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Polnische und deutsche Erinnerungskultur. Eine ...

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<strong>Polnische</strong> <strong>und</strong> <strong>deutsche</strong> <strong>Erinnerungskultur</strong>.<br />

<strong>Eine</strong> zusammenfassende Analyse der Fallstudien<br />

Michał Łuczewski, Paulina Bednarz-Łuczewska<br />

Nun ist es an der Zeit, die oben dargestellten, notwendigerweise kurz gehaltenen<br />

Fallstudien zusammenzufassen. Nach einiger Überlegung haben wir beschlossen,<br />

eine Analyse des Museums des Warschauer Aufstands in unsere Reflexionen<br />

einzubeziehen. Erstens kann man dieses Museum bei der Untersuchung der polnischen<br />

<strong>Erinnerungskultur</strong> nicht übergehen, denn es scheint, dass es in hohem<br />

Maße für die dynamische Entwicklung polnischer Erinnerungsorte der letzten<br />

Jahre verantwortlich ist (siehe Text von Justyna Gmitrzuk: „Emotionen an Erinnerungsorten.<br />

<strong>Eine</strong> museumswissenschaftliche Perspektive“). Zweitens war das<br />

Museum des Warschauer Aufstands ein wichtiger Bezugspunkt für uns. Es war<br />

Thema der Diskussionen der Seminarteilnehmer <strong>und</strong> prägte insbesondere bei den<br />

<strong>deutsche</strong>n Studenten das Bild polnischer <strong>Erinnerungskultur</strong>. Daher reicht es für<br />

die Vorbereitung einer kurzen Präsentation des Museums aus, auf die in diesem<br />

Werk versammelten Artikel zurückzugreifen. Erstens verfasste Christian Schülke<br />

(„Zeit <strong>und</strong> Erinnerung. Vergleich der Feierlichkeiten zum Warschauer Aufstand<br />

1994 <strong>und</strong> 2004“) einen Artikel über den positiven Kontext <strong>und</strong> die internationale<br />

Dimension der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Warschauer Aufstands, zweitens<br />

schrieben Jutta Wiedmann („<strong>Erinnerungskultur</strong> des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in<br />

Polen <strong>und</strong> Deutschland – warum dieses Projekt?“) <strong>und</strong> Justyna Gmitrzuk („Emotionen<br />

an Erinnerungsorten“) über Ziele <strong>und</strong> Mittel des Museums <strong>und</strong> daraus<br />

folgende Kontroversen. Drittens wurde auch über seine Effektivität in qualitativer<br />

(Texte von Paulina Kitlas <strong>und</strong> Ewa Gruczek) <strong>und</strong> quantitativer Hinsicht geschrieben<br />

(Text von Marten Münzberg, Benedikt Volbert <strong>und</strong> Tim Völkering).<br />

Die fehlenden Informationen können wir auf Gr<strong>und</strong>lage nicht veröffentlichter<br />

Arbeiten von Seminarteilnehmern ergänzen: von Justyna Gmitrzuk („Kunst der<br />

Erinnerung. Neue Praktiken der Kommemoration am Beispiel des Museums des<br />

Warschauer Aufstands <strong>und</strong> begleitender Aktivitäten“, 2008) <strong>und</strong> Marten Münzberg<br />

(„Das Museum des Warschauer Aufstands als Medium der Geschichtspolitik<br />

in Polen“, 2008).<br />

Zu Beginn werden wir sämtliche Fälle schematisch beschreiben, indem wir in<br />

Übereinstimmung mit früheren Festlegungen Folgendes berücksichtigen: (a) den<br />

Kontext (positiv oder negativ, günstig oder ungünstig); (b) die Handlungen der<br />

Akteure (top down oder bottom up); (c) die dargestellten Identitäten; (d) die<br />

151


propagierten Ziele; (e) die verwendeten Mittel <strong>und</strong> schließlich (f) die Effektivität<br />

des Erinnerungsortes.<br />

Lapidarium.<br />

Ehemaliger<br />

evangelischer<br />

Friedhof<br />

(Warschau)<br />

Kontext negativ<br />

(anfänglicher<br />

Widerstand der<br />

Bauinvestoren, der<br />

Einwohner <strong>und</strong> der<br />

lokalen Behörden)<br />

Akteure Bottom-up<br />

(Verein Moja<br />

Białołęka � lokale<br />

Behörden)<br />

Identitäten Deutsche Siedler<br />

W = gute Hausherren,<br />

deren<br />

Gräber man in<br />

Ehren halten sollte<br />

Ziele Gedenken an<br />

die <strong>deutsche</strong>n<br />

Siedler<br />

Stärkung der<br />

Identifizierung mit<br />

dem Stadtteil<br />

Mittel traditionell:<br />

Volksfest<br />

(Picknick),<br />

Lapidarium<br />

Effektivität Objekt wird<br />

realisiert<br />

Tabelle 3: EK <strong>und</strong> GP in Polen<br />

152<br />

Museum der<br />

Erinnerung an den<br />

Kommunismus<br />

(Warschau)<br />

positiv<br />

(Unterstützung der<br />

Stadtväter <strong>und</strong><br />

Autoritäten)<br />

Bottom-up<br />

(Verein SocLand<br />

� Stadtbehörden)<br />

Polen<br />

Europäer<br />

Opfer des Kommunismus<br />

Opposition vs.<br />

Kommunismus<br />

WUNC<br />

W = Kampf<br />

„Typischer Kommunist“<br />

(nicht-W)<br />

Aufzeigen der<br />

gemeinsamen<br />

Erfahrung des<br />

Kommunismus<br />

Aufzeigen der<br />

Rolle Polens im<br />

Kampf gegen den<br />

Kommunismus<br />

traditionell:<br />

Sonderausstellungen<br />

Objekt bleibt auf<br />

der Ebene von<br />

Plänen<br />

Europäisches<br />

Solidarność-<br />

Zentrum<br />

(Danzig)<br />

positiv<br />

(trotz ambivalenter<br />

Urteile der Öffentlichkeit)<br />

Top-down<br />

(Stadt- <strong>und</strong><br />

Woiwodschaftsbehörden<br />

� Kulturministerium,<br />

EU)<br />

Polen<br />

Europäer vs.<br />

Totalitarismen<br />

WUNC<br />

W = Solidarität,<br />

Freiheit<br />

Aufzeigen des<br />

Erbes der<br />

Solidarność<br />

Stärkung der<br />

historischen Erinnerung<br />

traditionell,<br />

innovativ: Sonderausstellungen,<br />

Festivals<br />

Museum der<br />

Geschichte Polens<br />

(Warschau)<br />

positiv<br />

Top-down<br />

(Kulturministerium<br />

� Europäische<br />

Union)<br />

Polen<br />

Christen vs.<br />

Totalitarismen<br />

WUNC<br />

W = Freiheit,<br />

politische Macht<br />

Aufzeigen von<br />

Polen als einer<br />

wichtigen<br />

europäischen<br />

Nation, die nach<br />

Freiheit strebte<br />

traditionell,<br />

innovativ: Sonderausstellungen,<br />

Festivals<br />

Objekt wird gebaut Objekt wird gebaut


Weg des<br />

Jüdischen Erbes<br />

(Białystok)<br />

Platz der<br />

Ghetto-Helden<br />

(Krakau)<br />

Kontext positiv negativ<br />

(anfänglicher<br />

Widerstand von<br />

Kaufleuten <strong>und</strong><br />

Stadtteilverwaltung)<br />

Akteure Bottom-up<br />

(Unterstützung der<br />

Behörden der<br />

Stadt, der Woiwodschaft<br />

<strong>und</strong> des<br />

Staates)<br />

Identitäten Juden vs. Deutsche<br />

WUN<br />

W = Kultur- <strong>und</strong><br />

Kunstschaffende,<br />

Wissenschaftler,<br />

Opfer<br />

Ziele Gedenken an die<br />

jahrh<strong>und</strong>ertelange<br />

Tradition der Juden<br />

Verständigung<br />

zwischen Polen<br />

<strong>und</strong> Juden<br />

Mittel traditionell:<br />

Touristenweg<br />

Effektivität +<br />

(Projekt von lokaler<br />

Bedeutung)<br />

Tabelle 4: EK <strong>und</strong> GP in Polen<br />

Top-down<br />

(Stadtbehörden �<br />

Stadtteilverwaltung<br />

<strong>und</strong> Einwohner)<br />

Jüdische Einwohner<br />

des Krakauer<br />

Ghettos<br />

vs. Nationalsozialismus<br />

WUNC<br />

W = Opfer<br />

Gedenken an die<br />

Einwohner des<br />

Ghettos<br />

Podgórze zu einem<br />

Touristenziel<br />

machen<br />

innovativ:<br />

künstlerische<br />

Installation<br />

++<br />

(über zehntausend<br />

Touristen)<br />

Zentrum der<br />

Gedanken<br />

Johannes Paul II.<br />

(Warschau)<br />

Zentrum KARTA<br />

(Warschau)<br />

positiv positiv<br />

(jedoch vor 1989<br />

illegale Oppositionszeitung<br />

„Karta“, bekämpft<br />

von den<br />

Machthabern)<br />

Top-down<br />

(Stadtbehörden �<br />

Studenten <strong>und</strong><br />

Einwohner von<br />

Warschau)<br />

Generation JP2<br />

Johannes Paul II.<br />

Polen<br />

Europäer vs. Kultur<br />

des Todes<br />

WUNC<br />

W = Religiosität<br />

Präsentation des<br />

Erbes von Johannes<br />

Paul II., Schaffung<br />

der Generation<br />

JP2<br />

Vertiefung der<br />

Religiosität junger<br />

Menschen<br />

innovativ:<br />

Multimedia,<br />

Konzerte,<br />

Avantgardekunst,<br />

wissenschaftliche<br />

Forschung<br />

++<br />

(über zehntausend<br />

Teilnehmer)<br />

Bottom-up<br />

(Unterstützung<br />

durch Stadtbehörden<br />

<strong>und</strong> ausländische<br />

Stiftungen)<br />

Opfer von Totalitarismen<br />

Europäer vs.<br />

Kommunismus <strong>und</strong><br />

Nationalsozialismus<br />

WUNC<br />

W = Opfer,<br />

Opposition<br />

Dokumentation der<br />

Vergangenheit<br />

Verständigung<br />

zwischen den<br />

Völkern<br />

Traditionell,<br />

innovativ:<br />

internationale<br />

Projekte, Bildung,<br />

Datenbanken,<br />

Internetportale<br />

++<br />

(über zehntausend<br />

Teilnehmer)<br />

153


154<br />

Museum des<br />

Warschauer<br />

Aufstands<br />

(Warschau)<br />

Staatliches<br />

Museum<br />

Auschwitz-<br />

Birkenau<br />

(Oświęcim)<br />

Kontext positiv positiv<br />

Akteure Top-down<br />

(Stadtbehörden,<br />

aber zuvor<br />

Bottom-up-<br />

Versuche)<br />

Identitäten Warschauer<br />

Aufständische,<br />

Warschauer,<br />

Polen, Europäer vs.<br />

Totalitarismus<br />

WUNC<br />

W = Helden,<br />

Freiheit, Demokratie,Zivilgesellschaft<br />

Ziele Gedenken an die<br />

Aufständischen<br />

<strong>und</strong> den Aufstand,<br />

Leiden der Polen,<br />

Europäisierung,<br />

Kampf gegen zwei<br />

Totalitarismen<br />

Mittel innovativ:<br />

Multimedia, Kunst,<br />

Personalisierung,<br />

Einwirkung auf<br />

alle Sinne<br />

Effektivität ++++<br />

(über zwei Millionen<br />

Besucher seit<br />

Eröffnung)<br />

Tabelle 5: EK <strong>und</strong> GP in Polen<br />

Top-down<br />

(kommunistischer<br />

Staat, Unterstützung<br />

durch ehem.<br />

Häftlinge <strong>und</strong> die<br />

Bevölkerung)<br />

Polen, Juden<br />

Menschen vs.<br />

Nationalsozialismus<br />

WUN<br />

W = Opfer<br />

Aufzeigen, wie die<br />

„Todesfabrik“<br />

funktionierte<br />

der Opfer des<br />

Nationalsozialismus<br />

gedenken<br />

„Nie wieder“<br />

traditionell:<br />

Ausstellung,<br />

wissenschaftliche<br />

Forschung<br />

+++++<br />

(ca. eine Million<br />

Besucher jährlich)


Europäische Holocaustgedenkstätte<br />

(Landsberg)<br />

Kontext positiv (aber nach 1945<br />

starker Widerstand der<br />

Bevölkerung <strong>und</strong> der<br />

Politiker)<br />

Akteure Bottom-up<br />

(Verein „Landsberg im<br />

20. Jhd.“ � Stadt- <strong>und</strong><br />

Landesbehörden)<br />

Identitäten Opfer des<br />

Konzentrationslagers vs.<br />

Nationalsozialismus<br />

WUN<br />

W = Opfer<br />

Ziele Gedenken an die Opfer<br />

„Nie wieder“<br />

Konfrontation mit der<br />

Vergangenheit<br />

Mittel traditionell:<br />

Informationstafeln<br />

NS-Dokumentationszentrum<br />

(München)<br />

positiv (aber nach 1945<br />

Widerstand der Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> der Politiker)<br />

Bottom-up<br />

(Initiativkreis � Stadt-<br />

<strong>und</strong> B<strong>und</strong>esbehörden)<br />

Stadtbewohner in der<br />

NS-Zeit vs. Nationalsozialismus<br />

Nicht-W<br />

(„Hauptstadt der<br />

Verdrängung“)<br />

Verteidigung der<br />

Menschenrechte<br />

„Nie wieder“<br />

Entwicklung eines<br />

kritischen Bewusstseins<br />

gegenüber der Geschichte<br />

traditionell <strong>und</strong> innovativ:<br />

Dokumentation, Bildung<br />

Sichtbares Zeichen<br />

(Berlin)<br />

negativ (Widerstand<br />

Polens <strong>und</strong> anfängliche<br />

Opposition der SPD)<br />

Bottom-up<br />

(B<strong>und</strong> der Vertriebenen �<br />

B<strong>und</strong>esbehörden)<br />

Deutsche vs.<br />

Vertreibungen,<br />

Nationalsozialismus<br />

WUN<br />

W = Opfer<br />

Gedenken an die Opfer<br />

Aufzeigen des Leids (der<br />

<strong>deutsche</strong>n Vertriebenen)<br />

traditionell <strong>und</strong> innovativ:<br />

Erwecken von<br />

Kontroversen,<br />

Ausstellungen,<br />

Dokumentation<br />

Effektivität Objekt wird ausgebaut Objekt wird gebaut Objekt wird realisiert<br />

(sehr großes Interesse)<br />

Tabelle 6: EK <strong>und</strong> GP in Deutschland<br />

155


156<br />

Villa ten Hompel<br />

(Münster)<br />

Stasimuseum<br />

(Berlin)<br />

Museum in der<br />

„R<strong>und</strong>en Ecke“<br />

(Leipzig)<br />

Kontext positiv positiv positiv (Fall der Berliner<br />

Mauer)<br />

Akteure Top-down<br />

(GAL � Stadt- <strong>und</strong><br />

Landesbehörden)<br />

Identitäten Deutsche Polizei <strong>und</strong><br />

Beamte vor 1945<br />

(Nicht-W) <strong>und</strong> nach 1945<br />

(W) vs. NS-Opfer<br />

W = Hilfe für die NS-<br />

Opfer (WUC)<br />

Ziele Aufzeigen der Tätigkeit<br />

der Bürokratie im Nationalsozialismus<br />

„Nie wieder“ Entwicklung<br />

eines kritischen<br />

Bewusstseins gegenüber<br />

der Geschichte<br />

Mittel traditionell:<br />

Ausstellungen, Bildung<br />

Effektivität +++<br />

(mehrere zehntausend<br />

Besucher)<br />

Tabelle 7: EK <strong>und</strong> GP in Deutschland<br />

Bottom-up<br />

(Verein ASTAK)<br />

Stasi vs. Stasiopfer<br />

(Nicht-W) vs.<br />

Kommunismus<br />

W = Opfer, Opposition<br />

gegen den Kommunismus<br />

(WUC)<br />

Verteidigung der<br />

Menschenrechte<br />

Aufzeigen der<br />

verbrecherischen Natur<br />

des Kommunismus<br />

traditionell, innovativ:<br />

Ausstellungen, Teilnahme<br />

ehem. Häftlinge<br />

+++<br />

(mehrere zehntausend<br />

Besucher)<br />

Bottom-up<br />

(Bürgerkomitee � Stadt-<br />

<strong>und</strong> Landesbehörden)<br />

Stasi-Mitarbeiter<br />

(Nicht-W) vs. Einwohner<br />

von Leipzig <strong>und</strong> Sachsen<br />

(WUNC)<br />

Aufzeigen der totalitären<br />

Natur des Kommunismus<br />

Verteidigung der<br />

Menschenrechte<br />

traditionell:<br />

Ausstellungen, Bildung,<br />

internationale Projekte<br />

++++<br />

(mehrere h<strong>und</strong>erttausend<br />

Besucher)


Kreuzberg Museum<br />

(Berlin)<br />

Zug der<br />

Erinnerung<br />

Gedenkstätte<br />

Buchenwald<br />

Kontext positiv positiv positiv positiv<br />

Akteure Top-down<br />

(Bezirksbehörden<br />

� Einwohner des<br />

Bezirks)<br />

Identitäten Einwohner von<br />

Kreuzberg<br />

N<br />

Ziele Präsentation der<br />

Einwohner von<br />

Kreuzberg in<br />

gutem Licht<br />

Integration der<br />

Einwohner<br />

Mittel traditionell,<br />

innovativ:<br />

Ausstellungen,<br />

Engagement der<br />

Einwohner<br />

Effektivität ++++<br />

(mehrere h<strong>und</strong>erttausend<br />

Besucher)<br />

Tabelle 8: EK <strong>und</strong> GP in Deutschland<br />

Bottom-up<br />

(Verein „Zug der<br />

Erinnerung e.<br />

V.“� B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong><br />

Landesbehörden<br />

NS-Opfer,<br />

Juden vs.<br />

Nationalsozialismus<br />

WUN<br />

W = Opfer, Kinder<br />

Gedenken an die<br />

Opfer<br />

„Nie wieder“<br />

Verteidigung der<br />

Menschenrechte<br />

innovative Art des<br />

Gedenkens<br />

++++<br />

(mehrere h<strong>und</strong>erttausend<br />

Besucher)<br />

Top-down<br />

(B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong><br />

Landes-behörden)<br />

NS-Opfer,<br />

Opfer des<br />

Kommunismus vs.<br />

Totalitarismen<br />

WUNC<br />

W = Opfer<br />

Verteidigung der<br />

Menschenrechte<br />

„Nie wieder“<br />

Entwicklung eines<br />

kritischen Bewusstseinsgegenüber<br />

der Geschichte<br />

traditionell,<br />

innovativ:<br />

Dokumentation,<br />

Bildung<br />

++++<br />

(mehrere h<strong>und</strong>erttausend<br />

Besucher)<br />

Denkmal für<br />

die ermordeten<br />

Juden Europas<br />

(Berlin)<br />

Bottom-up<br />

(Förderkreis �<br />

Berliner <strong>und</strong><br />

B<strong>und</strong>esbehörden)<br />

Europäische Juden<br />

vs. Nationalsozialismus<br />

WUN<br />

W = Opfer<br />

Abrechnung mit<br />

der Vergangenheit<br />

des <strong>deutsche</strong>n<br />

Staates<br />

„Nie wieder“<br />

Entwicklung eines<br />

kritischen Bewusstseinsgegenüber<br />

der Geschichte<br />

innovatives<br />

Denkmal<br />

+++++<br />

(über eine Million<br />

Besucher)<br />

Welche Schlussfolgerungen können wir auf Gr<strong>und</strong>lage einer solchen Zusammenstellung<br />

ziehen?<br />

157


1. Politischer <strong>und</strong> kultureller Kontext<br />

Bei der überwiegenden Mehrheit der Fälle war der Kontext der Entstehung von<br />

Gedenkstätten positiv. „Solidarność“, die ersten demokratischen Wahlen in Polen<br />

im Juni 1989 <strong>und</strong> der Fall der Berliner Mauer haben zu einer Demokratisierung<br />

Polens <strong>und</strong> der Wiedervereinigung Deutschlands geführt. Heute sind beide<br />

Länder demokratisch <strong>und</strong> in einer Demokratie sind die Eliten – per definitionem<br />

– geteilt. Das bedeutet, dass fast jedes Projekt mit der Unterstützung eines Teils<br />

der Politiker sowie meinungsbildender Kreise rechnen kann. Die Unterstützung<br />

einer elitären Gruppe reicht jedoch nicht aus, um ein Projekt zum Gedenken an<br />

vergangene Ereignisse zu realisieren. Wie es scheint, braucht man hier einen<br />

breiteren Konsens, der unterschiedliche ideelle Strömungen erfasst.<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage der Fallstudien können wir die Hypothese aufstellen, dass<br />

der Kontext für das Gedenken an die Vergangenheit in den letzten Jahrzehnten in<br />

beiden Ländern immer positiver wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann<br />

man auf dem Gelände der ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz (1945)<br />

<strong>und</strong> Buchenwald (1958) der Naziverbrechen zu gedenken. Natürlich sollte man<br />

unterstreichen, dass – wie Benedikt Volbert schreibt – das Ziel in der DDR<br />

„nicht die Abrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit war, sondern<br />

eher eine Verpflichtung zum 'Antifaschismus'„. Ein günstigerer Kontext<br />

entstand in Westdeutschland erst in den 1980er Jahren (Europäische Holocaustgedenkstätte),<br />

insbesondere nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren<br />

(Villa ten Hompel), <strong>und</strong> erreichte seinen Höhepunkt mit dem Bau des Denkmals<br />

für die ermordeten Juden Europas im Zentrum Berlins (siehe Artikel von Margareta<br />

von Oswald). Nichts deutet jedoch darauf hin, dass dieser Prozess enden<br />

sollte, wovon der Bau des NS-Dokumentationszentrums in München sowie der<br />

Ausbau der Holocaustgedenkstätte in Landsberg zeugen.<br />

<strong>Eine</strong> ähnliche Dynamik beobachten wir auch in Polen, doch ist sie im Verhältnis<br />

zur <strong>deutsche</strong>n um zehn Jahre verspätet. Das Jahr 1989 setzte eine Welle<br />

von Projekten in Gang, die der Vergangenheit gedachten (Zentrum KARTA), im<br />

Gr<strong>und</strong>e genommen aber sind die meisten Projekte erst Anfang des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

initiiert worden, mit dem Museum des Warschauer Aufstands an der Spitze<br />

(2004), wobei viele wichtige Projekte sich entweder noch im Bau befinden (Europäisches<br />

Solidarność-Zentrum) oder noch in der Planungsphase sind (Museum<br />

der Erinnerung an den Kommunismus). Auf die Entwicklung der polnischen<br />

Erinnerungspolitik musste man also 20 Jahre warten, <strong>und</strong> man wird noch die<br />

nächsten Jahre warten müssen.<br />

Welche Projekte stießen auf einen ungünstigen gesellschaftlichen Kontext? In<br />

Polen war es das Denkmal der Ghettohelden in Krakau sowie das Lapidarium<br />

158


auf dem Gelände des ehemaligen evangelischen Friedhofs in Białołęka (Warschau).<br />

Sie verbindet der Umstand, dass beide Projekte Nicht-Polen gedenken<br />

sollten, d. h. Juden <strong>und</strong> Deutschen. Im ersten Fall wurde der Widerstand der<br />

Einwohner <strong>und</strong> der Stadtteilverwaltung durch befürchteten Arbeitsplatzverlust<br />

<strong>und</strong> die Verwandlung des ganzen Stadtteils in ein Märtyrerdenkmal motiviert, im<br />

zweiten durch die Gleichsetzung der in Białołęka lebenden Protestanten mit den<br />

Nazis sowie die Verzögerung der Arbeit von Bauinvestoren. Das einzige Beispiel<br />

aus Deutschland, bei dem der Kontext negativ war, war das „Sichtbare<br />

Zeichen“. Der Unwille <strong>deutsche</strong>r Opfer zu gedenken war dadurch motiviert, dass<br />

es sich eben um <strong>deutsche</strong> Opfer handelte.<br />

Man kann also die Hypothese aufstellen, dass in Polen als kontroverse Projekte<br />

solche gelten, die anderer Gruppen als der Polen gedenken, in Deutschland<br />

dagegen solche, die der Deutschen selbst gedenken. Man sollte jedoch anmerken,<br />

dass das Projekt des Weges des Jüdischen Erbes, das der jahrh<strong>und</strong>ertelangen<br />

Geschichte der Juden gewidmet ist, auf einen positiven gesellschaftlichen Kontext<br />

stieß. Wir können also vermuten, dass in Polen ebenfalls der Trend zum<br />

Gedenken an Gruppen von Fremden angefangen hat.<br />

Das Verhältnis zum Gedenken an die Juden in Deutschland <strong>und</strong> Polen zeigt<br />

gewisse zusätzliche Unterschiede zwischen beiden <strong>Erinnerungskultur</strong>en. Erstens<br />

hat das Gedenken an die Juden eine andere Bedeutung für beide Völker. Die<br />

Deutschen, die sich als Täter fühlen, gedenken ihrer Opfer. Die Polen, die Opfer<br />

von Hitlers Politik waren, gedenken anderer Opfer. In diesem Sinne ist<br />

Auschwitz das Museum der gemeinsamen – polnisch-jüdischen – Martyrologie.<br />

Zweitens wurde in Deutschland das Klima für das Gedenken an die Juden seit<br />

den 1980er Jahren immer günstiger, in Polen dagegen ist dies eine Frage des<br />

letzten Jahrzehnts. Heute scheint es, dass in Deutschland ein ähnlicher Widerstand<br />

wie der gegen den Bau des Krakauer Denkmals der Ghettohelden nicht<br />

aufkommen könnte. Das verbindet sich mit einem bestimmten Umstand, <strong>und</strong><br />

zwar damit, dass die Deutschen die Rolle der Täter des Holocaust auf sich genommen<br />

haben. Wenn sich der Täter dem Gedenken an das Opfer widersetzen<br />

würde, würde er sich automatisch dem Vorwurf des Antisemitismus aussetzen<br />

<strong>und</strong> der Suggestion, dass er weiterhin Täter bleibe (vergleiche die Anschuldigungen<br />

gegen die Deutsche Bahn, die in erster Reaktion den Zug der Erinnerung<br />

nicht unterstützt hatte; Text von Henriette Ullmann). Den Polen, die selbst Opfer<br />

gewesen sind, fällt es leichter, sich von solchen Vorwürfen zu distanzieren. Drittens<br />

war das Aufstellen des Denkmals auf dem Platz der Ghettohelden in Krakau<br />

u. a. durch den Willen motiviert, aus Podgórze einen weiteren für Touristen<br />

attraktiven Stadtteil zu machen, <strong>und</strong> somit den Erfolg von Kazimierz zu wiederholen,<br />

dem ehemaligen, nach dem Krieg heruntergekommenen jüdischen Viertel,<br />

das in den letzten Jahren dank der Touristen seinen Glanz wiedergewann. Ein<br />

159


ähnliches touristisches Motiv schwebte den Autoren des Weges des Jüdischen<br />

Erbes in Białystok vor. In keinem der besprochenen <strong>deutsche</strong>n Fälle war ein<br />

solches Argument aufgetaucht. Es scheint also, dass die Deutschen nichtinstrumentalisierte<br />

Motive des Gedenkens an die Juden in den Vordergr<strong>und</strong> stellen<br />

wollen (obwohl, wie Margareta von Oswald bemerkt, sich das Denkmal für die<br />

ermordeten Juden Europas im touristischen Zentrum Berlins befindet).<br />

Wir sollten noch betonen, dass sowohl in Polen als auch in Deutschland die<br />

Kontroversen um die Gedenkstätten für Juden immer öfter nicht die Tatsache<br />

betreffen, dass Juden gedacht wird, sondern die Kosten dieses Gedenkens – das<br />

Schließen eines gut gedeihenden Marktes (Krakau), sowie, im <strong>deutsche</strong>n Fall,<br />

eine große finanzielle Belastung für den städtischen Haushalt (NS-Dokumentationszentrum,<br />

Denkmal für die ermordeten Juden Europas). Anders als in Krakau<br />

war es in München <strong>und</strong> Berlin allerdings keine Frage, ob man, sondern wie<br />

man gedenken solle.<br />

Unter den übrigen kontroversen Fällen ist der Fall des Lapidariums interessant,<br />

bei dem die Polen einer Gruppe von Deutschen gedenken, die von den<br />

Einwohnern mit der Zusammenarbeit mit dem Nazi-Regime assoziiert wurden.<br />

In diesem Sinne sind die Kontroversen um das Projekt analog zu den Kontroversen<br />

um das Sichtbare Zeichen. Nur dass im ersten Fall die Nachkommen der<br />

Opfer vermutlichen Tätern gedenken, <strong>und</strong> im zweiten – die Nachkommen der<br />

Täter selbst. Die Realisierung dieser Projekte ist möglich, da der Zusammenhang<br />

zwischen den Protestanten aus Białołęka <strong>und</strong> den <strong>deutsche</strong>n Vertriebenen gedämpft<br />

wurde.<br />

Der Vergleich mit dem Lapidarium zeigt, dass es unter den beschriebenen<br />

<strong>deutsche</strong>n Fällen kein einziges Projekt gibt, das der Polen gedenken würde. Das<br />

bedeutet, dass in Polen Projekte realisiert werden, die der Deutschen gedenken,<br />

die die Versursacher des Zweiten Weltkriegs waren, <strong>und</strong> dass es in Deutschland<br />

keine Projekte zum Gedenken an die Polen gibt, die seine Opfer waren. Diesen<br />

Umstand kann man entweder mit einem negativen Kontext für diese Art von<br />

Initiativen erklären oder mit dem Fehlen solcher Initiativen selbst. Wir können<br />

dieses Phänomen nicht eindeutig erklären, weil wir auf der Gr<strong>und</strong>lage unserer<br />

Untersuchungen nicht feststellen können, welche Institutionen nicht entstanden<br />

sind. So oder so können wir die Hypothese aufstellen, dass in der <strong>deutsche</strong>n<br />

<strong>Erinnerungskultur</strong> die Juden als Opfer dargestellt werden, im weiteren Sinti <strong>und</strong><br />

Roma sowie Homosexuelle (siehe Text von Margareta von Oswald), anderer<br />

Gruppen dagegen, darunter der Polen, aber auch der Weißrussen oder Ukrainer,<br />

nicht gedacht wird. Das kann man erklären durch die in der <strong>deutsche</strong>n <strong>Erinnerungskultur</strong><br />

starke Annahme der Außergewöhnlichkeit des Holocaust (siehe<br />

Artikel von Stefan Neumann) sowie der schwachen Präsenz Polens <strong>und</strong> der Polen<br />

(siehe Artikel von Stefan Neumann <strong>und</strong> Anna Pukajło); was zum Beispiel<br />

160


von Roman Herzog zum Ausdruck gebracht wurde, als er den Aufstand im Warschauer<br />

Ghetto (1943) mit dem Warschauer Aufstand (1944) verwechselte (siehe<br />

Text von Christian Schülke „Zeit <strong>und</strong> Erinnerung“).<br />

Man sollte jedoch betonen, dass trotz der anfänglichen Kontroversen sowohl<br />

das Projekt des Gedenkens an das Ghetto im Krakauer Stadtteil Podgórze als<br />

auch das Lapidarium <strong>und</strong> das Sichtbare Zeichen realisiert werden. Ihren Initiatoren<br />

ist es schließlich gelungen, auf politische Entscheidungsträger <strong>und</strong> die Bewohner<br />

Einfluss zu nehmen <strong>und</strong> zu bewirken, dass das Klima für ihre Vorhaben<br />

günstiger wird. Mehr noch: wie Tim Völkering überzeugend dargelegt hat, kann<br />

das Erwecken von Kontroversen auch eine Art sein, auf ein Projekt aufmerksam<br />

zu machen, um Unterstützung dafür aufzubauen.<br />

Zusammenfassend kann man feststellen, dass in beiden Ländern der gesellschaftliche<br />

Kontext noch nie so günstig für die Entwicklung der <strong>Erinnerungskultur</strong><br />

<strong>und</strong> der Geschichtspolitik war wie heute. Doch die Entwicklung der <strong>Erinnerungskultur</strong><br />

<strong>und</strong> der Geschichtspolitik in Deutschland begann 1990, in Polen<br />

dagegen nahm sie erst in den letzten Jahren an Tempo zu. Heute werden Projekte<br />

unterstützt, die noch vor zwanzig Jahren nicht akzeptabel gewesen wären. Sowohl<br />

für Polen als auch für Deutschland begann das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert im Wesentlichen<br />

als ein günstiges Jahrh<strong>und</strong>ert für das Gedenken.<br />

2. Akteure<br />

Welches der beiden Länder fördert die Geschichtspolitik (top-down-Initiativen)<br />

<strong>und</strong> für welches ist die <strong>Erinnerungskultur</strong> charakteristisch (bottom-up-<br />

Initiativen)? Auf der Gr<strong>und</strong>lage unserer Untersuchungen können wir folgende<br />

Hypothesen aufstellen: Erstens präsentieren die Deutschen eher die bottom-up-<br />

Art der Erinnerungsgestaltung. Zweitens haben Gedenkprojekte in Deutschland<br />

eine größere Chance, Unterstützung seitens der Behörden zu erhalten. Allgemein<br />

gesagt führt die <strong>Erinnerungskultur</strong> in Deutschland zur Entwicklung einer Geschichtspolitik,<br />

in Polen dagegen führt die Geschichtspolitik zur Entwicklung der<br />

<strong>Erinnerungskultur</strong>.<br />

Wie soll man diese Unterschiede erklären? Wir möchten auf zwei Faktoren<br />

aufmerksam machen.<br />

Zunächst spielt die Schwäche der polnischen Zivilgesellschaft eine Rolle. In<br />

diesem Kontext ist die Tatsache sehr charakteristisch, dass sogar die Entstehung<br />

des Zentrums der Gedanken Johannes Paul II. nicht von Bürgervereinen initiiert<br />

<strong>und</strong> realisiert worden ist, sondern von Behörden, in diesem Fall von der Warschauer<br />

Stadtverwaltung. Das ist umso überraschender, weil wir nach dem Tod<br />

161


von Johannes Paul II. (2005) in Polen eine gesellschaftliche Mobilisierung unerhörten<br />

Ausmaßes beobachten konnten, die nur mit der Zeit der ersten Solidarność<br />

(1980–1981) vergleichbar war. Die Erfahrung der Trauer nach dem Tod<br />

des Papstes soll die jungen Menschen verb<strong>und</strong>en haben, <strong>und</strong> das auf eine so tiefe<br />

Weise, dass man sogar von der Entstehung der Generation JP2 sprach. Unterdessen<br />

bewirkte die allgemeine Mobilisierung der jungen Menschen nicht eine Entstehung<br />

von Vereinen, die die Gestaltung der <strong>Erinnerungskultur</strong> beeinflussen<br />

könnten. Diese Aufgabe übernahmen die Stadtväter von Warschau. Das führte zu<br />

einer paradoxen Situation: die Generation JP2 hat keine Institution aufgebaut, die<br />

des Erbes des Papstes gedachte; im Gegenteil, es ist eine Institution, die danach<br />

strebt, diese Generation zu erhalten oder sogar zu formen (siehe Artikel von<br />

Mariusz Drozdowski).<br />

Zum zweiten ist da die Schwäche des polnischen Staates. In Polen hängt der<br />

Bau weiterer Gedenkstätten in viel höherem Maße von der Unterstützung der<br />

Europäischen Union ab (Europäisches Solidarność-Zentrum, Museum der Geschichte<br />

Polens, Zentrum KARTA). Mehr noch, manche polnische Unternehmungen<br />

werden auch von <strong>deutsche</strong>n Stiftungen unterstützt (Zentrum KARTA).<br />

Aufgr<strong>und</strong> des geringen finanziellen Engagements der Behörden bei der Entwicklung<br />

der <strong>Erinnerungskultur</strong> ist es wahrscheinlich, dass ein Teil der Erinnerungsprojekte,<br />

die im öffentlichen Raum entstehen, in Polen nicht realisiert werden<br />

wird.<br />

Die Schwäche des polnischen Staates hat die Konsequenz, dass man, um auf<br />

ihn Einfluss zu nehmen, nicht unbedingt auf gesellschaftliche Mobilisierung <strong>und</strong><br />

die Bildung von Bürgervereinen zurückgreifen muss. Wir können die Ziele der<br />

Geschichtspolitik effektiver realisieren, indem wir auf politische Parteien oder<br />

die ausführenden Behörden Einfluss nehmen. Mit anderen Worten: in Polen kann<br />

das von oben kommende Muster der Entstehung von Erinnerungsorten seine<br />

Ursache darin haben, dass man die Etappe der bottom-up-Aktivitäten überspringen<br />

<strong>und</strong> gleich zu top-down-Aktivitäten übergehen kann.<br />

Aus diesem allgemeinen Muster fallen jedoch einige der von uns beschriebenen<br />

Institutionen heraus. Vor allem das Zentrum KARTA sowie das Kommunismus-Museum,<br />

die beide von Bürgervereinen initiiert wurden. Diese Tatsache<br />

können wir damit erklären, dass beide Institutionen von Menschen aufgebaut<br />

werden, die mit der vor 1989 aktiven politischen Opposition verb<strong>und</strong>en sind,<br />

also in der Zeit einer sehr großen gesellschaftlichen Mobilisierung. Es scheint,<br />

dass gerade diese Gruppen die Fähigkeit zur Selbstorganisation beibehalten haben,<br />

die den weiteren Generationen nicht übermittelt wurde. In diesem Sinne<br />

nutzt die polnische Zivilgesellschaft die Vertrauensvorräte, die noch vor 1989<br />

gesammelt wurden <strong>und</strong> nun nach <strong>und</strong> nach verbraucht werden. In dieser Hinsicht<br />

bilden der Weg des Jüdischen Erbes <strong>und</strong> das Lapidarium-Projekt eine Ausnah-<br />

162


me, die jedoch nur lokalen Charakter haben. Wenn man diese beiden Initiativen<br />

betrachtet, können wir vermuten, dass in längerer Perspektive in der polnischen<br />

Gesellschaft der von unten kommende Weg der Weckung der Erinnerung populärer<br />

werden wird.<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> stellt sich die <strong>deutsche</strong> Geschichtspolitik als autarker<br />

dar – sowohl die Zivilgesellschaft als auch der Staat scheinen hier stärker als in<br />

Polen zu sein.<br />

Beginnen wir mit der Stärke der <strong>deutsche</strong>n Zivilgesellschaft. Ein für dieses<br />

Land typischer Weg der Entstehung einer Gedenkstätte nimmt seinen Anfang in<br />

einer von der Basis kommenden Initiativgruppe. Sogar die größten Unternehmungen,<br />

wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, begannen mit<br />

kleinen Bürgerinitiativen. <strong>Eine</strong> Ausnahme bilden die Gedenkstätte Buchenwald,<br />

die Villa ten Hompel <strong>und</strong> das Kreuzberg Museum. Jeder dieser Fälle stellt jedoch<br />

das allgemeine Muster nicht in Frage, sondern führt gewisse Modifizierungen<br />

ein. Im Falle von Buchenwald, das sich nach der Teilung Deutschlands in der<br />

DDR befand, war es nicht möglich, auf einem anderen Wege als top-down eine<br />

Gedenkstätte zu bilden. In einem kommunistischen Staat lagen schließlich alle<br />

Schlüsselentscheidungen, vor allem diejenigen, die die Interpretation der Vergangenheit<br />

betrafen, in den Händen der Machthaber. Außerdem überstieg die<br />

Verwaltung des Konzentrationslagergeländes auch nach 1989 die Möglichkeiten<br />

von Basisinitiativen (das beweist das Beispiel von Landsberg am Lech, siehe<br />

Text von Judith Höhne). Die Einrichtung des Museums in der Villa ten Hompel<br />

wiederum war keine Initiative von Behörden, sondern von linken politischen<br />

Parteien. In diesem Fall können wir also von einem gewissen von unten kommenden<br />

Einfluss der Bevölkerung sprechen, deren Sprecher die in demokratischen<br />

Wahlen gewählten Parteimitglieder sind. Darüber hinaus steht den linken<br />

Parteien aufgr<strong>und</strong> ihrer Verwurzelung in antifaschistischen Bewegungen das<br />

Gedenken an die Opfer näher (siehe Text von Christian Schülke, „NS-<br />

Dokumentationszentrum“). Schließlich, im Falle von Kreuzberg, hatten die lokalen<br />

Behörden beschlossen, ein Museum zur Geschichte des Bezirks zu schaffen,<br />

da der Zustand der Zivilgesellschaft hier sehr schlecht war – die Einwohner<br />

waren nicht integriert <strong>und</strong> der Bezirk litt unter einem schlechten Ruf. Da die<br />

Einwohner des Bezirks nicht die Fähigkeit besaßen, sich selbst zu organisieren,<br />

erwies sich hier ein von oben kommender Eingriff als notwendig. Kurz gesagt: in<br />

Deutschland beschäftigen sich die Behörden mit Erinnerungsprojekten, die über<br />

die Möglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen hinausgehen oder wenn<br />

sie solchen Organisationen Anregungen geben wollen.<br />

Auch sind die Möglichkeiten des <strong>deutsche</strong>n Staates bedeutend größer als die<br />

des polnischen. Die größten Erinnerungsprojekte werden nicht aus europäischen<br />

Geldern finanziert, sondern aus gemeinsamen Geldern von Kommunen, B<strong>und</strong><br />

163


<strong>und</strong> Ländern. Man braucht auch nicht hinzuzufügen, dass wir in den untersuchten<br />

Fällen keine einzige polnische Stiftung gef<strong>und</strong>en haben, die einen Einfluss<br />

auf die <strong>deutsche</strong> <strong>Erinnerungskultur</strong> genommen hätte. Um dieses Bild jedoch ein<br />

wenig zu komplizieren, muss man sagen, dass die <strong>deutsche</strong>n Behörden keine<br />

passiven Ausführenden des Willens von Vereinen sind. Das ist gut am Beispiel<br />

der Privatstiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu sehen, deren Projekt,<br />

nachdem es eine finanzielle Unterstützung seitens des Staates erhalten hatte, eine<br />

tiefgehende Wandlung mitmachte. Mehr noch, die Realisierung (Sichtbares Zeichen)<br />

wurde nicht den Initiatoren übertragen, sondern der B<strong>und</strong>esstiftung<br />

„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Ein ähnlicher Prozess fand im Fall des<br />

Denkmals für die ermordeten Juden Europas statt. Aufgr<strong>und</strong> der großen Möglichkeiten,<br />

die der <strong>deutsche</strong> Staat besitzt, kamen hier Beschuldigungen auf, dass<br />

Bürgerinitiativen in unzulänglichem Maße berücksichtigt worden seien (Fall des<br />

NS-Dokumentationszentrums; siehe dazu Text von Christian Schülke). Auch<br />

stünden die Vereine, die der Vergangenheit gedenken, vor der Perspektive, dass<br />

ihre Projekte übernommen werden. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e wollte das vom ASTAK-<br />

Verein gegründete Stasimuseum in Berlin trotz Ermunterungen <strong>und</strong> Druckausübung<br />

seitens der B<strong>und</strong>esregierung keine Zusammenarbeit mit der B<strong>und</strong>esbeauftragten<br />

für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen<br />

Deutschen Demokratischen Republik (BStU) aufnehmen, die in einer längeren<br />

Zeitperspektive zur Entstehung eines Bildungs- <strong>und</strong> Dokumentationszentrums<br />

führen sollte. Wie Stefan Neumann unterstrich, befürchtete der Verein, dass<br />

„infolge der Zusammenarbeit mit der BStU das inhaltliche Konzept des Dokumentations-<br />

<strong>und</strong> Bildungszentrums durch Geschichtsinterpretationen dominiert<br />

werde, die eine Folge des staatlichen Interesses sind“. Also können in Deutschland<br />

Projekte, die anfänglich bottom-up-Projekte waren, zu top-down-Projekten<br />

werden. Die <strong>Erinnerungskultur</strong> kann verstaatlicht werden.<br />

Die Stärke des <strong>deutsche</strong>n Staates bedeutet auch, dass er verhältnismäßig unabhängig<br />

vom Einfluss von Interessengruppen ist. Um ihn zur Realisierung kontroverser<br />

Projekte zu bewegen, braucht man eine große gesellschaftliche Mobilisierung.<br />

Das zeigt das Beispiel des „Zentrums gegen Vertreibungen“, das die<br />

B<strong>und</strong>esregierung zur endgültigen Entscheidung für den Bau des Sichtbaren Zeichens<br />

veranlasst hat – dank seiner jahrelangen ununterbrochenen Aktivität, dem<br />

Erlangen einer politischen Repräsentation sowie einer geschickten Medienkampagne,<br />

die imstande war, internationales Echo zu erwecken. Anders als in Polen<br />

hätte ein direkter Einfluss auf politische Parteien oder staatlichen Behörden, der<br />

durch keinerlei gesellschaftliche Mobilisierung unterstützt wäre, nicht zu einer<br />

Realisierung des Projekts geführt. Das wäre nur in weniger kontroversen Fällen<br />

kleineren Ausmaßes möglich, wie z. B. bei der Villa ten Hompel.<br />

164


Zusammenfassend kann man sagen, dass in Deutschland der Staat einen günstigen<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Kontext für das Gedenken an die Vergangenheit<br />

schafft. Die Bürger können darauf hoffen, dass ihre Forderungen auf<br />

jeder Ebene auf eine Unterstützung seitens der Behörden stoßen oder dass die<br />

Behörden diesen Forderungen nachgeben werden müssen. Sie wissen auch, dass<br />

sie sich in bestimmten Fällen auf die gesellschaftliche Mobilisierung berufen<br />

müssen. In Polen schafft der Staat keinen solchen Kontext, es gibt seinerseits<br />

keine finanziellen oder politischen Anregungen. Es ist auch wahrscheinlich, dass<br />

er nicht die Ziele von Nichtregierungsorganisationen realisieren wird, die sich,<br />

statt sich auf die gesellschaftliche Mobilisierung berufen zu können, auf direkte<br />

Kontakte zu Politikern berufen müssen. Es scheint, dass im Falle beider Länder<br />

der starke Staat zu einer starken Zivilgesellschaft führt, <strong>und</strong> ein schwacher – zu<br />

einer schwachen Zivilgesellschaft. In Deutschland hätten wir es dann mit einer<br />

gegenseitigen Stärkung der Zivilgesellschaft <strong>und</strong> des Staates zu tun, in Polen mit<br />

deren gegenseitiger Schwächung.<br />

3. Identität<br />

In der polnischen <strong>Erinnerungskultur</strong> werden meistens Polen präsentiert (als aktive<br />

Subjekte); in Deutschland meistens Juden (als passive, unschuldige Opfer)<br />

<strong>und</strong> Deutsche (als aktive Täter).<br />

In beiden Ländern ist eine starke Tendenz zur Europäisierung der Erinnerung<br />

zu beobachten – Europa wird zu einem starken Element im Netz der Identitätsbeziehungen.<br />

In Polen <strong>und</strong> Deutschland setzen sich manche Institutionen die<br />

Darstellung der präsentierten Gruppe im europäischen Kontext zum Ziel. Die<br />

deutlichsten Fälle hierfür sind – in Polen – das Europäische Solidarność-Zentrum<br />

(wo die europäische Dimension bereits im Namen zum Ausdruck kommt), das<br />

Museum der Erinnerung an den Kommunismus (das den polnischen Kommunismus<br />

im europäischen Kontext zeigen will, zugleich aber die Schlüsselrolle der<br />

Polen bei dessen Sturz unterstreicht), das Museum der Geschichte Polens <strong>und</strong><br />

das Museum des Warschauer Aufstands (die Polen als ein wichtiges, um seine<br />

Freiheit kämpfendes europäisches Volk zeigen). In Deutschland sind dies: das<br />

Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die Europäische Holocaustgedenkstätte<br />

(was bereits im Namen zum Ausdruck kommt), der Zug der Erinnerung<br />

(der polnische <strong>und</strong> <strong>deutsche</strong> Städte miteinander verband) sowie das Sichtbare<br />

Zeichen (das die Vertreibungen vor einem breiten, europäischen Hintergr<strong>und</strong><br />

zeigen soll). Es gibt jedoch einen gr<strong>und</strong>legenden Unterschied zwischen beiden<br />

Ländern: in Polen ist die Europäisierung der Erinnerung noch nicht realisiert<br />

165


worden. Sie betrifft hauptsächlich Institutionen, die erst im Begriff sind zu entstehen;<br />

in Deutschland dagegen wird sie systematisch realisiert.<br />

In beiden <strong>Erinnerungskultur</strong>en sieht man auch den Trend zur Universalisierung<br />

der Identität, zu ihrer Verbindung mit der Menschheit. Dieser Prozess ist im<br />

Museum in Auschwitz am deutlichsten, das zum Symbol des Bösen des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert geworden ist, mehr noch – zum Symbol des Bösen an sich. Jede<br />

nationale Gruppe, die unter dem NS-Regime gelitten hatte, hat dort einen ihrem<br />

Martyrium gewidmeten Pavillon. Vom universellen Rang dieses Museums zeugt<br />

auch, dass die <strong>deutsche</strong>n Gedenkstätten sich darauf beziehen – es war kein Zufall,<br />

dass der Zug des Todes seinen Lauf gerade in Auschwitz beendete. Die<br />

Strategie der Universalisierung der Identität wird auch das Sichtbare Zeichen<br />

nutzen, das das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert als „das Jahrh<strong>und</strong>ert der Vertreibungen“ präsentieren<br />

wird.<br />

In Polen werden fremde Gruppen, die sich in einer antagonistischen Position<br />

gegenüber der dargestellten Identität befinden, meist auf abstrakte, unkonkrete<br />

Weise gezeigt. Das hängt zum Teil mit der Europäisierung <strong>und</strong> Universalisierung<br />

der Erinnerung zusammen. Da es unser Ziel ist, die eigene Erfahrung mit der<br />

Erfahrung anderer Gruppen zu verbinden, müssen wir potenzielle Konflikte<br />

dämpfen. Dieser Prozess ist sehr gut am Beispiel des Zentrums der Gedanken<br />

Johannes Paul II. zu sehen, wo man die fremde Gruppe als Vertreter der „Zivilisation<br />

des Todes“ bezeichnet, ohne weiter darauf einzugehen, wer gemeint ist. In<br />

Fällen, in denen sich Polen im Konflikt mit Deutschen, Russen oder Kommunisten<br />

(die auch Polen waren) befanden, macht man auf die eigene Gruppe aufmerksam<br />

<strong>und</strong> übergeht die fremde, es werden also keine starken negativen<br />

Beziehungen konstruiert. Die Institutionen, die Täter auf direkte Weise präsentieren,<br />

wie zum Beispiel das Museum des Warschauer Aufstands, werden kontrovers.<br />

<strong>Eine</strong> ähnliche Situation könnte beim Museum der Erinnerung an den<br />

Kommunismus entstehen, dessen Ziel darin besteht, u. a. einen „durchschnittlichen<br />

Kommunisten“ zu zeigen.<br />

Während man in der polnischen <strong>Erinnerungskultur</strong> häufiger den Begriff<br />

„Deutsche“ als das Wort „Nazis“ oder „Hitler<strong>deutsche</strong>“ benutzt (vgl. Text von<br />

Ewa Olesiuk „Der Weg des Jüdischen Erbes“), scheint es, dass wir in der <strong>deutsche</strong>n<br />

Kultur viel öfter mit den beiden an zweiter Stelle genannten Benennungen<br />

zu tun haben. Auf der anderen Seite jedoch werden in Deutschland die Täter<br />

genauer vorgestellt, statt der allgemeinen Kategorien (Nazis, Kommunisten)<br />

werden konkrete Gesichter präsentiert. Mehr noch, es werden nicht nur die Prinzipien<br />

des Funktionierens von Geheimdiensten publik gemacht (Museum in der<br />

„R<strong>und</strong>en Ecke“, Stasimuseum), sondern sogar die Beamten, deren Schuld – nur<br />

theoretisch – kleiner gewesen war (Villa ten Hompel). Dieser Unterschied zum<br />

polnischen Fall lässt sich damit erklären, dass die Europäisierung <strong>und</strong> Universa-<br />

166


lisierung der Erinnerung eine geringere Anzahl antagonistischer Berichte verlangt.<br />

Die Deutschen können sich als Nicht-W vorstellen, die Polen werden aber<br />

in der Angst, Kontroversen hervorzurufen, vor einer Darstellung der Deutschen<br />

auf dieselbe Weise zögern. Auf der einen Seite haben wir es in Deutschland also<br />

mit einem Prozess der Distanzierung von den Tätern zu tun (Nazis), andererseits<br />

mit ihrer realen Darstellung, was eine stärkere Verbindung mit ihnen suggeriert.<br />

In Polen ist der Totalitarismus das am häufigsten auftauchende Element, das<br />

sich in Opposition zur eigenen Gruppe befindet: der Nationalsozialismus (Museum<br />

Auschwitz, Platz der Ghettohelden, Weg des Jüdischen Erbes), der Kommunismus<br />

(Europäisches Solidarność-Zentrum, Museum der Erinnerung an den<br />

Kommunismus) oder am häufigsten Nationalsozialismus <strong>und</strong> Kommunismus<br />

gemeinsam (Zentrum der Gedanken Johannes Paul II., Museum der Geschichte<br />

Polens, Zentrum KARTA, Museum des Warschauer Aufstands). Das zeugt davon,<br />

dass beide Totalitarismen einander gleichgestellt werden. Während die<br />

Erinnerung an den Kommunismus in Polen bisher keine institutionalisierte Form<br />

angenommen hat, hat dieser Prozess in Deutschland gleich nach dem Mauerfall<br />

begonnen (Museum in der „R<strong>und</strong>en Ecke“, Stasimuseum, Gedenkstätte Buchenwald).<br />

Dieser Prozess betrifft, wie es scheint, einzig die ehemalige DDR,<br />

denn nur in ihrem Gebiet (Leipzig, Ostberlin, Buchenwald) wird der Verbrechen<br />

des Kommunismus gedacht. Hierin würde also eine ernstzunehmende regionale<br />

Teilung der <strong>Erinnerungskultur</strong> Deutschlands sichtbar werden. Man kann sogar<br />

von „zwei Erinnerungen“ sprechen – der dominierenden Erinnerung an den Nationalsozialismus,<br />

die sich auf die Annahme seiner Besonderheit stützt, sowie<br />

der ost<strong>deutsche</strong>n Erinnerung an den Kommunismus (vgl. Artikel von Larissa<br />

Majerczyk <strong>und</strong> Stefan Neumann). Im Gegensatz zu Polen fehlt es unter den vorgestellten<br />

Gedenkstätten – abgesehen von Buchenwald – an Stätten, die die Verbrechen<br />

des Nationalsozialismus <strong>und</strong> des Kommunismus in einem gemeinsamen<br />

Narrativ zeigen würden.<br />

Wie ist es zu erklären, dass in Polen des Kommunismus noch nicht gedacht<br />

wurde? Wir sollten an den Verlauf der Transformation des politischen Systems<br />

in beiden Ländern zurückdenken. In Deutschland hatte sie revolutionären Charakter<br />

(Fall der Mauer, Besetzung der Sitze der Geheimdienste wie in Berlin <strong>und</strong><br />

Leipzig), in Polen hingegen Evolutionscharakter (R<strong>und</strong>er Tisch, zu dessen Architekten<br />

der Chef der polnischen Geheimdienste gehörte). Das bewirkte, dass in<br />

Deutschland die Kommunisten als feindliche Gruppe, als Nicht-W dargestellt<br />

werden konnten <strong>und</strong> in Polen eine so klare Unterscheidung auf ernsthafte<br />

Schwierigkeiten stieß, da die Kommunisten in dem Moment, als sie mit dem<br />

Kompromiss einverstanden waren, aufhörten, eine fremde Gruppe zu sein. Da sie<br />

mit der Demokratisierung <strong>und</strong> Liberalisierung des Systems einverstanden waren,<br />

wurden sie von Nicht-W zu W.<br />

167


Welche Narrative über die vorgestellten Gruppen können wir in beiden Ländern<br />

rekonstruieren <strong>und</strong> wo sind die Unterschiede zwischen ihnen? In Polen<br />

dominiert, abgesehen vom Museum Auschwitz <strong>und</strong> dem Lapidarium, das<br />

WUNC-Muster, wobei dieses in erster Linie die Identität der Polen betrifft. Meist<br />

werden sie als ein zutiefst religiöses Volk (Zentrum der Gedanken Johannes Paul<br />

II.), das die Freiheit liebt, als Gegner von zwei Totalitarismen (Museum der<br />

Geschichte Polens, Museum der Erinnerung an den Kommunismus, Europäisches<br />

Solidarność-Zentrum, KARTA, Auschwitz, Museum des Warschauer<br />

Aufstands), seltener als Opfer dargestellt. Und dort, wo man das tut, wird das<br />

Bild der Wehrlosigkeit durch das Bild des aktiven Widerstandes ergänzt<br />

(KARTA, Auschwitz, Museum des Warschauer Aufstands).<br />

Interessant ist, dass sogar die Juden im Krakauer Denkmal der Ghettohelden<br />

in Übereinstimmung mit dem WUNC-Muster dargestellt wurden. Der Name<br />

selbst nämlich suggeriert, dass auch in Podgórze ein heldenhafter Kampf gegen<br />

die Besatzer stattgef<strong>und</strong>en hat, während die Juden einen Märtyrertod starben.<br />

Dabei wurde das Krakauer Ghetto von den Nazis ohne Widerstand seitens der<br />

dortigen Bevölkerung liquidiert. Wenn wir also von den Helden des Ghettos<br />

sprechen, so meinen wir im Gr<strong>und</strong>e genommen ihr Opfer <strong>und</strong> nicht ihren Kampf.<br />

Etwas anders sieht die Sache mit dem Museum in Auschwitz aus, wo die Juden<br />

als ehrenhafte, vereinigte <strong>und</strong> zahlreiche, aber nicht engagierte Gruppe gezeigt<br />

werden. So wird ihr Wert nicht durch Aktivität definiert, sondern vor allem<br />

durch Wehrlosigkeit, <strong>und</strong> in der Konsequenz durch die Unschuld des Opfers. In<br />

diesem Fall wird jedoch das Fehlen des Engagements (C) durch die Anzahl der<br />

Opfer (N) kompensiert.<br />

Im Vergleich mit den vorherigen Fällen hat das Lapidarium einen völlig anderen<br />

Charakter. Die Deutschen werden hier nämlich weder als zahlreich noch als<br />

vereinigt oder engagiert dargestellt werden. Ihr Wert aber (W) wird nicht durch<br />

die Verbindung mit bewaffnetem Kampf oder einem Opfer rekonstruiert, sondern<br />

durch die Betonung ihrer wirtschaftlichen Tugenden <strong>und</strong> auch, weil Gräber<br />

von Menschen unabhängig davon, wer sie waren, respektiert werden sollten.<br />

Im Vergleich mit den Narrativen, die von der polnischen <strong>Erinnerungskultur</strong><br />

konstruiert werden, sind die <strong>deutsche</strong>n heterogener. Statt eines dominierenden<br />

Musters haben wir es mit dreien zu tun: erstens mit dem WUN-Muster, wobei<br />

dieses – anders als in Polen (mit Ausnahme des Weges des Jüdischen Erbes) –<br />

nicht die eigene, sondern eine fremde Gruppe beschreibt: die Juden. Das deutet<br />

darauf hin, dass die Deutschen das jüdische Narrativ übernommen haben, wenn<br />

sie sich nicht gar mit ihm identifizieren. Im Gegensatz jedoch zum Denkmal der<br />

Ghettohelden werden die Juden nicht als aktive Gruppe (WUNC), sondern als<br />

wehrlose Opfer (WUN) dargestellt.<br />

168


Zweitens ist die umgekehrte Spiegelung des WUN-Musters bezüglich der Juden<br />

das Nicht-W-Muster, das die Deutschen selbst betrifft; es tritt in zwei Versionen<br />

auf: die Deutschen als Nazis (Europäische Holocaustgedenkstätte, NS-<br />

Dokumentationszentrum München, Villa ten Hompel, Denkmal der ermordeten<br />

Juden Europas, Zug der Erinnerung) <strong>und</strong> die Deutschen als Kommunisten (Museum<br />

in der „R<strong>und</strong>en Ecke“, Stasimuseum). Manchmal treten sie in beiden Rollen<br />

gleichzeitig auf (Buchenwald). Drittens gibt es das WUC-Muster, das<br />

manchmal um ein N ergänzt wird, das die Opposition gegen den Nationalsozialismus<br />

(Villa ten Hompel) <strong>und</strong> den Kommunismus (Museum in der „R<strong>und</strong>en<br />

Ecke“, Stasimuseum) betrifft.<br />

Von diesen drei Mustern gibt es Abweichungen. In der Villa ten Hompel werden<br />

die Nachkriegsbeamten als W dargestellt, da sie sozusagen die Schuld ihrer<br />

Nazivorgänger wiedergutmachen, indem sie deren Opfer finanziell unterstützen.<br />

Das Kreuzberg Museum wiederum zeigt die Einwohner des Bezirks als zahlreich<br />

<strong>und</strong> versucht, ihren Wert (W) als mit ihrer ethnischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Verschiedenheit (Nicht-U) verb<strong>und</strong>en darzustellen. Als Konsequenz des Verzichts<br />

auf das WUNC-Muster besitzt keine dieser Institutionen ein Mobilisierungspotenzial,<br />

das mit dem des Sichtbaren Zeichens, das die Deutschen als<br />

WUN darstellt, vergleichbar wäre. Mit diesem Projekt verb<strong>und</strong>ene Kontroversen<br />

werden u. a. dadurch bewirkt, dass die Deutschen auf dieselbe Weise dargestellt<br />

werden wie die Juden. Mehr noch, anders als die Gegner von Kommunismus <strong>und</strong><br />

Nationalsozialismus werden sie als passiv dargestellt; was suggeriert, dass sie<br />

nicht aktiv <strong>und</strong> nicht mit dem totalitären Regime verb<strong>und</strong>en waren. Aus diesen<br />

Gründen bedeutet die Entstehung des Sichtbaren Zeichens den Beginn eines<br />

neuen Kapitels in der <strong>deutsche</strong>n <strong>Erinnerungskultur</strong>.<br />

Zusammenfassend kommt es in beiden Ländern zu einer Europäisierung <strong>und</strong><br />

Universalisierung der Erinnerung, wobei dieser Prozess in Deutschland weiter<br />

fortgeschritten ist. Die <strong>deutsche</strong> <strong>Erinnerungskultur</strong> ist zugleich antagonistischer,<br />

indem sie um die dargestellten Identitäten mehr negative Beziehungen konstruiert,<br />

wobei es meist die Deutschen sind, die in negativem Licht dargestellt werden,<br />

in positivem dagegen – die Juden als Opfer. In der polnischen <strong>Erinnerungskultur</strong><br />

werden die Täter (Nazis <strong>und</strong> Kommunisten) übergangen, es wird eher auf<br />

die eigene Gruppe aufmerksam gemacht. Während in der polnischen Kultur der<br />

Nationalsozialismus <strong>und</strong> der Kommunismus gleichgesetzt <strong>und</strong> in einem Narrativ<br />

dargestellt werden, betont man in der <strong>deutsche</strong>n Kultur den Nationalsozialismus,<br />

wobei der Kommunismus in Ostdeutschland auch erinnert wird. Die Deutschen<br />

stellen die Opfer des Nationalsozialismus als wehrlos dar (WUN), die Polen als<br />

aktive Subjekte (WUNC), die imstande waren, dem Totalitarismus die Stirn zu<br />

bieten. Während die polnische <strong>Erinnerungskultur</strong> eher homogene Geschichten<br />

konstruiert (WUNC), ist die <strong>deutsche</strong> differenzierter (Juden: WUN, Deutsche:<br />

169


Nicht-W, WUC) – es gibt in ihr mehrere Muster <strong>und</strong> es tauchen noch weitere auf<br />

(Sichtbares Zeichen, d. h. die Deutschen als WUN). Darüber hinaus wird in Polen<br />

der Wert (W) durch die Verbindung mit Freiheit, Unabhängigkeit, Nation,<br />

Kampf gegen den Nationalsozialismus <strong>und</strong> den Kommunismus sowie die Religiosität<br />

definiert, <strong>und</strong> in Deutschland vor allem durch das Opfer <strong>und</strong> den Widerstand<br />

gegen den Nationalsozialismus <strong>und</strong> in weiterer Folge gegen den Kommunismus.<br />

4. Ziele<br />

In der polnischen <strong>Erinnerungskultur</strong> besteht das Ziel in dem Erinnern der Vergangenheit<br />

<strong>und</strong> dem Hindeuten auf die Rolle der Polen, die sie in der Geschichte<br />

Europas <strong>und</strong> der Welt im Kampf um die Freiheit der Völker gespielt haben (Museum<br />

der Geschichte Polens), während der Versklavung des Kontinents durch<br />

den Nationalsozialismus (Auschwitz), beim Fall des Kommunismus (Museum<br />

der Erinnerung an den Kommunismus, Europäisches Solidarność-Zentrum, Zentrum<br />

KARTA), mehr noch – auf der religiösen <strong>und</strong> eschatologischen Ebene (Museum<br />

der Geschichte Polens, Zentrum der Gedanken Johannes Paul II.). Das<br />

Ergebnis der Wirkung solcher Projekte soll die Stärkung des Nationalstolzes<br />

sein. Die Besinnung auf die Vergangenheit soll der Gegenwart Kraft geben.<br />

Zugleich gedenkt die polnische <strong>Erinnerungskultur</strong> immer öfter auch anderer<br />

Völker. Neben dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, das gleich nach<br />

dem Krieg entstanden war, wurde das Projekt des Platzes der Ghettohelden sowie<br />

der Weg des jüdischen Erbes in Białystok realisiert; im Moment dauern auch<br />

die Arbeiten am Projekt zum Gedenken an die <strong>deutsche</strong>n Protestanten an, die in<br />

Białołęka gelebt haben.<br />

In Deutschland stellt das „Nie wieder“ das Hauptmuster dar. Anfänglich bezog<br />

es sich einzig auf die Naziverbrechen <strong>und</strong> den Nationalsozialismus, indem es<br />

seine europäische <strong>und</strong> universelle Dimension zeigte (NS-Dokumentationszentrum,<br />

Buchenwald, Zug der Erinnerung, Denkmal für die ermordeten Juden<br />

Europas, Europäische Holocaustgedenkstätte), doch man kann es auch auf die<br />

Verbrechen des Kommunismus beziehen (Museum in der „R<strong>und</strong>en Ecke“,<br />

Stasimuseum) sowie auf die Vertreibungen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts (Sichtbares<br />

Zeichen). Dieses negative Stichwort wird dann durch positive Stichworte ergänzt;<br />

die Verteidigung der Menschenrechte <strong>und</strong> die Gestaltung demokratischer<br />

Haltungen. Zugleich zeigt die Darstellung der Verbrechen des Nationalsozialismus<br />

<strong>und</strong> Kommunismus sowie der eindeutige Hinweis auf die Täter, dass der<br />

<strong>deutsche</strong> Staat imstande ist, sich mit seiner unehrenhaften Vergangenheit zu<br />

170


konfrontieren, indem er die Verantwortung für sie übernimmt, sich zugleich aber<br />

entschieden von ihr distanziert <strong>und</strong> für die Seite der Opfer (Juden) gegen die<br />

Täter (Deutsche) Partei ergreift, <strong>und</strong> dass er sich um ein kritisches historisches<br />

Bewusstsein seiner Bürger bemüht.<br />

In Analogie zum <strong>deutsche</strong>n never again könnten wir sagen, dass in Polen das<br />

Muster always again vorherrscht. Während Geschichte für die Polen ein Reservoir<br />

an positiven Beispielen ist, bleibt sie für die Deutschen eine Warnung.<br />

Dabei sollten wir anmerken, dass die vom Lapidarium in Białołęka <strong>und</strong> vom<br />

Kreuzberg Museum gesteckten Ziele einen vollkommen anderen Charakter haben,<br />

denn sie beabsichtigen die Integration der Einwohner dieser Stadtteile.<br />

5. Mittel<br />

Sowohl in Polen als auch in Deutschland haben wir es mit innovativen <strong>und</strong> traditionellen<br />

Mitteln zu tun. In beiden Ländern sieht man auf der einen Seite eine<br />

Abkehr von traditionellen Ausstellungen <strong>und</strong> wissenschaftlicher Forschung (oder<br />

deren Ergänzung), auf der anderen den Trend zur Personalisierung der Überlieferung,<br />

der Nutzung von Internet, Multimedia <strong>und</strong> Kunst, der in Polen im Museum<br />

des Warschauer Aufstands am stärksten ausgeprägt ist. In der Konsequenz werden<br />

innovative Mittel, die standardmäßig von den neuen Einrichtungen genutzt<br />

werden, nach <strong>und</strong> nach zu traditionellen Mitteln. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> behalten<br />

zwei <strong>deutsche</strong> Initiativen den absoluten Wert des Neuen. Erstens der Zug der<br />

Erinnerung, der die erste, könnte man sagen, mobile Form des Gedenkens ist.<br />

Zweitens das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das durch seine abstrakte<br />

Symbolik keinerlei Interpretation aufzwingt, sondern den Empfängern<br />

eigene Interpretationen erlaubt.<br />

<strong>Eine</strong> Inspiration durch diese Vorbilder können wir in Polen finden. In diesem<br />

Sinne wäre das polnische Repertoire vom <strong>deutsche</strong>n abhängig. Erstens wurde die<br />

Formel der Ausstellung im Zug beim Europäischen Solidarność-Zentrum angewandt.<br />

Zweitens hat man die abstrakte Form des Gedenkens an Märtyrertum<br />

– die leeren Stühle – am Platz der Ghettohelden in Krakau genutzt.<br />

Man kann noch auf die innovativen Formen der Mobilisierung aufmerksam<br />

machen. Wie wir bereits erwähnt haben, bestand der Erfolg des Zentrums gegen<br />

Vertreibungen vor allem darin, durch das Erwecken internationaler Kontroversen<br />

eine öffentliche Debatte ins Leben zu rufen. Das ist mit Sicherheit eine innovative<br />

Form, Unterstützung für ein Projekt aufzubauen. Ein innovatives Repertoire<br />

nutzt auch das Stasimuseum, das, ähnlich wie anfänglich das Staatliche Museum<br />

Auschwitz-Birkenau, frühere Opfer des Regimes als Museumsführer engagiert.<br />

171


Das Kreuzberg Museum wiederum ist noch weiter gegangen, indem es die Bewohner<br />

des Bezirks selbst in die gemeinsame Arbeit mit einbezog. In dieser<br />

Hinsicht erscheint die polnische <strong>Erinnerungskultur</strong> als weniger innovativ, obwohl<br />

das Lapidarium in Białołęka ähnliche Mittel nutzte <strong>und</strong> ein Volksfest organisierte,<br />

das sich in eine K<strong>und</strong>gebung für die Unterstützung der geplanten Initiative<br />

verwandelte.<br />

6. Effektivität<br />

Die Effektivität der jeweiligen Gedenkstätte können wir vor allem daran messen,<br />

ob der jeweilige Erinnerungsort existiert. In Polen gibt es viele Institutionen, die<br />

erst im Entstehen begriffen sind (Museum für die Geschichte Polens, Europäisches<br />

Solidarność-Zentrum, Lapidarium, <strong>und</strong> hinsichtlich des Museums der<br />

Erinnerung an den Kommunismus weiß man nicht einmal, wann <strong>und</strong> ob es entstehen<br />

wird); in Deutschland entstehen zur Zeit zwei Institutionen (NS-<br />

Dokumentationszentrum in München, das Sichtbare Zeichen in Berlin, wobei bei<br />

beiden die Finanzierung bereits gesichert ist) <strong>und</strong> eine wird ausgebaut (Europäische<br />

Holocaustgedenkstätte). Mit Ausnahme des Museums Auschwitz <strong>und</strong><br />

KARTA sind die übrigen Objekte auf der polnischen Seite nach 2004 entstanden<br />

(Museum des Warschauer Aufstands, Zentrum der Gedanken Johannes Paul II.,<br />

Platz der Ghettohelden, Weg des Jüdischen Erbes). Auf der <strong>deutsche</strong>n Seite<br />

wiederum hat sich der Trend zum Bau neuer Institutionen über ein Jahrzehnt<br />

früher abgezeichnet, das heißt ab 1989 (Denkmal für die ermordeten Juden Europas,<br />

Zug der Erinnerung, Museum in der „R<strong>und</strong>en Ecke“, Stasimuseum,<br />

Kreuzberg Museum, Villa ten Hompel).<br />

Es sieht also so aus, dass es in der <strong>deutsche</strong>n <strong>Erinnerungskultur</strong> bereits mehr<br />

Gedenkstätten gibt <strong>und</strong> weniger entstehen, <strong>und</strong> in der polnischen Kultur – umgekehrt.<br />

Die <strong>deutsche</strong> <strong>Erinnerungskultur</strong> begann früher, sich dynamisch zu entwickeln<br />

als die polnische – <strong>und</strong> scheint heute stabilisierter <strong>und</strong> institutionalisierter<br />

zu sein. Das stimmt mit unseren Beobachtungen zum Kontext überein, der in den<br />

vergangenen zwei Jahrzehnten der Entwicklung der <strong>Erinnerungskultur</strong> immer<br />

günstiger gewogen war.<br />

Mehr noch: unter den bereits existierenden Gedenkstätten scheinen die <strong>deutsche</strong>n<br />

effektiver hinsichtlich ihrer Besucherzahl zu sein. Während in Polen der<br />

Weg des Jüdischen Erbes, KARTA, das Zentrum der Gedanken Johannes Paul<br />

II. <strong>und</strong> das Ghettodenkmal nach unseren Schätzungen jährlich nicht mehr als<br />

einige zehntausend Personen anziehen, handelt es sich in Deutschland um größere<br />

Zahlen: etwa 20000 Besucher jährlich hat die Villa ten Hompel, ungefähr<br />

172


70000 das Stasimuseum, etwa 150000 das Museum in der „R<strong>und</strong>en Ecke“, etwa<br />

200000 das Kreuzberg Museum, etwa 250000 der Zug der Erinnerung, etwa<br />

300000 Buchenwald. Am effektivsten sind das Museum des Warschauer Aufstands<br />

(über zwei Millionen Besucher) <strong>und</strong> vor allem Auschwitz-Birkenau sowie<br />

das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die von jeweils über einer Million<br />

Personen im Jahr besucht werden.<br />

Welche Bedingungen müssen erfüllt werden, damit eine effektive Gedenkstätte<br />

entsteht? Auf welche Weise können Gedenkstätten ihre Ziele wirksam realisieren?<br />

Versuchen wir ein allgemeines Modell zu formulieren. Erstens muss der<br />

Kontext der jeweiligen Gedenkstätte positiv sein. Zweitens muss sich unter den<br />

Akteuren der Staat befinden. Drittens muss die Identität, derer gedacht wird, auf<br />

eine mobilisierende Weise dargestellt werden (d. h. sie muss viele Gruppen betreffen<br />

– Europäisierung, Universalisierung – sowie vor allem mit dem WUNC-<br />

Muster übereinstimmen). Viertens muss ihr Repertoire innovativ sein. Wenn eine<br />

der Bedingungen nicht erfüllt wird, sind Strategien nötig, die dies kompensieren<br />

sollen.<br />

Erstens also muss die Gedenkstätte, wenn der Kontext negativ ist, d. h. wenn<br />

sie Kontroversen hervorruft, in der Regel ihre Ziele oder ihr Repertoire umformulieren.<br />

Das ist am Beispiel des Platzes der Ghettohelden in Krakau zu sehen,<br />

wo infolge des von der Stadtteilverwaltung ausgeübten Drucks das endgültig<br />

realisierte Projekt einen weniger märtyrerhaften Charakter als das ursprüngliche<br />

hat. Noch besser ist dies am Beispiel des Sichtbaren Zeichens zu beobachten, das<br />

aus einem auf das Gedenken an das Leid der <strong>deutsche</strong>n Vertriebenen gerichteten<br />

Projekt zu einem Projekt ausgerichtet wurde, dessen Ziel die Präsentation von<br />

Vertreibungen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ist. Ohne diese Modifikationen hätten die<br />

Initiatoren beider Gedenkstätten ihre Vorhaben nicht realisieren können.<br />

Zweitens: wenn sich unter den Akteuren, die für die Entstehung der Gedenkstätte<br />

verantwortlich sind, keine staatlichen Institutionen befinden, wird sie vom<br />

Verlust der stabilsten <strong>und</strong> opulentesten Finanzierungsquelle bedroht. Infolgedessen<br />

wird sie sich nicht dynamisch entwickeln können. Um solchen Einschränkungen<br />

entgegenzuwirken, müssen die Institutionen nach einem innovativen<br />

Repertoire greifen oder ein umso stärkeres WUNC-Muster präsentieren. Ohne<br />

Schirmherren müssen sie die Menschen besser mobilisieren können. Solche<br />

Formen nutzten u. a. der Zug der Erinnerung (eine einmalige Art des Gedenkens),<br />

das Stasimuseum (Engagement der Oppositionellen), das Kreuzberg Museum<br />

(Engagement der Bewohner des Bezirks selbst) oder das Museum des<br />

Warschauer Aufstands (Multimedia, Personalisierung der Überlieferung, Einwirkung<br />

auf alle Sinne, WUNC). Dank dessen konnten alle ohne staatliche Hilfen<br />

sehr wirksam werden. Wir sollten jedoch bemerken, dass die Finanzierungsquel-<br />

173


len der beiden letzten Institutionen die Verwaltungen der nationalen Hauptstädte<br />

sind.<br />

Drittens verliert die Gedenkstätte, wenn die Identität nicht auf eine mobilisierende<br />

Art dargestellt wird, d. h. vor allem als WUNC, ihre Anziehungskraft. Das<br />

bedeutet, dass sie dann eines der fehlenden Elemente durch eine größere Intensität<br />

der übrigen Elemente kompensieren oder – erneut – nach innovativen Mitteln<br />

greifen muss. Man kann das am Beispiel des Gedenkens an die Juden zeigen, die<br />

in der Regel als WUN dargestellt werden. Die Gedenkstätten machen jedoch das<br />

Fehlen von C mit einem größeren Druck auf die übrigen Elemente wett, sowie<br />

durch die Darstellung der Gruppe im europäischen <strong>und</strong> universellen Kontext.<br />

Und so werden vor allem die Zahl der Juden (N) sowie die Außergewöhnlichkeit<br />

des Opfers (W) unterstrichen. Gedenkstätten, die die zu gedenkende Gruppe<br />

nicht auf eine mobilisierende Weise darstellen können, werden weniger effektiv.<br />

Auf der polnischen Seite stellt das Lapidarium ein gutes Beispiel dafür dar; es<br />

präsentiert die <strong>deutsche</strong>n Protestanten einzig als W. Auf der <strong>deutsche</strong>n Seite wäre<br />

es das Kreuzberg Museum, das ohne die Charakteristik der Bezirksbewohner in<br />

Übereinstimmung mit dem WUNC-Muster darzustellen, trotzdem beabsichtigt,<br />

aus ihnen WUNC zu machen. Mehr noch, es kann sehr moderne Mobilisierungsmittel<br />

benutzen.<br />

Viertens wird die Gedenkstätte weniger populär sein, wenn das Repertoire<br />

nicht innovativ ist, es sei denn, dass ähnlich wie in den anderen Fällen Kompensationsstrategien<br />

benutzt werden. Das sollte bereits im Lichte der obigen Beispiele<br />

klar sein. Letztendlich können wir uns davon überzeugen, wenn wir zwei<br />

der effektivsten Gedenkstätten vergleichen: das (traditionelle) Staatliche Museum<br />

des Gedenkens Auschwitz-Birkenau <strong>und</strong> das (innovative) Denkmal für die<br />

ermordeten Juden Europas. Auschwitz braucht keine spektakulären Formen des<br />

Gedenkens; obwohl manche nationalen Pavillons in letzter Zeit modernisiert<br />

worden sind, stellt es das Zentrum der europäischen Erinnerung dar. Von Anfang<br />

an war ihm der Kontext günstig, <strong>und</strong> für seine Erhaltung engagiert sich der Staat;<br />

schließlich konstruiert es die Erzählung über den größten Völkermord in der<br />

Geschichte der Menschheit (WUN). Als genauso mobilisierend erwies sich das<br />

Denkmal der ermordeten Juden Europas, obwohl es vor verhältnismäßig kurzer<br />

Zeit entstanden ist <strong>und</strong> seine symbolische Kraft nicht an Auschwitz messen<br />

kann. Trotzdem wurde es dank des positiven Kontextes, des Engagement des<br />

Staates, einer entsprechenden Darstellung der Identität der Opfer (WUN) <strong>und</strong> vor<br />

allem dank seiner ungewöhnlich innovativen Konstruktion zu einer der wichtigsten<br />

Gedenkstätten in Europa.<br />

Die Abhängigkeit der sich gegenseitig ergänzenden einzelnen Kriterien kann<br />

man in einer abschließenden Tabelle darstellen.<br />

174


positiver<br />

Kontext?<br />

Teilnahme<br />

des Staates?<br />

Lapidarium.<br />

Ehem.<br />

Evangelischer<br />

Friedhof<br />

(Warschau)<br />

Museum der<br />

Erinnerung<br />

an den<br />

Kommunismus<br />

(Warschau)<br />

Europäisches<br />

Solidarność-<br />

Zentrum<br />

(Danzig)<br />

nein ja ja ja<br />

nein nein ja ja<br />

WUNC? W ja ja ja<br />

Innovatives<br />

Repertoire<br />

nein nein ja ja<br />

Effektivität ? ? ? ?<br />

Tabelle 9: Effektivität der EK <strong>und</strong> GP in Polen<br />

Positiver<br />

Kontext?<br />

Teilnahme<br />

des Staates?<br />

Weg des<br />

Jüdischen Erbes<br />

(Białystok)<br />

Platz der<br />

Ghetto-Helden<br />

(Krakau)<br />

Zentrum der<br />

Gedanken<br />

Johannes<br />

Paul II.<br />

(Warschau)<br />

ja nein ja ja<br />

nein nein nein nein<br />

WUNC? WUN ja ja ja<br />

Innovatives<br />

Repertoire?<br />

nein ja ja ja<br />

Effektivität + ++ ++ ++<br />

Tabelle 10: Effektivität der EK <strong>und</strong> GP in Polen<br />

Museum der<br />

Geschichte<br />

Polens<br />

(Warschau)<br />

Zentrum<br />

„Karta“<br />

(Warschau)<br />

175


Positiver<br />

Kontext?<br />

Teilnahme<br />

des Staates?<br />

176<br />

Museum des<br />

Warschauer<br />

Aufstands<br />

(Warschau)<br />

ja ja<br />

nein ja<br />

WUNC? ja WUN<br />

Innovatives<br />

Repertoire?<br />

ja nein<br />

Staatliches<br />

Museum<br />

Auschwitz-<br />

Birkenau<br />

(Oświęcim)<br />

Effektivität ++++ +++++<br />

Tabelle 11: Effektivität der EK <strong>und</strong> GP in Polen<br />

Positiver<br />

Kontext?<br />

Teilnahme<br />

des Staates?<br />

Europäische<br />

Holocaustgedenkstätte<br />

(Landsberg)<br />

NS-Dokumentationszentrum<br />

(München)<br />

ja ja nein<br />

nein ja ja<br />

Sichtbares<br />

Zeichen<br />

(Berlin)<br />

WUNC? WUN Nicht-W WUN<br />

Innovatives<br />

Repertoire?<br />

nein ja ja<br />

Effektivität ? ? ?<br />

Tabelle 12: Effektivität der EK <strong>und</strong> GP in Deutschland


Positiver<br />

Kontext?<br />

Teilnahme<br />

des Staates?<br />

WUNC?<br />

Innovatives<br />

Repertoire?<br />

Villa ten Hompel<br />

(Münster)<br />

Stasimuseum<br />

(Berlin)<br />

ja ja ja<br />

nein nein nein<br />

Nicht-W <strong>und</strong> W<br />

WUC<br />

Nicht-W<br />

WUC<br />

Museum in der<br />

„R<strong>und</strong>en Ecke“<br />

(Leipzig)<br />

Nicht-W<br />

WUNC<br />

nein ja nein<br />

Effektivität +++ +++ ++++<br />

Tabelle 13: Effektivität der EK <strong>und</strong> GP in Deutschland<br />

Positiver<br />

Kontext?<br />

Teilnahme<br />

des Staates?<br />

Kreuzberg<br />

Museum<br />

(Berlin)<br />

Zug der<br />

Erinnerung<br />

Gedenkstätte<br />

Buchenwald<br />

ja ja ja ja<br />

nein nein ja ja<br />

WUNC? N WUN WUNC WUN<br />

Innovatives<br />

Repertoire?<br />

ja ja ja ja<br />

Effektivität ++++ ++++ ++++ +++++<br />

Tabelle 14: Effektivität der EK <strong>und</strong> GP in Deutschland<br />

7. Zusammenfassung<br />

Denkmal für die<br />

ermordeten<br />

Juden Europas<br />

(Berlin)<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage unserer Analysen können wir sagen, dass die <strong>deutsche</strong> GP<br />

<strong>und</strong> EK effektiver ist als die polnische. Während wir es in Polen mit einer Art<br />

Erinnerungsvakuum zu tun haben – einerseits gibt es viele erst entstehende oder<br />

lokale Gedenkstätten, andererseits zwei Zentren, die sehr effektiv sind (Museum<br />

des Warschauer Aufstands, Auschwitz) – gibt es in Deutschland mehr existierende<br />

Gedenkstätten, die eine unterschiedliche, doch letztendlich höhere Effekti-<br />

177


vität haben. Warum? Weil es erstens in Deutschland einen günstigeren Kontext<br />

gibt. Zweitens steht dort eine größere Menge an Finanzierungsquellen zur Verfügung,<br />

darunter die wichtigsten staatlichen. Mehr noch: die polnische <strong>Erinnerungskultur</strong><br />

nutzt <strong>deutsche</strong> Gelder, aber wir haben keinen einzigen Fall gef<strong>und</strong>en,<br />

bei dem es einen umgekehrten Einfluss gäbe. Drittens ist die <strong>deutsche</strong><br />

Kultur pluralistischer, europäisierter, sie stellt die Identitäten auf eine differenziertere<br />

Weise dar (WUN, Nicht-W, WUNC). Viertens ist sie innovativer, <strong>und</strong> das<br />

geht so weit, dass <strong>deutsche</strong> Lösungen in der polnischen Kultur angewandt werden.<br />

Nach den entstehenden polnischen Projekten wird die polnische <strong>Erinnerungskultur</strong><br />

jedoch in eine ähnliche Richtung gehen. Erstens wird der Kontext<br />

immer günstiger. Zweitens engagiert sich der Staat immer mehr in der Geschichtspolitik.<br />

Drittens haben die Projekte eine immer stärkere europäische <strong>und</strong><br />

universelle Dimension, sie stellen die verschiedenen Gruppen auf eine immer<br />

differenziertere Weise dar. Viertens bevorzugt man immer mehr Innovationen<br />

(Museum des Warschauer Aufstands). Letztendlich scheint es, dass die polnische<br />

<strong>Erinnerungskultur</strong> der <strong>deutsche</strong>n immer ähnlicher werden wird.<br />

178

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