsendung<br />
im neuen Medium Fernsehen. So entwickelte<br />
sich die kleine Tischlerei aus Bremervörde<br />
in den folgenden Jahren zu einem<br />
Industrieunternehmen, das Kunden in aller<br />
Welt belieferte.<br />
Die Firma gibt es bis heute, nur mit Holz<br />
hat sie schon lange nichts mehr zu tun. Anfang<br />
der 90er-Jahre waren die Schutzrechte<br />
auf die Erfindung ausgelaufen, selbst Discounter<br />
verkauften plötzlich Lattenroste. Wir<br />
müssen eine neue Nische finden, erkannten<br />
die Erfinder des Lattenrosts, denn die Technik<br />
von damals ließ sich nicht mehr weiter<br />
verbessern. Mittlerweile gab es neue Werkstoffe<br />
wie Glas- und Kohlefasern auf dem<br />
Markt, die auf den kleinsten Druck einzelner<br />
Körperpartien reagieren und auch nach Jahren<br />
noch stabil sind wie in der ersten Nacht.<br />
Lattoflex entschied sich daher für einen<br />
radikalen Wandel – und schmiss das Prinzip<br />
Holzlatte kurzerhand über Bord: 1996 stieg<br />
der Hersteller auf ein Federsystem um. Es besteht<br />
aus elastischen, in alle Richtungen beweglichen<br />
Glasfaserflügeln – und wird heute<br />
in mehr als 12 000 Varianten gebaut. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (4); Mauritius Images/Alamy; Getty Images/ Steve Taylor
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
DRIBBLING AUF DEM KÜCHENTISCH<br />
Der Ball ist rund? Von wegen. Dass auch ein eckiger Ball die Massen begeistern<br />
kann, zeigt das Spiel Tipp-Kick, das Edwin Mieg schon 1926 populär machte<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Für Edwin Mieg brach eine Welt zusammen.<br />
Eine Absage, in letzter Sekunde.<br />
Der junge Handelskaufmann sollte<br />
1923 für den Uhrenhersteller Junghans die<br />
Niederlassung in Indien übernehmen. Doch<br />
dann besetzte Junghans die Stelle mit einem<br />
Familienmitglied – Miegs Aussteigertraum<br />
vom Leben in Asien platzte. Frustriert reichte<br />
er auf der Stelle die Kündigung ein und<br />
beschloss, sich selbstständig zu machen.<br />
ALS DER ÄRGER verflogen war, fiel Mieg die<br />
Erfindung eines Stuttgarter Möbelherstellers<br />
namens Karl Mayer ein, von der ihm ein<br />
Freund erzählt hatte. Zwei Jahre zuvor hatte<br />
Mayer ein „Fußbrettspiel“ zum Patent angemeldet,<br />
bei dem zwei Blechfiguren auf<br />
Knopfdruck einen schwarz-weißen, zwölfeckigen<br />
Korkwürfel kicken. Tipp-Kick nannte<br />
Mayer seine Erfindung, die den Sport auf<br />
den Küchentisch brachte. Über den Prototyp<br />
kam er jedoch nicht hinaus.<br />
Mieg fand die Idee faszinierend, entdeckte<br />
aber einen Haken: Die Blechfiguren waren<br />
leicht, die Schüsse daher nur schlapp. Wären<br />
sie aus einem anderen Material gefertigt,<br />
enable 02/2012<br />
dachte Mieg, könnten die Spieler den Ball<br />
besser ins Tor bolzen. Er kaufte dem Handwerker<br />
das Patent ab und ließ die Spielfiguren<br />
aus Blei gießen. Um Tipp-Kick bekannt<br />
zu machen, fuhr Mieg 1926 zur Spielwarenmesse<br />
nach Leipzig. Weil ihm für die<br />
Standmiete das Geld fehlte, stellte er sich<br />
kurzerhand vor den Messeeingang und ließ<br />
Besucher eine Runde spielen. Als ihn die<br />
Wachleute vertrieben, zog Mieg einfach zum<br />
nächsten Tor weiter. Die Hartnäckigkeit<br />
zahl te sich aus: Ein Sporthausbesitzer aus<br />
Chemnitz bestellte über 100 Spiele.<br />
In der Folge wurde der Minikick in<br />
Deutschland rasch populär, 1938 gründete<br />
sich der erste Tipp-Kick-Verein. Im gleichen<br />
Jahr baute Mieg in Schwenningen seine<br />
gleichnamige Fab rik und stellte die Figuren<br />
aus Zink her. Den <strong>Durchbruch</strong> brachte das<br />
„Wunder von Bern“: Nachdem die Nationalmannschaft<br />
1954 Weltmeister wurde, verkaufte<br />
Mieg 180 000 Spiele. Der Erfolg lag<br />
auch an einer Inno vation: Ein Mieg-Mitarbeiter<br />
entwickelte einen Torwart, der auf<br />
Knopfdruck nach dem Ball hechten konnte.<br />
So verkaufte sich das Spiel noch besser.<br />
Ende der 60er versuchte Mieg, das Erfolgsrezept<br />
auf andere Felder zu übertragen,<br />
und brachte Boccia und Kricket als Tischversion<br />
auf den Markt. Beide waren grandiose<br />
Flops, das kleine Familienunternehmen<br />
schrammte nur knapp an der Pleite vorbei.<br />
Seitdem konzentriert sich Mieg auf Tipp-<br />
Kick und darauf, das Spiel den realen Vorbildern<br />
anzupassen. Mit Beginn der Fußballbundesliga<br />
1963 kamen die Figuren in<br />
Mannschaftstrikots auf den Markt. Die Nähe<br />
zu den echten Kickern schlug sich im Umsatz<br />
nieder: Nach miesen WM-Ergebnissen oder<br />
bei Bundesligaskandalen brachen die Verkaufszahlen<br />
ein, die WM 2006 in Deutschland<br />
dagegen bescherte dem Familienunternehmen<br />
mit fast 200 000 verkauften Exemplaren<br />
ein Rekordverkaufsjahr.<br />
Etwa sechs Millionen Tischfußballsets<br />
wurden bislang verkauft. Gegen das Auf und<br />
Ab in der Nachfrage haben sich Mathias und<br />
Jochen Mieg, die das Unternehmen in der<br />
dritten Generation führen, mit dem Auslagern<br />
der Produktion in Betriebe der Region<br />
gewappnet, eine Fertigung in China holten<br />
sie wieder zurück nach Deutschland. Das<br />
Spiel selbst hat es bisher nicht geschafft, auf<br />
dem internationalen Markt Fuß zu fassen,<br />
bekannt ist es vor allem in Deutschland,<br />
Österreich und der Schweiz. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (8); Getty Images/Epics
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
DENK AN MICH<br />
Er hatte eine Lösung, doch es fehlte das Problem dazu. Dann nutzte ein Kollege<br />
Spencer Silvers Klebstoff, um Post-its zu basteln. Und veränderte die Bürowelt<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Das nächste große Ding, Spencer Silver<br />
glaubt es in der Hand zu halten. Aus<br />
Acrylteilchen hat der amerikanische<br />
Chemiker 1968 ein Haftmittel entwickelt,<br />
das Dinge zusammenhält, aber problemlos<br />
wieder zu entfernen ist. Silver streicht den<br />
Kleber auf eine Holztafel und pappt Zettel<br />
darauf, auch sie lassen sich leicht ablösen –<br />
ohne zu zerreißen. Der Forscher will seine<br />
Erfindung als Spray auf den Markt bringen,<br />
doch sein Arbeitgeber, der Technologiekonzern<br />
Minnesota Mining and Manufacturing<br />
Company (3M), lässt mit dem Kleber eine<br />
Haft-Pinnwand ohne Pins entwickeln.<br />
DAS NEUE PRODUKT wird ein Flop. Silver<br />
ist frustriert. Er hat doch ein perfektes Produkt<br />
entwickelt. Gleichzeitig ist ihm bewusst:<br />
Es gibt einfach kein passendes Problem,<br />
das der Kleber löst. Statt die Papiere<br />
mit dem Kleber in einen Ordner zu heften<br />
und nach hinten in sein Regal zu schieben,<br />
geht er jedoch in die Öffentlichkeit. Er erzählt<br />
jedem Kollegen von seinem Kleber, in<br />
Kaffeepausen, beim Mittagessen und auf Seminaren,<br />
jahrelang. Irgendeinem, hofft Sil-<br />
enable 01/2012<br />
ver, wird doch wohl die zündende Idee für<br />
seinen genialen Einfall kommen.<br />
Auch Art Fry hört von der Erfindung.<br />
Während Silver als Ausgleich zum Arbeitsleben<br />
das Malen mit Ölfarben für sich entdeckt,<br />
verbringt Chemie-Ingenieur Fry seine<br />
Freizeit im Kirchenchor. Eines Sonntags verpasst<br />
er seinen Einsatz, denn die Papierschnipsel,<br />
die er sich in sein Gesangbuch gelegt<br />
hat, fallen immer heraus. <strong>Wie</strong> nervig,<br />
denkt Fry, wenn sie doch nur an ihrem Platz<br />
blieben. Da erinnert er sich an den Klebstoff.<br />
Am nächsten Morgen in der Firma holt sich<br />
Fry bei Silver ein Produktmuster. Er streicht<br />
den Kleber auf Papierstreifen, so bastelt er<br />
Lesezeichen, die zuverlässig an der richtigen<br />
Stelle bleiben und beim <strong>Wie</strong>derabnehmen<br />
keine Spuren oder Schäden hinterlassen.<br />
Das Management von 3M ist skeptisch.<br />
Man ist zwar offen für Neues, auch die ersten<br />
Klebebänder für den Overheadprojektor hat<br />
sich der Konzern ausgedacht. Aber das hier<br />
ist nur ein klebriges Stück Papier, sagen die<br />
Chefs, so was kauft niemand. Fry ist verzweifelt.<br />
<strong>Wie</strong> soll er sie von seiner Idee überzeugen?<br />
Als er eines Tages einen Bericht abgeben<br />
muss und dazu noch eine Frage an seinen<br />
Vorgesetzten hat, schreibt er sie auf einen der<br />
Klebezettel und pappt ihn auf die Mappe.<br />
Minuten später bringt der Bürobote sie zurück,<br />
auf dem Deckel klebt der Zettel – mit<br />
einer Antwort vom Chef. Fry ist elektrisiert.<br />
Eine Haftnotiz, das ist es! Um die Prototypen<br />
reißt sich die ganze Firma, ob Sekretärin oder<br />
Vorstandschef, die Leute können nicht genug<br />
bekommen von dem neuen Kommunikationsmittel.<br />
Kurz darauf startet 3M einen Feldversuch<br />
und verteilt Gratismuster der Klebeblöcke in<br />
einer Kleinstadt in Idaho. Dort entpuppen<br />
sich die Post-its als Renner: 95 Prozent der<br />
Nutzer sind begeistert. 1980 kommt die erste<br />
Version in die Geschäfte, kanarienvogelgelb<br />
und 76 mal 76 Millimeter groß. Schnell<br />
erobern sie die Büros im ganzen Land, ein<br />
Jahr später auch in Kanada und Europa.<br />
Als das Basispatent ausläuft, entwickeln<br />
sich aus der Urform des Klebezettels Hunderte<br />
weitere Varianten, in schrillen und sanften<br />
Tönen, in Herzchen-, Schweinchen- und<br />
Weihnachtsbaumform, vom Indexstreifen bis<br />
zum 61 mal 51 Zentimeter großen Meeting-<br />
Chart. Zuletzt vollzog das Konzept sogar einen<br />
radikalen Wandel, denn 3M verzichtete<br />
auf Papier und Klebstoff: Das digitale Post-it<br />
lässt sich an Textdateien heften. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (5)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
LACHEN IM LAZARETT<br />
Aus einer Hutschachtel bastelte Josef Schmidt „Mensch ärgere Dich nicht“. Und<br />
machte es mithilfe von Soldaten zu Deutschlands populärstem Brettspiel<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Josef Friedrich Schmidt stand kurz vor dem<br />
Nervenzusammenbruch. Mit wüstem Geschrei<br />
galoppierten seine drei kleinen Jun-<br />
gen im Jahr 1907 auf ihren Steckenpferden<br />
durch die winzige Wohnküche im Münchner<br />
Arbeiterviertel Giesing, fochten mit Holzschwertern,<br />
lärmten und tobten. Der Vater<br />
ermahnte, er drohte. Aber Franz, Karl und<br />
Heinrich gaben keine Ruhe.<br />
DA HATTE ER EINEN EINFALL. Ein alter<br />
Hutkarton, der auf dem Küchentisch lag,<br />
brachte ihn auf die Idee, dass ein Spiel die<br />
Kinder beruhigen könnte. Möglichst einfach<br />
müsste es sein, selbst für den Jüngsten schnell<br />
zu verstehen. Schmidt zerlegte die Hutschachtel,<br />
zeichnete ein kreuzförmiges Spielfeld<br />
auf den Karton. Vier Holzkegel pro<br />
Spieler mussten darauf eine Runde drehen, es<br />
gewann, wer seine Figuren als Erster ins Ziel<br />
brachte. Aber Vorsicht – jeder Spieler schwebte<br />
in der Gefahr, durch nachrückende Figuren<br />
rausgeschmissen zu werden, auch kurz<br />
vor dem Ziel.<br />
Die Spielidee selbst war nicht neu.<br />
Schmidt hatte sie beim fast 2000 Jahre alten<br />
enable 12/2011<br />
Laufspiel Pachisi abgeschaut. Bis heute existieren<br />
in asiatischen Ländern Varianten des<br />
Strategiespiels, das den Glauben an die <strong>Wie</strong>dergeburt<br />
des Menschen symbolisiert.<br />
Schmidt streicht viele Regeln, er reduziert<br />
das Spiel auf seinen Kern: mit den eigenen<br />
Kegeln um das Kreuz auf dem Spielfeld laufen<br />
und möglichst häufig die Figuren der anderen<br />
Spieler schlagen. Das ist kinderleicht –<br />
Schmidts Söhne sind begeistert. Und ihr Vater<br />
ahnt: Das Spiel hat Verkaufspotenzial.<br />
Aus seiner Kaufmannskarriere weiß<br />
Schmidt, dass das Aussehen und der Name<br />
des Spiels eine entscheidende Rolle spielen.<br />
Für den Prototypen wählt er ein blassgelbes<br />
Spielfeld und eine knallrote Verpackung, darauf<br />
zeichnet er einen Mann im schwarzen<br />
Anzug, der haareraufend am Spielbrett sitzt.<br />
„Mensch ärgere Dich nicht“ tauft Schmidt<br />
seine Kreation, denn es geht auch darum, mit<br />
Anstand zu verlieren.<br />
Im Jahr 1912 richtet Schmidt eine Werkstatt<br />
ein, um sein Spiel in Serie zu produzieren.<br />
Doch kaum jemand interessiert sich für<br />
seinen Zeitvertreib. Vor allem nicht, als kurz<br />
darauf der Erste Weltkrieg ausbricht. Da hat<br />
Schmidt eine Verkaufsidee: Er produziert<br />
3000 Exemplare seines Spiels und schickt sie<br />
mit den damals beliebten Sachspenden-<br />
Sammlungen an Armee und Lazarette. Das<br />
Geschenk kommt an. Und der Frieden bringt<br />
den <strong>Durchbruch</strong>: Die zurückkehrenden Soldaten<br />
wollen auch zu Hause „Mensch ärgere<br />
Dich nicht“ spielen. So entwickelt sich das<br />
Brettspiel zum Bestseller in Deutschland.<br />
Dabei hilft auch der Preis: 35 Reichspfennig<br />
kostet es damals – weniger als ein Pfund Zucker.<br />
Schon 1920 erreicht „Mensch ärgere Dich<br />
nicht“ die Verkaufsmarke von einer Million<br />
Exemplaren. Schmidt, mittlerweile Chef<br />
eines Verlags, hat sich das Spiel patentieren<br />
lassen. Doch der Schutz gilt nur für den Titel<br />
und das Design. Schmidts Konkurrenten<br />
bringen immer wieder ähnliche Ärger-Spiele<br />
heraus, von „Der Mann muss hinaus“ und<br />
„Mensch, verdrück’ Dich“ bis zu „Immer mit<br />
der Ruhe“ und „Darum keine Feindschaft<br />
mehr“.<br />
Das Original aber leidet nicht unter den<br />
zahlreichen Kopien. Im Gegenteil: Auch<br />
heute gilt „Mensch ärgere Dich nicht“ als<br />
In begriff des Gesellschaftsspiels. Die Berliner<br />
Blatz-Gruppe, seit 1997 Inhaber der Schmidt<br />
Spiele GmbH, verkauft jedes Jahr rund<br />
100 000 Stück dieses Bestsellers. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (7)
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
HALT MICH FEST<br />
Um seine Zettelwirtschaft zu bändigen, erfand der Uhrmacher Johann Kirsten<br />
die Heftzwecke. Reich wurden durch die Erfindung jedoch zwei Brüder<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Auftrag notiert. Johann Kirsten schnappt<br />
sich den Zettel mit der Bestellung,<br />
drückt ihn mit einem Nagel in die<br />
Holzwand – und schreit laut auf. Verflucht!<br />
Der Nagel hat sich schon wieder in seinen<br />
Daumen gebohrt statt in die Wand.<br />
In Lychen tratschen sie über den Uhrmachermeister<br />
Kirsten. Der trinkt gern einen<br />
über den Durst. Im Vollrausch, so erzählen<br />
sich die Bewohner des kleinen Ortes in Brandenburg,<br />
bestellt er schon mal eine Kutsche<br />
zur Kneipe und lässt sich die zwei Straßen<br />
nach Hause fahren – während seine Kinder<br />
nicht genug zu essen haben. Dazu das Chaos<br />
in der vollgestopften Werkstatt. Und statt<br />
ordentlich Buch zu führen, kritzelt Kirsten<br />
<strong>alles</strong> einfach auf Zettel, mit denen er die<br />
Wände gepflastert hat. Ein Wunder, dass der<br />
Mann überhaupt noch arbeiten kann.<br />
Kirsten aber stört nur eines an seiner Zettelwirtschaft:<br />
dass sie so oft zu Schmerzen<br />
führt. Dem will er nun ein Ende bereiten.<br />
Mit einer Stanze presst er ein kleines Metallplättchen<br />
auf einen Kopf eines Nagels. Jetzt<br />
kann er den Nagel bequem und sicher mit<br />
dem Daumen in die Wand pinnen. So sim-<br />
enable 11/2011<br />
pel wie die Idee ist auch der Name, den Kirsten<br />
seiner Erfindung gibt: „Pinne“. Zusammen<br />
mit zwei Mitarbeiterinnen stellt er einige<br />
Tütchen mit Pinnen her und verkauft das<br />
Produkt an seine Kunden.<br />
BEREITS 20 JAHRE ZUVOR benutzte der<br />
österreichische Unternehmer Heinrich Sachs<br />
Nägel mit umgebogenen Köpfen. Zeitgleich<br />
entwickelte ein Berliner Zeichner ein Produkt,<br />
das er Reißzwecke nannte, abgeleitet<br />
von seiner Funktion: dem Festhalten von<br />
Zeichnungen auf Reißbrettern.<br />
Kirstens Erfindung allerdings ist die einzige,<br />
die es zu einem Patent bringt. Unter<br />
dem Namen „Heftzwecke“ wird sie 1904<br />
beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin angemeldet.<br />
Allerdings nicht von Kirsten, sondern<br />
von den Brüdern Paul und Otto<br />
Lindstedt. Die Brüder betreiben in Lychen<br />
eine Metallkurzwarenfabrik und haben ein<br />
Jahr zuvor dem unter Geldnot leidenden<br />
Uhrmacher seine Erfindung abgekauft. Vor<br />
der Patenteinreichung haben sie die Pinne jedoch<br />
entscheidend verbessert. Weil bei den<br />
ersten Modellen die Kopfplatte unter starkem<br />
Druck nachgab, wurden zusätzliche kleine<br />
Metallzungen eingestanzt und umgebogen.<br />
„Durchdrücken unmöglich“ steht fortan auf<br />
den Heftzwecken-Verpackungen, die das<br />
Werk in Lychen als „Record Sicherheits-<br />
Reißbrettstifte“ vertreibt. Die Lindstedts vertreiben<br />
ihr Produkt in ganz Europa und werden<br />
schnell zu Millionären.<br />
In Spitzenzeiten beschäftigt die Fabrik<br />
100 Mitarbeiterinnen. Jede schafft bis zu<br />
7000 Pinnen pro Tag. In der DDR wird das<br />
Unternehmen zum Volkseigenen Betrieb.<br />
Zunehmend verbreitert sich das Produktspektrum,<br />
hin zu Motoren für Autoheizungen,<br />
Armaturen und Temperaturfühlern. Die<br />
Heftzwecke gerät ins Abseits, 1966 wird ihre<br />
Produktion in Lychen eingestellt.<br />
In den 90er-Jahren gab es in ganz Deutschland<br />
noch ein gutes Dutzend Reißzweckenhersteller.<br />
Seit 2011 ist die Arnsberger Firma<br />
Gottschalk der letzte verbliebene Produzent<br />
hier zu Lande – und einer von zweien weltweit.<br />
Das Unternehmen fertig mehr als zehn<br />
Millionen Reißzwecken täglich.<br />
Einmal wurde in Lychen aber doch noch<br />
eine Heftzwecke angefertigt: Im Jahr 2003<br />
setzte die Stadt eine überdimensionierte Pinne<br />
auf eine zwei Meter hohe Säule – ein<br />
Denkmal zu Ehren des Uhrmachermeisters<br />
Johann Kirsten. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (3)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
AB IN DIE KISTE<br />
Laster abladen, Kisten schleppen, im Schiffsrumpf verstauen. Das muss doch<br />
auch einfacher gehen, dachte Malcom McLean. Und erfand den Container<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Malcom McLean ist sauer. Es ist Ende<br />
November des Jahres 1937. Nur<br />
noch wenige Tage bis zum Erntedankfest.<br />
Und er sitzt im Hafen von New<br />
York fest. Schon vor Tagen hat der Chef einer<br />
kleinen Spedition aus North Carolina eine<br />
Ladung Baumwolle nach New York gefahren.<br />
Zurück kann er erst, wenn die Ware an Bord<br />
ist. Und das dauert. <strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> im Hafen.<br />
Stück für Stück schleppen Arbeiter dort Kisten,<br />
Säcke und Fässer aus den Lagerhallen,<br />
verpacken sie bruchsicher für die Überfahrt<br />
und hieven sie an Bord. Wenn das in dem<br />
Tempo weitergeht, denkt McLean, essen sie<br />
den Truthahn zu Hause ohne mich.<br />
AUF DEM WEG ZURÜCK grübelt er. Warum<br />
muss man Güter eigentlich einzeln verladen?<br />
Warum kann man nicht einen ganzen Transporter<br />
an Bord heben, der die Ladung anschließend<br />
gleich ausliefert? McLean erarbeitet<br />
ein Konzept. Schnell wird dabei klar, dass<br />
die Zugmaschinen der Trucks überflüssige<br />
Last für die Schiffe sind. Obendrein fehlen sie<br />
während der Überfahrt für Transporte an<br />
Land. Besser wäre es, nur die Lkw-Anhänger<br />
enable 10/2011<br />
und Sattelauflieger zu verschiffen. Aber auch<br />
das wäre noch Platzverschwendung, denn die<br />
Trailer lassen sich nicht stapeln. Am Ende ist<br />
er überzeugt: Auch die Räder und Fahrgestelle<br />
müssen weg. Aus den Fahrzeugen werden<br />
Container. In den folgenden Jahren versucht<br />
McLean immer wieder, Reeder als Investoren<br />
für seinen Plan zu gewinnen – ohne Erfolg.<br />
Parallel arbeiten auch in Europa Experten<br />
an der Entwicklung von Containern. Bereits<br />
1933 wurde dafür sogar eine Organisation<br />
gegründet, das Bureau International des<br />
Containers (BIC). Aber das kommt nach vielen<br />
Berechnungen immer wieder zum gleichen<br />
Ergebnis: Die Sache lohnt nicht. Passende<br />
Kräne und Lastwagen wären zu teuer.<br />
McLean aber gibt nicht auf. Fast 20 Jahre<br />
nach dem ersten Einfall verkauft er 1955<br />
seine Spedition, die inzwischen rund 1800<br />
Fahrzeuge umfasst. Vom Gewinn kauft er<br />
eine Reederei, die Pan Atlantic Steamship<br />
Company. Im April 1956 fährt der umgebaute<br />
Tanker „Ideal X“ von New York nach<br />
Texas. Dort hebt ein Kran 58 Metallkisten<br />
von Bord und setzt sie auf Lkw-Fuhrwerke.<br />
Ein Jahr später schickt McLean ein Schiff<br />
nach Miami, das 226 Container in einem<br />
eigens gefertigten Haltegerüst transportiert.<br />
Stolz verkündet er: „Ich habe keine Schiffe,<br />
ich habe seetüchtige Transporter.“ Andere<br />
US-Reeder steigen in das Geschäft ein. 1966<br />
wachen auch die Europäer auf, die die<br />
„Schachtelschiffe“ bislang verlacht haben.<br />
Auslöser dafür ist die Ankunft von McLeans<br />
Frachter „Fairland“ in Bremen. Das Schiff<br />
transportiert etwa die dreifache Ladung eines<br />
gleich großen Stückgutfrachters. McLean<br />
dirigiert höchstpersönlich das Abladen. Der<br />
Siegeszug des neuen Transportbehälters ist<br />
nicht mehr aufzuhalten. 1975 gibt es weltweit<br />
1,3 Millionen Container. Seit Ende der<br />
70er-Jahre gilt als Standard der 20-Fuß-Container.<br />
Die „Twenty-Foot Equivalent Unit“<br />
(TEU) ist sechs Meter lang, 2,44 Meter breit<br />
und 2,60 Meter hoch. 2010 wurden rund 25<br />
Millionen TEU auf Schiffen transportiert.<br />
Der Pionier McLean steigt aus dem Containertransport<br />
auf See bereits Ende der 60er-<br />
Jahre wieder aus, verkauft seine Reederei und<br />
gründet mehrere Speditionen, die er bis zu<br />
seinem Tod im Jahr 2001 leitet. Gleichzeitig<br />
erhalten die Experten des BIC, das dem Container<br />
einst keine Zukunftschancen gab,<br />
doch noch eine Existenzberechtigung. Seit<br />
40 Jahren vergeben sie weltweit die<br />
Registriernummern für Container. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (9); Logistik Hall of Fame
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
RÜHRGEBIET<br />
Ende der 20er eroberte ein Kakaopulver ganz Deutschland: Kaba. Weil es sich<br />
durch Rühren in Milch auflöste, ohne dass man sie au�ochen musste<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Es ist der 20. März 1929, der Tag, an<br />
dem die Zweigstellen der Kaffee-Handels-Aktien-Gesellschaft<br />
einen Brandbrief<br />
vom Chef bekommen. Die Aussichten<br />
seien schlecht, schreibt der Bremer Kaffeehändler<br />
Ludwig Roselius. Weil das Patent für<br />
den entkoffeinierten Kaffee Hag ausgelaufen<br />
sei, werde die Konkurrenz bald ähnliche Produkte<br />
auf den Markt bringen. Zudem stagniere<br />
bereits jetzt der Absatz des einzigen Artikels.<br />
Der Chef weiß auch, warum: „Kaffee<br />
Hag ist kein Artikel, mit dem man die Massen<br />
erreichen kann.“<br />
EIN ERSCHWINGLICHES PRODUKT für<br />
die ganze Familie muss her, findet Roselius.<br />
Die Idee dazu liegt schon in der Schublade.<br />
Zwei Jahre zuvor hat er auf brasilianischen<br />
Kaffeeplantagen ein Getränk kennengelernt,<br />
das die Kaffeepflücker aus Kakaobohnen zubereiten.<br />
Milder als Kaffee schmeckte der<br />
Trunk, aber kräftiger und herber als Schokolade.<br />
Nach seiner Rückkehr probierte Roselius<br />
kurz an der Rezeptur eines Kakaogetränks<br />
herum, nun, da er seine Firma gefährdet<br />
sieht, nimmt er die Versuche wieder auf.<br />
enable 09/2011<br />
Der Gesundheitsfaktor spielt für ihn eine<br />
wichtige Rolle, Traubenzucker und Mineralien<br />
sollen das Produkt nahrhaft machen.<br />
Um es von den Kakaopulvern abzuheben, die<br />
damals viele Schokoladenfirmen herstellen,<br />
lässt Roselius ein Instantmittel entwickeln:<br />
Der Kakao löst sich ohne Kochen in heißer<br />
Milch auf. Kaba nennt er sein Produkt – ein<br />
angeblich aus „Kakao“ plus „Banane“ zusammengesetzter<br />
Fantasiename als Anspielung<br />
auf die exotische Herkunft des Getränks.<br />
Noch im selben Jahr gründet Roselius die<br />
Plantagengesellschaft, sie soll Kaba zur eigenständigen<br />
Marke aufbauen. „Was trinkt der<br />
Plantagenbesitzer?“, fragen die ersten Werbeplakate.<br />
Über das Hag-Vertriebssystem verbreitet<br />
er das Getränk in ganz Deutschland.<br />
Neben den Außendienstlern beschäftigt<br />
Roselius sogenannte Propagandistinnen, die<br />
Kaba auf Messen und in Läden ausschenken.<br />
Selbst auf Bahnhöfen verteilen die Damen<br />
Flaschen mit Kaba als Probe.<br />
Die Bremer Kaufleute halten das für<br />
Quatsch. „Die Ware lobt sich selbst“, meinen<br />
sie. Doch Roselius lässt sich nicht beirren:<br />
Erst gute Reklame macht für ihn eine Marke<br />
aus. Die Packung färbt er sonnengelb ein, das<br />
Palmenlogo weckt Gedanken an warme<br />
Überseewelten. Als Blickfang nutzt er ein<br />
Motiv mit maximalem <strong>Wie</strong>dererkennungswert:<br />
Dorit Nitykowski, Miss Germany<br />
1930. Ein günstiges, gesundes Getränk, das<br />
aus einer verlockenden Ferne zu stammen<br />
scheint – die Verbraucher sind begeistert.<br />
Früh setzt Roselius auch auf Mütter mit<br />
Kindern, „Mutti, gib uns Kaba!“ steht in den<br />
Annoncen. Der Appell zahlt sich aus: 1934<br />
verkauft er eine Million Pfund Kakaopulver,<br />
im Jahr darauf legt der Absatz um 85 Prozent<br />
zu. Erst im Kriegsjahr 1943 stoppt die Produktion,<br />
weil es zu wenig Rohstoffe gibt.<br />
1949 ist Kaba noch vor Kaffee Hag wieder<br />
auf dem Markt. In den 60er-Jahren kommt<br />
eine in kalter Milch lösliche Variante dazu,<br />
später folgen die Sorten Erdbeer, Zitrone, Banane<br />
und Heidelbeer. Die Werbung knüpft<br />
an alte Wurzeln an: Kaba zieht eine gigantische<br />
Kampagne um Disney-Figuren auf, die<br />
Abenteuer in der Südsee erleben. Mitte der<br />
80er verkaufen die Bremer die Firma an den<br />
US-Konzern General Foods, heute Kraft<br />
Foods; die Rolle als Sympathieträger übernimmt<br />
ein Bär mit Tropenhut. Der Hut ist<br />
inzwischen verschwunden, der Slogan aber<br />
klingt immer noch wie damals: „Kaba, der<br />
Plantagentrank“. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Interfoto/TV-yesterday; ullstein bild; Susann Richter (4)
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
AUF DEN LEIM GEGANGEN<br />
Fliegen sind eine Plage. Für Theodor Kayser aber wurden sie zum Segen:<br />
1909 erfand er den Fliegenfänger. Der Beginn eines weltweiten Siegeszugs<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Ein herrlicher Sommer im Schwäbischen,<br />
�eodor Kayser wünscht sich nur eins:<br />
Eis und Schnee. Wenn es warm ist, sind<br />
die Menschen gesund, niemand kauft Kaysers<br />
„Brust-Caramellen“. Dabei wollte sich<br />
der Konditormeister mit den Hustenbonbons<br />
ein zweites Standbein aufbauen. Läuft<br />
aber nur im Herbst und Winter, grummelt<br />
Kayser und zieht frustriert ein Blech mit<br />
Kuchen aus dem Ofen, immerhin den wollen<br />
die Kunden zu jeder Jahreszeit.<br />
KAUM ABER steht das Blech zum Abkühlen<br />
im Regal, stürzt sich eine Schar Fliegen drauf.<br />
Kayser flucht. Überall hängen zwar mit Zuckersirup<br />
bestrichene Pappstreifen, doch in<br />
der warmen Backstube tropft das Lockmittel<br />
schneller herunter, als eine Fliege daran kleben<br />
bleiben kann. Völlig nutzlos, die Dinger,<br />
findet Kayser. Doch was bleibt ihm übrig,<br />
Gift sprühen ist als Bäcker natürlich tabu.<br />
Kurz darauf reist der Konditor zum Urlaub<br />
nach Böhmen. Dort entdeckt er eine<br />
andere Fliegenfalle: dünne Papierstreifen mit<br />
einer Leimschicht, die in einer Papphülse aufgerollt<br />
werden. Kayser ist erst begeistert – er-<br />
enable 08/2011<br />
kennt aber schnell ein großes Manko: Schon<br />
nach kurzer Zeit bleibt keine Fliege mehr an<br />
den Streifen hängen; die Klebschicht wird<br />
binnen wenigen Tagen hart und trocken.<br />
Mit einem lange haltbaren Leim, überlegt<br />
sich Kayser, wäre das Produkt perfekt: Geschäfte<br />
können das Produkt lagern, der Kunde<br />
kann es auf Vorrat kaufen. <strong>Wie</strong>der zu Hause<br />
in der Kleinstadt Waiblingen erzählt Kayser<br />
einem befreundeten Chemiker von seiner<br />
Entdeckung. Zusammen machen sie sich ans<br />
Werk, mischen Harze, Fette, Honig und Öle.<br />
Etliche Versuche und Fehlschläge später haben<br />
die beiden die richtige Mischung gefunden:<br />
ein Leim, der weder tropft noch trocknet<br />
und den die Fliegen trotzdem mögen.<br />
1909 bringt Kayser die ersten Exemplare<br />
des neuen Produkts als „Aeroplan“ auf den<br />
Markt. Gegen den Namen gehen jedoch die<br />
deutschen Flugzeugpioniere auf die Barrikaden,<br />
Kayser ändert die Marke in „Aeroxon“<br />
um. Zunächst stellen Heimarbeiterinnen die<br />
Fliegenfänger per Hand her, doch Kayser will<br />
sein Produkt über den Handel vertreiben, also<br />
muss er die Fertigung industrialisieren. Er<br />
meldet das Produkt zum Patent an, baut eine<br />
Fabrik und stellt mehr als 100 Arbeiter ein.<br />
1922 liegt die Jahresproduktion des Waiblin-<br />
ger Werks bereits bei knapp 20 Millionen<br />
Fliegenfängern.<br />
Vier Jahre später steigt Kayser ins Exportgeschäft<br />
ein. Der erste Auslandsmarkt ist die<br />
Schweiz, weitere europäische Länder folgen,<br />
bald gibt es den Fliegenfänger aus Schwaben<br />
auch in Brasilien, Argentinien, Kanada und<br />
den USA. Bis Ende der 20er-Jahre gründet<br />
Kayser ein Dutzend Auslandsfirmen, um den<br />
Bedarf an Fliegenfängern zu decken. 1930<br />
sind es weltweit 124 Millionen.<br />
Während des Zweiten Weltkriegs gehen<br />
viele Auslandsfirmen verloren, dann erobert<br />
das Insektengift DDT die Märkte. Kaysers<br />
Nachkommen bleiben jedoch bei umweltfreundlichen<br />
Methoden, 1966 kommt als<br />
zweites Produkt die Fliegenklatsche ins Programm.<br />
In den nächsten Jahrzehnten wächst<br />
das Sortiment von Silberfischchen- und Motten-Köderboxen<br />
über Ameisenstreifen und<br />
Lebensmittelmotten-Fallen bis zu Lavendelbeuteln<br />
und Zedernholzringen gegen Motten.<br />
Rund 40 Anti-Schädlings-Produkte bietet die<br />
Aeroxon Insect Control GmbH heute an und<br />
macht damit knapp 20 Mio. Euro Umsatz.<br />
Nur in den Kampf gegen Mücken ist sie nie<br />
gezogen: Sprühmittel, so die Begründung,<br />
passen nicht zur Firmenphilosophie. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (2); dpa Picture-Alliance/Zoonar/Alfred; Your Photo Today/Heinz Schmidbauer; FTD/Ulla Deventer
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
SCHAU MIR IN DIE AUGEN, KLEINES<br />
Der Kieler Konstrukteur Heinrich Wöhlk verträgt die dicken Sehschalen<br />
aus Glas nicht. So entwickelt er in den 40er-Jahren die Kontaktlinse<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Heinrich Wöhlk hat einen Traum. Er<br />
möchte so gut sehen können wie<br />
andere Menschen. Acht Dioptrien<br />
weitsichtig, das machte Wöhlk bereits als<br />
Kind zum Außenseiter, an Fußballspielen<br />
oder Schwimmen war mit zentimeterdicken<br />
Brillengläsern nicht zu denken. Als er 23 ist,<br />
hält es Wöhlk nicht länger aus. An der Kieler<br />
Augenklinik lässt er sich 1923 Augenschalen<br />
aus Glas einsetzen, hergestellt vom Optikunternehmen<br />
Carl Zeiss in Jena.<br />
DIE IDEE, eine Sehhilfe direkt am Auge statt<br />
vor dem Auge zu tragen, ist nicht neu. Schon<br />
Universalgenie Leonardo da Vinci hatte erste<br />
Konzepte für eine mit Wasser gefüllte Glaslinse<br />
skizziert. Der große <strong>Durchbruch</strong> gelang<br />
jedoch keinem. Noch in den 20er-Jahren bedeckten<br />
die sogenannten Skleralschalen das<br />
ganze Auge, das Glas ist geschliffen oder geblasen.<br />
Länger als eine halbe Stunde kann<br />
Wöhlk sie nicht tragen, zu sehr drücken die<br />
Schalen auf die Augen. Und sie verbessern<br />
das Sehvermögen kaum. Das Prinzip an sich<br />
aber fasziniert den jungen Maschinenkonstrukteur.<br />
Wöhlk tüftelt nächtelang, um<br />
enable 07/2011<br />
maßgeschneiderte Sehschalen herzustellen.<br />
Dafür braucht er den Abdruck seiner Augen.<br />
Er legt sich hauchdünne Wachsplättchen auf<br />
die Augäpfel, beschleunigt mit einer Wärmelampe<br />
den Anpasseffekt, dann taucht er den<br />
Kopf in Eiswasser. Die Wachsplättchen werden<br />
sofort hart – und Wöhlk fischt die Abdrücke<br />
seiner Augenform aus dem Wasser.<br />
In der Firma, in der er angestellt ist, arbeitet<br />
er seit Kurzem mit einem neuen, glasklaren<br />
Kunststoff: Plexiglas. Wöhlk experimentiert<br />
mit Reststücken davon, und nach<br />
zig Versuchen gelingt es ihm 1940, eine<br />
Augenschale aus Plexiglas herzustellen. Weil<br />
die optische Linse fehlt, kann er zwar nichts<br />
sehen, doch die Schalen lassen sich problemlos<br />
stundenlang tragen.<br />
Nach dem Krieg nimmt Wöhlk die Produktion<br />
wieder auf. Er meldet ein Gewerbe<br />
zur „Herstellung unsichtbarer Haftgläser“ an.<br />
Doch die meisten Augenschalen kommen<br />
wieder zurück, weil die Nutzer sie nicht vertragen.<br />
Auch Wöhlks Idee, die Schalenrohlinge<br />
mit einer auswechselbaren Innenlinse<br />
zu versehen, bringt nicht den erhofften Erfolg.<br />
Eines Tages aber setzt er sich den optischen<br />
Kern der Sehschale auf die Pupille<br />
und ist verblüfft, dass er die Linse den ganzen<br />
Tag über tragen und gut damit sehen kann.<br />
Die ersten Maschinen für die Contactlinse,<br />
wie er seine Sehhilfe nennt, baut Wöhlk<br />
selbst. 1949 eröffnet er in Kiel ein Fachgeschäft,<br />
kurz darauf beginnt er, sein Produkt<br />
an Augenoptiker in ganz Deutschland zu liefern.<br />
Später baut der Kieler Konstrukteur die<br />
Fertigung der harten Kontaktlinsen weiter<br />
aus, 1971 bringt er zusätzlich eine weiche<br />
Linse auf den Markt. Denn die Konkurrenz<br />
schläft nicht.<br />
DER US-OPTIKKONZERN Bausch & Lomb<br />
hatte eine weiche Kontaktlinse auf den Markt<br />
gebracht, basierend auf der Erfindung des<br />
Prager Chemikers Otto Wichterle, der Kontaktlinsen<br />
aus Hydrogel entwickelt hatte.<br />
1965 verkaufte der tschechoslowakische Staat<br />
die Erfindung der ersten weichen Kontaktlinse<br />
an den US-Konzern Bausch & Lomb.<br />
1990 kamen die einstigen Konkurrenten<br />
zunächst zusammen. Wöhlks Unternehmen<br />
war zwischenzeitlich von einer Tochter von<br />
Carl Zeiss Jena aufgekauft worden – die sie<br />
später an den Bausch & Lomb-Konzern verkaufte.<br />
Seit 2005 ist Wöhlk wieder ein eigenständiges<br />
Unternehmen, das seine Kontaktlinsen<br />
in 60 Ländern verkauft. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Getty Images; Susann Richter (5)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
BLUTIGER EINSATZ AM ZUCKERHUT<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts muss der Zucker zum Kaffee mit grobem Werkzeug<br />
zerkleinert werden. Deshalb erfindet ein Fabrikdirektor den süßen Würfel<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Der Kaffee ist fertig, die Dame des<br />
Hauses holt Hammer und Hacke.<br />
Mit ganzer Kraft schlägt Juliana Rad<br />
den wuchtigen Zuckerkegel in Stücke. Dann<br />
zieht sie Zuckerbrecher und -zangen aus der<br />
Schublade, nimmt einen der Brocken und<br />
macht sich an die Feinarbeit. Plötzlich schreit<br />
sie auf, Blut spritzt, die Zuckerstückchen färben<br />
sich rot. Nach einer Schreck sekunde holt<br />
die Hausfrau eine Mullbinde und umwickelt<br />
den verletzten Finger. Dann füllt sie die<br />
weiß-roten Zuckerstücke in ein Silberschälchen,<br />
stellt es auf den Servierwagen und<br />
rauscht damit in den Salon.<br />
IMMER WIEDER hackt sich eines der<br />
Dienstmädchen der Industriellenfamilie in<br />
Datschitz, in der damaligen Donaumonarchie<br />
Österreich-Ungarn gelegen, oder eine<br />
der Töchter beim Zuckerschneiden in den<br />
Finger – und heute ist es sogar die Hausherrin<br />
selbst. Also soll Jakob Christoph Rad, meint<br />
seine Gattin, sich um eine Alternative zu dieser<br />
blut gefährlichen Schinderei kümmern.<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts kommt weißer<br />
Zucker in Hutform auf den Markt: ein Kegel<br />
enable 06/2011<br />
aus raffiniertem Rohrzucker, steinhart und<br />
mehr als einen Meter hoch. Mit Werkzeugen<br />
müssen die monströsen Zuckerhüte gebrauchsfertig<br />
zerkleinern werden, die Verletzungsgefahr<br />
ist hoch.<br />
Jacob Christoph Rad rührt sich drei Löffel<br />
rot-weißen Zucker in die Tasse und grübelt.<br />
Er ist Direktor der Zuckerraffinerie in<br />
Datschitz, damals eine der größten Zuckerfabriken<br />
im Land. Über das unhandliche<br />
Format seiner Produkte beschweren sich seine<br />
Frau und ihre Freundinnen schon lange.<br />
Als sich die Gäste verabschiedet haben,<br />
zieht sich der Fabrikdirektor in die Küche zurück,<br />
fortan verbringt er dort jeden Tag einige<br />
Stunden. Nach wenigen Wochen hat Rad<br />
eine Lösung gefunden: Aus Blechstreifen bastelt<br />
er eine in kleine Quadrate unterteilte<br />
Schale, dann raspelt er den Zuckerhut in feine<br />
Brösel, feuchtet sie mit Wasser an und<br />
füllt die Masse in die Form. Als der Zuckerbrei<br />
trocken ist, löst er die Würfel aus der<br />
Schale, in eine Pappschachtel gepackt schenkt<br />
er die Prototypen seiner Frau.<br />
Die ist hellauf begeistert, und so lässt der<br />
Direktor aus dem einfachen Grundmodell<br />
eine Würfelpresse aus Messing entwickeln.<br />
Kurz darauf produzieren die Arbeiter in sei-<br />
ner Fabrik mit sechs der neuen Maschinen<br />
bereits 200 Zentner Würfelzucker pro Tag.<br />
Im Januar 1843 erhält Rad das kaiserliche<br />
Patent zur Herstellung von Zucker in Würfelform.<br />
Die <strong>Wie</strong>ner Zeitung berichtet über<br />
eine neue Art Zucker, die „vorzüglich den<br />
ökonomischen Damen gefällt“: Ein zuverlässiger<br />
Maßstab für die gewünschte Süße von<br />
Speisen und Getränken, der Einkauf ist kalkulierbar,<br />
beim Zerkleinern entsteht kein<br />
Abfall. Der Handel führt das neue Produkt<br />
als „�ee-Zucker“ oder „<strong>Wie</strong>ner Würfelzucker“,<br />
schnell verbreitet sich Rads Erfindung<br />
auch in Preußen und Sachsen, in der Schweiz<br />
und in England.<br />
Neben importiertem Rohrzucker verarbeitet<br />
Rads Fabrik auch heimischen Rübenzucker.<br />
Rad wechselt später als Sekretär an<br />
die Handelskammer nach <strong>Wie</strong>n und kann<br />
sich nicht mehr um die Fabrik kümmern.<br />
1852 wird die Würfelzuckerproduktion in<br />
Datschitz, heute das tschechische Dačice,<br />
eingestellt. Auch Tüftler in Frankreich und<br />
Belgien hatten ähnliche Maschinen zur Zuckerverarbeitung<br />
gebaut. Mittlerweile läuft<br />
die Produktion in Datschitz wieder. Der dort<br />
hergestellte Würfelzucker heißt so wie die<br />
Auslöserin seiner Erfindung: Juliana. �<br />
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FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Getty Images/Susann Richter (5)
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
BÄRENHUNGER AUF GUMMIBONBONS<br />
Hans Riegel experimentiert mit Akazienbaumharz – und entdeckt so die<br />
Erfolgsformel für das Fruchtgummi Haribo, das fortan nicht nur Kinder lieben<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Ein Sack Zucker, eine Marmorplatte, ein<br />
gemauerter Herd, ein Kupferkessel, eine<br />
Walze. Als Hans Riegel sich selbstständig<br />
macht, fällt das Anfangsinventar<br />
übersichtlich aus. In einer kleinen Hinterhof-<br />
Waschküche in Bonn-Kessenich startet der<br />
Bonbonkocher Ende 1920 mit der Produktion.<br />
Im Handelsregister lässt er den Betrieb<br />
als Haribo eintragen, ein einprägsamer Mix<br />
aus Inhabername plus Standort.<br />
SÜSS SIND HARIBO-BONBONS damals,<br />
fruchtig – und hart. Trotz der Konkurrenz<br />
am Ort verkauft Riegel gut, es gefällt ihm,<br />
endlich sein eigener Chef zu sein. Ganz zufrieden<br />
ist er mit dem Start in die Selbstständigkeit<br />
jedoch nicht. Manchmal langweilt<br />
ihn die Arbeit sogar. Es muss was Neues her.<br />
Riegel überlegt, wie er den damals sehr beliebten,<br />
weichen Kaugummi mit der fruchtigen<br />
Süße der Hartbonbons verbinden kann.<br />
Das wäre auch was für Kinder, findet der<br />
Bonbonmacher, für die die Branche bisher<br />
wenig bietet. So kauft Riegel zum ersten Mal<br />
Akazienbaumharz ein, das Gummiarabikum.<br />
enable 05/2011<br />
Dann mischt und probiert er tagelang in seiner<br />
Bonbonküche. Das Ergebnis sind Fruchtgummis<br />
genau nach seinem Geschmack: süß<br />
und weich. Doch um für Kinder attraktiv zu<br />
sein, überlegt Riegel, braucht das neue Produkt<br />
auch eine ansprechende Form. Er erinnert<br />
sich gut daran, wie sehr ihn als Kind<br />
dressierte Bären faszinierten, die auf Jahrmärk<br />
ten tanzten. Also bastelt Riegel einen<br />
Gießstempel in Bärenform, den er in einen<br />
mit Stärkepuder gefüllten Kasten drückt. Die<br />
Negativformen gießt er mit flüssiger Gummibonbonmasse<br />
aus. Am nächsten Morgen<br />
überzieht Riegel die Bonbons mit Bienenwachs,<br />
damit sie nicht aneinanderkleben und<br />
schön glänzen. Die essbaren Bärchen messen<br />
sieben Zentimeter, zwei Stück kosten in den<br />
20er-Jahren einen Pfennig.<br />
Zunächst fährt Riegels Frau die Tagesproduktion<br />
mit dem Fahrrad zum Bonner<br />
Markt. Doch schnell sind die Bärchen so beliebt,<br />
dass er einen Lieferwagen braucht. Drei<br />
Jahre nach der Erfindung des Tanzbären gelingt<br />
Riegel der nächste große Wurf: Er stellt<br />
Süßwaren aus Lakritz her. Zuerst in Stangenform,<br />
später kommt die Schnecke dazu, auch<br />
zum Tanzbär gesellt sich ein schwarzer<br />
Lakritzbruder. Dann geht es Schlag auf<br />
Schlag: 1930 beschäftigt Haribo bereits 160<br />
Mitarbeiter, Handelsvertreter vertreiben die<br />
Produkte in ganz Deutschland, 1935 entsteht<br />
in Dänemark das erste Auslandswerk. Mit<br />
dem simplen Satz „Haribo macht Kinder<br />
froh“ schreibt das Unternehmen Werbegeschichte.<br />
Kurz darauf folgt die zweite Generation<br />
des Gummibärchens: Riegel bringt<br />
eine kleinere und rundlichere Bärenversion<br />
auf den Markt.<br />
Jahrzehntelang verkauft Haribo die Bärchen<br />
in Dekodosen aus Blech oder als lose<br />
Ware in Pappkartons. Doch als die Supermärkte<br />
Europa zu erobern beginnen, steckt<br />
Haribo seine Gummibären in goldfarbene<br />
Zellophanbeutel. <strong>Wie</strong>der die richtige Idee zur<br />
rechten Zeit.<br />
DER ABSATZ BOOMT, und Riegels Nachfolgern<br />
wird klar, dass die berühmteste Erfindung<br />
des Unternehmens endlich einen Markenschutz<br />
braucht: 1967 trägt das Deutsche<br />
Patentamt die Goldbären als Warenzeichen<br />
ein. Haribo erweitert derweil die Zielgruppe<br />
und den berühmten Slogan mit dem Zusatz:<br />
„und Erwachsene ebenso“. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (7); action press/Martina Seydel
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
DES KAISERS KONSERVE<br />
Um seine Soldaten mit Nahrung zu versorgen, schrieb Napoleon einen<br />
Wettbewerb aus. Ein Koch kam auf die Idee, das Essen luftdicht zu verpacken<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Der Kaiser tobt. Schon wieder haben<br />
ihm seine Generäle herbe Verluste<br />
gemeldet. Mehr als über die Zahl der<br />
Toten selbst regt sich Napoleon Bonaparte jedoch<br />
über die Todesursachen auf. Denn seine<br />
Männer fallen in den Eroberungskriegen<br />
nicht mehr nur in Gefechten mit feindlichen<br />
Armeen. Immer mehr französische Soldaten<br />
sterben an Hunger.<br />
Lebensmittel haltbar zu machen ist Anfang<br />
des 19. Jahrhunderts ein großes, ungelöstes<br />
Problem. Fleisch wird gepökelt, geräuchert<br />
oder in Fett gepackt, Gemüse mit Essig<br />
oder Salz eingemacht, Obst in Alkohol gelegt,<br />
gedörrt oder mit Zucker zu Marmelade<br />
verkocht. Für den Hausgebrauch existieren<br />
genug Möglichkeiten, doch warum gibt es<br />
keine haltbare Verpflegung für Soldaten?<br />
Schließlich hängt der Sieg auch vom Essen<br />
ab: „Une armée marche à son estomac“, findet<br />
Napoleon, ein Heer marschiert sozusagen<br />
mit dem Magen.<br />
EIN WETTBEWERB unter Frankreichs Wissenschaftlern<br />
soll helfen, das Problem zu<br />
lösen. Die beste Idee belohnt Bonaparte mit<br />
enable 04/2011<br />
12 000 Francs. Doch es ist kein Wissenschaftler,<br />
der den <strong>Durchbruch</strong> schafft. „Für<br />
die Kunst, alle animalischen und vegetabilischen<br />
Substanzen in voller Frische zu erhalten“,<br />
erhält 1810 der Koch und Konditor<br />
Nicolas Appert die Prämie. Apperts Technik<br />
ist simpel: Fleisch oder Gemüse vorkochen,<br />
in ein Glasgefäß füllen und fest verkorken,<br />
die Gläser längere Zeit in kochendem Wasser<br />
erhitzen. Beim Sirupkochen war Appert auf<br />
den Gedanken gekommen, dass Hitze die<br />
Basis des Haltbarmachens ist.<br />
<strong>Wie</strong> wichtig das luftdichte Verschließen<br />
der Lebensmittel ist, erkennt er zufällig. Geduldig<br />
erforscht er die nötige Einkochzeit für<br />
6000 einzelne Lebensmittel, und weil er auch<br />
Weinhändler ist, füllt er das zerkleinerte<br />
Essen anfangs in Champagnerflaschen. Mit<br />
dem Preisgeld baut Appert eine Konservierungsfabrik.<br />
Die französische Marine ist<br />
einer seiner besten Kunden, bemängelt aber<br />
die hohe Quote an Glasbruch auf See.<br />
Derweil erhält der nach England ausgewanderte<br />
Franzose Peter Durand vom britischen<br />
König George III. ein Patent auf eine<br />
ähnliche Idee. Es sei das Konzept eines<br />
Freundes im Ausland, betont Durand in<br />
seiner Patentschrift, und noch sehr verbesse-<br />
rungsbedürftig. Den Namen des Ideengebers<br />
lässt er jedoch im Dunkeln. Auch Durand<br />
macht Lebensmittel durch Erhitzen im Wasserbad<br />
haltbar. Allerdings benutzt der Kaufmann<br />
dafür keine Glasbehälter wie Appert,<br />
sondern Eisenkanister. Diese ersten Konservendosen<br />
nimmt die britische Marine mit an<br />
Bord. Als die Schiffe nach einem halben Jahr<br />
zurück in die Heimat kommen, sind die Lebensmittel<br />
„so frisch, als ob sie am Tag zuvor<br />
abgefüllt wurden“, schreibt Durand.<br />
TROTZ DES WIRTSCHAFTLICHEN Potenzials<br />
verkauft er sein Patent an zwei Ingenieure.<br />
Sie verfeinern das Konzept und überziehen<br />
die Boxen mit rostfreiem Blech. 1813<br />
startet die Fabrikproduktion der Konservendose.<br />
Aber die Essensrationen der frühen<br />
Fast-Food-Kultur sind problematisch. Denn<br />
die damals mit Blei verlöteten Dosen lassen<br />
sich oft nur mit dem Meißel aufbrechen. Der<br />
Verzehr der Speisen bringt oft den Tod: Dutzende<br />
Soldaten sterben an schleichender Bleivergiftung.<br />
Den Siegeszug der Konservendose<br />
kann das nicht aufhalten. 1851 öffnen<br />
die Veranstalter der Weltausstellung in Paris<br />
mit viel Tamtam fast 40 Jahre alte Konserven.<br />
Ihr Inhalt ist immer noch essbar. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Getty Images/The Bridgeman Art Library/Antoine Jean Gros; Susann Richter (7)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
ROHMATERIAL FÜR DIE FANTASIE<br />
Der dänische Tischler Ole Kristiansen erfand den Plastikbaustein mit Noppen.<br />
Doch erst sein Sohn eroberte mit einem kleinen Kniff die Kinderzimmer<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Der Alte wieder mit seinen neumodischen<br />
Ideen. Die Söhne von Ole<br />
Kirk Kristiansen verstehen die Welt<br />
nicht mehr. Jahrzehntelang konnte sich die<br />
Familie mit Tischlerarbeiten kaum über Wasser<br />
halten. Jetzt, wo sie mit Holzspielzeug<br />
endlich ein sicheres Einkommen hat, will der<br />
Vater plötzlich auf Plastik umstellen. Viel zu<br />
riskant, finden die vier jungen Männer, wir<br />
müssen bei Holz bleiben, sagen sie.<br />
DOCH VATER OLE lässt sich nicht bremsen.<br />
Schließlich ist der bescheidene Erfolg ebenfalls<br />
aus einer mutigen Entscheidung hervorgegangen.<br />
Denn als die Weltwirtschaftskrise<br />
Anfang der 30er-Jahre auch die ohnehin<br />
arme dänische Region Jütland trifft und Oles<br />
Tischlerwerkstatt vor dem Aus steht, sattelt<br />
er auf Kinderspielzeug um. Sein Kalkül: Je<br />
trostloser die Zeit, desto mehr möchten die<br />
Eltern wenigstens die Kleinen aufheitern.<br />
Fortan stellt der Tischler Möbel für Puppenstuben,<br />
Jo-Jos und Kreisel her. Am Wochenende<br />
zieht er mit seinem Sortiment<br />
durch die Dörfer, doch das Geschäft läuft<br />
schleppend, immer wieder muss er seine<br />
enable 03/2011<br />
Geschwister anpumpen. Kannst du nicht<br />
etwas Sinnvolles machen, fragen sie ihn. Aber<br />
Kristiansen hält durch, und allmählich<br />
wächst die Zahl der Spielzeugkäufer.<br />
Der Umstieg war damals gewagt, sagt er<br />
nun seinen Söhnen, aber das Risiko habe sich<br />
doch gelohnt. Dann kauft er 1947 als erster<br />
dänischer Spielwarenhersteller eine Kunststoffspritzgussmaschine,<br />
das Geld für die<br />
Großinvestition muss er sich leihen.<br />
Damit kann die Firma in Billund kleine<br />
Kunststoffbausteine herstellen, die an der<br />
Oberfläche Noppen tragen. Damit sollen<br />
sich die Klötzchen leichter miteinander verbinden<br />
lassen. Aus den Steinen, so Kristiansens<br />
Idee, sollen die Kinder <strong>alles</strong> Mögliche<br />
bauen können. Sein neues Produkt sieht er<br />
nur als Rohmaterial, das erst durch die Kreativität<br />
und die Fantasie der Kinder zum richtigen<br />
Spielzeug wird.<br />
Doch die damit gebauten Häuser und<br />
Burgen fallen rasch wieder in sich zusammen.<br />
Es funktioniert nicht, die Kinder sind frus triert.<br />
Kristiansen lässt Rillen in die Seiten fräsen,<br />
aber stabil sind die Bauten damit immer<br />
noch nicht. Anfang der 50er-Jahre übernimmt<br />
dann sein Sohn Godtfred das Geschäft,<br />
ein kreativer Kopf. Sein Vater hatte<br />
ihn schon als Ideengeber in die Firma geholt,<br />
als Godtfred erst 14 Jahre alt war.<br />
Jetzt ist er Anfang 30 und hat nur ein Ziel:<br />
Er will ein Spielzeug schaffen, das unzählige<br />
Spielmöglichkeiten bietet. Auf einer Fähre<br />
lernt Godtfred den Händler eines Kopenhagener<br />
Warenhauses kennen. Der beklagt<br />
sich darüber, dass dem Spielzeugmarkt genau<br />
das fehlt: ein Spielzeug mit Systemcharakter.<br />
Godtfred fühlt sich bestätigt, denn das Produkt<br />
dazu gibt es ja bereits in seinem Unternehmen:<br />
den Baustein mit den Noppen.<br />
DIE KLEMMKRAFT DER STEINE müsse<br />
jedoch verbessert werden, sagt er zu seinen<br />
Mitarbeitern. Und plötzlich, nach vielen Versuchen,<br />
ist die naheliegende Lösung gefunden:<br />
Die Unterseiten der Steinchen aus Plastik<br />
werden mit schmalen Röhren versehen,<br />
die genau zu den Noppen passen. Damit halten<br />
die Steine gut zusammen.<br />
Im Jahr 1958 meldet Godtfred das Sys tem<br />
seiner Firma zum Patent an. Der Name Lego<br />
entstand aus den ersten Buchstaben der dänischen<br />
Wörter „leg godt“, das heißt „spiel<br />
gut“. Dass „lego“ außerdem die lateinische<br />
Form für „ich lege zusammen“ ist, war den<br />
Lego-Erfindern gar nicht bewusst. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Susann Richter (6)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
HÄLT KALT, HÄLT HEISS<br />
Der Glastechniker Reinhold Burger sollte ein Gefäß entwickeln, in dem sich<br />
flüssige Luft au�ewahren lässt. Und erfand so nebenbei die Thermoskanne<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Reinhold Burger soll einen Behälter<br />
zum Aufbewahren verflüssigter Luft<br />
entwickeln. Auftraggeber ist der Eismaschinenfabrikant<br />
Carl von Linde. Er hat<br />
eine neue Methode ausgetüftelt, bei der sich<br />
durch das Verflüssigen von Luft Kälte erzeugen<br />
lässt. Der Fabrikant hält Burger für den<br />
perfekten Partner, denn der Glastechniker<br />
hat bereits zusammen mit Medizinern neuartige<br />
Laborapparate konstruiert, für Wilhelm<br />
Conrad Röntgen hat er die ersten Röntgenröhren<br />
gebaut.<br />
Seine Erfolge bezieht Burger aus zwei<br />
Quellen: In seiner Arbeit kombiniert er traditionelles<br />
Handwerkswissen mit dem Stand<br />
der Forschung. Nach der Lehre lässt sich der<br />
Sohn einer märkischen Glasmacherfamilie<br />
weiter in den USA ausbilden, nach der Rückkehr<br />
gründet er eine Firma in Berlin. Burger<br />
ist ein Arbeitstier, von morgens um acht bis<br />
abends um acht ist er in der Werkstatt, Ruhe<br />
gönnt er sich nur sonntags.<br />
Burger beschäftigt sich schon seit Längerem<br />
mit Doppelwandgefäßen aus Glas.<br />
Der Chemnitzer Physiker Adolf Ferdinand<br />
Weinhold hatte das Isolierprinzip der Behäl-<br />
enable 02/2011<br />
ter 1881 beschrieben, der Engländer James<br />
Dewar stellte 1893 eine ähnliche Konstruktion<br />
vor, bei der eine Innenverkleidung aus<br />
Silberfolie die Temperatur des Inhalts konstant<br />
hält. Dewar-Gefäß heißen die Isolierbehälter<br />
in England nach ihrem Erfinder. Ein<br />
Patent hat Dewar darauf jedoch nicht angemeldet,<br />
seine Erfindung bleibt ein Prototyp.<br />
Burger gelingt es, das Gefäß marktreif zu<br />
machen. In vielen Versuchen verbessert er das<br />
Vakuum und die Silberschicht des Behälters.<br />
Beim Test der Isolierfähigkeit gibt es aber ein<br />
Problem: Woher soll er die flüssige Luft nehmen,<br />
die das Gefäß später aufnehmen wird?<br />
„WAS SOLL’S“, sagt sich der Glastechniker.<br />
Ob heiß oder kalt, das Prinzip ist ohnehin<br />
das gleiche. Also füllt er heißes Wasser in die<br />
kugelförmigen Behälter. Und während er den<br />
nächsten Kessel auf den Herd stellt, kommt<br />
ihm auch schon ein neuer Gedanke. Burger<br />
holt Kannen und Töpfe, gießt Kaffee und Tee<br />
auf, macht Milch warm. Damit füllt er die<br />
Gefäße und verschließt sie mit einem Korken.<br />
Als er die Getränke 24 Stunden später in<br />
Tassen gießt, sind sie „so gebrauchsfertig, als<br />
wären sie eben erst hergerichtet worden“, wie<br />
Burger später notiert.<br />
Um das für die Kühlindustrie gedachte<br />
Gefäß alltagstauglich zu machen, gibt Burger<br />
ihm eine Flaschenform, einen handlichen<br />
Verschluss und einen aufsteckbaren Trinkbecher.<br />
Am 1. Oktober 1903 meldet er sein<br />
„Gefäß mit doppelten, einen luftleeren Hohlraum<br />
einschließenden Wandungen“ zum Patent<br />
an. Abgeleitet vom griechischen Wort<br />
„thermos“ für Wärme lässt sich Burger den<br />
Namen „�ermosflasche“ schützen. Der britische<br />
Forscher Dewar versucht vergeblich,<br />
ihn wegen Ideenraubs zu verklagen. Auf<br />
Weltausstellungen in den USA und in Italien<br />
räumt die Isolierflasche Goldmedaillen ab,<br />
1906 gründet Burger die Berliner �ermos-<br />
Gesellschaft mbH.<br />
„Hält kalt, hält heiß – ohne Feuer, ohne<br />
Eis“, bewirbt die Fabrik ihr einziges Produkt.<br />
Doch Burger versteht sich zu wenig als Kaufmann,<br />
um den Erfolg seiner Erfindung vorantreiben<br />
zu können. Schon nach drei Jahren<br />
verkauft er das Unternehmen inklusive<br />
Patent und Warenzeichen nach Berlin-Charlottenburg.<br />
Gleichzeitig überträgt Burger die<br />
Auslandsrechte an �ermos-Fabriken in<br />
Amerika. Von dort aus erobert seine Erfindung<br />
die Welt. Allerdings unter dem Namen<br />
seines Konkurrenten, als „Dewar flask“. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: TV-Yesterday/Wolfgang Maria Weber; Corbis/Horace Bristol; Susann Richter (4)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
IN ALLER STILLE<br />
Straßenlärm und laute Maschinen plagen die Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts.<br />
So erfindet ein Apotheker das Rezept für absolute Ruhe: Ohropax<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Autos rattern übers Kopfsteinpflaster,<br />
Bremsen quietschen, Straßenbahnen<br />
bimmeln sich den Weg frei, am Bahnhof<br />
fauchen Dampflokomotiven. Aus den<br />
Hinterhöfen dröhnen, brummen und surren<br />
Maschinen. Wenn Maximilian Negwer vor<br />
die Tür geht, hält er sich die Ohren zu und<br />
denkt an Schlesien, seine Heimat. Weite<br />
<strong>Wie</strong>sen und Wälder, abgelegene Dörfer. Vor<br />
allem aber: Ruhe, himmlische Ruhe.<br />
UNERTRÄGLICHER LÄRM plagt Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts viele Stadtbewohner.<br />
Mit der Industrialisierung entstehen immer<br />
mehr Fabriken, der Verkehr verstopft die<br />
Straßen. Vielen Leuten wie dem Berliner<br />
Apotheker Negwer geht der Lärm auf die<br />
Nerven. Um die Geräusche des Alltags abzuwehren,<br />
stecken sich manche Pfropfen aus<br />
Baumwollwatte in die Ohren, andere nehmen<br />
Holzkugeln oder Hartgummi.<br />
Negwer hat sich gerade mit einer Apotheke<br />
selbstständig gemacht, er verkauft Eigenkreationen<br />
wie Fleckenwasser und Hustenbonbons.<br />
Das Geschäft läuft ganz gut, aber<br />
Negwer will mehr, er will umsatzstarke Prä-<br />
enable 01/2011<br />
parate herstellen, und das im großen Stil.<br />
Denn alle bisherigen Methoden sind wirkungslos.<br />
Eine Marktlücke also.<br />
Negwer grübelt und grübelt, doch er hat<br />
keine Idee für ein gutes Produkt. Auch mit<br />
seinen Freunden redet er über das �ema, einer<br />
Clique junger Intellektueller. Irgendwann<br />
diskutieren sie über griechische Mythologie,<br />
über die Werke von Homer und über die<br />
Odyssee. Negwer horcht auf: Das ist es.<br />
Odysseus hat sich und seinen Mannen<br />
damals Bienenwachs in die Ohren gesteckt,<br />
damit sie den betörenden Gesang der Sirenen<br />
nicht hören mussten.<br />
Also rollt Negwer Kugeln aus Bienenwachs<br />
und steckt sie zur Probe ins Ohr. Doch<br />
das Vorbild aus der Antike zerfällt schon<br />
nach kurzer Zeit. Negwer beginnt zu experimentieren,<br />
mischt pflanzliche Fette und Öle,<br />
probiert tierische Talge aus. Doch auch das<br />
funktioniert nicht, es mangelt an Stabilität.<br />
Baumwollwatte könnte dieses Problem lösen,<br />
und so tränkt Negwer einen Wattebausch mit<br />
einer hautfreundlichen Mischung aus Vaseline<br />
und Paraffin.<br />
Nach einem Tag auf den Straßen Berlins<br />
ist ihm klar: Das ist die Lösung für Ruhe im<br />
Leben. „Ohropax“ nennt Negwer seine Erfin-<br />
dung, der deutsch-lateinische Name sagt <strong>alles</strong><br />
aus, was das neue Produkt erreichen soll:<br />
Frieden für die Ohren schaffen. Der Erfinder<br />
gründet eine „Fabrik pharmazeutischer und<br />
kosmetischer Spezialitäten“, im Herbst 1908<br />
liegen die ersten Ohropax-Stöpsel in den<br />
Sanitätsgeschäften und Kaufhäusern Berlins.<br />
Eine Dose mit sechs Wachskugeln kostet eine<br />
Mark, viele Städter sind begeistert.<br />
Auch die landesweite Antilärmkampagne<br />
des Philosophen �eodor Lessing, Verfasser<br />
einer „Kampfschrift gegen die Geräusche unseres<br />
Lebens“, kurbelt die Verkaufszahlen an.<br />
Den Erfolg seiner Marke verdankt Negwer<br />
aber nicht allein dem Lärm der Metropole.<br />
Der endgültige <strong>Durchbruch</strong> kommt mit dem<br />
Krieg: 1917 bestellt das deutsche Militär<br />
massenweise Ohropax in einer eigens entworfenen<br />
runden Armeedose. Von da an geht es<br />
für Negwers Firma steil bergauf.<br />
Noch heute sind die klassischen Wachskugeln<br />
das Hauptprodukt des Unternehmens.<br />
Mehr als 30 Millionen der kleinen<br />
Ruhestifter verlassen das Werk pro Jahr, gefertigt<br />
aus Wachs und Watte oder aus buntem<br />
Schaumstoff. Letztere werden von einer weiteren<br />
Kundengruppe geschätzt: Klubgänger<br />
schützen sich so vor allzu harten Beats. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Getty Images/Tony Cordoza (2); Corbis/H. Armstrong Roberts; AP Photo/Ohropax; Susann Richter (2)
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DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
FRUSTKONZEPT<br />
Hunderte Löcher bohren, mühsam per Hand? Das muss auch anders gehen,<br />
dachten sich zwei Mechaniker und bauten die erste elektrische Bohrmaschine<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Keine drei Stunden ist die neue Arbeitswoche<br />
alt, da haben Friedrich Heep<br />
und Jakob Wahl die Nase bereits<br />
gestrichen voll. Hunderte Antriebsmotoren<br />
müssen schnellstmöglich fertig werden, lautet<br />
die Anweisung, sonst gehen künftige Aufträge<br />
an die Konkurrenz. Im Frühjahr 1895<br />
liegen in der Werkstatt des Stuttgarter Geräteherstellers<br />
Fein die Nerven blank.<br />
Frustriert machen sich die beiden jungen<br />
Mechaniker wieder ans Werk. Denn in jeden<br />
einzelnen dieser Motoren müssen sie mit<br />
einem Handbohrer viele kleine Löcher bohren,<br />
das ist äußerst mühselig und dauert<br />
scheinbar ewig.<br />
Nicht weit von ihrem Arbeitsplatz stehen<br />
einige wuchtige Kisten mit ungewöhnlich<br />
kleinen Elektromotoren, vor ein paar Tagen<br />
erst ist die Ware aus England eingetroffen.<br />
Der Chef Wilhelm Emil Fein hat einige<br />
seiner Lehrjahre in London verbracht und<br />
bestellt dort hin und wieder Technik, die es<br />
in Deutschland so noch nicht gibt. Sehr<br />
handliche Geräte, denken sich Heep und<br />
Wahl, als sie sich die Motoren in der Mittagspause<br />
einmal gründlich anschauen.<br />
enable 12/2010<br />
Dann haben sie eine Idee – und setzen sie<br />
auch sofort um: Die Mechaniker nehmen einen<br />
der Minimotoren und verbinden ihn mit<br />
einem Bohrfutter. Dann bohren sie ein Loch<br />
nach dem anderen, sauber und schnell.<br />
Schaut her, rufen sie ihren Kollegen zu, mit<br />
einem Elektromotor geht es viel schneller<br />
und bequemer als mit dem Handbohrer.<br />
EMIL FEIN, der älteste Sohn des Chefs, ist<br />
hellauf begeistert. So können wir die Elektrotechnik<br />
in einem ganz neuen Bereich einsetzen,<br />
schwärmt er seinem Vater vor. Diese<br />
Kombination müssen wir auch bauen. Der<br />
Senior zögert, aber nur kurz. Denn Wilhelm<br />
Emil Fein ist ein Erfindergeist. Während seiner<br />
Lehre hat er einen Morse-Telegrafenapparat<br />
gebaut, während seiner London-<br />
Jahre eine automatische Kaffeemaschine<br />
konstruiert, später das erste tragbare Telefon<br />
und den ersten elektrischen Feuermelder entworfen,<br />
eine Vielzahl weiterer Geräte folgte.<br />
Maschinen und Werkzeuge mit einem<br />
Einzelantrieb auszustatten, auch darüber hat<br />
der Senior bereits nachgedacht. Der große<br />
<strong>Durchbruch</strong> war ihm mit seinen ersten Konstruktionen<br />
jedoch nie gelungen. Vielleicht<br />
ist die Bohrmaschine die Chance dazu, über-<br />
legt sich der Vater und gibt dem Sohn freie<br />
Hand. Zusammen mit Feinkonstrukteur Otto<br />
von Fellenbach baut Emil die erste elektrische<br />
Handbohrmaschine der Welt. Trotz<br />
der zwei Griffe an den Seiten ist sie nicht sehr<br />
handlich – sie wiegt 7,5 Kilo. Ihre Bohrleistung<br />
liegt bei vier Millimetern in Stahl.<br />
Das neue Produkt geht in Serie, schnell<br />
kopieren andere Hersteller wie AEG und<br />
Metabo die revolutionäre Idee. Ein Patent<br />
hat Fein nicht angemeldet. Trotz seiner Erfahrungen<br />
hat der Seniorchef das Potenzial<br />
der Erfindung unterschätzt. Das Verschmelzen<br />
von Werkzeug und Elektromotor erweist<br />
sich als Schlüssel zu einer neuen Arbeitsweise.<br />
Als Emil Fein nach dem Tod seines Vaters<br />
1898 die Firma übernimmt, überträgt er das<br />
Prinzip Elektromotor daher auf andere Werkzeuge<br />
und richtet das Unternehmen auf die<br />
Produktion von Elektrowerkzeugen aus.<br />
Nach einer Reihe neuer Bohrmaschinen<br />
bringt Fein 1906 das erste Handschleifgerät<br />
auf den Markt. 1922 kommt der elektrische<br />
Hammer heraus, 1925 der erste Elektroschrauber,<br />
1927 die erste Blechschere und die<br />
erste Stichsäge. Und der Erfindergeist lebt<br />
weiter – heute hält das Unternehmen 500 Patente<br />
und Patentanmeldungen. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Interfoto/Classicstock; Susann Richter (3)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
DER TRICK MIT DER DOPPELKAMMER<br />
Ein Amerikaner erfand vor rund 100 Jahren den Tee im Beutel, ein deutscher<br />
Schlosser die Maschine mit der wegweisenden Falttechnik dazu<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
N<br />
ew York 1908. Der Teeimporteur<br />
�omas Sullivan bekommt Kisten<br />
mit neuen Sorten geliefert. Dieses<br />
Mal hat er eine Idee, wie er eine Menge Geld<br />
sparen kann. Statt seine Teeproben in Blechdosen<br />
an die Kunden zu senden, verschickt er<br />
sie in kleinen Seidenbeuteln. So spart er am<br />
Tee, an der Packung, am Porto und hat zufällig<br />
eine wegweisende Erfindung gemacht.<br />
Wenige Tage später erhält er begeisterte<br />
Briefe. Grandiose Idee, schwärmen die Kunden:<br />
Jetzt lässt sich der Tee auch ohne Abseihen<br />
und Umfüllen zubereiten – man braucht<br />
nur die Beutel ins heiße Wasser zu hängen.<br />
IN DEUTSCHLAND bleibt die amerikanische<br />
Zufallserfindung nicht unbemerkt.<br />
Die Mitarbeiter des Dresdner Unternehmens<br />
Teekanne verfeinern das Konzept: Sie füllen<br />
den Tee in Mullsäckchen und verschließen sie<br />
anschließend mit einem Faden, der sich an<br />
der Kanne oder der Tasse befestigen lässt.<br />
„Tee-Pompadour“ werden die Beutel genannt,<br />
weil sie aussehen wie die feinen Handtaschen<br />
der Rokoko-Damen. Als Deutsch-<br />
enable 11/2010<br />
lands Soldaten kurz darauf in den Ersten<br />
Weltkrieg ziehen, erhält Teekanne einen<br />
Großauftrag: Mit gemahlenem Tee und der<br />
passenden Portion Zucker gefüllt wird der<br />
handgefertigte Mullbeutel fester Teil der<br />
Marschverpflegung. Doch der Geschmack<br />
kann sich in dem Säckchen nicht richtig entfalten.<br />
Mit Ende des Krieges stellt Teekanne<br />
deshalb die Produktion ein.<br />
In den USA dagegen wird der Portionstee<br />
immer beliebter, dort stecken die Teeblätter<br />
mittlerweile in Beuteln aus Filterpapier. Angespornt<br />
von den Erfolgsmeldungen aus dem<br />
Ausland entschließt sich Teekanne, die Produktion<br />
wieder aufzunehmen. Allerdings verwendet<br />
die Firma wieder Mullbeutel, abgefüllt<br />
per Hand. Von Innovation keine Spur.<br />
Da tritt 1924 ein junger Schlosser in das<br />
Unternehmen ein, Adolf Rambold. Zunächst<br />
kümmert er sich um die Produktion und<br />
baut die weltweit erste Teebeutel-Packmaschine,<br />
pro Minute schafft sie 35 Mullsäckchen.<br />
Rambold aber will mehr, er will den<br />
perfekten Teebeutel schaffen. Das Mullgewebe<br />
hinterlässt einen Beigeschmack, und seine<br />
Fasern saugen Aromastoffe aus dem Getränk.<br />
Rambold testet durchlöchertes Zellophan-<br />
papier, dann füllt er den Tee in Pergamentbeutel.<br />
Auch die Maschine für den Papierbeutel<br />
konstruiert er selbst. Als „Teefix“ werden<br />
die Papierbeutel ein Hit.<br />
Fortan baut die Firma auch Packmaschinen<br />
für Tee, Perforiergeräte und Stanzautomaten.<br />
1937 gründet Teekanne sogar eine<br />
eigene Maschinenfabrik. Doch die Kunden<br />
sind nicht restlos zufrieden, sie beschweren<br />
sich über Klebstoffgeschmack im Tee. Also<br />
entwickelt Rambold eine raffinierte Falttechnik,<br />
bei der das Papier nur mit einer winzigen<br />
Metallklammer geheftet wird. Außerdem soll<br />
der Teebeutel künftig aus zwei Kammern bestehen,<br />
weil das Wasser den Tee dann von vier<br />
Seiten umspült, erkennt Rambold; das feine<br />
Aroma kann sich voll entfalten.<br />
Als der Zweite Weltkrieg beginnt, sind seine<br />
Pläne für die neue Maschine fertig. Um<br />
den perfekten Teebeutel verkaufen zu können,<br />
fehlt Teekanne jedoch das Entscheidende:<br />
das passende Papier. <strong>Wie</strong>der kommt<br />
die Lösung aus den USA: ein Spezialfilterpapier,<br />
das allein durch Falten hält. 1949 präsentiert<br />
Teekanne dem Fachpublikum die<br />
Packmaschine „Constanta“ – das Zeitalter<br />
des Doppelkammerteebeutels beginnt. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Interfoto/Classicstock;Getty Images/Glowimages; Susann Richter (2)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
DAS WETTER? PFFFT. VÖLLIG EGAL<br />
In den 30er-Jahren kamen hochtoupierte Haare in Mode. Doch die Damen<br />
litten unter den klebrigen Festigern – bis Schwarzkopf das Haarspray erfand<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
In den 30er-Jahren trägt die modische Frau<br />
hochtoupierte Haare. Allein mit Lockenstab<br />
und Glätteisen sind diese Frisuren<br />
aber nicht hinzukriegen. Also werden die<br />
Köpfe der Damen mit Haarfixativ eingenebelt,<br />
einer Flüssigkeit, die hauptsächlich<br />
aus Schellack besteht – einem Laussekret,<br />
gelöst in Alkohol. Die Friseure müssen den<br />
Fes tiger dazu in Pumpfläschchen füllen und<br />
mit einem Gummiballzerstäuber umständlich<br />
versprühen. Das stört ihre Kundinnen<br />
gewaltig, denn der Sprühkopf verteilt den<br />
Glanzlack viel zu grob: Das Haar verklebt,<br />
die Frisur wird hart wie ein Brett.<br />
DER HERSTELLER des Festigers ist die Firma<br />
des Chemikers Hans Schwarzkopf, der<br />
1898 eine Drogerie in Berlin gegründet hat.<br />
Der Kosmetikpionier entwickelt nicht nur<br />
Deutschlands erstes Shampoo, sondern auch<br />
eine Lotion, mit der sich Dauerwellen ohne<br />
Hitze formen lassen. Für Haarprobleme<br />
fanden seine Forscher bisher immer eine<br />
Lösung, nur der Glanzlack für die modischen<br />
Hochfrisuren macht ihnen Ärger. Und das<br />
enable 10/2010<br />
liegt nach Meinung der Schwarzkopf-Experten<br />
nicht am Festiger, sondern am schlechten<br />
Sprühsystem.<br />
Etwa zur gleichen Zeit soll Robert Abplanalp,<br />
ein Mechaniker in den USA, ein leckes<br />
Ventil an einer Sprühdose reparieren. Die<br />
Behälter, deren Inhalt sich mithilfe eines<br />
komprimierten Gases per Knopfdruck verteilen<br />
lässt, verlieren das Treibgas allmählich;<br />
und sie sind zu schwer.<br />
Abplanalp fängt an zu tüfteln. Einige<br />
Monate später hat der ehemalige Ingenieurstudent<br />
zwar nicht das kaputte Ventil seines<br />
Kunden repariert, aber dafür ein Sprühventil<br />
entwickelt, das die Dose zuverlässig dicht<br />
hält und die Flüssigkeit fein verteilt. Auch<br />
über die Dose selbst hat Abplanalp sich Gedanken<br />
gemacht und das dicke Metall durch<br />
leichtes Aluminium ersetzt. 1953 erhält er<br />
das Patent auf sein Sprühsystem, sofort startet<br />
die Massenproduktion der modernen<br />
Aerosoldose.<br />
In Deutschland sind die praktischen Alubehälter<br />
noch völlig unbekannt. Als die<br />
Schwarzkopf-Inhaber aber von Abplanalps<br />
Idee hören, erkennen sie sogleich die Chance,<br />
mit der neuen Dose den kräftig wachsen-<br />
den Kosmetikmarkt zu erobern. In den<br />
Schwarzkopf-Labors entsteht daraufhin eine<br />
neue Festigermixtur und darauf abgestimmt<br />
ein nicht entflammbares Treibmittel aus Fluorkohlenwasserstoffen.<br />
Die schwierigste Aufgabe hat die Marketingabteilung<br />
– wie soll das neue Produkt<br />
heißen? Weil die Frauen ihre Frisuren mittlerweile<br />
mit dünnen Netzen in Form halten,<br />
nennen sie das erste Haarspray in Deutschland<br />
„flüssiges Haarnetz“.<br />
DIE PRODUKTBEZEICHNUNG steht also<br />
fest, jetzt fehlt nur noch ein einprägsamer<br />
Markenname. „Charme“ lautet ein Vorschlag<br />
der Schwarzkopf-Mitarbeiter. Der Begriff<br />
taugt nicht als Markenname, weil sich das<br />
Wort nicht als Marke schützen lässt. Zudem<br />
sagt es nicht, wie die neue Erfindung wirkt.<br />
An Glanz und Halt sollen die Frauen denken,<br />
wie bei Kleidern aus Taftstoff. Dieser Einfall<br />
kommt gut an. Taft – das klingt nicht nur so,<br />
wie Frisuren aussehen sollen, der Begriff imitiert<br />
auch das typische Sprühgeräusch der<br />
leichten Dosen: „pffft“. Im Mai 1955 geht<br />
Taft in Serie. Und sich die Haare zu „taften“<br />
wird Teil der deutschen Sprache. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Foto:Getty Images/SuperStock
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
SCHLUSS MIT DER SAUEREI<br />
Igitt! Ein pfiffiger Wirtshaustrinker hielt den Geruch stinkender Filzplatten<br />
irgendwann nicht mehr aus – und erfand den Bierdeckel aus Pappe<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Ende des 19. Jahrhunderts kommt sich<br />
der Dorfkrugwirt stets vor wie ein<br />
Waschweib. Sind die letzten Zecher aus<br />
der Tür gewankt, zieht er ihre Bierfilze kurz<br />
durchs Wasser und hängt sie zum Trocknen<br />
auf. Am nächsten Tag pflückt er den stinkenden<br />
Filzstoff wieder von der Leine. Da muss<br />
es doch eine bessere Lösung geben als den<br />
muffigen Stoffdeckel, denkt sich der sächsische<br />
Mühlenbesitzer Robert Ludwig Sputh<br />
und bestellt ein neues Pils.<br />
Saugfähig und dennoch stabil muss es<br />
sein, vor allem aber billig. Sputh nimmt einen<br />
kräftigen Schluck. Saugfähig, stabil und<br />
billig, überlegt er. Im Prinzip so wie Papier.<br />
Sputh sitzt buchstäblich an der Quelle. Seit<br />
einigen Jahrzehnten werden Papier und Pappe<br />
nicht mehr aus den Zellstofffasern alter<br />
Leinenkleidung hergestellt, sondern aus zermahlenem<br />
Holz. Der gelernte Kaufmann<br />
besitzt eine gut gehende Holzschliffmühle in<br />
Sachsen. Doch Sputh will endlich etwas<br />
Eigenes auf den Markt bringen.<br />
Er beginnt, mit Holzfasern zu experimentieren.<br />
Eines Abends gießt er Papierbrei in<br />
eine Siebform, presst die Feuchtigkeit heraus<br />
enable 09/2010<br />
und lässt die Papierplatte über Nacht trocknen.<br />
Am nächsten Morgen ist der erste Pappbierdeckel<br />
fertig und Sputh ein Erfinder. Er<br />
lässt seine kleine Papiermühle ausbauen und<br />
stellt neue Arbeiter ein. Am 25. Oktober<br />
1892 erhält er das Patent 68499 für sein<br />
„Verfahren der Herstellung von Holzfilzplatten<br />
oder Holzfilzdeckeln“.<br />
Die Bierdeckel der ersten Generation sind<br />
dicker und saugfähiger als die heutigen Modelle,<br />
ihr Durchmesser von 107 Millimetern<br />
aber ist nach wie vor Standard. Auch der<br />
Werbefaktor gilt von Anfang an. Oben tragen<br />
die Pappen die Namen und Wappen der<br />
Brauereien, unten sinnige Sprüche wie „Bier<br />
ist unter den Getränken das nützlichste, unter<br />
den Arzneien die schmackhafteste, unter<br />
den Nahrungsmitteln das angenehmste“.<br />
ZUM MASSENPRODUKT macht den Bierdeckel<br />
dann aber ein Unternehmer aus dem<br />
Schwarzwald: Casimir Otto Katz. Auch er<br />
betreibt eine Holzmühle, anders als Sputh<br />
jedoch sucht Katz zunächst nur eine Möglichkeit,<br />
Holzreste weiterzuverwerten. Als er<br />
von dem neuen Bierdeckel aus Sachsen hört,<br />
wittert er sofort eine Riesenchance. Katz<br />
modernisiert seine Anlagen. 1903 beginnt er<br />
damit, Bierdeckel im großen Stil zu produzieren.<br />
Die Fichten und Tannen des Schwarzwalds<br />
liefern Massen an Rohstoff, Katz’<br />
Geschäft brummt. Die großen Brauereien<br />
können gar nicht genug bekommen von dem<br />
perfekten Werbeträger. Um die große Nachfrage<br />
zu bedienen, entwickelt das Unternehmen<br />
Ende der 60er-Jahre ein Gerät, das die<br />
Arbeitsgänge Drucken und Stanzen kombiniert<br />
und die Produktionszeit auf ein<br />
Minimum drückt. Die neue Maschine schafft<br />
täglich eine Million Bierdeckel, später stellt<br />
die Katz-Gruppe bis zu 15 Millionen Bierdeckel<br />
pro Tag her – fast zwei Drittel der<br />
Gesamtproduktion in Europa. Weltweit lag<br />
der Marktanteil des Unternehmens bis vor<br />
Kurzem bei knapp 70 Prozent.<br />
Gegen moderne Bierwerbung sah der<br />
Pappdeckel dennoch irgendwann alt aus.<br />
Über kreatives Design und neue Untersetzer<br />
für Trendgetränke machte sich bei Katz lange<br />
keiner Gedanken. Auch an neue Auslandsmärkte<br />
traute sich der Fastmonopolist erst<br />
spät heran. Im Frühjahr 2009 dann der<br />
Absturz: Die Katz-Gruppe musste Insolvenz<br />
anmelden. Ein halbes Jahr später wurde die<br />
Bierdeckelfirma von einem badischen Unternehmen<br />
gekauft – einem Papierhersteller.<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: Susann Richter; Fotos: Interfoto/TV-yesterday (3);J.Koehler/bildermeer; akg-images
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
RRRTSCH!<br />
Von der Natur lernen? Georges de Mestral wurde ausgelacht, als er die Klette<br />
zum Vorbild nahm, um einen Verschluss mit elastischen Häkchen zu erfinden<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Jaulend hüpft der Hund zur Seite. Dummes<br />
Vieh, schimpft Georges de Mestral, jetzt<br />
halt endlich still. Dabei tut ihm das Tier<br />
leid, richtig herausreißen muss man die<br />
Kletten aus dem struppigen Fell. Auch an<br />
Mestrals Hose kleben nach jedem Waldspaziergang<br />
Dutzende der hartnäckigen Dinger.<br />
Als der Hund gesäubert ist, pflückt sich sein<br />
Herrchen – rrrtsch – eine Klette vom Bein.<br />
Rrrtsch – die nächste. Mestral stutzt, hält die<br />
kleinen Kugeln einen Moment gegen das<br />
Licht. Dann läuft er in sein Arbeitszimmer<br />
und klemmt sie unter das Mikroskop.<br />
Bisher dachte der Schweizer Ingenieur, die<br />
Borsten der Klette seien gerade wie Stacheln<br />
eines Igels. Doch als er im Sommer 1941 die<br />
Früchte der Arctium lappa unter die Lupe<br />
nimmt, sieht er an ihren Enden winzige<br />
Haken. Kein Wunder, findet Mestral, dass<br />
die Kletten so hartnäckig an Hund und Hose<br />
halten. Der Ingenieur weiß, dass viele Pflanzen<br />
ihre Samen über das System des Verhakens<br />
und Verknüpfens verbreiten. Die Besonderheit<br />
der Klette, stellt er fest, ist jedoch die<br />
Elastizität ihrer Häkchen. Sie garantiert, dass<br />
sich Klette und Träger immer wieder ver-<br />
enable 08/2010<br />
haken können, ohne dass einer der beiden<br />
dabei beschädigt wird.<br />
Verbinden, trennen, verbinden, trennen –<br />
die perfekte Konkurrenz zum Reißverschluss,<br />
findet Mestral. Denn das Klettprinzip<br />
klemmt nicht, funktioniert jedoch genauso<br />
einfach wie der metallene Gegenpart.<br />
Ein Verschluss, der das Fortpflanzungsverhalten<br />
einer Pflanze imitiert? Mestrals<br />
Kollegen lachen über seine Idee. Der aber<br />
lässt sich nicht beirren, befragt Stoffhersteller<br />
und beginnt zu experimentieren. Entscheidend<br />
am neuen Verschluss ist ein robuster<br />
und leistungsfähiger Haken. Nach jahrelanger<br />
Tüftelei gelingt Mestral der <strong>Durchbruch</strong>:<br />
Er entdeckt, dass unter Infrarotlicht vernähter<br />
Nylonfaden dem Haken eine stabile und<br />
dennoch flexible Form verleiht. Eine Art Gedächtnis<br />
quasi, durch das er sich beim Lösen<br />
vom Stoff-Gegenstück wieder in seine Ursprungsform<br />
zurückbiegt.<br />
ALS VELCRO meldet Mestral seine Erfindung<br />
1951 zum Patent an, eine Zusammensetzung<br />
aus „velours“ und „crochet“, den<br />
französischen Begriffen für Samt und Häkchen.<br />
Acht weitere Jahre dauert es, bis die<br />
von ihm gegründete Firma Velcro Industries<br />
den ers ten Klettverschluss auf den Markt<br />
bringt. Die 300 Häkchen pro Quadratzentimeter<br />
Stoff lässt Mestral anfangs von Hand<br />
nähen. Der neue Klettverschluss besteht aus<br />
zwei Nylonstreifen, einer ist mit Minihaken<br />
versehen, der andere trägt die entsprechenden<br />
Schlaufen. So lassen sich zwei Textilien zum<br />
ersten Mal zuerst verbinden und dann wieder<br />
voneinander lösen.<br />
Mestrals Kopie der Naturtechnik erobert<br />
in kürzester Zeit die Welt, Velcro verbindet<br />
in allen Bereichen des Lebens – Kleidung<br />
und Wohnung, Industrie und Schifffahrt,<br />
Sport und Militär. Selbst die Raumfahrt benutzt<br />
Klettverschlüsse, und sogar das erste<br />
künstliche Herz wurde mithilfe von Velcro<br />
zusammengehalten.<br />
1978 läuft Mestrals Patent aus. Andere<br />
Forscher entwickeln seine Grundidee zu zigfachen<br />
Variationen weiter. Mittlerweile gibt<br />
es mehr als 3500 verschiedene Haken- und<br />
Flauschsysteme aus den unterschiedlichsten<br />
Kunststoffen. Doch die Evolution des künstlichen<br />
Klettsystems ist noch nicht beendet.<br />
Als nächste Stufe steht der Schritt in die<br />
Lautlosigkeit an. Forscher arbeiten an einem<br />
stummen Velcro: endlich Schluss mit dem<br />
markanten Rrrrtsch. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage: FTD/Susann Richter, Fotos: Susann Richter (2); mauritius images/Alamy; Susann Richter
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
DA DIE FREIFRAU SO LEICHT FRIERT<br />
Urlaub am Meer? Wunderbar, bloß die steife Brise stört. Elfriede von Maltzahn<br />
allerdings nicht – die hat im Sommer 1882 den ersten Strandkorb bestellt<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Elfriede von Maltzahn steht im Frühjahr<br />
1882 in der Werkstatt von Wilhelm<br />
Bartelmann in Rostock, Lange Straße.<br />
Die frische Ostseeluft wirke wahre Wunder<br />
gegen ihr Rheuma, schwärmt die Dame dem<br />
Hof-Korbmachermeister des Großherzogs<br />
von Mecklenburg vor. Doch um das gesunde<br />
Klima genießen zu können, brauche es eine<br />
Sitzgelegenheit für den Strand als Schutz vor<br />
Sonne und Wind. Ob Bartelmann so etwas<br />
anfertigen könne? Der junge Handwerker<br />
zögert nicht und flicht der Freifrau einen<br />
kastigen Korbstuhl aus Weidenzweigen.<br />
Selbst nachzudenken braucht Bartelmann<br />
dabei kaum: Ein Kieler Korbmacher hatte<br />
schon vor Jahren detaillierte Bauanleitungen<br />
für einen sogenannten Strandstuhl ersonnen.<br />
Die waren zwar branchenweit bekannt, wurde<br />
allerdings zugleich belächelt: Wer bitte<br />
schön braucht am Strand einen Stuhl?<br />
Elfriede von Maltzahn ist die Erste. Den<br />
Rest ihrer Sommerfrische verbringt sie gut<br />
geschützt und sehr entspannt in ihrem neuen<br />
Strandmöbel in Warnemünde.<br />
Anfangs belächelt, wird Korbmacher Bartelmann<br />
bald mit Aufträgen überflutet. Das<br />
enable 07/2010<br />
fördert seine Kreativität: Ein Jahr nach dem<br />
Bau des Einsitzer-Strandkorbs bringt er ein<br />
Modell mit Platz für zwei auf den Markt.<br />
Seine Frau Elisabeth gründet unterdessen<br />
den ersten Strandkorbverleih in der Nähe des<br />
Warnemünder Leuchtturms.<br />
Bald beliefert Bartelmann Seebäder von<br />
den Nordseeinseln bis nach Ostpreußen. Ein<br />
Unternehmer aber wird aus ihm nicht, der<br />
Korbmacher sieht sich weiterhin als Handwerker.<br />
Nicht mal ein Patent meldet er an<br />
und verpasst so die Chance, durch den immer<br />
beliebteren Strandkorb reich zu werden.<br />
Bald ziehen andere Korbmacher nach, die<br />
komfortable Modelle mit Fußstützen, Armlehnen<br />
und Seitentischen entwickeln. Den<br />
Halblieger, einen Strandkorb mit verstellbarer<br />
Rückenlehne, erfindet der frühere Bartelmann-Lehrling<br />
Johann Falck.<br />
ALS PRIVATER ORT im öffentlichen Urlaubsvergnügen<br />
erobert der Strandkorb in<br />
den 20er-Jahren endgültig die Nord- und<br />
Ostseebäder. Im Laufe der Jahre bilden sich<br />
zwei Spezies aus: An der Ostsee sind Strandkörbe<br />
rund, an der Nordsee eher eckig. Beide<br />
Formen entstehen bis heute in Handarbeit.<br />
Geflochten wird aus Rattan oder<br />
Kunststoff, die charakteristische Haube eines<br />
Strandkorbs besteht aus acht Stoffteilen plus<br />
des Materials für die Kissen. Renner beim<br />
Design ist nach wie vor das Streifenmuster.<br />
Gut 70 000 Strandkörbe stehen in den<br />
Sommermonaten an den deutschen Küsten.<br />
Gemütlichkeit und Ordnung selbst am<br />
Strand, das Konzept gefällt auch Urlaubern<br />
aus dem Ausland. An den Stränden anderer<br />
Länder setzt sich die deutsche Erfindung<br />
trotzdem nicht durch, nur als Vorgartendeko<br />
taucht sie hin und wieder außerhalb Deutschlands<br />
auf. Völkerverbindend präsentierte sich<br />
jedoch der berühmteste Strandkorb, in den<br />
sich die Staats- und Regierungschefs plus der<br />
Präsident der EU-Kommission beim G8-<br />
Treffen 2007 in Heiligendamm für das traditionelle<br />
Gipfelfoto setzten.<br />
Zwei Kilometer Flechtband, 35 Quadratmeter<br />
Stoff und ein Kubikmeter Kiefernholz<br />
stecken in dem Mammutexemplar. Allerdings<br />
ist der G8-Strandkorb nicht der größte,<br />
den der Hersteller je gebaut hat. Für den<br />
FC Insel Usedom fertigte er sechs Meter lange<br />
Möbel, die den Fußballern als Wechselbänke<br />
dienen. Der Betrieb – die Korb GmbH<br />
aus Heringsdorf – gilt mittlerweile als größter<br />
Strandkorbhersteller Deutschlands. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
FTD-Collage:FTD/Susann Richter;Fotos:akg-images/Guenter Rubitzsch; Susann Richter
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
KINDER? SPÄTER VIELLEICHT<br />
<strong>Wie</strong> lassen sich ungewollte Schwangerschaften verhindern? Mit 70 Jahren<br />
stößt Margaret Sanger die Forschungen für die Antibabypille an<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Als ihre Mutter mit 49 Jahren stirbt,<br />
steht für die angehende Krankenschwester<br />
Margaret Sanger die Ursache fest.<br />
„Du bist schuld!“, klagt sie ihren Vater bei<br />
der Beerdigung an. 18-mal war die Mutter<br />
schwanger, elf Kinder hatte sie geboren.<br />
Verhütung ist Ende des 19. Jahrhunderts ein<br />
Tabuthema in Amerika, Informationen zur<br />
Geburtenkontrolle sind per Gesetz als „obszön“<br />
verboten.<br />
Wir müssen uns das Recht auf Kontrolle<br />
über unseren Körper erkämpfen, beschließt<br />
Sanger. Sie startet eine Aufklärungskampagne<br />
und eröffnet eine Klinik zur Familienplanung.<br />
Die muss schließen, Sanger kommt ins<br />
Gefängnis. Aber sie macht weiter, tourt<br />
durchs Land und gründet eine Organisation<br />
zur Geburtenkontrolle. Eine Frage beschäftigt<br />
sie: Wann entwickelt die Wissenschaft<br />
endlich eine Art magische Pille, damit Frauen<br />
nicht ungewollt schwanger werden müssen?<br />
„Das ist schon möglich“, antwortet ihr<br />
1951 der Biologe Gregory Pincus bei einem<br />
Abendessen. Die Frauenrechtlerin, mittlerweile<br />
70, verschluckt sich fast an ihrem<br />
Weißwein. Jahrzehntelang musste sich die<br />
enable 06/2010<br />
dreifache Mutter als „lüsternes Monster“ und<br />
„Mörderin der Ungeborenen“ beschimpfen<br />
lassen. Nun steht ein junger Forscher vor ihr,<br />
der eine Lösung für das Verhütungsproblem<br />
zu kennen scheint. Was ihm fehlt: Geld. Mit<br />
am Tisch sitzt jedoch die reiche Industrieerbin<br />
Katherine McCormick – ihr ist das<br />
Projekt „sichere Verhütung“ 2 Mio. $ wert.<br />
DIE WISSENSCHAFTLICHE BASIS für<br />
Pincus’ Arbeit ist längst gelegt. Bereits in den<br />
1920er-Jahren hat der Innsbrucker Chemiker<br />
Ludwig Haberlandt entdeckt, dass Extrakte<br />
aus den Eierstöcken trächtiger Säugetiere andere<br />
Weibchen unfruchtbar machen. Wissenschaftlern<br />
der Pharmafirma Schering gelingt<br />
es 1938, das weibliche Geschlechtshormon<br />
Östrogen künstlich herzustellen. In den USA<br />
entwickelt ein Searle-Chemiker ein Hormon<br />
für ein Mittel gegen Menstruationsbeschwerden,<br />
das auch den Eisprung hemmt.<br />
Damit hat Pharmahersteller Searle die<br />
Technik für die Pille in der Hand. Doch<br />
fürchtet das Unternehmen die heikle Rechtslage<br />
– und einen möglichen Kaufboykott der<br />
Katholiken, damals ein Viertel aller Amerikaner.<br />
Außerdem sehen die Searle-Chefs kein<br />
Marktpotenzial: Welche Frau käme auf die<br />
Idee, etwas einzunehmen, das Krankheiten<br />
weder vorbeugt noch behandelt?<br />
Weil Pincus die nötigen Tests finanzieren<br />
kann, zieht Searle dennoch mit. 1953 findet<br />
er die richtige Hormonzusammensetzung.<br />
Nach erfolgreichen Versuchen mit Kaninchen<br />
und Ratten testet Pincus die Wirkung<br />
bei Frauen in Puerto Rico. 1957 bringt Searle<br />
die erste Pille als „Mittel gegen menstruelle<br />
Beschwerden“ auf den Markt – in 30 US-<br />
Bundesstaaten gilt das Antiverhütungs gesetz<br />
noch. Ärzte diagnostizieren plötzlich bei<br />
Millionen Frauen Zyklusstörungen und verschreiben<br />
das neue Medikament.<br />
Dass „Enovid“ im Mai 1960 offiziell als<br />
Verhütungsmittel zugelassen wird, gelingt<br />
dank der geschickten Argumentation eines<br />
Gynäkologieprofessors: Die Pille ahme mit<br />
Hormonen nur nach, bestätigt er den Behörden,<br />
was im Körper ohnehin passiert.<br />
In Deutschland hat die Pille am 1. Juni<br />
1961 Premiere: Anovlar heißt das Produkt<br />
von Schering. Auch hier ist es getarnt als ein<br />
Mittel gegen Menstruationsstörungen. Der<br />
eigentliche Zweck steht im Beipackzettel<br />
kleingedruckt unter Nebenwirkungen: bei<br />
regelmäßiger Einnahme „temporäre Konzeptionsverhinderung“.<br />
�<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: Susann Richter (2); Cinetext Bildarchiv; Getty Images/Lars Klove; doc-stock/Medicus/George Ksandr; Alberto Pizzoli/AFP/Getty Images; Getty Images/Christian Baitg; Colourbox.com
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
AM SEIDENEN FADEN<br />
Was waren die Amerikaner stolz auf ihre hauchdünne Kunstfaser namens<br />
Nylon. Bis sie nach Berlin kamen – und dort Perlon kennenlernten<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Deutsches Nylon! Kann nicht wahr sein,<br />
murmeln die Manager. <strong>Wie</strong> konnte<br />
das passieren? Juli 1938, die Vertreter<br />
des US-Chemiekonzerns DuPont sind nach<br />
Berlin gereist, um der I.G. Farben eine Lizenz<br />
für Kunstfasern zu verkaufen. Neben Stoffen<br />
und Garnen haben die Amerikaner Damenstrümpfe<br />
im Gepäck, auf die hauchdünnen<br />
Dinger sind sie besonders stolz. Schön, sagen<br />
die Deutschen. Und legen ihre Version von<br />
Synthetikseide auf den Tisch.<br />
Die DuPont-Manager verstehen die Welt<br />
nicht mehr. Nylon sowie andere Kunstfasererfindungen<br />
aus sogenannten Polyamiden hat<br />
der Konzern patentieren lassen. Keine Chance<br />
also für Konkurrenten. Doch die deutsche Nylon-Version<br />
erweist sich als juristisch wasserdicht.<br />
Ihr Geheimnis heißt Caprolactam – ein<br />
Stoff, von dem Wallace Hume Carothers gesagt<br />
hat: nicht tauglich für einePolyamidfaser.<br />
Carothers ist der Kopf hinter dem US-<br />
Nylon. DuPont hat ihn von Harvard geholt,<br />
um eine Superfaser zu erfinden. Jahrelang experimentiert<br />
er mit Säuren und Alkoholen,<br />
DuPont investiert 27 Mio. $ in das Prestigeprojekt.<br />
Im Februar 1938 schließlich erzeugt<br />
enable 05/2010<br />
Carothers aus Adipinsäure und Hexamethylendiamin<br />
eine perlmuttfarbene, matt glänzende<br />
Masse. „12,5 Gramm Polymer wurden<br />
gewonnen“, kritzelt ein Mitarbeiter in seinen<br />
Notizblock – die erste synthetische Faser.<br />
„STARK WIE STAHL, fein wie ein Spinnennetz“,<br />
verkündet DuPont, als das Garn aus<br />
Kohle, Wasser und Luft fünf Monate später auf<br />
den Markt kommt. Als Erstes bekommen die<br />
Zahnbürsten neue Borsten aus Nylon. Doch<br />
der Siegeszug der Erfindung beginnt am Bein:<br />
Aus Kunstseide her gestellte Strümpfe ziehen<br />
kaum Laufmaschen. Als Material ist Nylon teuer,<br />
ein Pfund Seide kostet damals fast 2 $ weniger<br />
als ein Pfund der neuen Kunstfaser. Aber<br />
der Damenstrumpfmarkt ist riesig, nicht nur in<br />
den USA, und DuPont will ihn erobern.<br />
In Deutschland bremst Paul Schlack den<br />
Expansionsplan überraschend aus. Auch der<br />
I.G.-Farben-Forscher hat sich das Ziel gesetzt,<br />
eine synthetische Alternative zur Naturseide zu<br />
entwickeln. Dafür arbeitet er mit dem aus<br />
Steinkohle gewonnenen Molekül Caprolactam,<br />
ebenso wie auch sein US-Kollege Carothers.<br />
Beide kommen nicht weiter. Doch während<br />
der Amerikaner auf andere Substanzen<br />
ausweicht, stellt Schlack seine Experimente<br />
ein. Jahre später liest er frustriert über Carothers’<br />
<strong>Durchbruch</strong> mit Polyamiden.<br />
Und macht dort weiter, wo er in den 20er-<br />
Jahren aufgehört hat: mit Caprolactam. Von<br />
Carothers’ Fehlschlag mit der Substanz weiß er<br />
nichts. „Vielleicht hätte mich die Kenntnis des<br />
völlig negativen Resultats davon abgehalten“,<br />
wird Schlack später sagen. Nur dank seiner Unwissenheit<br />
gelingt ihm schließlich der Coup: Er<br />
erzeugt eine künstliche Faser, die robuster ist als<br />
das Vorbild, der Seidenfaden. Perluran heißt sie<br />
zunächst, daraus entsteht die Marke Perlon.<br />
Im Mai 1939 bilden DuPont und die I.G.<br />
Farben ein Kartell. Sie tauschen ihre Patente<br />
aus und teilen sich die Absatzmärkte auf.<br />
Nach dem Krieg ist die deutsche Kunstfaserindustrie<br />
zerstört, Nylonstrümpfe werden<br />
zur Schwarzmarktwährung. 1950 beginnt eine<br />
Fabrik bei Augsburg wieder mit der Perlonproduktion.<br />
Schnell ist das Werk überlastet.<br />
Deutschlands Frauen wollen Nylons tragen,<br />
der Preis ist egal. Doch die Zukunft der Kunststoffära<br />
hängt an mehr als nur einem Faden.<br />
Trevira, Diolen und Dralon ergänzen die synthetische<br />
Stofffamilie.<br />
Heute liegen Perlon und Nylon auf dem<br />
Boden: Statt zu Strümpfen spinnt die Industrie<br />
aus den Fasern vor allem Teppiche. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: Interfoto/Archiv Friedrich (2); Ullstein Bild/Imagebroker; Interfoto/Mary Evans/National Magazines
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
WIE DER ZAHNWURM AUSSTARB<br />
Zahnpflege? <strong>Wie</strong> geht das denn? Ottomar Heinsius von Mayenburg leistete vor<br />
100 Jahren mit der Zahnpasta Chlorodont entscheidende Au�lärungsarbeit<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Schuld ist der Zahnwurm. Ottomar Heinsius<br />
von Mayenburg hört den Satz fast<br />
täglich, er stinkt ihm gewaltig. Mehr<br />
noch stinkt ihm der Mundgeruch derjenigen,<br />
die ihn sagen. In Mayenburgs Löwen-Apotheke<br />
kauft Dresdens bessere Gesellschaft ihre<br />
Pillen und Pülverchen. Die Gesundheit ist<br />
den Damen und Herren enorm wichtig. Saubere<br />
Zähne aber sind Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
Nebensache, ihr faules Gebiss schieben<br />
die Menschen auf einen vermeintlichen<br />
Zahnwurm. „Eine böse Sache, Herr von Mayenburg,<br />
was soll man da schon machen?“<br />
Anfangen, eure Zähne zu putzen, denkt<br />
der Apotheker. Doch womit? Zahnseife ist<br />
zwar schon auf dem Markt, allerdings gibt es<br />
sie nur in einer unpraktischen Dose. Außerdem<br />
schmeckt sie fies. Nur mit Mundwasser<br />
zu gurgeln, findet Mayenburg, ist für die<br />
Zahngesundheit zu wenig. Gleichwohl sieht<br />
er beifällig, wie viele Abnehmer Odol findet.<br />
Mit gesunden Zähnen lässt sich gut Geld<br />
machen, erkennt Mayenburg und liest sich in<br />
die Materie ein. Als er im Frühjahr 1907 in<br />
seinem kleinen Labor auf dem Dachboden<br />
über der Apotheke neue Cremes und Tink-<br />
enable 04/2010<br />
turen mischt, rührt er zum ersten Mal eine<br />
Zahncreme zusammen. Bimssteinpulver, Kalziumkarbonat,<br />
Seife, Glyzerin und Kaliumchlorat,<br />
dazu eine Spur Minzöl, fertig. Damit<br />
die Paste lange haltbar ist und einfach zu benutzen<br />
ist, füllt er sie in kleine Metalltuben.<br />
MAYENBURGS IDEEN sind nicht neu. Inspiriert<br />
von den Farbtuben der Pariser Maler<br />
brachte ein US-Unternehmer 1892 eine<br />
Zahnpasta in der Tube auf den Markt, vier<br />
Jahre später kopierte Colgate das Konzept, in<br />
Deutschland übernahm es Beiersdorf mit der<br />
Tubenpaste Pebeco. Doch die kennt kaum jemand.<br />
Mayenburg weiß auch, warum: „Das<br />
Wichtigste ist die Werbung.“<br />
Bei seiner Werbekampagne für seine Paste<br />
Chlorodont – „chloros“ bedeutet im Griechischen<br />
grün, das steht für Frische, „odous“<br />
ist der Zahn – nutzt Mayenburg <strong>alles</strong>, was damals<br />
möglich ist: Er schaltet Zeitungsannoncen,<br />
lässt Plakate kleben, Emailleschilder aufhängen<br />
und Hauswände bemalen. Schnell erobert<br />
die blaue Tube mit der grün karierten<br />
Kante und dem schneeweißen Schriftzug das<br />
Land. Chlorodont gilt als Weltneuheit und<br />
Mayenburg als Erfinder eines revolutionären<br />
Produkts. „Der Zahn lebt – denke daran und<br />
handle danach!“ So räumt der Werbefeldzug<br />
mit der Mär vom Zahnwurm auf.<br />
Die ersten zehn Jahre stellt Mayenburg die<br />
Zahnpasta in der Apotheke her, 1917 lässt er<br />
die Leo-Werke bauen, im selben Jahr beginnt<br />
der Export. Mit einem Sortiment von Zahnpflegemitteln<br />
steigt das Unternehmen an die<br />
Spitze der Kosmetikindustrie in Deutschland<br />
auf. Die Tuben und Pappschachteln stellt<br />
Mayenburg selbst her, moderne Mühlen,<br />
Füll- und Schließmaschinen kurbeln die Produktion<br />
ordentlich an. Mit eigenen Kalkstein-<br />
und Kalziumwerken in Ulm und Riesa<br />
sowie Pfefferminzplantagen in Siebenbürgen<br />
macht Mayenburg seine Werke nahezu unabhängig<br />
vom Rohstoffmarkt.<br />
Anfang der 30er-Jahre arbeiten am Dresdner<br />
Hauptsitz mehr als 1500 Beschäftigte.<br />
Die Maschinen laufen rund um die Uhr, an<br />
manchen Tagen stellen die Leo-Werke fast<br />
150 000 Tuben Zahnpasta her. In mehr als<br />
20 Ländern lässt Mayenburg seine Marke<br />
produzieren und vertreiben.<br />
In der DDR verkommt die Marke, Mayenburgs<br />
Nachfahren verkaufen die Namensrechte<br />
in den Westen, zuletzt gehören sie der Firma<br />
Schwarzkopf. Die nimmt Chlorodont Anfang<br />
der 80er aus den Verkaufsregalen. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: BPK/Ernst Schneider; Getty Images/Brand X/Burke/Triolo Productions; FTD/Susann Richter
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
GESUND DARF AUCH SCHMECKEN<br />
Bei einer Bergwanderung wird Maximilian Bircher-Benner ein schmackhaftes<br />
und gesundes Mus kredenzt, das der junge Arzt zum ersten „Müsli“ veredelt<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Hinter vorgehaltener Hand reden die<br />
Mediziner Klartext: Der Bircher-<br />
Benner ist ein Spinner. Quatsch sein<br />
Gerede von Sonnenlichtnahrung. Hat wohl<br />
schon zu viel Grünzeug in sich reingestopft,<br />
kein Wunder, dass der Geist versagt. Dem<br />
gehört die Zulassung entzogen! Die offizielle<br />
Reaktion bleibt sachlich: „Der Vortragende<br />
hat das wissenschaftliche Gebiet verlassen“,<br />
urteilt kühl die Zürcher Ärzteschaft.<br />
Vernichtende Worte, aber Maximilian<br />
Bircher-Benner treffen sie nicht. „Es glaubt<br />
doch wohl niemand“, kontert er, „dass es egal<br />
ist, ob eine Ziege sich mit frischem oder mit<br />
gekochtem Gras ernährt.“ Da soll es beim<br />
Menschen anders sein? Der junge Arzt setzt<br />
seine Tuberkulosepatienten weiter auf Rohkost.<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts ist das ein<br />
Bruch mit der Lehrmeinung. Fleisch gilt als<br />
das wertvollste Lebensmittel. Je höher der<br />
Eiweißgehalt, so argumentieren die Wissenschaftler,<br />
desto nahrhafter ist das Essen.<br />
Bircher-Benner predigt stur das Gegenteil.<br />
Fleisch hält er für wertlos, denn das getötete<br />
Tier habe die Energie der Pflanzen bereits für<br />
sein eigenes Leben verbraucht. In den rohen<br />
enable 03/2010<br />
Pflanzenteilen stecke die ganze Energie des<br />
Sonnenlichts. Die übliche Einteilung nach<br />
Nährstoffen ist ihm egal, entscheidend sei allein<br />
die – leider nicht messbare – „energetische<br />
Spannung“ im Essen. Daher solle sich auch<br />
der gesunde Mensch rein pflanzlich ernähren<br />
und vor allem Ungekochtes verzehren.<br />
„LEBENDIGE KRAFT“ nennt Bircher-Benner<br />
das Sanatorium, das er bei Zürich eröffnet,<br />
um seine Ideen zu verwirklichen: richtig<br />
essen, viel bewegen. Bircher-Benner selbst<br />
macht frühmorgens Gymnastik, tagsüber<br />
wühlt er im Garten oder geht wandern.<br />
Als Bircher-Benner mit seiner Frau in<br />
einem Sommer urlaub die x-te Bergtour<br />
macht, es beginnt gerade zu dämmern, da<br />
kommen sie an einer Berghütte vorbei. Ob<br />
die beiden nicht mit zu Abend essen wollen,<br />
ruft der Sennhirte und winkt sie zu sich. Seine<br />
Frau bringt zwei Holznäpfe, randvoll mit<br />
einem Brei aus Weizenschrot, Nüssen und<br />
honigsüßer Milch, dazu gibt es Äpfel. „Mit<br />
Apfel macht das Mus länger satt und liegt<br />
nicht so schwer im Magen“, erklärt der Senner<br />
kauend. Zweimal am Tag esse er den Brei,<br />
morgens und abends. „Siebzig bin ich jetzt,<br />
und in meinem ganzen Leben hab ich noch<br />
nie einen Doktor gesehen.“ Bircher-Benner<br />
ist beeindruckt. Im Getreidebrei findet er die<br />
Quintessenz seiner Ernährungsphilosophie:<br />
Rohkost als Mittel gegen die Degeneration<br />
der Gesellschaft. Zurück im Sanatorium lässt<br />
der Arzt die Alpenkost ab 1902 als Frühstück<br />
und als Abendbrot servieren.<br />
Haferflocken, Wasser, Zitronensaft, Kondensmilch<br />
und Nüsse bilden die Basis, als<br />
Krönung kommt ein samt Schale und Kerngehäuse<br />
geriebener Apfel in die Schüssel.<br />
Bircher-Benner verwendet Dosenmilch, weil<br />
frische Milch als Tuberkuloserisiko gilt.<br />
Seine Kreation nennt er kurz „d Spys“, auf<br />
Vorträgen und in Kochbüchern bewirbt er<br />
ihren Gesundheitseffekt. So wird der Bauernbrei<br />
in der Schweiz schnell als Birchermüesli<br />
bekannt und beliebt.<br />
Auch in Deutschland kommt die gesunde<br />
Mischung gut an. Bircher-Benner empört<br />
sich, dass die Müslirezepte in deutschen<br />
Reformhaus-Ratgebern zu haferflockenlastig<br />
seien. Mit dem Urrezept des Schweizer Arztes<br />
haben die Müslis schon bald nichts mehr<br />
gemeinsam. Und die „Knusper Plus Double<br />
Chocolate“-Mixturen von heute würde der<br />
Vollwertpionier vermutlich noch mehr hassen<br />
als Schweinebraten. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: Getty Images/Comstock Images ; Getty Images/Stockdisc; Mauritius Images; FTD/Susann Richter (4)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
BESTENS GETARNT<br />
Es sieht nicht aus wie Fisch, riecht nicht wie Fisch, schmeckt nicht wie Fisch.<br />
Genau deshalb ist das Fischstäbchen so erfolgreich – nicht nur bei Kindern<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Ein Ruck geht durch die Angel, Clarence<br />
Birdseye ist plötzlich wieder hellwach –<br />
endlich hat einer angebissen. Verzweifelt<br />
windet sich der Fisch am Haken, Sekunden<br />
später liegt er steinhart gefroren auf dem<br />
Eis der kanadischen Arktis. Die minus 40<br />
Grad kalte Polarluft wirkt wie ein Schnellfroster.<br />
Trotzdem schmeckt der Fisch nach dem<br />
Auftauen wie frisch gefangen, findet Birdseye,<br />
kein Vergleich zur faden Einfrierware zu<br />
Hause. Zurück in New York kombiniert der<br />
Biologe die traditionelle Konserviermethode<br />
der Inuit mit moderner Technik und bringt<br />
die weltweit ersten Tiefkühl-Fischfilets auf<br />
den Markt.<br />
ANFANG DER 20ER-JAHRE ist das, die<br />
Erwachsenen sind von der praktischen Neuheit<br />
begeistert. Doch den Nachwuchs lässt sie<br />
kalt, kaum ein Kind isst gern Fisch. Davon<br />
aber gibt es reichlich. Und Birdseye will ihn<br />
verkaufen. Also steht der Hobbykoch ständig<br />
in der Küche und experimentiert mit neuen<br />
Kindergerichten. Als er eines Tages in einen<br />
grätenfreien, in Würzpanade gewendeten<br />
Streifen Fischfilet beißt, stimmt einfach <strong>alles</strong>:<br />
enable 02/2010<br />
Das Ding sieht nicht aus wie Fisch, es riecht<br />
nicht nach Fisch, und vor allem schmeckt es<br />
nicht nach Fisch. Ein perfektes Tarnessen<br />
also. 1955 hat der „fish finger“ Premiere in<br />
den USA und in Großbritannien, vier Jahre<br />
später brutzeln die ersten Fischstäbchen auch<br />
in Deutschlands Küchen.<br />
„Solo Feinfrost“ heißen damals Marke<br />
und Hersteller, der Vorgänger des Tiefkühlproduzenten<br />
Iglo. Für Kinder klingt das langweilig,<br />
also erfinden Werbeleute den Sympathieträger<br />
Käpt’n Iglo. Als das Original einem<br />
smarten Jungkapitän Platz machen muss,<br />
geht die Umsatzkurve prompt nach unten.<br />
Pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum feiert<br />
der alte Seebär daher ein Comeback.<br />
Mittlerweile ist der Werbeauftrag von<br />
Käpt’n Iglo gewachsen, zum klassischen<br />
Fischstäbchen haben sich exotische Arten<br />
gesellt, mit Zitronengeschmack aufgepeppt<br />
oder mit Chili verschärft. Viel Freiraum für<br />
Experimente haben die Hersteller nicht: Ein<br />
Fischstäbchen muss zu mindestens 65 Prozent<br />
aus Fischfilet bestehen, da lässt sich nur<br />
die Panade variieren.<br />
Festgelegt ist auch die erlaubte Zahl der<br />
Gräten, maximal zwei pro Kilogramm Fertigware.<br />
Ebenfalls der Norm unterworfen sind<br />
die Maße eines Fischstäbchens: neun Zentimeter<br />
lang, 26 Millimeter breit und elf Millimeter<br />
hoch, das ist internationaler Standard.<br />
Vor 50 Jahren steckte Hering in der<br />
Panadehülle des Fischstäbchens, später<br />
Kabeljau. Heute stellt Marktführer Iglo den<br />
Klassiker aus Alaska-Pollack her, von der<br />
Industrie zum „Seelachs“ befördert, obwohl<br />
er wie der Kabeljau zur Familie der Dorsche<br />
gehört. Fisch ist zu einer knappen Rohware<br />
geworden, die Nachfrage steigt, und die<br />
Meere werden leerer. Anders als sein Verwandter<br />
gilt der Pollack zwar noch nicht als<br />
überfischt, doch als Fischstäbchenfisch der<br />
Zukunft wird der in Südostasien erfolgreich<br />
gezüchtete Pangasius gehandelt.<br />
Täglich sieben Millionen Fischstäbchen<br />
produziert Iglo in seinem Werk in Bremerhaven,<br />
rund 60 Prozent davon für den europäischen<br />
Export. Aneinandergereiht ergäbe<br />
das eine Strecke von 630 Kilometern, rechnet<br />
das Unternehmen vor. Wegen ihrer Hülle<br />
und dem Zubereiten in Fett sind Fischstäbchen<br />
kein leichtes Essen. Dennoch mögen<br />
die Bundesbürger sie von allen Tiefkühlfischsorten<br />
am liebsten. Insgesamt 188 Millionen<br />
verputzen wir pro Jahr, dabei essen zwei von<br />
drei Fischstäbchen die Erwachsenen. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter: Fotos: Michael Beerlage; Mauritius; www.fotex.de
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
IM MAUL DES KROKODILS<br />
<strong>Wie</strong> die Schraube in der Wand verschwand: Unter der Dusche kam Artur Fischer<br />
auf die Erkenntnis, warum ein sich spreizender Dübel die Schrauben besser hält<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Im Frühling hängen die Fensterläden schief,<br />
im Sommer kracht eine Lade nach der anderen<br />
herunter. So hat sich Artur Fischer<br />
den Häuschenbau nicht vorgestellt. Zumal er<br />
den Montagebolzen selbst entwickelt hatte.<br />
Aber die als Verankerung gedachten Gummiwülste<br />
an den Schrauben verlieren in der<br />
Sonne ihre Form. Mist, denkt Fischer. Und<br />
nimmt den Reinfall als Herausforderung.<br />
Wer in den 50er-Jahren etwas befestigen<br />
will, gipst die Schraube ein oder dreht sie in<br />
einen Dübel aus Hanf oder Blech. Stabil ist<br />
keine der Methoden, praktisch sowieso nicht.<br />
Ein neues Produkt muss endlich her, sagt sich<br />
Fischer, möglichst aus einem neuen Material.<br />
Zum Beispiel aus Kunststoff. Damit hat er<br />
bereits gute Erfahrungen gemacht, bei einem<br />
selbst erfundenen Blitzgerät für Fotoapparate.<br />
Zubehör für Fotografen – damit verdient der<br />
gelernte Schlosser sein Geld.<br />
Auf den Geistesblitz für „Lumetta“ war<br />
Fischer beim Duschen gekommen, dort lässt<br />
er seine Gedanken ungestört fließen. So auch<br />
an diesem Samstag im Spätsommer 1958. Als<br />
das Wasser auf seinen Körper prasselt, fällt<br />
ihm die Lösung des Dübelproblems ein: Was<br />
enable 01/2010<br />
halten soll, überlegt er sich, muss Widerstand<br />
gegen die Umgebung leisten. Den Nachmittag<br />
verbringt Fischer in seiner Werkstatt. Er<br />
spannt ein rundes Polyamidstück in den<br />
Schraubstock und feilt an den Seiten tiefe<br />
Kerben ein. Den so mit Zähnen versehenen<br />
Kunststoffstab sägt er auf drei Viertel der<br />
Länge ein. Dann bohrt er am Kopfstück ein<br />
Loch und dreht vorsichtig eine Schraube<br />
hinein. Je weiter er dreht, desto weiter klaffen<br />
die beiden Dübelhälften auf. <strong>Wie</strong> das Maul<br />
eines Krokodils, denkt Fischer, genau so habe<br />
ich es mir vorgestellt.<br />
AM MONTAG führt er den Spreiz dübel vor.<br />
<strong>Wie</strong> einbetoniert halten die Schrauben im<br />
Dübel und die Dübel in der Wand. Fischers<br />
Leute sind begeistert, der Erfinder aber noch<br />
nicht: Der Dübel soll fest im Bohrloch sitzen,<br />
bevor ihn die Schraube auseinanderdrückt.<br />
Zwei abstehende Sperrzungen bringen<br />
schließlich die gewünschte Stabilität, egal ob<br />
in einer harten oder einer weichen Wand.<br />
Am 8. November 1958 bekommt Fischer<br />
die Patentschrift für den Spreizdübel. Viel<br />
wichtiger aber ist die Anerkennung von den<br />
Handwerkern. Und die sind vom ersten Tag<br />
an überzeugt. Wenige Tage nur ist Fischers<br />
Vertreter mit dem S-Dübel im Land unterwegs,<br />
da telegrafiert er schon eine Wochenbestellung<br />
von 10 000 Dübeln. Anfangs sind<br />
sie schwarz, doch in hellen Tapeten fällt die<br />
Farbe zu sehr auf, also steigt Fischer schnell<br />
auf Arbeitskittel-Grau um. Die Farbe handwerklicher<br />
Alltagstüchtigkeit, findet er. Der<br />
kleine Graue aus dem Schwarzwald tritt<br />
einen Siegeszug um die ganze Welt an und<br />
wird zum meistproduzierten und meistkopierten<br />
Dübel der Welt.<br />
So macht der Coup des Artur Fischer aus<br />
seiner Firma im Norden des Schwarzwalds<br />
ein florierendes Unternehmen, das später<br />
auch die Fischertechnik-Baukästen auf den<br />
Markt bringt. Mehr als 2300 Patente hat das<br />
Unternehmen bislang angemeldet. Viele davon<br />
kommen vom Chef selbst, der am<br />
31. Dezember seinen 90. Geburtstag gefeiert<br />
hat. Sein Lebensmotto hat er bei beim Ingenieur<br />
und Dichter Max Eyth gefunden:<br />
„Nicht die Not macht erfinderisch, sondern<br />
die Erfindungen haben die größte Not, den<br />
Widerstand zu überwinden, mit denen ihnen<br />
eine wohlgeordnete, im Großen und Ganzen<br />
selbstzufriedene Welt von allen Seiten entgegentritt.“<br />
Nur auf Fischers Spreizdübel passt<br />
das nicht. Der hält die Welt zusammen. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Sudann Richter; Fotos: dpa-Report (4); Fischer
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
DAS PRINZIP TÜTENSUPPE<br />
Zuerst erfand Julius Maggi die Rezeptur für nährstoffreiche Trockensuppen.<br />
Anschließend sorgte er dafür, dass die Suppen auch nach etwas schmecken<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Die industrielle Revolution läuft auf<br />
Hochtouren, Bauern und Hausfrauen<br />
werden zu Fabrikarbeitern,<br />
die Menschen sind arm und unterernährt.<br />
Um die Not der neuen Arbeiterklasse im<br />
Land zu lindern, beauftragt ein gemeinnütziger<br />
Schweizer Verband in den 1880er-<br />
Jahren den Mühlenbesitzer Julius Maggi mit<br />
dem Entwickeln von Nahrungsmitteln aus<br />
Hülsenfrüchten. Die sind schließlich billig<br />
und stecken voller Proteine. Schnell zubereiten<br />
lassen soll sich das neue Essen auch. Wer<br />
arbeitet, hat wenig Zeit zum Kochen.<br />
Ein Produkt erfinden, das hat Maggi bisher<br />
noch nie gemacht. Trotzdem sagt er sofort<br />
zu, denn in seiner Branche kriselt es heftig.<br />
Dank neuer Technik mahlen die Mühlen<br />
zwar mehr Mehl, doch damit wächst nur die<br />
Konkurrenz. Ein wachsender Importhandel<br />
verschärft die Lage, die ersten Müller gehen<br />
bereits pleite. Maggi kommt der ungewöhnliche<br />
Auftrag daher wie gerufen. Er lässt sich<br />
von Chemikern und Ernährungsexperten<br />
beraten, analysiert die Eigenschaften von<br />
Erbsen, Bohnen und Linsen, experimentiert<br />
an seinen Mahlmaschinen. Zwei Jahre später<br />
enable 12/2009<br />
gelingt es Maggi endlich, die Hülsenfrüchte<br />
in leicht verdauliches und nährwertreiches<br />
Mehl zu verwandeln.<br />
Das Mehl ist die Basis für seine ersten<br />
Instantsuppen. Drei Sorten sind Maggi zu<br />
wenig, also investiert er in neue Versuche und<br />
entwickelt ein Verfahren zum Trocknen von<br />
Gemüse. Damit bringt er 1886 ein Sortiment<br />
von kochfertigen Trockensuppen auf den<br />
Markt. Verpackt sind sie in einer handlichen<br />
Rolle. Aufreißen, in kochendes Wasser einrühren,<br />
ein paar Minuten köcheln lassen, fertig.<br />
Das Prinzip Tütensuppe ist geboren. So<br />
stand Maggi schon vor mehr als hundert Jahren<br />
für das, was heute als „Convenience“ bekannt<br />
ist: Kochen für Faule.<br />
Für den Schweizer Unternehmer bedeutet<br />
die schnelle Nahrung den wirtschaftlichen<br />
<strong>Durchbruch</strong>. Vom Erfolg seiner Produkte<br />
überzeugt, gründet er innerhalb von nur drei<br />
Jahren Niederlassungen in ganz Europa und<br />
in den USA. So erobern die Suppen die Welt.<br />
Doch Julius Maggi denkt weiter als andere<br />
Industrielle. Um die Leistungsfähigkeit seines<br />
Unternehmens zu sichern, macht er sich daran,<br />
das Leben seiner Arbeiter zu verbessern.<br />
Maggi baut Firmenkantinen, Wohnungen<br />
und Ferienheime, gibt seinen Leuten den<br />
Samstagnachmittag frei, gründet eine eigene<br />
Kranken- und Rentenkasse und schließt Arbeitsverträge<br />
ab. So verbindet er als einer der<br />
ersten Unternehmer seiner Ära Profit interesse<br />
mit sozialem Engagement.<br />
Auch beim Marketing erweist sich Maggi<br />
als Pionier. Die firmeneigene „Abteilung für<br />
Presse und Reklame“ sorgt dafür, dass der<br />
Name Maggi in Zeitungsannoncen weltweit<br />
erscheint. Mit Emailleschildern wird eine der<br />
ersten großen Straßenkampagnen gestartet.<br />
Früh erkennt der Unternehmer, wie wichtig<br />
flotte Werbesprüche sind. „Alles Wohl beruht<br />
auf Paarung. <strong>Wie</strong> dem Leben Poesie fehle<br />
Maggi’s Suppen-Nahrung Maggi’s Speise-<br />
Würze nie!“, textet sein Werbechef, der spätere<br />
Skandaldramatiker Frank Wedekind.<br />
Schon im Jahr der ersten Tütensuppe hatte<br />
Maggi ein weiteres Produkt entwickelt, die<br />
Maggi-Würze. Aus Sojabohnen und Weizen<br />
gewonnen, sollte die dunkelbraune Tunke<br />
den Geschmack von Fleischextrakt ersetzen.<br />
Erst mit einem ordentlichen Spritzer aus der<br />
viereckigen Glasflasche wurde Maggis Tütenterrine<br />
lecker. Dass Suppe auch nach etwas<br />
schmecken muss, hatte der Schweizer Verband<br />
bei seinem Auftrag an Maggi nämlich<br />
völlig vergessen. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: Fotex/Camerique; akg-images; Getty Images/Apic ; FTD/Susann Richter (6)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
HASTE TÖNE?<br />
Dass ihm bei der Erfindung des Telefons jemand zuvorgekommen war, spornte<br />
Emil Berliner zusätzlich an. Seine Schallplatte wurde fast ebenso wegweisend<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Amerika steht unter Strom. Ein Netz<br />
aus Telegrafendrähten zieht sich über<br />
das Land, Tüftler erproben, was <strong>alles</strong><br />
mit Strom möglich ist. Auch neben dem Bett<br />
von Emil Berliner stapeln sich Bücher über<br />
Elektrizität und Akustik; wenn der Einwanderer<br />
aus Hannover von seinem Aushilfsjob in<br />
einem Textilgeschäft kommt, liest er bis spät<br />
in die Nacht. Vor allem faszinieren ihn die<br />
Versuche, menschliche Stimmen auf elektrischem<br />
Weg zu übertragen. Berliner skizziert<br />
Entwürfe und bastelt an einem Fernsprechgerät.<br />
Als Alexander Graham Bell 1876 das<br />
Telefon zum Patent anmeldet, ist Berliner keineswegs<br />
entmutigt. Er konzentriert sich auf<br />
den Mikrofonteil des Apparats, ein Jahr später<br />
lässt er die Fernsprechmuschel patentieren.<br />
Bell ist beeindruckt, der Ton ist viel besser als<br />
bei seinem Gerät. Für 75 000 $ kauft er dem<br />
Deutschen die Erfindung ab und bietet ihm<br />
eine Stelle in seiner Firma an.<br />
Berliner schlägt ein. In Bells Betrieb aber<br />
fühlt der junge Erfinder sich schnell unwohl,<br />
für das Tüfteln bleibt ihm keine Zeit. Also<br />
macht Berliner sich selbstständig und arbei-<br />
enable 11/2009<br />
tet an einer neuen Technik zum Aufnehmen<br />
der Stimme, besser als die von �omas<br />
Alva Edison. Dessen Phonograph von 1877<br />
nimmt Stimmen über zinn- oder wachsbeschichtete<br />
Walzen auf: aufwendig und für<br />
eine große Zahl an Kopien zu teuer.<br />
Berliner ändert beim Schallaufzeichnen<br />
den Winkel zwischen Nadel und Trägerfolie<br />
um 90 Grad. Das Gerät ritzt aufgenommene<br />
Töne nicht mehr in die Oberfläche eines sich<br />
drehenden Zylinders wie bei Edison, sondern<br />
in eine mit Ruß überzogene, sich horizontal<br />
drehende Glasscheibe. Den Ruß härtet Berliner,<br />
so kann er ein Positiv aus Zink und von<br />
diesem ein Negativ der Platte fertigen, das<br />
wiederum als Stempel zum Pressen beliebig<br />
vieler Positive dient.<br />
IM HERBST 1887 meldet Berliner sein „Verfahren<br />
und Apparat für das Registrieren und<br />
<strong>Wie</strong>derhervorbringen von Tönen“ zum Patent<br />
an. Ein Jahr später stellt er das Abspielgerät<br />
dazu vor, das Grammofon. Investoren<br />
findet er nicht. Also pumpt Berliner Freunde<br />
und Gönner an und gründet in Philadelphia<br />
die Berliner Gramophone Company. Dort<br />
produziert er sowohl Geräte als auch Platten.<br />
Doch die Menschen kaufen sie nicht: vier<br />
Minuten Laufzeit, grauenhafter Klang. Das<br />
bleibt, auch als Berliner das Zinkblech erst<br />
durch Zelluloid, dann durch Hartgummi<br />
ersetzt. Erst die Ausscheidungen der Kerria<br />
lacca bringen den <strong>Durchbruch</strong>. Das als<br />
Schellack bekannte Sekret der Lackschildläuse<br />
bindet Gesteinsmehl, Ruß und Pflanzenfasern<br />
zu einer verschleißfesten Masse. Berliner<br />
ist begeistert, die Musikliebhaber sind es<br />
auch. Schellackplatten sind nicht nur haltbarer,<br />
vor allem klingen sie auch klasse.<br />
1900 vertreibt Berliner von Kanada aus<br />
Schallplatten und Grammofone unter dem<br />
Label „His Master’s Voice“. Markenzeichen<br />
ist ein Foxterrier namens Nipper, der am<br />
Trichter eines Grammofons lauscht. Schnell<br />
ist das Label bekannt wie ein bunter Hund,<br />
ein Jahr später sind bereits zwei Millionen<br />
schwarze Scheiben verkauft.<br />
Das Geschäft brummt, auch ohne Emil<br />
Berliner. Das lässt dem Erfinder die Zeit zum<br />
Erfinden. Am liebsten sitzt er in seiner Werkstatt<br />
und macht sich Gedanken, über die<br />
Rundfunktechnik zum Beispiel. Das beschert<br />
dem kanadischen Montreal nach Ende des<br />
Ersten Weltkriegs den ersten Radiosender. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (10), Interfoto/Lebrecht Music Collection; W. M. Weber/TV-yesterday
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
DAS GEHEIMNIS DER PYRAMIDE<br />
Fast ein halbes Jahrhundert wurde an Kartonverpackungen für Milch getüftelt.<br />
Dann gab Elisabeth Rausing den entscheidenden Tipp für den Tetra Pak<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Als Ruben Rausing in New York studiert,<br />
verbringt er seine Zeit gern in Lebensmittelgeschäften.<br />
Die amerikanische<br />
Einkaufsart fasziniert den jungen Schweden:<br />
Während sich die Menschen in Europa in<br />
den 20er-Jahren ihre Waren individuell abwiegen<br />
und verpacken lassen, nehmen die<br />
New Yorker <strong>alles</strong> selbst aus dem Regal und<br />
tragen es zur Kasse.<br />
Nachahmenswert, findet Rausing. Doch<br />
in Europa lassen sich Lebensmittel nicht so<br />
einfach transportieren und lagern. Voraussetzung<br />
dafür sind entsprechende Verpackungen<br />
wie die in den USA. Dort gibt es bereits seit<br />
1906 Milchkartons, durchgesetzt haben sie<br />
sich nach zwei Jahrzehnten immer noch<br />
nicht. Die Qualität ist nicht so überzeugend,<br />
dass die Amerikaner auf ihre traditionellen<br />
Glas flaschen verzichten würden.<br />
Aber die Zukunft liegt im Karton, davon<br />
ist Rausing überzeugt. Nach seiner Rückkehr<br />
gründet er 1929 in Lund die erste Verpackungsfirma<br />
Schwedens. Kartons und Tüten<br />
für Lebensmittel wie Mehl, Salz und Zucker<br />
sind bald auf dem Markt. Die Händler bauen<br />
Regale in ihre Geschäfte ein und stellen<br />
enable 10/2009<br />
auf Selbstbedienung um, die ersten Supermärkte<br />
eröffnen.<br />
Nur die Milch gibt es auch in Schweden<br />
weiterhin in Flaschen. Rausings Team forscht<br />
jahrelang, experimentiert mit verschiedenen<br />
Kartonformaten. Der Chef wird immer genervter:<br />
Das muss doch gehen!<br />
GEHT AUCH. Endlich, im Februar 1944,<br />
kommt Laborassistent Erik Wallenberg auf<br />
die Lösung. Er versiegelt den Boden eines<br />
Papp zylinders und danach in einem rechten<br />
Winkel dazu stehend dessen Dach. So entsteht<br />
eine Verpackung mit vier Dreiecksflächen,<br />
ein Tetraeder. Milch in einer Papppyramide?<br />
Rausing ist skeptisch. Wallenbergs<br />
Argument, „ein Minimum an Material, aber<br />
ein Maximum an Volumen“, überzeugt den<br />
Chef schließlich, er meldet das Format zum<br />
Patent an und tauft es Tetra Pak.<br />
Milchkäufer lernen das Tetra Pak vorerst<br />
nicht kennen. Die Pappe mit einer Kunststoffschicht<br />
zu überziehen ist für die Forscher<br />
zwar kein Problem – an der Konstruktion<br />
einer Abfüllmaschine dagegen verzweifeln sie<br />
fast. Sieben Jahre pusselt das Team herum,<br />
bis Rausings Frau Elisabeth eines Tages beim<br />
Mittagessen die Lösung liefert: Warum ver-<br />
siegelt ihr die Kartons nicht, während die<br />
Milch in sie hineinfließt?, fragt sie. Denk an<br />
Würste, Ruben, wenn man Würste stopft, ist<br />
es genau das gleiche Prinzip.<br />
Elisabeth Rausing hat recht. 1951 stellt<br />
die schwedische Firma ihre Abfüllanlage vor.<br />
Die Maschine pumpt von oben Milch in den<br />
Pappzylinder und schnürt jeden Tetra Pak ein<br />
Stück unterhalb des Flüssigkeitspegels ab. So<br />
dringt keine Luft hinein, die Milch bleibt<br />
keimfrei und ist mehrere Tage bei Zimmertemperatur<br />
haltbar. Außerdem lässt sich die<br />
neue Verpackung einfach flachlegen und entsorgen.<br />
Mit der „Packung von der Rolle“<br />
krempelt Tetra Pak das Verhältnis der Verbraucher<br />
zur Milch grundlegend um.<br />
Firmenchef Rausing und seine Söhne<br />
setzen sofort auf Expansion, wollen weltweit<br />
den Standard setzen. Heute bietet der Konzern<br />
neun verschiedene Verpackungssysteme<br />
und etwa 300 Formen und Größen für<br />
Getränke aller Art. Bei H-Milch hält Tetra<br />
Pak einen Marktanteil von 83 Prozent, längst<br />
ist es zum Synonym für alle ähnlichen Konzepte<br />
geworden.<br />
Die klassische Papppyramide allerdings ist<br />
fast völlig verschwunden. Nur Kaffeesahne<br />
gibt es mitunter noch im Mini-Tetraeder. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (2); Stills-Online (2); picture-alliance/dpa/Pressens Bild; Tetra Pak Deutschland; Interfoto/Günter Höhne; Food Centrale Hamburg/Seiffe
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
ALLES EINE SOSSE<br />
Die Tunke aus dem Reich der Legenden: Hamburg und Berlin streiten sich,<br />
wo die Currywurst denn nun wirklich erfunden worden ist<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Herta Heuwer guckt in die Regennacht<br />
und seufzt, in den Straßengossen<br />
fließen kleine Bäche, seit Stunden ist<br />
kein hungriger Arbeiter an ihrer Imbissbude<br />
aufgetaucht. Gelangweilt rührt sie in den<br />
Töpfen, mischt Tomatenmark mit Wasser<br />
und Gewürzen, ein weiterer Versuch für eine<br />
neue Soße, bisher war sie mit ihren Kreationen<br />
nie zufrieden. Heuwer schmeckt ab<br />
und würzt nach, ein bisschen Pfeffer, eine<br />
Spur Paprika. Nicht schlecht, findet sie, aber<br />
noch zu fad. Vielleicht sollte sie etwas ganz<br />
Neues wagen, einen Hauch Curry zum Beispiel,<br />
das gibt es erst seit Kurzem, bisher kam<br />
ihr das gelbe Zeug nicht ins Essen. Kaum hat<br />
sie die neue Mischung probiert, ist sie überzeugt:<br />
Würzig und nicht zu scharf, der Curry<br />
macht’s, einfach herrlich!<br />
Es ist der 4. September 1949, als Herta<br />
Heuwer in Berlin zum ersten Mal die Currysoße<br />
anrührt. US-Soldaten haben Heuwer auf<br />
die Idee gebracht, denn ein ordentliches Stück<br />
Fleisch mit Ketchup vermissen die Amerikaner<br />
in der besetzten Stadt. Ketchup? Gibt’s<br />
nicht. Also experimentiert Heuwer immer<br />
enable 09/2009<br />
wieder in ihrer Charlottenburger Bratbude.<br />
Als ihr der Mix endlich schmeckt, ist das<br />
„Steak des kleinen Mannes“ fertig und<br />
Deutschlands beliebtestes Fast Food geboren.<br />
NICHTS DA! Bei uns gab es die Currywurst<br />
schon viel früher, heißt es in Hamburg. Ihre<br />
Erfinderin sei angeblich Lena Brücker. Als<br />
die mit drei Flaschen Ketchup und einer<br />
Dose Currypulver auf der Treppe stolpert,<br />
vermischt sich <strong>alles</strong> zu einer fruchtig-scharfen<br />
Soße, die sie fortan zu zerschnittenen Kalbsbratwürsten<br />
serviert. So erzählt es Uwe Timm<br />
in seinem Roman „Die Erfindung der Currywurst“.<br />
Darin geht es zwar weniger um die<br />
Wurst als um die deutsche Nachkriegszeit,<br />
aber Timm beharrt: Seine erste Currywurst<br />
habe er 1947 an einer Bude am Hamburger<br />
Großneumarkt gegessen. Bei Frau Brücker.<br />
Damit war, wir schreiben die 90er-Jahre,<br />
der Streit entbrannt. „Ich hab das Patent und<br />
damit basta!“, wetterte die 83-jährige Herta<br />
Heuwer in der Berliner Lokalpresse. 1959<br />
ließ sie sich ihre „Chillup“-Soße als Marke<br />
schützen, ihre Bude an der Kaiser-Friedrich-<br />
Straße, Ecke Kantstraße nannte sie stolz „Erste<br />
Currywurst Braterei der Welt“. Heuwers<br />
Fans brachten dort 2003 eine Gedenktafel<br />
an, Tage später konterten Hamburger Wurstfreaks<br />
mit dem Aufhängen eines entsprechenden<br />
Schilds für Romanheldin Brücker.<br />
Im Deutschland werden jedes Jahr rund<br />
860 Millionen Currywürste gegessen. Von<br />
Hamburger, Döner, Sushi und Falafel hat<br />
sich die „Curry“ nie kleinkriegen lassen. Entstanden<br />
aus dem Zwang zum Improvisieren<br />
in schlechten Zeiten, ist sie auch ein Produkt<br />
der Tradition. Schließlich kamen Bratwürste<br />
schon früher mit einer Soße auf den Tisch,<br />
damit man sie besser schlucken konnte. Bei<br />
der „Curry“ aber ist die scharfe Tomatentunke<br />
wichtiger als die Wurst.<br />
In Berlin wird in Öl gebrutzelte Curry<br />
„mit“ und „ohne“ verkauft. Gemeint ist die<br />
Pelle. Die zwei Varianten stammen aus DDR-<br />
Zeiten – Naturdarm war im Osten knapp. Im<br />
Ruhrgebiet hat die Curry eine Bratwurstbasis,<br />
zerstückelt wird sie im eigens dafür entwickelten<br />
Schneide gerät. Außerdem gehört ihr<br />
dort eine eigene Hymne. „Gehse inne Stadt,<br />
wat macht dich da satt?“, fragt Herbert Grönemeyer<br />
und antwortet: „‚Ne Currywurst.“<br />
Das können auch die Hamburger und die<br />
Berliner sofort unterschreiben. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (4); Ullstein Bild - von der Becke; Caro/Hechtenberg; Caro/Muhs
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
NEUES SPIEL, NEUES GLÜCK<br />
Lothar Lammers und Peter Weiand geben dem Glücksspiel einen neuen Schub<br />
und erfinden die Lottoformel „6 aus 49“<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Immer nur Fußball. Genervt sitzt Lothar<br />
Lammers vor einem Stapel Wettscheine.<br />
Mit dem Auswerten der Zettel für die<br />
Westdeutsche Toto-Gesellschaft finanziert er<br />
sich sein Studium in Köln, Anfang der 50er-<br />
Jahre ist das kein schlechter Nebenjob. Aber<br />
Lammers geht es um mehr, er will das System<br />
verändern. Nachts schreibt der künftige<br />
Betriebswirt trockene Uni-Arbeiten über die<br />
Organisation von Lotto-Toto-Gesellschaften,<br />
tagsüber grübelt er darüber nach, wie sich<br />
mit Glücksspiel richtig Geld machen lässt.<br />
Auch Peter Weiand arbeitet als Hilfskraft<br />
in der Toto-Auswertung, „unser Rechenaugust“<br />
nennt ihn Lammers. Mathematiker<br />
und Marketingexperte verbünden sich. Sie<br />
brauchen ein Spiel, für das man keine<br />
Ahnung haben muss von Fußball, überlegen<br />
sie, denn das schreckt beim Toto vor allem<br />
die Frauen ab. Ein Spiel mit Gleichberechtigungsfaktor<br />
also. Und eins mit Demokratiefaktor,<br />
bei dem mit kleinem Einsatz nicht<br />
nur einer groß abräumt, sondern ganz viele<br />
ein bisschen gewinnen.<br />
Monatelang tüfteln die jungen Männer an<br />
einer neuen Spielformel. Sie analysieren die<br />
enable 08/2009<br />
Wettsysteme in anderen Ländern und testen<br />
auch die „5 aus 90“-Formel, entstanden im<br />
16. Jahrhundert im italienischen Genua, als<br />
dort auf das Auslosen von fünf Senatoren aus<br />
90 Kandidaten hohe Wetten liefen. Doch die<br />
Trefferquote dieser Urformel ist zu gering,<br />
um das Spiel attraktiv zu machen. Mit sechs<br />
Kreuzchen in 49 Kästchen aber, errechnet<br />
Weiand, damit kann es klappen. Stift und<br />
Tippschein, schon ist man dabei. Einfacher<br />
kann der Weg zum Lottoglück nicht sein.<br />
DAS POTENZIAL der neuen Spielformel<br />
erkennt bei der Toto-Gesellschaft niemand.<br />
„Ihr seid doch wahnsinnig!“, bügelt der damalige<br />
Geschäftsführer seine Aushilfskräfte<br />
ab. Lammers und Weiand kochen, dann holen<br />
sie tief Luft und kündigen den Job. Doch<br />
anstatt ihre Idee zu begraben, fahren die beiden<br />
nach Hamburg zum Bankenkonsortium,<br />
das die vom Fußballtoto fast ins Aus geschossene<br />
Nordwestdeutsche Klassenlotterie betreibt.<br />
Dort rennen sie mit ihrem „6 aus<br />
49“-Konzept offene Türen ein. Ein neues Unternehmen<br />
entsteht, und am 9. Oktober 1955<br />
zieht die el�ährige Elvira Hahn in Hamburg<br />
aus einem Kasten mit 49 Plexiglaskugeln die<br />
erste Gewinnzahl, ausgerechnet eine 13.<br />
Lammers und Weiand aber haben das<br />
Glück auf ihrer Seite. Für die erste Ziehung<br />
waren fast 260 000 Scheine abgegeben worden.<br />
Ein Jahr später liegt der Lottoumsatz bei<br />
1 Mio. DM. Toto spielen nur noch beinharte<br />
Fußballfans. Die nordrhein-westfälische Regierung<br />
überträgt den Toto-Betrieb auf die<br />
boomende Lottogesellschaft – späte Genugtuung<br />
für die Lotto-Geschäftsführer Lammers<br />
und Weiand, so werden ihre ehemaligen<br />
Chefs ihre Angestellten.<br />
Der Rheinländer Weiand kommt trotz<br />
Lotto vom Fußball nicht los, von 1973 bis<br />
1987 ist er Präsident des 1. FC Köln. Lammers<br />
aber widmet sein Leben dem neuen<br />
Glücksspiel. Bis in die 80er-Jahre führt er die<br />
Westdeutsche Lotteriegesellschaft. Nebenbei<br />
macht er das Glücksspiel in aller Welt bekannt.<br />
Lammers selbst spielt selten, einmal<br />
hatte er vier Richtige, kokettiert er.<br />
Trotzdem genießt er heute das Rentnerleben<br />
in einem luxuriösen Jachtstädtchen am<br />
Golf von Saint-Tropez. Gewinnen wollte<br />
Lammers nie im, immer nur am Lotto. Vermutlich<br />
hat er sich das vom Goldrausch in<br />
Kalifornien abgeguckt. Dort wurden nicht<br />
die Schatzsucher reich, sondern die Verkäufer<br />
von Schaufeln und Sieben. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (2); Ullstein Bild - Bethke
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
URLAUB FÜR DIE FÜSSE<br />
So bequem und praktisch Badelatschen auch sind, so hässlich sind sie meist.<br />
Stefanie Schulze mochte das nicht akzeptieren – und kreierte die Flip-Flops<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Beim Frühstück im Hotel tragen die<br />
Typen am Nebentisch Gummisandalen,<br />
später schlappen drei Schönheiten<br />
darin aus dem Aufzug, jetzt steht ein Pärchen<br />
in blauen Adiletten vor der Rezeption. Stefanie<br />
Schulzes ästhetische Toleranzgrenze ist<br />
überschritten. Warum bloß so viel Hässlichkeit<br />
an gepflegten Füßen? Im selben Moment<br />
weiß sie die Antwort: weil es keine schicke<br />
Alternative gibt zu prolligen Badelatschen.<br />
Als Schulze Anfang der 90er-Jahre aus den<br />
USA zurückzieht nach Deutschland, hat sie<br />
ihn im Gepäck: den Traum von der eigenen<br />
Sandalenmarke. Schulze denkt an die billigen<br />
Badelatschen, die ihr als Kind im Italienurlaub<br />
die Füße wund scheuerten. Hart die<br />
Sohle, dünn der Zehenriemen, das erinnert<br />
an Armeleutesandalen in Asien und Südamerika.<br />
Dennoch findet Schulze das simple<br />
Sommermodell nach wie vor cool und praktisch.<br />
Warum etwas Neues erfinden? Die<br />
Dinger müssen wieder auf den Markt! Die<br />
Werbefachfrau ist keine Modeschöpferin,<br />
sondern eine Macherin. Für einen <strong>Durchbruch</strong>,<br />
das ist ihr klar, brauchen die Treter,<br />
was ihnen bisher fehlte: ein positives Image.<br />
enable 07/2009<br />
flop<br />
flop<br />
flip flip<br />
flop<br />
flip<br />
Das beginnt bei einem markanten Namen.<br />
In San Francisco hat Schulze die Sandalen als<br />
„thongs“ kennengelernt; wegen des Geräuschs,<br />
das sie beim Gehen machen, sprachen fast alle<br />
nur von „flip-flops“. Eigentlich perfekt, findet<br />
die deutsche Werbefrau. 1997 lässt sie sich<br />
den Namen als Marke schützen, beantragt<br />
Existenzgründungsgeld und verwandelt ihr<br />
Wohnzimmer in eine Firmenzentrale. Von<br />
dort aus arbeitet die damals 39-Jährige daran,<br />
die Urlaubssandale unter einem amerikanischen<br />
Slangbegriff wiederzubeleben.<br />
WEICH, ABER STABIL sollen die Schuhe<br />
sein. Ganz Osteuropa klappert Schulze ab,<br />
bis ein Hersteller gefunden ist, der das optimale<br />
Schaumstoffgemisch entwirft. Mit einer<br />
Werbeagentur kreiert Schulze das Logo der<br />
Flip-Flops, eine schlichte Blüte ähnlich der<br />
Pril-Blume aus den 70ern. Damit ist das<br />
Revivalprodukt komplett.<br />
Schulze lässt eine Musterkollektion in<br />
kräftigen Farben produzieren und fährt mit<br />
einem Kofferraum voller Schlappen zur Düsseldorfer<br />
Schuhmesse. Viele Einkäufer sind<br />
begeistert. Endlich sind die Badeschlappen<br />
wieder da, doch jetzt sehen sie auch schön<br />
aus und sind freundlich zum Fuß.<br />
Mit Bestellungen für mehrere Tausend<br />
Paar Flip-Flops reist die Jungunternehmerin<br />
wieder ab. Für teure Werbeanzeigen fehlt ihr<br />
das Geld, also schickt sie Probeexemplare an<br />
Frauenzeitschriften. „�e shoe must go on“<br />
betitelt Schulze ihre erste Pressemitteilung<br />
und dekoriert das Ganze mit Papierblümchen.<br />
Die Redaktionen finden das Konzept<br />
klasse, ein Magazin widmet den neuen Badelatschen<br />
eine ganze Seite im Heft, andere verpassen<br />
den Models auf den Modeseiten die<br />
lässigen Schlappen. Das bedeutet Trendalarm,<br />
alle müssen sie haben. 2002 werden<br />
sechs Millionen Paar verkauft. Schnell kopieren<br />
die Billigmodeketten das Konzept, Modedesigner<br />
gestalten Nobelversionen.<br />
Flip-Flop wird zum Synonym für Zehenriemensandalen.<br />
Badelatschen sind von gestern<br />
und sowieso proll. Schulze nutzt den<br />
Erfolg, um die Marke auszubauen, und bringt<br />
ähnliche Produkte heraus. 2003 verkauft sie<br />
die Rechte an den Schuhhersteller Hummel.<br />
Auch er will das Urlaubsgefühl der Flip-Flops<br />
auf Mode und Accessoires übertragen. Heute<br />
gehören sogar winterkompatible Lederstiefel<br />
zum Sortiment. Aber auch mit den Originalen<br />
schafft man es durch die kalten Tage –<br />
schließlich gibt es Flip-Flop-Socken. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: FTD/Susann Richter (8)
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
MÄDCHENBIER<br />
Echte Männer trinken Bier, wahre Frauen nippen lieber an Sektkelchen. So war<br />
das früher. Bis Beck’s Gold für die Emanzipation des Bieres gesorgt hat<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Es war einmal, vor nicht allzu langer<br />
Zeit, da galt Biertrinken als Männersache.<br />
Herb der Geschmack, derb das<br />
Image. Frauen feierten mit Prosecco. Wollten<br />
sie sich im Sommer ausnahmsweise mit Bier<br />
beduseln, bestellten sie eine milde Sorte aus<br />
Mexiko und quetschten ein Stück Limette<br />
tief in den Flaschenhals.<br />
Wenn die Frauen nicht ans Bier wollen,<br />
muss das Bier weiblicher werden, überlegten<br />
sich vor acht Jahren die Manager der Bremer<br />
Brauerei Beck & Co. Jeder kannte das Beck’s<br />
in der grünen Flasche, doch das herbe Gesöff<br />
war ausgereizt. Trotz des Beck’s-Schiffs mit<br />
grünen Segeln galt die Marke nicht mehr als<br />
cool. Vor allem 25- bis 35-jährige Großstädter<br />
fanden das deutsche Traditionsgetränk<br />
spießig. Eine Folge: Deutschlandweit sackte<br />
der Bierkonsum ab.<br />
Die Brauereien versuchten mit Hinweisen<br />
auf das Reinheitsgebot gegenzusteuern und<br />
warben mit glasklaren Gebirgsbächen,<br />
munteren Singvögeln und alternden Fußballstars.<br />
Das kann nichts werden, dachte sich<br />
Andreas Hilger, damals Marketingchef der<br />
Beck’s-Schwestermarke Haake-Beck. Er trieb<br />
enable 06/2009<br />
die Revolution am Braukessel voran. Beck’s<br />
muss schicker aussehen und milder schmecken,<br />
lautete seine Parole, nur so gewinnen<br />
wir neue Käufer, nur so erobern wir die<br />
Frauen. Niemals, hielten die Traditionalisten<br />
im Haus entschieden dagegen: Wir stellen<br />
Bier her, keine Limonade!<br />
EIN VERWÄSSERN der Marke hatten die<br />
Lordsiegelbewahrer bei Beck’s schon Anfang<br />
der 90er-Jahre befürchtet, als ein alkohol freies<br />
Bier eingeführt wurde. Jetzt ging es wieder<br />
rund. Die Revoluzzer präsentierten die Ergebnisse<br />
von Marktforschungstests, ihre Gegner<br />
schnaubten nur: <strong>Wie</strong> oft hatten solche<br />
Tests in die Irre geführt. Nach monatelangen<br />
Diskussionen schlug sich die Geschäftsführung<br />
auf die Seite der Modernisierer: Das<br />
Argument mit den Frauen überzeugte sie.<br />
Anschließend wurde nur noch über das <strong>Wie</strong><br />
diskutiert. Die neue Marke muss als Beck’s-<br />
Baby erkennbar sein, waren sich die Bremer<br />
schnell einig, durfte aber auch nicht zu nah<br />
am grünen Klassiker liegen.<br />
Dann ging es Schlag auf Schlag. Die Braumeister<br />
verwendeten weniger Hopfen, so<br />
schmeckte das neue Bier weniger nach Bier.<br />
Die Glashütte entwickelte eine Klarglas-<br />
flasche mit Schutz vor ultraviolettem Licht,<br />
darin sah das neue Bier so schick aus wie seine<br />
exotischen Schwestern aus Mexiko. Und es<br />
verlor auch bei Sonnenschein nicht den<br />
Geschmack. Weil es golden in der Flasche<br />
schimmerte, stand der Name sofort fest:<br />
Beck’s Gold tauften die Bremer ihren Familienzuwachs,<br />
im Mai 2002 stellten sie ihn auf<br />
einer Party in Düsseldorf offiziell vor. Die<br />
weiblichen Gäste waren begeistert, endlich<br />
ein Bier, das etwas hermacht. Neben dem<br />
Namen sorgte ein uralter Marketingtrick für<br />
ein exklusives Image: Beck’s Gold wurde zunächst<br />
in kleinen Mengen produziert und war<br />
nur in ausgewählten Szeneläden zu haben.<br />
Ein Jahr später stand das Gold-Bier in den<br />
Supermarktregalen, 2004 kletterte der Absatz<br />
bereits über die 200 000-Hektoliter-Marke,<br />
mittlerweile wird etwa dreimal so viel verkauft.<br />
Heute gilt Beck’s Gold damit als erfolgreichste<br />
Produktneuheit in der deutschen<br />
Biergeschichte.<br />
Vom Erfolg des Lifestyle-Bieres wollen<br />
auch andere deutsche Brauereien profitieren<br />
und kopieren das Konzept. Marktforschern<br />
zufolge ist Beck’s Gold jedoch der Platzhirsch<br />
und hält aktuell mehr als 85 Prozent des<br />
Marktsegments. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter; Fotos: GettyImages: Bilderberg/Till Leeser; gettyimages/Adam Crowley; Inbev (3); FTD/Peter Raffelt (2)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
IM FALLE EINES FALLES ...<br />
… klebt Uhu wirklich <strong>alles</strong>. Und das vor allem, weil der Apotheker August Fischer<br />
den Gestank von Fischleim nicht mehr ertragen wollte<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Eigentlich war die Konkurrenz nicht zu<br />
toppen. Wer in den 20er-Jahren Klebstoff<br />
meint, sagt Syndetikon. Kein<br />
Wun der, der mit Fischleim hergestellte Alleskleber<br />
wird seit Jahrzehnten intelligent und<br />
ironisch beworben, Gratisextras wie Bastelbögen<br />
halten die Verkaufszahlen oben. „Syndetikon<br />
klebt, leimt und kittet <strong>alles</strong>“, den<br />
Slogan kennt damals jedes Kind.<br />
Dem Apotheker August Fischer im badischen<br />
Bühl stinken der fischige Kleber und<br />
alle anderen Knochenkleister ganz gewaltig.<br />
Klar, sie halten. Aber nicht gut genug, findet<br />
Fischer. Auch mit den selbst produzierten<br />
Klebstoffen auf Naturbasis ist er unzufrieden.<br />
Vor allem aber steht Fischer unter Druck,<br />
denn für seine kleine Büroartikelfabrik sieht<br />
es duster aus. Der Erste Weltkrieg hat den Familienbetrieb<br />
hart getroffen. Die wichtigsten<br />
Verkaufsregionen Elsass-Lothringen und das<br />
Saarland gehören dem Kriegsgegner Frankreich.<br />
Inflation und Weltwirtschaftskrise verschärfen<br />
die Lage, Fischers Firma hält sich<br />
kaum mehr über Wasser.<br />
Der vom Forschergeist getriebene Chef<br />
überträgt seinem ältesten Sohn die Geschäfte<br />
enable 05/2009<br />
und zieht sich ins Labor zurück. Nacht für<br />
Nacht experimentiert Fischer senior mit verschiedenen<br />
neuen Stoffen. 1932 schließlich<br />
gelingt dem ausgebildeten Lebensmittelchemiker<br />
der große Wurf. Aus verschiedenen<br />
Kunstharzen mixt er einen glasklaren Klebstoff,<br />
der schnell und dauerhaft einfach <strong>alles</strong><br />
verbindet: Papier, Pappe, Leder, Keramik,<br />
Porzellan, sogar den damals neuen Kunststoff<br />
Bakelit. Außerdem bleibt die Klebestelle elastisch,<br />
ist wasserfest und unempfindlich. Ein<br />
echter Alleskleber also.<br />
ERFINDER UND SOHN sind euphorisch:<br />
Das wird der Renner, damit ist sogar Syndetikon<br />
zu schlagen! Ein Name ist schnell gefunden.<br />
Bei Büroartikeln sind gerade Vogelnamen<br />
angesagt: Pelikan, Marabu, Greif und<br />
Schwan. Hugo Fischer kombiniert Trend mit<br />
Heimat und wählt als Wappentier den damals<br />
noch im Schwarzwald lebenden Uhu.<br />
Kaum sind die ersten Tuben in Handarbeit<br />
produziert, schickt der Juniorchef Gratisproben<br />
an Tausende Schulen in ganz Deutschland.<br />
Die Schüler sind so begeistert, dass 1938<br />
mit „Uhu hart“ ein Spezialklebstoff für Modellbaufreunde<br />
auf den Markt kommt. Als<br />
bes te Werbung entpuppt sich das Luftschiff<br />
„Hindenburg“. Der Zeppelin wurde mit Uhu<br />
gebaut, heißt es, weil im Inneren des Fliegers<br />
Klebstoff aus Bühl verwendet worden war.<br />
Der Zweite Weltkrieg unterbricht den<br />
Höhenflug. Uhu gilt zwar als „kriegswichtig“<br />
und darf weiterproduzieren, doch es gibt<br />
kaum mehr Rohstoffe. Eine Zeit lang kommt<br />
der Klebstoff nur in Tablettenform auf den<br />
Markt. In den 50ern aber geht es schnell wieder<br />
aufwärts. 1971 endet die Zeit des Familienunternehmens,<br />
Fischer & Fischer wird<br />
Teil der britischen Beecham-Gruppe. Heute<br />
gehört die Uhu GmbH & Co. KG zur niederländischen<br />
Bolton Group.<br />
Längst steht der schwarz-gelb verpackte<br />
Kleber als Synonym für Klebstoff allgemein.<br />
Eine ständig wachsende Produktpalette hat die<br />
Erfindung des August Fischer zum Haushaltsklebstoff<br />
Nummer eins werden lassen. Dutzende<br />
von Spezialklebern sind auf dem Markt;<br />
kein Problem, das sich nicht kleben lässt. Zu<br />
den Klassikern gehören die Flinke Flasche, der<br />
Sekundenkleber und der Uhu Stic.<br />
Vor allem aber liegt der Erfolg am eingängigen<br />
Werbeslogan. „Im Falle eines F<strong>alles</strong><br />
klebt Uhu wirklich <strong>alles</strong>.“ Dass der Fischleim<br />
Syndetikon einst mit fast den selben Worten<br />
warb, ist längst vergessen. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Susann Richter: Fotos: FTD/Maxim Sergienko (10); Uhu GmbH & Co. KG
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
HEISSE LUFT<br />
Alle anderen sind nur Haartrockner: In einem gelungenen Marketingcoup<br />
hat sich AEG den Namen „Fön“ gesichert<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Höllenlärm im Ankleidezimmer, dunkle<br />
Rauchwölkchen steigen auf, helle<br />
Funken sprühen. Die Dame des<br />
Hauses föhnt sich die Locken. Immer wieder<br />
drückt sie den Ausschalter und legt das<br />
monströse Metallgerät auf den Schminktisch.<br />
90 Grad heiße Luft speit es aus dem Düsenrohr<br />
und wiegt gut zwei Kilo. Anfang des<br />
20. Jahrhunderts ist Haarstyling gefährliches<br />
Krafttraining.<br />
Um Frisuren geht es damals eher selten.<br />
Rheuma, Gicht und Furunkel therapieren<br />
soll die elektrische Luftdusche, klamme Bettwäsche<br />
anwärmen, schlappe Federboas aufplustern,<br />
nasse Hunde trocknen. 1899 bringt<br />
die Allgemeine Electricitäts Gesellschaft,<br />
kurz AEG, die klobige Urform des heutigen<br />
Föhns auf den Markt. Das Prinzip: Ein Gebläse<br />
leitet die Luft über strombeheizte Glühdrahtschnecken.<br />
Doch der Apparat hat nur<br />
schlappe 300 Watt, und sein schwerer Motor<br />
steckt im Griff.<br />
ELEKTRIZITÄT IST LUXUS, nur wohlhabende<br />
Familien nutzen Neuheiten wie Bügeleisen,<br />
elektrische Teekessel und Zigarren anzünder.<br />
enable 04/2009<br />
Erst als der Strom billiger wird, die Heißluftdusche<br />
leichter und die Frisuren mode aufwendiger,<br />
setzt sich der Föhn durch: Ohne kommt<br />
in den 20ern kein Bubikopf aus.<br />
Pionier AEG hat da längst Konkurrenz<br />
bekommen, von Maybaum, Schott oder<br />
Grossag. Und von Sanitas, einem Familienunternehmen<br />
aus Berlin, das sich in den<br />
20er-Jahren vom warmen Wind in den Alpen<br />
inspirieren lässt, das „h“ in der Mitte streicht<br />
und seine Haartrockner mit dem Markenbegriff<br />
„Foen“ schützen lässt. Die Marke entwickelt<br />
sich zum Gattungsbegriff, die höchste<br />
Weihe in der Markenwelt.<br />
1957 übernimmt die AEG die kleine Firma,<br />
zwei Jahre später kommt der 800 Gramm<br />
leichte AEG-„Original Foen“ auf den Markt.<br />
Damals bekommt der Föhn ein Kunststoffgehäuse,<br />
erst aus Bakelit, dann aus �ermoplast.<br />
Die Form der Puster bleibt weitgehend<br />
klar, umso stärker ändern sie die Haarpracht<br />
vor allem der Damenwelt. Ob „Dallas“,<br />
„Den ver“ oder „Drei Engel für Charlie“ – die<br />
80er bauen auf windiges Volumen.<br />
Daran ändert auch nichts, als der Föhn<br />
1987 verstummt: Nach jahrzehntelanger<br />
Tüf te lei am lärmenden Produkt kommt erstmals<br />
ein fast lautloser Haartrockner von<br />
AEG auf den Markt. Heute geht es um Glanz<br />
und Frisierbarkeit, Ionenföhne sollen statisches<br />
Aufladen verhindern. Doch die Ursprungstechnik<br />
ist geblieben, die meisten<br />
Apparate trocknen nach wie vor über das<br />
gute alte Warmluftgebläse.<br />
HAARE SPALTEN lassen sich mit dem Föhn<br />
ebenfals: Während der Duden bereits 1934<br />
den „Föhn“ zum Wind und den „Fön“ zum<br />
Gerät erklärt, schließt sich der Brockhaus erst<br />
1976 dieser Schreibweise an. Zwei Jahre später<br />
ruft auch die Gesellschaft für deutsche<br />
Sprache zur Schreibweise „Fön“ auf. Die<br />
DDR hatte dem Problem vorgebeugt, dort<br />
hieß der Föhn Luftdusche.<br />
Heute ist der Name ein eingetragenes und<br />
streng geschütztes AEG-Warenzeichen, andere<br />
Hersteller dürfen lediglich für „Haartrockner“<br />
und Ähnliches werben. Über das F-Wort<br />
wacht Electrolux, im Bereich Haushaltsgeräte<br />
Nachfolgekonzern der AEG, die nur noch als<br />
Marke existiert.<br />
Was der Duden mit dem Puster macht,<br />
hat Electrolux allerdings nicht im Griff: Mit<br />
der Rechtschreibreform bekommt der Haar-<br />
trockner erneut den Namen des Alpenwinds.<br />
Seitdem verwirrt er wieder als „Föhn“. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: Electrolux (3); Stills-Online
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
GANZ GELÖST<br />
Jahrelang tüftelten Forscher, damit Instantkaffee tatsächlich nach Kaffee<br />
schmeckt. 1938 schafften es die Nestlé-Chemiker. Dann kam der Krieg<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Sack für Sack kippen die Männer ins<br />
Meer. Oder sie schaufeln die grünen<br />
Bohnen in die Heizkessel von Lokomotiven.<br />
Ihre Regierung hat es befohlen,<br />
denn die Lager quellen von Kaffee über. Wegen<br />
Börsencrash und Weltwirtschaftskrise<br />
trinken Amerikaner und Europäer weniger<br />
Kaffee. Die ohnehin niedrigen Preise fallen<br />
weiter, Brasilien bleibt auf seinem wichtigsten<br />
Exportgut sitzen, 1930 ist das Land<br />
nahezu pleite.<br />
Um die Überschüsse guter Ernten künftig<br />
über Krisenzeiten hinwegretten zu können,<br />
suchen die Brasilianer Hilfe in der Schweiz.<br />
Ist es nicht möglich, fragen sie den damaligen<br />
Nestlé-Präsidenten Louis Dapples, Kaffeekonzentrat<br />
in Würfelform zu entwickeln?<br />
Keine neue Idee, doch bislang ist Instantkaffee<br />
daran gescheitert, dass er so gar nicht<br />
nach Kaffee schmeckte. Das können wir besser,<br />
denkt sich Dapples. Das Nestlé-eigene<br />
Forschungslabor in Vevey soll eine Lösung<br />
finden, wie sich ein sofort löslicher Kaffee<br />
herstellen lässt, der den Namen auch verdient.<br />
Sieben Jahre tüftelt das Team um Chemiker<br />
Max Rudolf Morgenthaler, bis es das ge-<br />
enable 03/2009<br />
wünschte Ergebnis erreicht. Morgenthaler<br />
selbst ist es, der herausfindet, dass sich die<br />
flüchtigen Aromastoffe durch den Zusatz von<br />
Kohlenhydraten konservieren lassen.<br />
Statt der Trommelmethode, bei der aufgebrühter<br />
Kaffee zu Kristallen eingedampft<br />
wird, setzt Nestlé die Sprühtrocknungstechnik<br />
ein. Dabei wird der Kaffee zusammen<br />
mit warmer Luft in eine Trockenkammer gespritzt.<br />
Dort bildet er Tröpfchen, die sofort<br />
getrocknet werden. Damit sich der Instantkaffee<br />
individuell dosieren lässt, entscheidet<br />
sich Nestlé gegen die Würfel- und für die<br />
Pulverform. <strong>Wie</strong> die Innovation heißen soll,<br />
steht sofort fest: Nescafé.<br />
AM 1. APRIL 1938 gibt es den Instantkaffee,<br />
verpackt in einer braunen Dose, erstmals in<br />
den Schweizer Lebensmittelläden zu kaufen.<br />
Werbung macht Nestlé zunächst nicht, denn<br />
die Fertigung ist noch nicht ausgereift, und<br />
die Produktionszahlen sind entsprechend gering.<br />
Schnell folgen Werke in Frankreich,<br />
Groß britannien und den USA.<br />
Zum <strong>Durchbruch</strong> verhilft Nescafé der<br />
Kriegseintritt der USA. Die amerikanische<br />
Regierung kauft den Instantkaffee in rauen<br />
Mengen; der Jahresumsatz schießt zwischen<br />
1938 und 1945 von 100 auf 225 Mio. $<br />
hoch. Im Gepäck der GI verbreitet sich das<br />
Kaffeepulver in Europa und in Japan; die<br />
Deutschen bekommen Nescafé auch in<br />
Carepaketen aus den USA geschickt. Trotz<br />
der Beliebtheit des Originals ist die Konkurrenz<br />
stark: Amerikanische Hersteller kopieren<br />
Nescafé, ein Patentschutz lässt sich in<br />
Kriegszeiten nicht durchsetzen.<br />
1950 bringt Nestlé eine entkoffeinierte<br />
Version auf den Markt. Drei Jahre später<br />
entwickeln die Schweizer Kaffeeforscher ein<br />
Verfahren, das den Aromaschutz durch Kohlenhydrate<br />
überflüssig macht. 1965 gehen sie<br />
zur Gefriertrocknung über. Dabei wird die<br />
Kaffeemasse schockgefrostet, dann gemahlen,<br />
anschließend wird die enthaltene Flüssigkeit<br />
verdampft.<br />
Weltweit werden heute rund 354 Millionen<br />
Tassen Nescafé pro Tag getrunken, das<br />
sind gut 4100 Tassen pro Sekunde. Heißes<br />
Wasser drauf, umrühren, fertig – diesem<br />
Prinzip folgen mittlerweile zig Nescafé-<br />
Varianten, darunter Espresso, Cappuccino,<br />
Milchkaffee und Eiskaffee. Trotz der vielen<br />
Nachahmer: Die Marke ist mit dem Produkt<br />
verschmolzen, der Name Nescafé gilt global<br />
als Synonym für löslichen Kaffee. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: www.stills-online.de ; Wolfgang Deuter; Nescafé Deutschland AG (3)
30<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
GESUNDER AUFTRITT<br />
Nicht der Fuß hat sich dem Schuh anzupassen, sondern der Schuh der Fußform:<br />
Karl Birkenstock bringt 1964 eine komplett neuartige Sandale auf den Markt<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Die erste Sandale hätte ihre Erfinder<br />
fast in den Ruin getrieben. „Ausgehöhlte<br />
Baumstämme sind das!“, motzen<br />
die Schuhhändler, als Karl Birkenstock<br />
und sein Vater Konrad auf einer Fachmesse<br />
ihre Weltneuheit präsentieren. Rund und<br />
flach ist die und verstößt damit 1964 gegen<br />
jeden Modekodex. Musterpaare kommen mit<br />
wütenden Briefen zurück, der Handel storniert<br />
aus Protest auch die Bestellungen für<br />
Birkenstock-Schuheinlagen, Verkaufsvertreter<br />
kündigen, innerhalb von zwei Wochen ist<br />
das Familienunternehmen so gut wie pleite.<br />
Dabei hat Karl Birkenstock es doch nur<br />
gut gemeint mit allen, die in ihren engen<br />
Schuhen nicht mehr gehen und stehen können.<br />
Tag für Tag verbringt er im firmeneigenen<br />
Geschäft in Bad Honnef und verkauft<br />
ein Kork-Plastik-Fußbett, das sein Vater einst<br />
für „naturgewolltes Gehen“ entwickelt hat.<br />
So recht überzeugt ist der junge Birkenstock<br />
nicht von dem Markenartikel aus dem<br />
eigenen Haus. Ständig klagen Kunden, sie<br />
könnten auch mit Einlagen kaum mehr laufen;<br />
eine Krankenschwester erzählt sogar, sie<br />
müsse ihren Beruf aufgeben.<br />
enable 02/2009<br />
Karl Birkenstock hat einen Geistesblitz:<br />
Wenn der Schuh schuld ist, muss sich der<br />
Schuh eben der Einlage anpassen. Aus einer<br />
Kork-Latex-Mischung stellt er eine Sohle her,<br />
geformt wie ein gesunder Fuß, mit viel Platz<br />
für die Bewegungen der Zehen, das fördert<br />
die Durchblutung. Soweit kein großer Unterschied<br />
zum alten Birkenstock-Fußbett. Revolutionär<br />
aber die Form: Damit der Fuß nicht<br />
seitlich abrutscht und der Träger ein sicheres<br />
Gehgefühl bekommt, zieht Birkenstock den<br />
Rand der Sohle leicht in die Höhe.<br />
GESUND? JA. Aber das Ding sieht so klobig<br />
aus, dass es selbst den Erfinder graust. Unmodischer<br />
geht’s nicht. Wer das kauft, muss<br />
es nötig haben. Birkenstock versteht die<br />
Gymnastiksandale mit Zehenriemen als<br />
Zusatzangebot für kranke Kunden. In den<br />
Schuhhandel bringen wollen die Birkenstocks<br />
ihre Neuheit trotzdem. Gefertigt wird<br />
sie in zwei Weiten, in einer für normale, einer<br />
für besonders schmale Füße. Als sich die<br />
Händler sperren und der Firma das Aus<br />
droht, wirbt Karl Birkenstock bei denen, die<br />
sich beruflich um die Gesundheit kümmern:<br />
Er lässt eine Anzeige inklusive Bestellcoupon<br />
in eine Ärztezeitung setzen. Nur vier Wochen<br />
später stapeln sich Tausende von Dankesschreiben.<br />
Das ist der <strong>Durchbruch</strong>.<br />
Außerhalb von Arztpraxen und Krankenhäusern<br />
gelten Birkenstocks jedoch als No-<br />
Go. Bis Margot Fraser, junge Amerikanerin<br />
auf Deutschlandbesuch, einen Koffer voll<br />
Sandalen mit nach Hause nimmt und in den<br />
USA einen Vertrieb startet. Dort rebelliert<br />
gerade die Flowerpower-Jugend gegen bürgerliche<br />
Spießigkeit, die Treter aus Europa<br />
passen perfekt in ihr Weltbild. Auf dem<br />
Woodstock-Festival werden die „Birks“<br />
endgültig zum Kultschuh der Hippies. Bald<br />
darauf auch in Deutschland.<br />
Heute sind Birkenstocks in 80 Ländern<br />
auf dem Markt. In 250 Modellen gibt es sie –<br />
mit Zehensteg, mit Riemen, als Clogs und<br />
sogar als geschlossenen Schuh. In den USA<br />
entwickelte sich die Sandale vom Schuh der<br />
liberalen Weltverbesserer und College-<br />
Studenten zum Accessoire vieler Hollywood-<br />
Promis. In ihrem Heimatland dagegen klebt<br />
ein hartnäckiges Öko-Image an ihr, auch die<br />
Designberatung durch Topmodel Heidi Klum<br />
verhalf nicht zum Trendschuhstatus. Das<br />
Unternehmen stört das nicht, es definiert sich<br />
über den Ursprung der Sandale, und der ist<br />
schließlich ein Gesundheitsschuh. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: Birkenstock Orthopädie GmbH & Co. KG
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
ZEIT, DASS SICH WAS DREHT<br />
Oscar Troplowitz steckte den Lippenstift in eine feste Hülse. Und erfand dann<br />
den Namen, der heute in ganz Europa für Lippenpflege steht: Labello<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Lippenstifte waren anfangs eine eher<br />
schmierige Sache. Von Seiden- oder<br />
Pergamentpapier umhüllt, bröckelten<br />
und schmolzen sie in den Handtaschen ihrer<br />
Benutzerinnen. Umständlich waren sie<br />
außerdem. Erst musste die Dame den Stift<br />
vorsichtig aus der dünnen Hülle pulen, danach<br />
ihn wieder sorgsam einwickeln, außerdem<br />
ständig das Papier abschneiden.<br />
ZU UMSTÄNDLICH, findet der Hamburger<br />
Unternehmer Oscar Troplowitz. Den Mix<br />
aus Wachs und Wollfett will er weiter in Stiftform<br />
anbieten, aber das mit dem Papier will<br />
er radikal ändern.<br />
Troplowitz weiß, was Frauen wünschen.<br />
Ob Haarwasser, Zahncreme, Pflaster oder<br />
Puder – egal was der gelernte Apotheker entwickelt,<br />
die Kunden kaufen es. Sein Pharmazeutiklabor,<br />
das er 1890 von Paul Carl Beiersdorf<br />
gekauft hat, ist innerhalb weniger Jahre<br />
zu einer modernen Fabrik gewachsen. Beiersdorf<br />
war ein Erfinder, der nur auf Ärzte hörte<br />
und allein auf die Wirkung seiner Produkte<br />
setzte. Troplowitz dagegen ist ein Unterneh-<br />
enable 12/2008<br />
mer mit Fantasie, der ein Gefühl für überzeugende<br />
Werbung hat und ein sicheres Gespür<br />
dafür, was bei den Kunden ankommt.<br />
Zum Beispiel eine Zinnhülse für Lippenstifte,<br />
in der weiße Paste mit dem Finger immer<br />
weiter nach oben geschoben werden<br />
kann. Viel besser, urteilen die Käuferinnen,<br />
als der Stift 1907 zum ersten Mal als „Beiersdorfs<br />
Weiße Lippenpomade Nr. 1331 in<br />
Metall-Schiebedosen“ in den Regalen der<br />
Apotheken liegt.<br />
Ein Verkaufsschlager wird das neue Produkt<br />
jedoch nicht. Troplowitz ahnt, warum.<br />
Technik ist nicht genug, ein neuer Name<br />
muss her. Einer, der weniger sperrig ist.<br />
Einer, der angenehm klingt und sich gut aussprechen<br />
lässt. Vor allem aber einer, der den<br />
Zweck des Produkts beschreibt.<br />
Im Lateinischen findet der Apotheker die<br />
Lösung: Lippe heißt labium, schön heißt bellus.<br />
Troplowitz verschmilzt die Wörter und<br />
hat damit einen prägnanten Markennamen<br />
gefunden: Labello. 1909 wird der erste Lippenstift<br />
unter dem neuen Namen verkauft,<br />
dann schnellen die Absatzzahlen rasant nach<br />
oben. Fünf Jahre später gibt es Labellos auch<br />
in Dänemark, Großbritannien, Italien und in<br />
den Niederlanden. Den weltweiten Erfolg<br />
seiner Erfindung erlebt der Unternehmer jedoch<br />
nicht mehr. 1918 stirbt er im Alter von<br />
55 Jahren an einem Gehirnschlag.<br />
Ende der 30er-Jahre erscheint eine rote<br />
Version, „Pflege – keine Schminke!“ betonen<br />
die Werbeplakate. Die Zink- wird durch eine<br />
Aluminiumhülle ersetzt. Allmählich etabliert<br />
sich der Labello auch als Kosmetikprodukt<br />
für Männer, die Werbung zeigt kussbereite<br />
Paare. In den 50er-Jahren ersetzt Beiersdorf<br />
die Aluhülse durch Kunststoff. 15 Jahre,<br />
nachdem in den USA der Drehlippenstift<br />
erfunden wurde, bekommt 1964 auch der<br />
Labello eine praktische Drehhülse. Im bekannten<br />
Blau gibt es ihn seit 1973.<br />
Der Markenname steht in ganz Europa als<br />
Synonym für Lippenpflege. „Keiner küsst<br />
besser!“ lautet der aktuelle Slogan für die<br />
18 verschiedenen Labello-Typen, einige davon<br />
in Tuben und in der Dose. Alpin, Anti-<br />
Falten, Sport, For Men, SOS, Gute-Nacht-<br />
Kuss, Milk & Honey, Pearl & Shine, Gloss &<br />
Shine, dazu in Asien Lovely Lips.<br />
2009 kommt noch ein Jubiläums-Labello<br />
dazu. Nicht in Zinnhülse und zum Schieben,<br />
aber wenigstens im klassischen Blau. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: FTD/Henner Flohr (9), Beiersdorf (7)
38<br />
DURCHBRUCH<br />
<strong>Wie</strong> <strong>alles</strong> <strong>anfing</strong><br />
ALLE WETTER<br />
Schirme sind nützlich, wenn sie vor Regen schützen. Schirme sind zu unhandlich,<br />
um sie in die Tasche zu stecken. Zumindest, bis Hans Haupt den Knirps erfand<br />
Text: DANIELA SCHRÖDER<br />
Berlin 1928. Ob Sonne oder Wolken,<br />
die Damen und Herren der höheren<br />
Gesellschaft gehen nie ohne ihn flanieren:<br />
Zum mondänen Look der Goldenen<br />
Zwanziger gehört ein langer Regenschirm.<br />
Für Hans Haupt ist das obligatorische Accessoire<br />
mehr als unpraktisch. Im Krieg am Bein<br />
verletzt, kann der 30-Jährige nur mit Stock<br />
gehen. Den Schirm als Gehstock nutzen, das<br />
dürfen jedoch nur die Damen.<br />
DAS DIKTAT DER MODE macht den Bergbauassessor<br />
zum Erfinder. Nächtelang bastelt<br />
der technisch versierte Beamte an einem zusammenschiebbaren<br />
Schirm. Ergebnis seiner<br />
Tüfteleien ist ein Teleskopgestell, das sich<br />
ruck, zuck kleinmachen lässt. „Revolutionär,<br />
dieser Knirps“, meint Haupt und meldet<br />
seine Erfindung sofort zum Patent an.<br />
Auch die Modebranche findet den kleinen<br />
Taschenschirm prima, doch die deutschen<br />
Schirmfabrikanten sind skeptisch. Wegen der<br />
Weltwirtschaftskrise schrumpfen die Exportzahlen.<br />
Auch für Deutschland gilt: Wer<br />
keine Arbeit hat, kauft keine modischen<br />
Schirme. Regenmäntel sind billiger und<br />
praktischer, greinen die Fabrikanten, außer-<br />
enable 10/2008<br />
dem bringen in den Großstädten Europas<br />
immer mehr Busse und Bahnen die Menschen<br />
trocken ans Ziel.<br />
Allein der Solinger Unternehmer Fritz<br />
Bremshey glaubt an den Erfolg. Haupt liefert<br />
Konstruktionszeichnungen und Muster für<br />
die ersten Schirmgestelle, die Firma Bremshey<br />
entwickelt sie weiter und lässt „Knirps“<br />
als Warenzeichen eintragen. Als 1932 das<br />
erste Knirps-Damenmodell auf den Markt<br />
kommt, setzt Bremshey auf unkonventionelle<br />
Werbung. In den Schaufenstern der Fachgeschäfte<br />
stehen Verkäuferinnen versteckt<br />
hinter Wandschirmen. Die Passanten sehen<br />
nur Hände, die vorführen, wie der kleine<br />
Schirm mit wenigen Griffen geöffnet, geschlossen<br />
und wieder in der Tasche verstaut<br />
werden kann. Die aus den USA importierte<br />
Marketingidee sorgt für Menschenmassen<br />
vor den Schirmgeschäften, ganz Deutschland<br />
redet über den Knirps.<br />
Um die neue Marke zu schützen, gründet<br />
Bremshey ein Konsortium. Der Zusammenschluss<br />
der führenden Schirmfabrikanten bezieht<br />
Knirps-Gestelle als Halbfabrikate und<br />
bespannt sie mit Stoffen aus der eigenen<br />
Kollektion. So setzt sich der Schirm schnell<br />
durch, und die Modelle der Hersteller bleiben<br />
individuell. Bremsheys Knirpse liegen in<br />
der oberen Preisklasse. Der Damenschirm<br />
kostet 12,50 Reichsmark; dafür schuftet ein<br />
Fabrikarbeiter drei Tage.<br />
Den markantesten Einschnitt in der Geschichte<br />
des kleinen Schirms setzt die Automatiktechnik<br />
mit Druckknopf. Als 1965 eingetragenes<br />
Warenzeichen wird der „rote<br />
Punkt“ zum weltweiten Erkennungsmerkmal<br />
des Original-Knirps. Nylonstoffe machen<br />
Haupts Erfindung leichter und haltbarer. Neben<br />
Armbanduhr und Schmuck etabliert sich<br />
der Knirps als Standardgeschenk bei allen<br />
Anlässen. Ende der 60er ist Knirps die erste<br />
Schirmmarke, die Fernsehspots schaltet. Bald<br />
redet die Nation nicht mehr von Regen-,<br />
sondern von „Knirps-Wetter“.<br />
Trotz Knirps muss Bremshey Anfang der<br />
80er-Jahre Konkurs anmelden, das Unternehmen<br />
hat sich mit einer zu großen Produktpalette<br />
aufgerieben. Heute gehört Knirps zum<br />
österreichischen Unternehmen Doppler. „Das<br />
Aussehen der kleinen Schirme spielt weiterhin<br />
eine entscheidende Rolle, Knirpse gehen<br />
stets mit der Mode“, sagt Produktmanager<br />
Kurt Schröder. Auch an der Technik wird<br />
getüftelt. Immer kleiner und leichter wird<br />
Hans Haupts Erfindung. 16,5 Zentimeter<br />
und 228 Gramm lauten die aktuellen Maße,<br />
kaum größer und schwerer als ein Handy. �<br />
FINANCIAL TIMES DEUT SCHLAND<br />
Collage: FTD/Frank Eberle; Fotos: Knirps (6)