Das Journal - Die Staatstheater Stuttgart
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<strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> // Mai, Juni, Juli 2012 // Nr. 04 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong><br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong><br />
Nr. 04 // Mai, Juni, Juli 2012
ENJOY CULTURE!<br />
KÄSTNER<br />
WÜNSCHT GUTE<br />
UNTERHALTUNG.<br />
kaestner-stuttgart.de<br />
Inhalt<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong><br />
Mai/Juni/Juli 2012<br />
Jason Reilly, Erster Solist des <strong>Stuttgart</strong>er Balletts, springt in die<br />
letzten Monate der Saison 2011/2012. Für ihn geht es im Juni mit der<br />
Compagnie auf Gastspielreise nach Südkorea und Japan, wo er u. a.<br />
Petrucchio in John Crankos Der Widerspenstigen Zähmung tanzen<br />
wird. Zurück in der Heimat zeigt das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett dann zum<br />
Abschluss der Saison Onegin. Foto: Sebastién Galtier<br />
01. • Mein Hut, der hat drei Ecken ... // Seite 5<br />
Zu Besuch in der Modisterei<br />
02. • Eiskaffee mit Nora Schlocker // Seite 8<br />
<strong>Die</strong> österreichische Regisseurin inszeniert Jelineks »Winterreise«<br />
03. • Mit eigenen Worten // Seite 10<br />
Der Tänzer und Choreograph Demis Volpi über die Noverre-Gesellschaft<br />
04. • <strong>Die</strong> Wunde Wozzeck // Seite 12<br />
Alban Bergs Musikdrama in einer neuen Inszenierung<br />
05. • Eine Künstlerin und ihre Inspiration // Seite 13<br />
Anna Eiermann entwirft Kostüme für die Neuproduktion »Platée«<br />
06. • Der absolute Traum // Seite 14<br />
Der Erste Solist Evan McKie über »Onegin« und Ballett im Park<br />
07. • Wir sind Cyborgs // Seite 16<br />
»<strong>Die</strong> Taktik« – Ein Auftragswerk der Jungen Oper feiert Premiere<br />
08. • In der Welt zu Hause // Seite 18<br />
<strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett auf Tournee<br />
09. • Volker Lösch in Uruguay // Seite 20<br />
Theaterprojekt mit ehemals politisch inhaftierten Frauen<br />
10. • Auf der Suche nach dem Originalklang // Seite 22<br />
Dirigent Bernhard Forck zu Gast beim Staatsorchester <strong>Stuttgart</strong><br />
11. • Wir sind viele und reiten ohne Pferd // Seite 24<br />
<strong>Die</strong> Dramaturgin Beate Seidel im Gespräch mit Martin Heckmanns<br />
Plus • 10 Fragen an … // Seite 26<br />
Udo Katzmarek, Vorhangzieher am Opernhaus<br />
Karten und Informationen 0711.20 20 90 // www.staatstheater-stuttgart.de
<strong>Die</strong> letzten Monate der laufenden Spielzeit bieten in allen Sparten<br />
ein spannendes und facettenreiches Programm. Im Schauspiel<br />
werden unter anderem <strong>Die</strong> Gerechten von Albert Camus,<br />
Winterreise von Elfriede Jelinek sowie die Uraufführung von Wir<br />
sind viele und reiten ohne Pferd von Martin Heckmanns, entstanden<br />
als Auftragsarbeit für das Schauspiel <strong>Stuttgart</strong>, Premiere<br />
haben. <strong>Die</strong> Oper <strong>Stuttgart</strong> bietet eine Zeitreise vom Barock<br />
bis zur Moderne, deren Eckpfeiler die beiden Neuproduktionen<br />
Vorwort<br />
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,<br />
liebes Publikum der <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong>!<br />
von Jean-Philippe Rameaus Platée und Alban Bergs Wozzeck<br />
bilden. <strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett beendet seine Spielzeit – nach<br />
den Abenden für Junge Choreographen der Noverre-Gesellschaft<br />
und einer Japan- und Korea-Tour – mit dem beliebten<br />
Sommer-Highlight Ballett im Park: diesmal werden Onegin und<br />
die jährliche Vorstellung der John Cranko Schule übertragen.<br />
Wir freuen uns auf Sie! <strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong><br />
Foto: Martin Sigmund<br />
Jeder Hut, jedes Headpiece, jede Mütze, jeder<br />
Kopfschmuck, den die Sänger, Tänzer und<br />
Schauspieler auf der Bühne tragen, geht durch<br />
ihre Hände: Aus Filz und Federn zaubern die<br />
Modistinnen der <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> kleine<br />
Kunstwerke auf die Köpfe der Darsteller. Und<br />
das fünfköpfige Team ist gut beschäftigt –<br />
schließlich statten Eike Schnatmann und ihre<br />
Mitarbeiterinnen drei Sparten aus.<br />
Coco Chanel und der verrückte Hutmacher aus Alice im Wunderland<br />
– diese beiden Hutmacher fallen dem Normalverbraucher<br />
ein, fragt man nach Persönlichkeiten, die durch die<br />
Herstellung von Kopfbedeckungen berühmt wurden. Fast jeder<br />
kennt sie, und fast jeder würde meinen, in seinem Alltag<br />
mit dem Gewerbe der Modisten – so nennt man die Hutmacher<br />
in ihrer Fachsprache – wenig Berührung zu haben. Doch ist<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
01. • Besuch in der Modisterei<br />
Mein Hut,<br />
der hat drei<br />
Ecken ...<br />
das wirklich so? Weit gefehlt. Zum einen kam der Hut in den<br />
vergangenen Jahren durch die Mode- und nicht zuletzt auch<br />
die Musikindustrie wieder en vogue, zum anderen erschaffen<br />
Hutmacher nicht einfach nur Hüte. Modisten sind für alles zuständig,<br />
was das Repertoire der Kopfbedeckungen hergibt:<br />
winterliche Filz- und sommerliche Strohhüte ebenso wie feierliche<br />
Haargestecke, wie man sie von royalen Häuptern aus<br />
Klatschzeitschriften kennt, aber eben auch Kappen und Pelzmützen.<br />
Und wer geht im Winter schon ohne Mütze aus dem<br />
Haus? Wie schützt man sich im Sommer am besten vor einem<br />
Sonnenstich? »Im Alltag beschäftigen wir uns nicht wirklich<br />
mit Hüten«, weiß Eike Schnatmann. Seit 2006 leitet sie die<br />
Modisterei der <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong>, ist die Herrin über die<br />
Kopfbedeckungen aller Sänger, Tänzer und Schauspieler. Und<br />
tatsächlich kennt sie jedes Unikat beim Namen, weiß für welches<br />
Stück ihre Abteilung was angefertigt hat. »Zumindest<br />
bei allem, was in den vergangenen sechs Jahren entstanden<br />
ist«, sagt sie.<br />
<strong>Die</strong> Laune der Modistinnen in den <strong>Staatstheater</strong>n ist gut, von<br />
Stress keine Spur. <strong>Das</strong> geht auch anders, weiß Schnatmann.<br />
Aber heute ist Ruhe angesagt. Zwei der Kolleginnen kämpfen<br />
mit sehr großen schwarzen Stoffteilen. »<strong>Das</strong> ist für das neue<br />
„Was wirklich am längsten<br />
braucht, ist die Entwicklung.“<br />
Stück Der Auftrag / Zone im Schauspiel. Wir fertigen dafür<br />
eine Burka an und brauchen noch einen Trauerschleier.« Auch<br />
das ist Aufgabe der Modistinnen, schließlich ist eine Burka<br />
eine Kopfbedeckung. <strong>Das</strong> gilt auch für Nonnenhauben. Und<br />
wie sich herausstellt, sind letztere in ihrer Entwicklung ganz<br />
und gar nicht einfach. »Für die Produktion Gespräche der<br />
Karmeliterinnen haben wir den halben Damenchor mit solchen<br />
Hauben ausgestattet«, so Schnatmann. Was auf den<br />
ersten Blick kein großes modisches Geschick erfordert, hat<br />
durchaus seine Tücken: <strong>Die</strong> Haube bedeckt am Ende in drei<br />
Schichten den Kopf. Erst kommt die Kurzhaarperücke mit der<br />
klassischen Nonnenfrisur, dann die weiße Unterhaube, die<br />
eng an Kopf, Hals und Schultern anliegt. Zuletzt darüber die<br />
dunkle weite Haube. »<strong>Das</strong> Problem ist weniger die Wärme.<br />
Viel schwieriger ist, dass die Chorsängerinnen unter den vielen<br />
Schichten nichts mehr hören.« Und wie sollen sie singen, wenn<br />
sie nichts hören? Bei jeder Haube mussten also passgenau<br />
die Ohren ausgeschnitten werden, damit alle Sängerinnen<br />
Szene aus In weiter Ferne<br />
(Foto: Cecilia Gläsker)<br />
5
einander gut hören, und der Klangkörper »Nonnenchor« perfekt<br />
klingt. Dafür wurden von den Köpfen aller künftigen Nonnen<br />
Gipsabdrücke angefertigt, jede Haube auf den jeweiligen<br />
Jeder Sänger, jeder Tänzer und<br />
Schauspieler ist vermessen und in<br />
einer Kartei. Mit Grundform und<br />
individuellen Maßen können so<br />
passgenaue Kopfbedeckungen angefertigt<br />
werden.<br />
Kopf – inklusive Ohren – zugeschnitten. Es gab aber noch einen<br />
weiteren Haken: »<strong>Die</strong> Sängerinnen mussten sich auf der<br />
Bühne ausziehen, deshalb tragen sie ja überhaupt Perücken<br />
unter den Hauben.« Also verwendeten Schnatmann und ihr<br />
01.<br />
Team dehnbaren Jersey-Stoff, damit man leicht aus dem engen<br />
Kopfkostüm schlüpfen konnte. Am Ende klappte alles.<br />
Heute zieren die Gipsabdrücke des Damenchors orinalgetreu<br />
eine komplette Länge im Regal.<br />
Ein Jahr Vorlauf hatten Schnatmann und ihre Kolleginnen<br />
für die Nonnenhauben. »Aber das ist wirklich ganz unterschiedlich«,<br />
sagt sie. »Manche Produktionen werden weit im<br />
Voraus geplant, gerade für die Oper, und wir bekommen entsprechend<br />
frühzeitig Bescheid. Wir fangen dann zwar nicht<br />
sofort an zu arbeiten, aber planen die Arbeit für die Phase ein,<br />
wenn es akut ist.« Im Schauspiel kann das ganz anders aussehen.<br />
»Da produzieren wir auch schon mal bis an die Premiere<br />
heran, weil das Kostüm sich oft während der Proben entwickelt<br />
und bis kurz vor Schluss noch nicht hundert Prozent sicher<br />
ist.« Steht das Konzept aber einmal, geht die Anfertigung<br />
ganz fix. »Was wirklich am längsten braucht, ist die Entwicklung«,<br />
so Schnatmann. Sie zeigt auf einen großen mit unzähligen<br />
schwarzen Federn besetzten Hut. »Als wir diesen Hut für<br />
Rebecca von Lipinski als Míla in Leoš<br />
Janáčeks Oper Schicksal (Osud), eine<br />
Inszenierung von Jossi Wieler und<br />
Sergio Morabito (Foto: A. T. Schaefer)<br />
die Sängersolistin angefertigt haben, dauerte das etwa drei<br />
Wochen. Für das zweite Exemplar hätten wir dann sicherlich<br />
nur noch eineinhalb Tage benötigt.« Der Grund für den Zeitaufwand<br />
beim ersten Exemplar ist einfach: »Man weiß vorher<br />
einfach noch nicht genau, was mit dem Hut passiert.<br />
Setzt sich jemand darauf? Wird er durch die Luft geschleudert?<br />
Je nachdem muss er die Strapazen aushalten.« <strong>Die</strong> Modistinnen<br />
arbeiten in solchen Fällen eng mit der Rüstmeisterei<br />
zusammen, die ein Hutgerüst herstellt, das später unter<br />
dem Hut verschwindet. So überlebt das gute Stück auch die<br />
schlimmsten Bühnenstürme, ohne zu verbiegen.<br />
Schnatmann muss also immer bedenken, wer ihr Werk später<br />
tragen wird. »Unsere Kopfbedeckungen müssen schon<br />
einiges aushalten«, erzählt sie. »Bei den Tänzern zum Beispiel<br />
müssen sie sehr gut sitzen, damit sie sie nicht verlieren,<br />
während sie durch die Luft wirbeln. Und gerade die Tänzer<br />
schwitzen auch extrem, darum müssen wir wirklich sehr<br />
hochwertig arbeiten.« Manches Unikat überlebt dank der<br />
von links nach rechts Gipsabdrücke der Köpfe des Damenchors; Eike Schnatmann (vorne), Leiterin der Modisterei, mit der Auszubildenden Ina Breuer bei der Arbeit; Nonnenhaube aus Gespräche der Karmeliterinnen<br />
(Fotos: Matthias Dreher)<br />
hervorragenden Verarbeitung im Haus viele Jahre, zahlreiche<br />
Spielzeiten, Umbesetzungen und Gastspielreisen.<br />
<strong>Die</strong> Arbeit ist abwechslungsreich und kreativ. »Am Theater<br />
ist dieser Beruf wirklich am vielfältigsten«, so Schnatmann. So<br />
zaubert ihr Team auch mal einen waschechten Schwarzwälder<br />
Bollenhut, also einen der Hüte mit den dicken Wollbällen.<br />
Ein solches Exemplar steht auf dem Fenstersims. »Wir recherchieren<br />
in so einem Fall, wie ein solcher Hut gemacht wird,<br />
wie er gearbeitet ist und versuchen dann, es nachzuempfinden<br />
und den Vorstellungen und Ansprüchen am Theater anzupassen«,<br />
erklärt Schnatmann. <strong>Das</strong> Exemplar am Fenster<br />
weicht vor allem in seiner Farbe vom Original ab: Statt Rot<br />
oder Schwarz sind die Bollen Camouflagegrün.<br />
Kistenweise stapelt sich das Material auf den Schränken,<br />
Schubladen sind über und über mit bunten und aufwändig gearbeiteten<br />
Federn gefüllt. »Der erste Eindruck täuscht, hier<br />
herrscht tatsächlich eine Ordnung.« Nach Vogelarten und Farben<br />
seien die unzähligen Federn sortiert. <strong>Die</strong> Fachfrau weiß<br />
beim ersten Blick, von welchem Vogel welches Stück stammt.<br />
Eike Schnatmann hat Regale voller Hutformen. Vermutlich<br />
wären nicht nur Laien von der Vielzahl unterschiedlicher Modelle<br />
beeindruckt. Sie lacht. »Ach, das ist nur eine kleine Auswahl.<br />
Im Zentrallager haben wir noch Transportkörbe voll davon.«<br />
Regel Nummer eins in der Modisterei: Alles wird von<br />
Hand gefertigt! »Standards wie Zylinder u.ä. kann man kaufen,<br />
aber eigentlich fertigen wir das meiste selbst an, um den<br />
Entwürfen und den Anforderungen auf der Bühne zu entsprechen«,<br />
so Schnatmann. <strong>Das</strong> Regal gegenüber dem der Hutformen<br />
ist ebenso gut gefüllt mit Holzköpfen. »<strong>Das</strong> sind die<br />
Grundformen in allen Größen.« Jeder Sänger, jeder Tänzer und<br />
Schauspieler ist vermessen und in einer Kartei. Mit Grundform<br />
und individuellen Maßen können so passgenaue Kopf-<br />
bedeckungen angefertigt werden.<br />
Neben der Zusammenarbeit mit der Maske, ist die Kommunikation<br />
in der Kostümabteilung für Schnatmann und ihr Team<br />
sehr wichtig, vor allem, wenn es um Stoffe und Materialien<br />
geht. Kostümbildnerin Maike Storf machte sich extra viel Arbeit,<br />
um den Modistinnen ihre Vorstellung zu vermittlen. »Für<br />
6 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
7<br />
01.<br />
Anna Osadcenko als Gouvernante in Christian Spucks Leonce und Lena (Foto: Ulrich Beuttenmüller)<br />
„Unsere Kopfbedeckungen<br />
müssen schon einiges aushalten –<br />
bei den Tänzern zum Beispiel<br />
müssen sie sehr gut sitzen,<br />
damit sie sie nicht verlieren,<br />
während sie durch die Luft<br />
wirbeln.“<br />
Roberto Zucco haben wir einen riesigen Hamsterkopf angefertigt,<br />
der tatsächlich an ein Plüschtier erinnert«, erzählt Schnatmann.<br />
Es habe nur der Knopf im Ohr gefehlt. Maike Storf nähte<br />
als Vorlage ein Miniaturmodell, anhand dessen die große Variante<br />
erstellt wurde. »Er wiegt nicht viel, weil er innen ja hohl<br />
ist.« Warm wurde dem Schauspieler in kompletter Hamsterkluft<br />
vermutlich dennoch. So ein Hamsterkopf entsteht dann<br />
aber nicht an einem einzigen Tag. »40 Stunden haben wir am<br />
Ende dafür gebraucht.« <strong>Das</strong> arme Tier musste nach seiner<br />
Fertigstellung dann noch in die Kostümmalerei. »Er wurde<br />
überfahren«, so Schnatmann. Darum ziert den Kopf nun auch<br />
eine ordentliche graue Autospur. Aber er hat überlebt.<br />
<strong>Das</strong>s hier fünf Modistinnen um den großen Arbeitsplatz sitzen,<br />
ist für ein Theater ungewöhnlich. »Es gibt Häuser, in denen<br />
es gar keine separate Modisterei gibt«, erzählt Schnatmann.<br />
»Da übernimmt das ein Bereich in der Kostümabteilung.«<br />
Hier wird für drei Sparten produziert, das ergibt auch in der<br />
Vielzahl unterschiedlicher Modelle eine enorme Spannbreite.<br />
»Am Theater arbeitet man als Modist am vielfältigsten«, bestätigt<br />
Schnatmann. In den <strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong> haben sie<br />
obendrein auch Platz, giftige Materialien separat zu lagern und<br />
zu verarbeiten. »Früher hat man das alles eingeatmet, der verrückte<br />
Hutmacher ist ja nicht umsonst verrückt.« <strong>Das</strong>s hier in<br />
zwei Räumen gearbeitet werden kann, sei ein kleiner Luxus.<br />
In der Hexenküche steht eine Kollegin und hübscht die Head-<br />
pieces für die Tänzerinnen für Gaîté Parisienne auf. Jede Blüte<br />
wird einzeln mit Wasserdampf bestäubt. »Damit sie wieder<br />
aussehen wie gerade frisch erblüht«, sagt sie. Später werden<br />
sie den Tänzerinnen ins Haar gesteckt. Kleine Kunstwerke<br />
aus den Händen der Modistinnen der <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong>.<br />
Gesa Weymann
<strong>Die</strong> Aufnahme von 1988 zeigt Nora Schlocker und ihre Mutter, als sie von Lusens (1639 m) im Sellrain den Aufstieg zum Westfalenhaus (2273 m) unternahmen.<br />
02. 02. • Portrait<br />
Eiskaffee mit<br />
Nora Schlocker<br />
Ein Portrait der österreichischen Regisseurin,<br />
die derzeit Elfriede Jelineks Winterreise für das<br />
Schauspiel <strong>Stuttgart</strong> inszeniert<br />
E<br />
s ist Samstag Nachmittag. Ich sitze auf der Terrasse des Cafés am<br />
Schlossgarten, mir gegenüber die Regisseurin Nora Schlocker. Eine<br />
hübsche Frau, deren braune Augen vor Lebenslust blitzen. Wir kommen<br />
von einer Wanderung wieder. Einer Wanderung durch unsere<br />
Gedanken zu dem Stück Winterreise von Elfriede Jelinek, das Nora<br />
Schlocker am Schauspiel <strong>Stuttgart</strong> inszenieren wird. Da (auch) das kontemplative<br />
Wandern ermüdet, haben wir uns zu einer Pause entschieden. Während wir<br />
in die Karte blicken, fällt mir wieder auf, wie jung Nora Schlocker für die beachtliche<br />
Karriere ist, die sie im deutschen Stadt- und <strong>Staatstheater</strong> bereits gemacht<br />
hat. Dabei wirkt sie absolut eigenständig und geerdet. Eine schöne selbstbewusste<br />
Frau mit gesunder Selbsteinschätzung und lustiger Sonnenbrille auf der<br />
Nase. Ein Kellner kommt aus dem Inneren des Cafés, um unsere Bestellung aufzunehmen.<br />
Während es bei meiner Limo keine Nachfrage gibt, muss der Herr<br />
einen Weg finden mein Gegenüber davon zu überzeugen, dass es ihm »leider<br />
nicht möglich ist«, den gewünschten Eiskaffee mit einem Espresso zuzubereiten.<br />
<strong>Das</strong>s ihm dies gelingt, ist eher auf die milde stimmende Frühlingsluft<br />
zurückzuführen, als auf seine Argumentation. Denn Nora Schlocker lässt sich<br />
einen Wunsch oder ein Anliegen nicht so schnell ausreden. Vor allem nicht von<br />
jemandem, der das Einhalten der Norm pflegt, um Umständen aus dem Weg<br />
zu gehen. Nach Pragmatismus, so schießt es mir durch den Kopf, sucht Nora<br />
Schlocker bestimmt nicht. Wonach aber sucht eine Regisseurin, die innerhalb<br />
von fünf Jahren Hausregisseurin am Nationaltheater Weimar war, zahlreiche<br />
Engagements am Maxim Gorki Theater in Berlin hatte und seit dieser Spielzeit<br />
eine von drei Hausregisseuren am Düsseldorfer Schauspielhaus ist?<br />
»Was suchst du eigentlich?« frage ich also, während ein Spatz auf unserem<br />
Tisch Platz nimmt und versucht, die Kuchenreste vom Vorgänger aufzupicken.<br />
»Immer den besten Kaffee der Stadt«, scherzt sie und lacht. Sie blickt rüber<br />
zum Schauspielhaus. »Ich suche Auseinandersetzung. Zum Beispiel die Auseinandersetzung<br />
mit Schauspielern. Ich liebe Schauspieler und ich liebe es, mit<br />
ihnen etwas zu erarbeiten und am Ende bei der Premiere mitfiebern zu können.<br />
Ich mag im Theater sehen, wie ›meine Schauspieler‹ für unseren Abend<br />
kämpfen und wie sie die Zuschauer verführen. Ich finde es wichtig, dass wir<br />
uns gemeinsam mit einem Stoff, einer Geschichte und den dazugehörigen Bergen<br />
an Material beschäftigen. Proben heißt für mich, sich gemeinsam abzuarbeiten<br />
an Themen, an unserer Gesellschaft, der Zeit, in der wir leben und an<br />
uns selber.« Mit den letzten Worten ist unser Kellner an den Tisch getreten und<br />
positioniert unsere Bestellung auf dem Tisch. Wir müssen schmunzeln. Nora<br />
Schlocker zieht den Strohhalm durch die Sahne ihres Eiskaffees und wirft ein<br />
paar Krümel des Deko-Kekses zum Ende des Tisches.<br />
»In Weimar, während der Proben, saß ich viele Abende mit den Schauspielern<br />
zusammen. Wir haben ewig Filme geschaut und diskutiert und rumgesponnen<br />
und keiner wollte gehen. Alle waren da und waren am Thema dran. Wir haben<br />
uns ernst genommen und unser Thema ernst genommen. <strong>Das</strong> fand ich eine<br />
wunderschöne Erfahrung. Es ist schön zu merken, dass Leute zu begeistern<br />
sind und sich einlassen.« Im Baustellenbereich auf der anderen Seite der Straße<br />
erklingt ein lautes Brummen. <strong>Die</strong> Leute im Café heben die Köpfe, aber es ist<br />
nichts zu sehen. Wir warten ein wenig und starren in den Himmel. »<strong>Das</strong>s ich<br />
so gerne als Hausregisseurin arbeite, liegt an meinem Bedürfnis nach kontinuierlicher<br />
Zusammenarbeit. Ich glaube, das ist auch etwas, das ich im Theater<br />
suche. Ich suche das Vertrauen von Menschen, die wie ich Lust haben, Kunst<br />
zu machen. Theaterkunst. Ohne Vertrauen kann ich nicht arbeiten. Ich bringe<br />
allen Beteiligten welches entgegen und erwarte, dass sie mir welches zurückschenken.<br />
Ist es anders, macht die Arbeit keinen Sinn. Als Hausregisseurin bin<br />
ich Teil des Ensembles, das sich mit der Zeit kennenlernt, Erfahrungen teilt und<br />
ein gemeinsames Wissen aufbaut.« Sie holt Luft und will wieder ansetzen. Entscheidet<br />
sich jedoch dagegen und schaut auf ihre Hände. Im Hintergrund kratzen<br />
Gabeln über halbleere Kuchenteller.<br />
»Wie hat das eigentlich angefangen mit dir und dem Theater?« Nora kämpft mit<br />
einer Haarsträhne, die sich gelöst hat und überlegt ein wenig. »Meine Mutter<br />
hat mich schon als Kind zu vielen Kunstausstellungen mitgenommen. Sie war<br />
Kunstkritikerin und hat mich einge-<br />
„So fing es an: mit meiner<br />
Mutter, der Kunst, dem<br />
Punk und meinem Sehnen<br />
nach dem gemeinsamen<br />
Live-Erlebnis.“<br />
schmuggelt zu Vor-Eröffnungen und<br />
Vernissagen. Ich saß in großen Hallen<br />
und Sälen mit all diesen Kunst-<br />
Leuten, Bildern, Skulpturen, Fotografien<br />
… Ich glaube, das war der Beginn.<br />
In meiner Schulzeit war ich Mitglied<br />
in einer Punk-Band. Einmal hatte ein<br />
Freund die Idee, dass wir gemeinsam<br />
etwas komponieren. Ich habe die Musik geschrieben und dann übernahm ich<br />
auch die Regie und am Ende auch noch die weibliche Hauptrolle. Es war eine<br />
chaotische Aktion, die aber viel Spaß gebracht hat. Da habe ich das Medium<br />
Theater für mich entdeckt.«<br />
Ich fische meinen letzten Eiswürfel aus dem Glas, Nora zieht die Serviette hervor,<br />
die unter ihrem Eiskaffeeglas liegt und reicht sie mir. »Und dann bist du<br />
direkt nach Berlin an die Hochschule für Schauspielkunst ›Ernst Busch‹ marschiert<br />
und wurdest in den Regiestudiengang aufgenommen?« – »Nein, ich bewarb<br />
mich zunächst am Max Reinhardt Seminar in Wien, da war ich 18. Ich bin<br />
bis in die letzte Runde gekommen, aber die Jury meinte, ich sei noch zu jung.<br />
Also habe ich ein Jahr lang gewartet und mich wieder beworben. <strong>Die</strong>smal aber<br />
zeitgleich auch in Berlin. Dort bin ich dann auch in die letzte Runde gekommen<br />
und als die Jury mir mitteilen wollte, dass ich zu jung sei, um mit dem Studium<br />
anzufangen, habe ich gesagt, dass das kein Argument mehr für mich ist.« Ich<br />
stelle mir vor, wie die Jury Nora Schlocker gegenüber sitzt und registrieren muss,<br />
dass ihr die Argumente fehlen, um die junge Frau davon zu überzeugen, dass<br />
für ihr Talent noch kein Platz an der Schule sei. Ich muss lächeln. »Jedenfalls<br />
haben die mich genommen.« – »Und?« – »Und?« – »Wie war es?« Kurze Pause.<br />
Ein Luft holen, der Blick auf die Hände und dann, ohne Punkt und Komma:<br />
»Aufregendundanstrengendundfruchtbarundfurchtbarundintensiv! Na, so fing<br />
es an: mit meiner Mutter, der Kunst, dem Punk und meinem Sehnen nach dem<br />
gemeinsamen Live-Erlebnis.«<br />
Wir greifen zu unseren Gläsern. Nora Schlocker kratzt mit dem Finger die letzte<br />
Sahne aus dem Glas. Vorne auf dem Rasen flirten ein paar Mädchen mit<br />
Jungs, die auf ihren Rädern rumhängen. Frühlingsgefühle. »Warum eigentlich<br />
Winterreise im Sommer? Und warum überhaupt Jelinek?« »Elfriede Jelinek ist<br />
für mich immer schon besonders gewesen. Ich meine, bei uns in Österreich,<br />
da war sie ein Skandal. ›<strong>Die</strong> Jelinek, die ist eine Nestbeschmutzerin. <strong>Die</strong> bringt<br />
Schande über Österreich!‹ hieß es. Ich habe durch das Lesen ihrer Romane<br />
Gier und Lust und vor allem durch die Liebhaberinnen eine große Affinität für<br />
sie entwickelt. Dann kam der Film <strong>Die</strong> Klavierspielerin, der hat mich zutiefst<br />
erschüttert und berührt. Jetzt, wo ich mich mit Winterreise beschäftige, merke<br />
ich aber, wie sehr sie mich begeis-<br />
„Ich finde die Jelineksche<br />
Sprache ist wie eine Landschaft.<br />
Man schwimmt in<br />
einem Meer von Zitaten und<br />
Stimmen und ist gezwungen<br />
sie zu benennen, sich zu<br />
ihnen zu verhalten.“<br />
tert. Ihre Texte zwingen mich zu<br />
Ruhe und Konzentration. Zunächst<br />
musste ich mich auf ihre Sprache<br />
einstimmen, auf die Redundanzen,<br />
die Doppeldeutigkeit und die Spielereien,<br />
um die Verweise und Spitzfindigkeiten,<br />
die sie versteckt, entdecken<br />
zu können.« Ein Spatz (wer<br />
kann erkennen, ob es der von vorhin<br />
ist?) landet wieder auf unserem<br />
Tisch. Er nähert sich dem Keks-<br />
Krümel-Geschenk und pickt hastig ein-, zweimal zu, bevor er die Flucht ergreift.<br />
»Ich finde die Jelineksche Sprache ist wie eine Landschaft. Man schwimmt in<br />
einem Meer von Zitaten und Stimmen und ist gezwungen, sie zu benennen,<br />
sich zu ihnen zu verhalten. So wie sie selber gezwungen scheint zu schreiben,<br />
so werde ich als Leser gezwungen, mich auf die Suche zu begeben, mich ihren<br />
Texten auszusetzen.« – »Was meinst du mit ›sie ist gezwungen‹?« Wieder eine<br />
kurze Pause. Nora Schlocker nimmt sich genau die Zeit, die sie braucht, um<br />
den neuen Gedanken klar formulieren zu können. »Bei Elfriede Jelinek scheint<br />
das permanente Sprechen davor zu schützen, nicht zu sein. In Winterreise<br />
entdecke ich Stimmen – konkret zugeordnet oder unverortete. <strong>Die</strong> reden, um<br />
zu reden. <strong>Die</strong> reden, um etwas Bestimmtes zu sagen, aber auch, um nicht zu<br />
verstummen. Wer schweigt, ist nicht. Solange geredet wird, hört jemand zu,<br />
ist das Außen zur Wahrnehmung gezwungen und somit zur Bestätigung des<br />
eigenen Seins. Bei Elfriede Jelinek, da habe ich das Gefühl, dass sie schreibt,<br />
um zu sein. Sie postet so viel auf ihrer Website, sie bringt in einem wahnsinnigen<br />
Tempo Stücke heraus. Vielleicht, weil sie anders nicht mit der Welt kommunizieren<br />
kann.« – »Du meinst, weil Sie diese Angst-Krankheit hat.« »Genau.<br />
Ihre Texte aber, die können immer raus. Raus ins Netz. <strong>Die</strong> überbrücken<br />
die Distanz zum Anderen, zur Gesellschaft.«<br />
Drüben von der Baustelle kommt jetzt ein ohrenbetäubendes Krachen. Wieder<br />
heben alle im Café die Köpfe und wieder ist nichts zu sehen. »Was mich auch<br />
fasziniert ist, dass sie nicht aufhört, tägliche Ereignisse, selbst kleinste politische<br />
Intrigen, gesellschaftliche Umstände, Ungerechtigkeiten zu kommentieren.<br />
Sie ist kämpferisch, vehement, aufdringlich, nervtötend und gleichzeitig<br />
so verletzbar. Mich beeindruckt das. Ich hoffe, dass ich auch so stur bin und<br />
meinen Zielen treu bleibe. Denn, so wie sie ihr Leben lang im künstlerischen<br />
Bereich unterwegs ist – erst in der Musik und dann in der Schriftstellerei – so<br />
will ich das am liebsten auch.« – »Immer Regie führen?« »Immer.« Wieder eine<br />
kleine Pause und das Wegstreichen der widerspenstigen Haarsträhne. »Ich<br />
liebe das Regieführen und die Arbeit am Theater. Für mich ist das wie eine<br />
Heimat. Beim Arbeiten fühle ich mich wohl, da geht es mir gut.« »<strong>Das</strong> klingt<br />
ein wenig kitschig.« »Findest du. Ich finde, es klingt schön. Und ehrlich.« Sagt<br />
sie, schiebt sich die Sonnenbrille wieder vor die Augen und legt die Beine auf<br />
den Stuhl gegenüber. Pause. Jetzt machen wir endlich Pause. <strong>Die</strong> Pause, die wir<br />
mit dem Bestellen des Eiskaffees beginnen wollten. Hätte der Kellner sich nicht<br />
geziert, hätte ich gar nicht angefangen nachzudenken über Nora Schlocker, die<br />
jetzt zufrieden eines der ersten Sonnenbäder des Jahres nimmt. In <strong>Stuttgart</strong>,<br />
gegenüber dem Schauspielhaus, wo ab Mitte Juni Winterreise in ihrer Inszenierung<br />
zu sehen sein wird. Sarah Israel<br />
Winterreise<br />
von Elfriede Jelinek<br />
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Marie Roth, Kostüme: Sanna Dembowski,<br />
Musik: Paul Lemp, Dramaturgie: Sarah Israel, Mit: Gabriele Hintermaier,<br />
Boris Koneczny, Florian von Manteuffel, Sarah Sophia Meyer, Rahel<br />
Ohm, Nadja Stübiger, Till Wonka<br />
Premiere am 15. Juni 2012 // 19:30 Uhr // Schauspielhaus<br />
Nora Schlocker, 1983 in Tirol geboren, inszeniert am Schauspiel <strong>Stuttgart</strong><br />
Winterreise von Elfriede Jelinek. Schon der Titel verrät, dass Jelinek Schuberts<br />
Liederzyklus »<strong>Die</strong> Winterreise« ver- und bearbeitet hat. <strong>Das</strong> Bild des rastlosen<br />
Wanderers auf der Suche nach vergangenem Glück durchzieht den Text, in dem<br />
nahtlos aktuelle Diskurse über die Entführung von Natascha Kampusch und<br />
den Bankenskandal um die ›Hypo Alpe Adria‹ mit Reflektionen über die Zeit<br />
und das <strong>Das</strong>ein in dieser verwebt sind. Jelinek kreiert ein Fest der Sprache, eine<br />
Polyphonie, die ebenso anrührend wie gesellschaftskritisch ist.<br />
8 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
9
Oihane Herrero, Damiano Pettenella, Brent Parolin, Ensemble in Demis Volpis from me to you.<br />
Foto: Ulrich Beuttenmüller<br />
03.<br />
Wieso? Nur durch diese markante »Nicht-Erwartung« kann<br />
gewährleistet werden, dass auch Unerfahrene sich trauen,<br />
freie Schritte zu machen. Obwohl die Noverre-Gesellschaft<br />
so eng mit dem <strong>Stuttgart</strong>er Ballett zusammenarbeitet und<br />
auf diese Kooperation angewiesen ist, ist die künstlerische<br />
Unabhängigkeit das Geheimnis. <strong>Das</strong> Modell der »Jungen<br />
Choreographen« wurde seit der Gründung der Noverre-Gesellschaft<br />
im Jahr 1958 unzählige Male auf der ganzen Welt<br />
kopiert, allerdings noch nie mit einem vergleichbar fruchtbaren<br />
Erfolg.<br />
Fast jeder Ballettdirektor der Welt plant mittlerweile<br />
mindestens einmal pro Spielzeit einen Abend, in dem er<br />
seinen Tänzern die Chance gibt, selber Schritte zu erfinden,<br />
in der Hoffnung, nicht nur ein choreographisches Talent zu<br />
entdecken, sondern dem Publikum auch einen gemischten,<br />
frischen und trotzdem künstlerisch wertvollen Abend<br />
anzubieten. Und genau da liegt der große Unterschied. In<br />
<strong>Stuttgart</strong> geht es nicht darum, einen guten Abend zu verkaufen.<br />
Man muss sich nicht an etwas halten, das »funktionieren«<br />
wird. <strong>Das</strong> treue Publikum hat verstanden, worum<br />
es hier geht, und lässt sich auf eigenes Risiko immer gerne<br />
auf’s Neue überraschen! Daher kommt es, dass es in <strong>Stuttgart</strong><br />
für jeden Tänzer, der will, kein Problem ist, sich einmal<br />
selbst zu blamieren. Oder vielleicht doch nicht? Nur durch<br />
diese bedingungslose Freiheit kann etwas wirklich Wertvolles<br />
entstehen. <strong>Das</strong>s Fritz Höver diese einzigartige Form der<br />
unabhängigen, künstlerisch freien Förderung vor über 50<br />
Jahren zum Leben erweckte, ist nicht nur für die <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Tänzer, sondern für das weltweite Ballettpublikum bis heute<br />
ein Glücksfall!<br />
<strong>Die</strong> Liste an mittlerweile groß gewordenen Namen ist jedem<br />
schon bekannt und trotzdem jedes Mal eindrucksvoll zu lesen:<br />
Kylián, Forsythe, van Manen, Neumeier, Scholz, Spuck,<br />
03. • Mit eigenen Worten<br />
Demis Volpi, Choreograph des <strong>Stuttgart</strong>er Ballett<br />
Der Tänzer und Choreograph<br />
Demis Volpi über die Arbeit der<br />
Noverre-Gesellschaft<br />
John Cranko soll einmal über die »Junge<br />
Choreographen«-Abende der Noverre-<br />
Gesellschaft gesagt haben, dass sie da seien,<br />
»damit jeder die Chance bekommen kann,<br />
sich zu blamieren«. <strong>Das</strong> mag hart klingen,<br />
aber gerade diese Einstellung war die<br />
wesentliche Voraussetzung dafür, dass die<br />
Noverre-Gesellschaft zur Mutter fast aller<br />
relevanten europäischen Choreographen der<br />
zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurde.<br />
Demis Volpi ist Absolvent der John Cranko<br />
Schule und wurde 2004 Mitglied des <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Balletts. 2006 choreographierte er sein erstes<br />
Ballett im Rahmen der »Jungen Choreographen«<br />
der Noverre-Gesellschaft. Es folgten weitere<br />
Stücke für die Noverre-Gesellschaft sowie<br />
2010 seine erste Auftragsarbeit, Big Blur,<br />
für das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett.<br />
Im selben Jahr choreographierte er Karneval<br />
der Tiere für die John Cranko Schule, ein<br />
überwältigender Erfolg bei Publikum und<br />
Presse gleichermaßen. Demis Volpi hat u.a.<br />
auch Stücke für das Ballett des Badischen<br />
<strong>Staatstheater</strong> Karlsruhe, das Ballett Augsburg<br />
sowie das American Ballet Theatre in New York<br />
kreiert. (Foto: die arge lola)<br />
Goecke und und und ... Um wirklich zu verstehen, was für<br />
eine unvorstellbar großartige Leistung das ist, kann man<br />
vielleicht einen Vergleich zur Bildenden Kunst ziehen: Es<br />
wäre so, als ob die berühmten Maler Matisse, Dix, Magritte,<br />
Miró, Tàpies, Picasso und van Gogh alle aus der gleichen<br />
Schule stammten!<br />
Nicht über Nacht zum Picasso geworden<br />
<strong>Die</strong> meisten Tänzer, die sich dank der Noverre-Gesellschaft<br />
als Choreographen ausprobiert haben, sind allerdings nicht<br />
über Nacht zu Picasso geworden. Nicht jedes Jahr wird ein<br />
Spuck entdeckt, der die Fähigkeit hat, Figuren so genau zu<br />
charakterisieren, als ob sie direkt aus einem Otto-Dix-Gemälde<br />
kämen. Und man kann sagen, dass man Glück gehabt<br />
hat, wenn einmal alle zehn Jahren ein Goecke vorbei kommt,<br />
der es wie van Gogh schafft, einen Stil zu entwickeln, der so<br />
eigen ist, dass er unvergleichbar zeitlos für sich allein zu stehen<br />
scheint. Trotzdem sind die Abende der »Jungen Choreographen«<br />
jedes Jahr eine fantastische Chance: eine Chance<br />
für die Zuschauer, bei einem unvorhersehbar spannenden<br />
Ereignis dabei zu sein; eine Chance für mehr, weniger oder<br />
gar nicht erfahrene Choreographen, sich auszuprobieren,<br />
zu entwickeln und zu etablieren; eine Chance für die <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Ballettintendanz, jüngere Tänzer in einem neuen<br />
Licht zu entdecken; eine Chance für alle Beteiligten, bereichernd<br />
viel zu lernen und künstlerisch zu wachsen, und vor<br />
allem eine unersetzliche Chance, den Tanz am Leben zu halten<br />
und weiterhin neu zu erkunden.<br />
Wie relevant diese Chance heute immer noch ist, zeigt<br />
sich nicht nur dadurch, dass Rainer Woihsyk vor ein paar<br />
Jahren die herausragende ehemalige Erste Solistin des<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Balletts Sonia Santiago und den weltweit gefeierten<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Hauschoreographen Marco Goecke für den<br />
Vorstand der Noverre-Gesellschaft gewinnen konnte, sondern<br />
auch dadurch, dass es dieses Jahr mal wieder absolute<br />
Neulinge zum allerersten Mal wagen, einen Tanz zu erfinden.<br />
<strong>Das</strong> Feuer brennt immer noch und bringt die Ballettsäle<br />
zum Glühen.<br />
Eine Art Mutprobe<br />
Jeder wird seine Gründe haben, warum er das tut. Manche<br />
hoffen vielleicht auf die große Karriere. Es gibt bestimmt<br />
Tänzer, die nur neugierig sind, wie es sich anfühlt, mal vorne<br />
im Ballettsaal zu sitzen und derjenige zu sein, der die Anweisungen<br />
gibt. Viele haben einfach eine tolle Idee gehabt und<br />
wollen sie umsetzen. Für einige mag das eine Art Mutprobe<br />
sein. Für mich war das damals ein Weg, meine Langweile in<br />
Kurzweile zu verwandeln.<br />
Hat man Angst, sich zu blamieren? Selbstverständlich!<br />
Aber Rainer Woihsyk beruhigt einen dann, indem er erklärt,<br />
dass diese Chance genau dafür da ist. Und dann kommt der<br />
große Tag und es geschieht ... <strong>Das</strong> Schlimme an der ganzen<br />
Sache ist, dass man eine Woche nach der Premiere immer<br />
noch nicht weiß, ob man sich blamiert hat oder nicht. Würde<br />
jemand einem das sagen? Aber die Leute haben doch geklatscht<br />
... Naja, was sollen sie sonst machen? <strong>Die</strong> Entscheidung<br />
liegt letztendlich beim Choreographen selbst. War das<br />
relevant? Glaube ich daran? Will ich das noch mal machen?<br />
Vom Wiederholungstäter zum Junkie<br />
Choreographie entwickelt sich immer mehr zu meiner Sprache,<br />
zu meinem Weg, mit Menschen zu kommunizieren<br />
und ihnen eine Geschichte zu erzählen. Es ist allerdings nur<br />
ein paar Jahre her, dass ich zum ersten Mal in die Rolle des<br />
Schrittemachers schlüpfte. Mein Leben hat sich durch diese<br />
Erfahrung unumkehrbar verändert. Ich weiß, dass es den<br />
meisten so geht. Selbst die, die sich schon nach dem ersten<br />
Mal gegen das Choreographieren als Lebensform entscheiden.<br />
Der Einblick auf »die andere Seite« hilft den Tänzern,<br />
ein größeres Verständnis für die Theatermaschinerie zu entwickeln.<br />
Sie verstehen dadurch besser, was ein Choreograph<br />
braucht, und werden so zu einem besseren Werkzeug. Selbst<br />
für die, die sich vielleicht blamieren, wird diese Erfahrung so<br />
zu einem Gewinn.<br />
Ich freue mich jetzt schon auf den »Junge Choreographen«-<br />
Abend in dieser Spielzeit. Es wird spannend sein, zu sehen,<br />
wie sich die Wiederholungstäter weiterentwickeln, aber vor<br />
allem bin ich neugierig auf die Stücke der Neuen! <strong>Die</strong> allererste<br />
Premiere!<br />
Ich weiß noch genau, wie sich das angefühlt hat, und wie<br />
ich danach geschworen habe, nie wieder ein Stück zu machen!<br />
Trotzdem wurde ich zum Wiederholungstäter. Und<br />
dann zum Junkie. Demis Volpi<br />
Junge Choreographen<br />
Noverre -Gesellschaft<br />
23. und 24. Mai 2012 // 19:30 Uhr // Schauspielhaus<br />
10 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
11
Am 12. Mai 2012 feiert Andrea Moses’ zweite<br />
Regiearbeit in <strong>Stuttgart</strong> Premiere.<br />
Mit dabei sind der Erste Gastdirigent Michael<br />
Schønwandt, Claudio Otelli und Christiane<br />
Iven – die beiden Sänger werden als Wozzeck<br />
und als Marie zu erleben sein.<br />
Nach ihrer Inszenierung von Fausts Verdammnis von Hector<br />
Berlioz, mit der Andrea Moses im letzten Jahr die aktuelle<br />
Spielzeit eröffnete, erarbeitet sie nun Alban Bergs Wozzeck.<br />
Bergs Wozzeck gilt als Schlüsselwerk der Moderne, nicht zuletzt<br />
durch die extreme Verdichtung der Handlung und eine<br />
bei aller Atonalität hochexpressive Tonsprache. Musikalisch<br />
fasziniert dieses Werk seit seiner Uraufführung 1925 noch<br />
immer: mit vielschichtigen Klangfarben und Rhythmen, mit<br />
der virtuosen Verfremdung musikalischer Zitate, und der –<br />
bei aller Strenge der formalen Konstruktion – unmittelbaren,<br />
zugleich berührenden wie erschreckenden Fasslichkeit seiner<br />
Figuren und seiner Erzählung.<br />
Andrea Moses geht mit ihrer Inszenierung der Frage nach,<br />
was uns diese Oper, jenseits ihrer musikhistorischen Bedeutung,<br />
heute mitzuteilen hat: »Bergs Wozzeck ist zuerst und<br />
vor allem ›<strong>Die</strong> Wunde Woyzeck‹, wie Heiner Müller das Dramenfragment<br />
Georg Büchners von 1836 benennt. Wozzeck<br />
ist also etwas, was mitten in unserer zivilisierten Gesellschaft<br />
existiert, und gleichzeitig nur am Rande verhandelt<br />
wird: ein ungelöstes Problem, ein skandalöser Einzelfall, ein<br />
verheimlichtes Experiment, ein begutachteter Mord, eine<br />
Krankheitsgeschichte, eine Familientragödie. Wozzeck ist<br />
der Spiegel, den unsere Gesellschaft versteckt, um den Blicken<br />
der im rasenden Fortschritt Zurückgelassenen nicht<br />
begegnen zu müssen. Wozzeck, das sind die ›arme Leut’‹,<br />
denen noch immer der Zugriff auf gesellschaftliche Produktionsmittel<br />
unmöglich ist, die in der neuen Unübersichtlichkeit<br />
der modernen Welt die Orientierung verloren haben.<br />
Wozzeck ist der, dessen Wünsche nicht zählen.«<br />
Zentraler Ort im Drama Wozzeck ist eine Kaserne, ein Ort,<br />
der in unseren Gesellschaften auf den ersten Blick nicht<br />
mehr präsent scheint: »Kasernen kennen wir heute eher nur<br />
noch aus Fernsehmeldungen über Soldaten im Auslandseinsatz.<br />
Trotzdem, diese Soldaten kommen mitten aus unserer<br />
Gesellschaft – und sie kehren auch wieder dorthin zurück.<br />
Was wir heute aber vor allem in unseren Gesellschaften erleben,<br />
sind ganz andere Formen der Kasernierung und des<br />
Militaristischen: habitualisierte und institutionalisierte, in<br />
ihren Formen streng reglementierte und oft stark hierarchisch<br />
geprägte Arbeits- und Lebenswelten. <strong>Die</strong>se nicht am<br />
einzelnen Menschen orientierten Strukturen schaffen Spannungen,<br />
die Menschen, Familien und auch die Gesellschaft<br />
als Ganzes zerstören oder zumindest beschädigen können.<br />
Berg hat diese Spannungen in eine Musik gesetzt, die uns<br />
tiefer aber auch klarer in menschliche Abgründe sehen lässt.<br />
Bergs Wozzeck ist Herausforderung und Chance zugleich.«<br />
Wozzeck<br />
von Alban Berg<br />
Premiere 12. Mai 2012 // 19:00 Uhr // Opernhaus<br />
Mai 2012: 17.05. // 20.05. // 24.05. // 27.05. // 30.05.<br />
Juni 2012: 04.06. // 10.06. // 15.06.<br />
12<br />
04. • Premiere: Wozzeck<br />
Alban Bergs Musikdrama in einer neuen Inszenierung<br />
<strong>Die</strong> Wunde Wozzeck<br />
Bei den Proben zu Wozzeck: Christiane Iven als Marie und Daniel Brenna als Tambourmajor (Bild oben)<br />
sowie Heinz Göhrig als Narr und Claudio Otelli als Wozzeck (Fotos: A.T. Schaefer)<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
05. • Premiere: Platée<br />
Anna Eiermann – Eine Künstlerin und ihre Inspiration<br />
Wie Rameau ins<br />
Studio 54 kam<br />
<strong>Die</strong> goldene Uhr auf dem Kaminsims will einen<br />
Hauch von Noblesse suggerieren, doch die Bücher<br />
im Regal der Bibliothek des splendiden Münchner<br />
Hotels offenbaren den Staffagecharakter der Inneneinrichtung.<br />
Allein der Teppich scheint mit seinen<br />
vornehm leuchtenden Farben höheren Ansprüchen<br />
Genüge leisten zu wollen, bloß, sein Muster verschwindet<br />
zunehmend unter der Fülle der Zeichnungen,<br />
Skizzen und Bilder, welche Anna Eiermann<br />
nun darauf ausbreitet: Kostümentwürfe für den Chor<br />
in Jean-Philippe Rameaus musikalischer Komödie<br />
Platée. Rüschige Manschetten, breite Krägen, enge<br />
Hosen, breiter Schlag – auf dem flauschigen Perserteppich<br />
der Hotelbibliothek erlebt das New Yorker<br />
Studio 54 seine Auferstehung, einer der berühmtesten<br />
Nachtclubs der Welt, dessen Exzentrik und<br />
Exzesse zum Inbegriff für die späten 1970er Jahre<br />
geworden sind. »Bei der Entwicklung eines Kostümbilds<br />
steht für mich die intensive Auseinandersetzung<br />
mit dem Text und der Musik am Beginn. Eine<br />
Äußerung des Dichters Thespis aus dem Prolog von<br />
Platée war in diesem Fall für mich eine entscheidende<br />
Anregung. Er verspricht seinem Publikum – also<br />
den anderen Darstellern – seine Handlung ›inmitten<br />
einer Orgie‹ stattfinden zu lassen, in der die ›licence‹,<br />
also die ›Zügellosigkeit‹ regiert«, so Anna Eiermann.<br />
»Ich habe also zunächst nach einem Ort gesucht,<br />
an dem Personen unterschiedlichster Herkunft,<br />
Götter und Menschen, Halbgötter und Scheinwesen aufeinander treffen<br />
können und an dem alles erlaubt ist. <strong>Das</strong> New Yorker Studio 54 scheint<br />
tatsächlich ein solcher Ort gewesen zu sein.« Auf den Fotografien, die im<br />
dokumentarischen Schwarz-Weiss zwischen den farbigen Zeichnungen<br />
hervorlugen, schäkern Hollywood-Schönheiten mit den hübschen Adabeis<br />
der New Yorker Schickeria, die achtzigjährige Disco-Sally reibt ihre<br />
Hüften an einem jungen Beau, hoch zu Ross reitet – von den langbeinigen<br />
Transvestiten unbeachtet – eine halbnackte Frau auf einem Pferd herein.<br />
Im Studio 54 waren die Grenzen flüssig zwischen Zuschauern und Darstellern,<br />
zwischen Gesellschaft und Spektakel, zwischen Party und Kunst.<br />
Eine Situation, die der Uraufführung von Rameaus Komödie im Rahmen<br />
der Hochzeitsfeierlichkeiten für den Königssohn Louis XV. gar nicht so unähnlich<br />
gewesen sein dürfte, ein Fest, in dem die Zeitgenossen noch ein-<br />
<strong>Die</strong> Kostümbildnerin Anna<br />
Eiermann entwickelte für die<br />
Neuinszenierung Platée in<br />
der Regie von Calixto Bieito<br />
die Kostüme.<br />
mal den Glanz der Regentschaft des Sonnenkönigs<br />
Louis XIV. aufleuchten sahen. »Je mehr ich mich mit<br />
der Welt des Studio 54 beschäftigt habe, desto mehr<br />
sind die beiden Welten miteinander verschmolzen –<br />
denn auch das New Yorker Studio 54 hatte seinen<br />
›Thespis‹, den Dichter Truman Capote, es hatte seinen<br />
›König‹, Steve Rubell, und so sind aus den Partybildern<br />
aus dem Studio 54 allmählich meine Figuren<br />
›herausgewachsen‹.« Sein ideales Publikum stellte<br />
sich der Nachtlebenkönig Steve Rubell als einen<br />
»gemischten Salat« vor. So findet sich auch auf den<br />
Fotografien für jeden einzelnen Darsteller des <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Chores im Studio 54 ein Vorbild – von John<br />
Travolta und Gloria Swanson bis zu Yul Brynner<br />
oder Dolly Parton. »Es scheint zunächst verrückt,<br />
aber die Moden des 18. Jahrhunderts und der Seventies<br />
sind näher beieinander, als man denkt.« Denn<br />
bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein musste die<br />
Männerwelt warten, bis sie wieder ohne Weiteres<br />
lange Haare und hohe Absätze tragen durfte. <strong>Die</strong><br />
Betonung des Hüftbereichs und die eng anliegen-<br />
den Hosen sind ebenso wie die großen Hemd-<br />
rüschen und die gigantischen Manschetten ein Indiz<br />
für die modischen Verbindungen zwischen den<br />
Jahrhunderten. »Auch wenn ich zunächst nur an<br />
Atmosphären gedacht habe, freue ich mich darauf,<br />
dass wir uns nun auf Bitten des Regisseurs Calixto<br />
Bieito, was das Kostümbild angeht, authentisch<br />
in den Siebziger Jahren bewegen. Im Zusammenspiel mit der eher abstrak-<br />
ten Bühne von Susanne Gschwender und den champagnersprühenden<br />
Arien und Tänzen von Rameau wird es etwas ganz Neues ergeben. Ich<br />
bin sicher, wir setzen einen neuen Trend.« <strong>Die</strong> Stilprobe in der Münchner<br />
Hotelbar haben die Figurinen bereits bestanden. Patrick Hahn<br />
Platée<br />
von Jean-Philippe Rameau<br />
Premiere 01. Juli 2012 // 17:00 Uhr // Opernhaus<br />
Juli 2012: 04.07. // 06.07. // 09.07. // 13.07.<br />
Figurinen von Anna Eiermann für Platée<br />
(von links nach rechts): Victor Hugo, The Mysterious<br />
Twins, Mystery Bird Dancer und Martha Graham<br />
13
Ballett im Park (Foto: Ulrich Beuttenmüller)<br />
Der absolute Traum<br />
Einmal im Jahr, an einem bestimmten Sonntag im Sommer,<br />
werden Vorstellungen des <strong>Stuttgart</strong>er Balletts und der John<br />
Cranko Schule live aus dem Opernhaus auf eine Großbildvideowand<br />
in den Schlossgarten übertragen. 2012 wird das <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Ballett diese außergewöhnliche Veranstaltung zum<br />
sechsten Mal ausrichten: Ballett, live und draußen im Park, für<br />
alle... und zwar KOSTENLOS. Eine Gelegenheit also, bei der jeder<br />
dazu eingeladen ist, zumindest ein Mal Teil des berühmten<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Ballett-Publikums zu sein, auch wenn – oder ganz<br />
besonders wenn – man noch nie zuvor im Ballett war.<br />
In diesem Jahr, am 15. Juli 2012, tanzen wir mit John Crankos<br />
Onegin eines der weltweit berühmtesten und beliebtesten<br />
06. • Ballett im Park<br />
Für jedermann, umsonst, im Freien<br />
Der Erste Solist Evan McKie über Onegin und Ballett im Park<br />
Ist Ballett wirklich etwas für jedermann?<br />
Kann diese Kunst jemanden, der in seinem<br />
Leben noch kein Ballett gesehen hat, ebenso<br />
begeistern wie einen waschechten Kenner?<br />
Berührt das Drama von Onegin einen<br />
Menschen, der Puschkins Geschichte nie<br />
gelesen hat, genauso wie einen absoluten<br />
Literatur-Freak? <strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett zumindest<br />
ist überzeugt davon, und ich teile diese<br />
Meinung aus ganz persönlichen Gründen.<br />
Handlungsballette überhaupt – für das Publikum im Opernhaus<br />
und für die Leute draußen im Schlossgarten. <strong>Die</strong> große<br />
Leinwand steht gleich am Seeufer vor dem Theater, und die<br />
Ballett im Park-Gäste haben einen ganz besonderen Blick<br />
auf diese spezielle Vorstellung. Während draußen die Sonne<br />
untergeht und drinnen auf der Bühne das Drama von Onegin<br />
seinen Lauf nimmt, verfolgen die Zuschauer an der Leinwand<br />
das Ballett nicht nur von Weitem, sondern sehen mit Hilfe<br />
von unterschiedlich platzierten Kameras auch Nahaufnahmen<br />
der Tänzer und das Geschehen hinter der Bühne, die<br />
Vorbereitungen, Interviews mit den Hauptdarstellern und einigen<br />
der vielen Kollegen, die für eine riesige Produktion wie<br />
diese hinter den Kulissen zusammen arbeiten.<br />
Auch wenn zwischen der Bühne und den Zuschauern draußen<br />
also gute 100 Meter liegen, erlauben die Kameras eine intime<br />
Perspektive, wie man sie sonst niemals zu sehen bekäme –<br />
außer, wenn man selbst auf der Bühne steht. <strong>Die</strong> Möglichkeit,<br />
ein Ballett auf diese Weise zu erleben, und gleichzeitig<br />
gemeinsam mit Freunden oder der Familie draußen zu picknicken<br />
und einen Sommerabend zu verbringen, schafft jedes<br />
Mal eine ganz tolle Atmosphäre.<br />
<strong>Das</strong> Ballett, das mein Leben verändert hat<br />
Onegin werden wir in diesem Jahr zum allerersten Mal bei<br />
Ballett im Park zeigen, und wir sind gespannt darauf, wie<br />
gerade die Zuschauer, die zum ersten Mal dabei sind, dieses<br />
Stück erleben – ein Ballett, das der absolute Traum jeder<br />
Tänzerin und jedes Tänzers ist. Als ich ein Junge war und noch<br />
in Kanada lebte, hatte ich nie von Onegin gehört. Ich dachte<br />
sowieso, Ballett sei etwas für kleine Mädchen in Blümchenröcken.<br />
Aber diese Meinung sollte sich bald ändern: Crankos<br />
Onegin war das erste Ballett, das ich auf der Bühne sah, und<br />
das war ein unvergessliches Erlebnis für mich! Eine Welt voller<br />
leidenschaftlicher Gefühle, Musik, die mir noch tagelang<br />
nicht aus dem Kopf ging, unglaublich starke Männer und unglaublich<br />
schöne Frauen. Am meisten überraschte mich die<br />
Tatsache, dass die Hauptperson gar keine Prinzessin war oder<br />
ein Schwanenmädchen ... sondern ein Mann! <strong>Die</strong>ses Ballett<br />
hat mein Leben verändert – es hat mir die Augen für die Welt<br />
des Tanzes geöffnet. Wenn mein erster Eindruck ein anderes<br />
Stück gewesen wäre, vielleicht hätte ich mich für diese hinreißende<br />
Kunstform nie begeistert. Und noch heute, als professioneller<br />
Tänzer, sitze ich immer noch so oft wie möglich im<br />
Publikum, nur um wieder und wieder zu erleben, wie toll es<br />
sich anfühlt, ein Teil davon zu sein.<br />
Zwanzig Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Onegin<br />
bin ich selbst einer der Tänzer, die die Ehre haben, die von<br />
Cranko kreierte Hauptrolle zu tanzen – in derjenigen Compagnie,<br />
die der Choreograph selbst gegründet hat.<br />
John Cranko war ein großherziger Mann mit einem offenen<br />
Geist. Er hat ein riesiges Publikum hier in <strong>Stuttgart</strong> für Tanz<br />
begeistert und mit der John Cranko Schule außerdem eine<br />
Ausbildungsstätte von internationalem Niveau gegründet.<br />
Auch wenn seine Compagnie, seine Ballettschule und seine<br />
Choreographien heute in der ganzen Welt bekannt und beliebt<br />
sind, glaube ich doch, dass John Crankos Ballette letztlich<br />
für immer den Baden-Württembergern gehören. Wie alle<br />
großen Künstlerpersönlichkeiten hat dieser Choreograph dadurch,<br />
dass er seine Kunst mit den Menschen geteilt hat, eine<br />
ganze Gesellschaft inspiriert und sie an einer Vision teilhaben<br />
lassen, die größer und schöner ist, als ein Mensch allein<br />
es sein kann. Ich habe das Privileg, Teil seiner Compagnie zu<br />
sein und ich bin mir bewusst, dass diejenigen, die mit Cranko<br />
gearbeitet haben, sein Erbe weiter tragen, indem sie diesen<br />
offenen künstlerischen Geist lebendig halten. Insbesondere<br />
gilt das für unseren Intendanten Reid Anderson. <strong>Die</strong> Offenherzigkeit<br />
im Umgang mit unserer Kunst, so meine ich, ist<br />
beim <strong>Stuttgart</strong>er Ballett einzigartig.<br />
Mit Herzblut dabei:<br />
Schülerinnen und Schüler aus aller Welt<br />
Ebenfalls ganz besonders bei Ballett im Park ist die Matinée-<br />
Vorstellung der John Cranko Schule im Opernhaus, die vor allem<br />
bei Kindern und Familien sehr beliebt ist. Auch die wird<br />
live in den Schlossgarten übertragen und ist die perfekte Gelegenheit,<br />
mit eigenen Augen zu sehen, warum die Ballettschule<br />
in diesem Jahr ihres 40. Jubiläums so oft in der Zeitung<br />
stand. <strong>Die</strong> Schülerinnen und Schüler aus aller Welt zeigen<br />
sich an diesem großen Tag immer von ihrer allerbesten Seite,<br />
und das Ballett im Park-Publikum kann sich beim Zuschauen<br />
schon einmal Gedanken darüber machen, wer wohl zum<br />
„Kultur ist ein seltsames Gut,<br />
das wir nicht anfassen oder<br />
besitzen können, sondern<br />
das einzig in dem wunderschönen<br />
Spiel von Geben und<br />
Nehmen zwischen Künstlern<br />
und Publikum besteht.“<br />
nächsten Onegin heranwachsen wird ... Als Absolvent der<br />
John Cranko Schule erinnere ich mich gut daran, wie viel Arbeit<br />
und Herzblut in die Vorbereitungen für die jährliche Matinee<br />
im Opernhaus flossen. <strong>Die</strong> Schüler sind stolz darauf, dass<br />
diese Abschlussvorstellungen dank moderner Technologie<br />
nun auch für das große Publikum im Park zu sehen sind. Vor<br />
zehn Jahren wäre das nicht möglich gewesen! Auf die Weise<br />
können die Tänzer so vielen Menschen zeigen, was an ihrer<br />
Kunstform so aufregend ist, die ja immer »live« ist.<br />
Ich selbst bin jedes Mal erstaunt darüber, dass, obwohl Ballett<br />
im Park ja keine Zäune hat, keinen Eintritt kostet und die<br />
Zuschauer kommen und gehen können, wann sie möchten, die<br />
meisten noch lange über das Ende der Vorstellungen hinaus<br />
da bleiben. <strong>Die</strong> Stimmung im Park ist so schön, dass fast alle<br />
Oben Ruiqi Yang und Constantine Allen, Schüler der John Cranko Schule.<br />
(Foto: <strong>Stuttgart</strong>er Ballett)<br />
Rechts Evan McKie und Myriam Simon in John Crankos Onegin.<br />
(Foto: <strong>Stuttgart</strong>er Ballett)<br />
Evan McKie<br />
Evan McKie wurde in Toronto, Kanada geboren. Nach erstem Ballettunterricht<br />
in seiner Heimatstadt wechselte er an die Kirov Academy in Washington<br />
D.C. Danach besuchte er die John Cranko Schule in <strong>Stuttgart</strong>, wo er im<br />
Jahr 2001 seinen Abschluss machte. Anschließend wurde Evan McKie Eleve<br />
beim <strong>Stuttgart</strong>er Ballett und wurde ein Jahr später in das Corps de ballet<br />
aufgenommen. 2005/06 wurde er zum Halbsolisten, 2006/07 zum Solisten<br />
befördert. In der Spielzeit 2009/10 erfolgte die Ernennung zum Ersten<br />
Solisten. Neben seiner Arbeit als Tänzer betätigt er sich immer wieder als<br />
Autor für »Dance Magazine« (USA).<br />
bleiben und darauf warten, dass wir Tänzer auf den Balkon des<br />
Opernhauses kommen und unseren Gästen draußen zuwinken –<br />
einer neuen Generation von kulturbegeisterten <strong>Stuttgart</strong>ern.<br />
Kultur ist ein seltsames Gut, das wir nicht anfassen oder<br />
besitzen können, sondern das einzig in dem wunderschönen<br />
Spiel von Geben und Nehmen zwischen Künstlern und Publikum<br />
besteht. Für dieses Spiel, und für dessen Ausdehnung auf<br />
alle Menschen in <strong>Stuttgart</strong> und der Region, kann ich mir keinen<br />
schöneren Rahmen vorstellen als Ballett im Park.<br />
Evan McKie<br />
Ballett im Park<br />
Am Eckensee im Schlossgarten (vor dem Opernhaus)<br />
Sonntag, 15. Juli 2012<br />
11:00 Uhr Matinee der John Cranko Schule<br />
19:00 Uhr Onegin<br />
Choreographie: John Cranko, Musik: Peter I. Tschaikowsky,<br />
Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose<br />
Eintritt frei!<br />
14 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
15<br />
06.
Der Dramaturg Koen Bollen unterhielt<br />
sich mit Jennifer WalShe über Videogames,<br />
Wunderbomben und die Jugendoper<br />
<strong>Die</strong> Taktik, die sie zur Zeit für die Junge<br />
Oper komponiert und inszeniert.<br />
Koen Bollen: Warum bist Du Komponistin geworden?<br />
Jennifer Walshe: Weil ich es mag, Dinge zu machen.<br />
Wenn ich zurückschaue, dann war das eigentlich immer<br />
extrem klar, das ist lustig, aber ich habe es überhaupt nicht<br />
klar gesehen. Irgendwann war ich so von Musik absorbiert,<br />
dass ich Trompete studierte. Aber ich wollte eben lieber<br />
Dinge machen. Und was ich besonders liebe ist, bunte und<br />
glänzende Dinge zu sammeln. Wie eine Elster. Deshalb<br />
wechselte ich zur Komposition.<br />
Koen Bollen: Nach der Barbie Oper XXX_LIVE_NUDE_<br />
GIRLS für Kids, der <strong>Stuttgart</strong>er Zukunftsvision 2091 oder<br />
der Berliner Oper Commander Kobayashi, um einmal in<br />
die Kiste Deiner Opern und Performances zu greifen, folgt<br />
nun <strong>Die</strong> Taktik für die Junge Oper <strong>Stuttgart</strong>. Vier Sänger begeben<br />
sich auf eine intergalaktische Expedition. Man weiß<br />
nicht, sind sie Avatare oder Menschen, befinden sie sich in<br />
einem Raumschiff, in einem Labor oder einem Filmstudio.<br />
Sechs Musiker erzeugen nicht nur Klänge, sondern ordnen<br />
auch mal seltsame Fundstücke. B-Boys und Tricker spielen<br />
Tennis oder Schach. Was ist <strong>Die</strong> Taktik?<br />
Jennifer Walshe: Ich sehe <strong>Die</strong> Taktik als eine Art Meditation<br />
über Wunder. Ja, es geht um Spiele. Aber Spiele<br />
im weiteren Sinne, nicht nur um Videospiele, Schach oder<br />
Tennis, sondern um Evolutionsspiele. Und um die Art und<br />
Weise, wie wir sie spielen. Worauf ich immer wieder stoße<br />
ist diese Idee von Spiel, ernsthaftem Spiel, das immer noch<br />
Spaß ist, aber das man unverwandt spielt.<br />
Koen Bollen: Auch dann, wenn man eigentlich denkt,<br />
man spielt nicht?<br />
Jennifer Walshe: Genau. Wir spielen, wenn wir beschließen,<br />
was wir anziehen, oder ob wir vorne oder hinten<br />
im Bus sitzen wollen, wenn wir etwas bei eBay ersteigern.<br />
(Ich warte z.B. immer bis zur letzten Sekunde und steigere<br />
dann los, keine Autos oder so, zum Beispiel eine Schachtel<br />
mit gebrauchten Pferderosetten, dafür stelle ich mir den<br />
Wecker auch mitten in der Nacht. Einer meiner Freunde<br />
fand das unfair, ok, aber ich bekomme damit die Dinge, die<br />
ich haben möchte). Oder ob wir uns im Supermarkt bei der<br />
Kasse für »Zehn Artikel und weniger« anstellen, obwohl wir<br />
elf Artikel im Einkaufswagen haben. Mal wollen wir uns einfach<br />
nur im Spiel verlieren, mal kämpfen wir ums Überleben.<br />
Wenn wir uns in der Welt umschauen, versuchen wir,<br />
Sinn darin zu sehen, indem wir in den Informationen, die<br />
auf uns einstürzen, nach Mustern suchen. Wir lernen, giftige<br />
Pilze von essbaren zu unterscheiden. Oder wir durchforsten<br />
die Facebook-Nachrichten nach interessanten News.<br />
Koen Bollen: Welche Rolle spielen die digitalen Medien<br />
bei diesen Prozessen?<br />
Jennifer Walshe: Wir sind Cyborgs. Wir benutzen Google<br />
als Erweiterung unseres Hirns: Busfahrpläne lernen wir<br />
nicht mehr auswendig, sondern schauen sie im iPhone<br />
nach. Ein Großteil der Populärkultur ist heute ein Bienenschwarm<br />
von Bites: Nehmen wir die Videos von Lady Gaga<br />
oder Beyoncé: Sie sind richtiggehend überladen mit Informationen,<br />
sie zitieren oder spielen auf andere Videos an,<br />
mit denen dann jeder wieder irgendetwas verbindet.<br />
07. • Uraufführung: <strong>Die</strong> Taktik<br />
Von Avataren und Paralleluniversen an der Jungen Oper<br />
Wir sind Cyborgs<br />
Koen Bollen: <strong>Das</strong> ist auch deine Arbeitsweise?<br />
Jennifer Walshe: Ja. Ich bin viel mehr daran interessiert,<br />
den Zuschauern so viel Information wie möglich zu geben,<br />
als ihnen eine Geschichte von A bis Z vorzuführen. Ich genieße<br />
es, Wunderbomben zu zünden und zu beobachten,<br />
wovon die Menschen wirklich getroffen sind. Ich weiß dass<br />
einige Kids Schach langweilig finden und sich dann vielleicht<br />
ihrem Handy widmen, andere wieder lieben Tennis.<br />
<strong>Die</strong> Taktik enthält für mich eine klare Message. Aber ich<br />
muss sie niemandem einhämmern, ich gebe den Zuschauern<br />
einfach die Möglichkeit, sich ihr auszusetzen.<br />
Koen Bollen: Du gibst den Kids viel Verantwortung. Der<br />
Konsum von Videospielen bei Jugendlichen und ihre Überpräsenz<br />
im Internet wird ja sehr sorgenvoll beobachtet...<br />
Jennifer Walshe: <strong>Das</strong> ist die bizarre Kehrseite der Sozialen<br />
Medien: Viele Kids fühlen sich einsam und isoliert.<br />
Genau für sie hat <strong>Die</strong> Taktik eine besondere Botschaft. Ich<br />
möchte mit ihnen darüber sprechen, dass wir alle miteinander<br />
verbunden sind. Denn sie hängen die ganze Zeit an<br />
ihren Handys oder in Facebook und wir denken, sie sind alle<br />
miteinander in Verbindung, aber in Wirklichkeit werden sie<br />
dort häufig einfach nur gemobbt. Aber es gibt ein riesiges<br />
Bedürfnis nach Verbundenheit. Eigentlich schreibe ich mit<br />
<strong>Die</strong> Taktik eine Art Brief an mich selbst als Teenager und<br />
sage mir rückwirkend, wie zauberhaft das Leben ist. Weißt<br />
du, ich habe meine Teeny-Jahre nicht wirklich genossen.<br />
Ich glaube, niemand tut das. Es ist eine ganz schön schreckliche<br />
Zeit für die meisten. Sogar wenn du Cheerleader bist,<br />
ich weiß nicht.<br />
Koen Bollen: <strong>Die</strong> Verbindungen, von denen du sprichst,<br />
sind anderswo?<br />
Jennifer Walshe: Genau in diesem Augenblick gibt es in<br />
diesem Raum zum Beispiel eine Menge Geräusche, die eine<br />
Fledermaus oder ein Hund hören können, wir aber nicht.<br />
Elefanten kommunizieren durch Erderschütterungen. Und<br />
on top fluten hier dauernd Partikel durch uns durch, auch<br />
solche, die von der Sonne oder anderen Galaxien kommen.<br />
Wenn du daran denkst, dann ist das doch eine wunderschöne<br />
Sicht auf das Leben.<br />
Koen Bollen: Du bist schon als Kind gerne in Computerspiele<br />
abgetaucht und tust es noch immer?<br />
Jennifer Walshe: Genau wegen diesen Überlappungen<br />
und Vernetzungen. Ich liebe es, mich mit Paralleluniversen<br />
oder Quantenphysik zu beschäftigen oder mit Videogames.<br />
<strong>Das</strong> Raumgefühl in den Spielen: Wir werden vertraut mit<br />
diesen massiven Architekturen, durch die wir uns bewegen<br />
und die wir in uns aufnehmen. Wir überwinden Zeit und<br />
Raum und unsere physischen und psychischen Grenzen.<br />
Koen Bollen: Ist das nicht ein immer wiederkehrendes<br />
Thema im Theater überhaupt?<br />
Jennifer Walshe: Klar, denk an die allerersten Opern, die<br />
auf dem Orpheus-Mythos basieren. <strong>Das</strong> ist eine Reise in eine<br />
andere Dimension. Computerspiele haben alles davon und<br />
noch zwanzig mal mehr. In <strong>Die</strong> Taktik verwende ich Landschaften<br />
aus Computerspielen als eine Art ungeschnittenes<br />
Filmmaterial, als »footage«, um William Gibsons Buch<br />
Pattern Recognition zu zitieren. Man durchquert sie und<br />
scannt sie ab nach Mustern. In Gibsons Roman tauchen urplötzlich<br />
anonyme Filmclips im Internet auf. Sie scheinen<br />
sich nach und nach zu einem Film zusammenzufügen, doch<br />
die Reihenfolge bleibt rätselhaft. Ich hoffe, dass nie jemand<br />
auf die Idee kommt, aus diesem Buch einen Film zu machen,<br />
denn ich möchte nie die Lösung wissen. Ich möchte<br />
nur das wissen oder ahnen, was in meinem Hirn ist. Es sind<br />
solche Bilder, die einem eine Spur irgendwohin legen.<br />
Koen Bollen: Welche ganz besondere Taktik braucht es,<br />
sein Leben gut zu leben?<br />
Jennifer Walshe: Ich denke, wir müssen lernen, die<br />
Taktiken, die wir im Leben benutzen, zu beobachten. Genau<br />
darum geht es auch in dieser Oper. So dass das <strong>Das</strong>ein<br />
nicht ein zielorientiertes Null zu Null-Spiel wird, sondern<br />
die Erfahrung eines frei konstruierten Lebens.<br />
Redaktion: Barbara Tacchini<br />
<strong>Die</strong> Taktik<br />
Musiktheater von Jennifer Walshe<br />
ab 13 Jahren<br />
Uraufführung: 14. Juni 2012 // 19:00 Uhr //<br />
Kammertheater<br />
Weitere Vorstellungen im Juni und Juli:<br />
16.06. // 19.06.* // 20.06.* // 23.06. // 27.06.* // 28.06. //<br />
30.06. // 02.07.* // 05.07. // 07.07. // 09.07.* // 11.07.* //<br />
13.07. // 14.07.2012<br />
* Schulvorstellungen<br />
Jennifer Walshe Geboren 1974 in Dublin, Irland, ist Komponistin, Sängerin<br />
und Improvisationskünstlerin. Sie studierte Komposition bei John Maxwell<br />
Geddes an der Royal Scottish Academy of Music and Drama und bei Kevin<br />
Volans in Dublin, graduierte 2002 bei Amnon Wolman an der Northwest<br />
University in Chicago, war 2003 Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude<br />
in <strong>Stuttgart</strong> und war Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD 2004.<br />
Ihre Kompositionen wurden in Europa, den USA und Kanada aufgeführt,<br />
u.a. auf deutschen Musikfestivals wie den Donaueschinger Musiktagen und<br />
dem ECLAT Festival. Sie lebt und arbeitet in Dublin, London und New York.<br />
Bild oben v.l. Christian Wiehle, Stefan Schreiber, Amit Epstein, Andrea Böge,<br />
Barbara Tacchini, Koen Bollen und Jennifer Walshe bei der Bauprobe zu <strong>Die</strong><br />
Taktik (Fotos : A.T. Schaefer)<br />
Bild links Jennifer Walshe (Foto: Blackie Bouffant)<br />
16 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
17
In der Welt<br />
zu Hause<br />
Am 28. Mai packt man beim <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Ballett wieder die Koffer: <strong>Die</strong> Compagnie<br />
bricht auf zum Gastspiel, um Vorstellungen<br />
in Japan und Korea zu geben.<br />
<strong>Die</strong> Compagnie verreist nicht zum ersten Mal, im Gegenteil:<br />
Kaum eine andere deutsche Compagnie von dieser Größe<br />
tourt so viel und so regelmäßig. Mehr als vierzig Länder von<br />
Ägypten bis Uruguay hat das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett in fünf Jahrzehnten<br />
bereist, in rund zweihundert Städten im In- und Ausland<br />
Vorstellungen gegeben und den Namen der Stadt <strong>Stuttgart</strong><br />
auf diese Weise in die ganze Welt getragen. Manch einer<br />
würde sogar behaupten, dass das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett die Welt<br />
eroberte, bevor es die <strong>Stuttgart</strong>er für sich gewinnen konnte.<br />
<strong>Das</strong> legendäre USA-Gastspiel mit John Cranko 1969 etwa<br />
brachte das geflügelte Wort des »<strong>Stuttgart</strong> Ballet miracle«<br />
(des »<strong>Stuttgart</strong>er Ballettwunders«) hervor, das noch heute in<br />
vielen Berichten über die Compagnie mitschwingt.<br />
Eine Kunstform, die ohne Sprache<br />
und damit über alle Länder- und<br />
Kontinentgrenzen hinaus funktioniert.<br />
Zum großen Glück des Ballettintendanten Reid Anderson und<br />
seines künstlerischen Teams ist das internationale Interesse<br />
weiterhin groß und Einladungen kommen aus allen Winkeln<br />
der Erde. Oft müssen Angebote auch abgelehnt werden, denn<br />
zu Hause ist <strong>Stuttgart</strong>, und das Publikum hier soll am meisten<br />
von der heimischen Compagnie haben. Dennoch: <strong>Die</strong> Gastspieltätigkeit<br />
ist ein elementarer Bestandteil der künstlerischen<br />
Arbeit, gerade in einer Kunstform, die ohne Sprache und damit<br />
über alle Länder- und Kontinentgrenzen hinaus funktioniert.<br />
Gut drei Wochen wird das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett in dieser Saison<br />
unterwegs sein, und mit auf die große Reise gehen drei<br />
abendfüllende Handlungsballette, alle mit großer Besetzung<br />
und einer aufwändigen Ausstattung. Ballettproduktionen<br />
dieses Kalibers auf eine neue Bühne zu stellen, ist ein logistischer<br />
Kraftakt. Nicht nur die Originalkulissen müssen Monate<br />
im Vorfeld verzollt und verschifft werden, auch Trainingskleidung<br />
und Ballettschuhe für die Compagnie, Büromaterial, und<br />
die Kostüme von vier bis fünf Tänzerbesetzungen – für jedes<br />
Stück. Für eine einzige Besetzung der Kameliendame etwa<br />
sind schon 220 Kostüme notwendig, für eine Vorstellung von<br />
Schwanensee 54 Tutus. In diesem Jahr kommen auf die Weise<br />
ganze 99 Transportkisten mit Kostümen zusammen! Je nachdem,<br />
welche Bedingungen im Gastgebertheater herrschen,<br />
geht im Notfall auch mal eine Waschmaschine, eine Nähmaschine<br />
oder ein Trockenschrank mit auf Tournee.<br />
Ballettproduktionen dieses Kalibers<br />
auf eine neue Bühne zu stellen, ist ein<br />
logistischer Kraftakt.<br />
Außerdem sind nicht nur viele Tänzer, sondern auch viele weitere<br />
Fachleute vor Ort notwendig. Rund 100 Personen reisen<br />
von den <strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong> an, um mit anzupacken –<br />
darunter Ballettmeister, Inspizient, Bühnentechniker, Maskenbildner,<br />
Garderobieren, Tonmeister ... Vom Theater im<br />
Gastspielland kommen natürlich weitere Helfer dazu, und die<br />
Verständigung kann recht abenteuerliche Wege gehen, zum<br />
Beispiel wenn es darum geht, sich mit den Bühnentechnikern<br />
in einem fremden Haus auf einer fremden Sprache auf<br />
die exakt gleichen Vorgehensweisen zu einigen, mit Hilfe von<br />
Händen und Füßen einer großen Schar von Kinderstatisten die<br />
richtigen Plätze zu weisen, oder den Garderobenhelfern ohne<br />
Worte zu zeigen, wie sich komplizierte Kostüme schnell an-<br />
und ablegen lassen. Zum Glück sind die <strong>Stuttgart</strong>er ein eingespieltes<br />
Team, und die Erfahrung hilft bei vielen Fragen weiter.<br />
<strong>Die</strong>ses Mal haben die Japan Performing Arts Foundation und<br />
das Sejong Center for the Performing Arts in Südkorea eingeladen,<br />
und gleich in den ersten Gesprächen wurde der Wunsch<br />
der Gastgeber klar: die berühmte <strong>Stuttgart</strong>er Compagnie in<br />
einer ihrer Paradedisziplinen, nämlich großen Handlungsballetten,<br />
zu sehen.<br />
Mehr als vierzig Länder von Ägypten<br />
bis Uruguay hat das <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Ballett in fünf Jahrzehnten bereist.<br />
In Japan werden es John Crankos Ballette Der Widerspenstigen<br />
Zähmung und Schwanensee sein, mit Vorstellungen<br />
in Tokyo, Nishinomiya und Otsu, anschließend geht es weiter<br />
nach Seoul in Südkorea mit John Neumeiers <strong>Die</strong> Kameliendame.<br />
<strong>Die</strong>se Werke finden sich heute im Repertoire vieler<br />
internationaler Compagnien, aber es ist und bleibt ein ganz<br />
besonderes Erlebnis, diejenige Compagnie darin zu erleben,<br />
der diese Stücke auf den Leib geschneidert wurden, und<br />
deren Tänzer die Stücke in jeder Faser ihres Körpers tragen:<br />
das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett.<br />
<strong>Das</strong> Publikum auf Reisen ist jedes Mal ein anderes, die Reaktionen<br />
auf das gleiche Stück können völlig unterschiedlich sein.<br />
»Natürlich sind wir verwöhnt«, erklärt etwa Sue Jin Kang, die<br />
aus Südkorea stammende Erste Solistin, die beim Gastspiel<br />
in ihrem Heimatland die Hauptrolle der Marguerite Gautier<br />
tanzen wird. »<strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballettpublikum ist ja für sein<br />
großes und waches Interesse an Tanz und für seinen herzlichen<br />
Applaus berühmt. Aber das koreanische Publikum ist<br />
auch phänomenal, und vor allem so temperamentvoll! Wenn<br />
den Zuschauern dort etwas gefällt, dann merkt man das sehr<br />
deutlich. Ein Unterschied ist sicher, dass die Ballettfans in Korea<br />
mehr den persönlichen Kontakt zu uns Tänzern suchen.<br />
Manchmal warten nach einer Vorstellung Hunderte von Fans<br />
vor dem Theater auf uns, das ist schon toll.«<br />
Bei einer Gruppe, deren Tänzer aus<br />
23 Nationen stammen, ist fast jede Reise<br />
für irgendjemanden eine Heimreise.<br />
Bei einer Gruppe, deren Tänzer aus 23 Nationen stammen, ist<br />
fast jede Reise für irgendjemanden eine Heimreise. Und für die<br />
anderen? Bieten die Einladungen in große und kleine Theater<br />
auf allen Kontinenten die Möglichkeit, den eigenen Horizont zu<br />
erweitern, sich künstlerisch und menschlich weiter zu bilden,<br />
die Welt zu sehen – und von der Welt gesehen zu werden.<br />
Claudia Brüninghaus<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Ballett, Japan und Korea Tour 2012<br />
1. & 2. Juni: Der Widerspenstigen Zähmung<br />
Bunka Kaikan (Tokyo, Japan)<br />
5. – 7. Juni: Schwanensee<br />
Bunka Kaikan (Tokyo, Japan)<br />
9. Juni: Der Widerspenstigen Zähmung<br />
Hyogo Performing Arts Center (Nishinomiya, Japan)<br />
10. Juni: Schwanensee<br />
Biwako Hall (Otsu, Japan)<br />
15. – 17. Juni: <strong>Die</strong> Kameliendame<br />
Sejong Center (Seoul, Korea)<br />
Von links nach rechts Biwako Hall, Foto: Japan Performing Arts Foundation; Kinderstatistinnen für Der Widerspenstigen Zähmung in Macao 2011, Foto: <strong>Stuttgart</strong>er Ballett; Sejong Center, Foto: credia.co.kr<br />
18<br />
08. • <strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett auf Tournee<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
Kulissen, Kostüme, Trainingskleidung,<br />
Büromaterial und technische<br />
Ausrüstung reisen dem <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Ballett in Schiffscontainern voraus.<br />
(Foto: <strong>Stuttgart</strong>er Ballet)<br />
19
Auf Einladung des Goethe-Instituts Montevideo/Uruguay<br />
hat Volker Lösch dort mit<br />
ehemals politisch inhaftierten und gefolterten<br />
Frauen einen beeindruckenden und mutigen<br />
Theaterabend entwickelt und auf der<br />
Bühne des größten Theaters in Uruguay zur<br />
Aufführung gebracht.<br />
Wir nehmen seine aktuelle Inszenierung für<br />
das Schauspiel <strong>Stuttgart</strong> »<strong>Die</strong> Gerechten«<br />
zum Anlass, über diese Arbeit in Montevideo<br />
zu berichten.<br />
<strong>Das</strong> Projekt: Antígona Oriental<br />
Volker Lösch wuchs sechs Jahre in Montevideo auf, seine Familie<br />
verließ Südamerika kurz vor dem Putsch 1973. Für die<br />
Inszenierung Antígona Oriental mit ehemals politisch inhaftierten<br />
Frauen, deren Töchtern und Exilantinnen der uruguayischen<br />
Diktatur arbeitete er intensiv mit der Künstlerin und<br />
Dramaturgin Marianella Morena zusammen.<br />
Der Begriff »Oriental« im Titel des Theaterstücks bezieht sich<br />
auf Uruguay. <strong>Die</strong> offizielle Bezeichnung des südamerikanischen<br />
Landes lautet: »República Oriental del Uruguay« (Republik<br />
östlich des Flusses Uruguay).<br />
Umfangreiche Recherche- und Textarbeiten, sowie eine<br />
künstlerische Neuinterpretation des Mythos Antigone waren<br />
notwendig, um von der Vergangenheit und einem Teil der<br />
jüngsten Geschichte Uruguays erzählen zu können – einem<br />
Land, das von 1973 bis 1984 von einer Militärdiktatur regiert<br />
wurde. Deren Verbrechen sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt<br />
worden, was dort derzeit große Konflikte in politischen<br />
und sozialen Bereichen auslöst.<br />
<strong>Das</strong> Thema der »Antigone« von Sophokles ist die Macht<br />
des Staates und ihre Grenzen – und das Recht des Einzelnen,<br />
gegen diese Macht Widerstand zu leisten. Bei Antigone wird<br />
Staatsrecht gegen Individualrecht gestellt.<br />
In Uruguay wurden während der Militärdiktatur Tausende<br />
Menschen aus politischen Gründen inhaftiert, sehr viele gefoltert;<br />
über den Verbleib von über zweihundert Personen gibt<br />
es keine Gewissheit. Derzeit ist die juristische und moralische<br />
Aufarbeitung dieser Zeit in Uruguay in vollem Gange. Dazu<br />
gehört auch die intensive Auseinandersetzung mit dem »Hinfälligkeitsgesetz«,<br />
welches während der Diktatur verübten Taten<br />
Straffreiheit zuspricht.<br />
Viele Frauen und ihre Kinder sind heute noch Traumatisierte<br />
und Leidtragende dieser Zeit – heute 50- bis 70-Jährige. Sie<br />
wurden als junge Frauen aus politischen Gründen inhaftiert,<br />
viele haben ihre Töchter und Söhne in den Gefängnissen geboren,<br />
und sie dann abgeben müssen. Fast alle Frauen wurden gefoltert,<br />
manche vergewaltigt, andere getötet. Den Söhnen und<br />
Männern dieser Frauen erging es ähnlich, viele sind verschwunden,<br />
Familien wurden auseinandergerissen und zerstört.<br />
Bei Volker Löschs Besuch des ›Museo de la Memoria‹ in Montevideo<br />
im Dezember 2009 war er von den Gesprächen mit betroffenen<br />
Frauen sehr beeindruckt.<br />
Ana Demarco, eine Betroffene und Mitspielerin, antwortete<br />
auf die Frage, ob sie bereit wäre, öffentlich auf einer Theaterbühne<br />
über ihre Erlebnisse, Wünsche und gegenwärtige<br />
Erfahrungen zu reden: »1986 waren wir einfach nur froh,<br />
überlebt zu haben. Vor zehn Jahren waren wir es immer noch,<br />
09. • Volker Löschs Theaterarbeit in Uruguay<br />
Antígona Oriental – Inszenierung mit ehemals politisch inhaftierten Frauen<br />
„In solchen Momenten<br />
weiß ich ganz genau,<br />
warum ich Theater mache.“<br />
haben aber vorsichtig angemerkt, dass wir auch etwas zu sagen<br />
haben. Heute wollen und müssen wir unsere Geschichten<br />
erzählen. Es geht uns um das Recht auf Aufarbeitung, das<br />
Recht auf Erinnerung. Um das Recht auf ein Leben in Würde,<br />
um Gerechtigkeit. Es geht um die Wahrheit«.<br />
Foto: David von Becker<br />
<strong>Das</strong> Projekt begann im Februar 2011 mit Recherchen und dem<br />
Casting der mitwirkenden Frauen und Schauspieler/innen.<br />
In der zweiten Arbeitsphase im Juni wurden Interviews über<br />
die Vergangenheit der Frauen, ihre Zeit in der Haft, Folter, ihre<br />
Familienverhältnisse und die damalige politische Situation<br />
geführt. Gespräche über ihre aktuelle Lebenssituation, ihre<br />
Forderungen an die Gesellschaft, die politische Situation in<br />
Uruguay und über das Verhältnis zu ihren Familien, von denen<br />
sie durch die Gefängniszeit teilweise lange getrennt waren,<br />
gehörten mit zum Probenprozess. Schließlich wurde über eine<br />
für die Betroffenen akzeptable zukünftige Gesellschaftsform,<br />
über Zukunft und über Gerechtigkeit debattiert.<br />
Mit Beginn der szenischen Proben im Oktober / November<br />
2011 zeigte sich eine große Solidarität unter den Frauen und<br />
schnell wurde klar: <strong>Die</strong>ser Theaterabend würde für alle Beteiligten<br />
ein existentielles Unterfangen! Auch in der Abwesenheit<br />
von Volker Lösch trafen sich die Frauen und die Schauspieler<br />
weiterhin zwei Mal pro Woche und bereiteten sich auf<br />
die letzte, die entscheidende Probenphase im Januar 2012 vor.<br />
<strong>Die</strong> Premiere am 28. Januar 2012 im ›Teatro Solís‹, dem größten<br />
Theater Uruguays, sorgte für ungeheures Aufsehen. Alle<br />
Vorstellungen waren ausverkauft und lösten heftige Diskussionen<br />
aus. Tourneen nach Cordoba, Buenos Aires, Kolumbien,<br />
Ecuador und Spanien sind vereinbart.<br />
Der Regisseur : Volker Lösch<br />
Was spricht dagegen, all die Geschichten zu erzählen und<br />
öffentlich zu machen, die die Wunden eines Landes repräsentieren?<br />
Was spricht gegen eine schonungslose juristische<br />
Aufarbeitung dieser Zeit? <strong>Das</strong> Argument, man müsse mit der<br />
Vergangenheit abschließen, um die Zukunft leben zu können,<br />
ist keines. Es ist ängstlich, feige und gleichzeitig naiv. Denn<br />
es geht nicht um primitive Abrechnungen, um Hass oder<br />
um Rache, sondern um konkrete Analysen, um Namen von<br />
Tätern, um Gerechtigkeit und Transparenz. Es geht um die<br />
Würde der Opfer.<br />
Ich gehe auf die Probe. <strong>Die</strong> Frauen proben an einer Szene,<br />
in der sie erzählen, wie sie gefoltert wurden. Unprätentiös,<br />
unsentimental, genau und konzentriert. Gleichzeitig laufen<br />
einige ihrer Peiniger durch die Straßen Montevideos. Ein<br />
unerträglicher Zustand. <strong>Das</strong> müssten die alten Herren Ex-<br />
Tupamaros eigentlich genauso empfinden. Aus irgendeinem<br />
Grund sind sie von dieser Empfindung aber abgekoppelt. Ich<br />
spüre die Erleichterung der Frauen, das alles sagen zu dürfen.<br />
Öffentlich, auf einer großen Theaterbühne. In solchen<br />
Momenten weiß ich ganz genau, warum ich Theater mache.<br />
Nach der Probe gehe ich in einen Buchladen. Ich sehe mir<br />
einen Bildband über Uruguay an. Ich denke, dass ich dieses<br />
schöne Land mit seinen außergewöhnlichen Menschen liebe.<br />
Ich fühle eine tiefe Verbundenheit. Vielleicht, weil ich Teile<br />
meiner Kindheit hier verbracht habe, bestimmt auch wegen<br />
der beeindruckenden Menschen, die ich in den letzten Monaten<br />
hier kennen gelernt habe. Ich lese das Vorwort. Darin<br />
steht, dass über Uruguay von 1973 bis 1985 »eine dunkle<br />
Zeit gekommen ist«. <strong>Das</strong> ist alles. Ein einziger Satz über diese<br />
Zeit. <strong>Die</strong>ses aktuelle Buch suggeriert, dass die Militärdiktatur<br />
wie ein Naturereignis über das Land gekommen ist. Ein<br />
einziger Satz reicht aus, um diese Zeit vergessen zu machen,<br />
um Geschichte zu vernichten. Und ich weiß zum zweiten Mal<br />
an diesem Tag, warum wir »Antígona Oriental« nicht nur machen,<br />
sondern machen müssen.<br />
(Programmheft-Beitrag von Volker Lösch zu »Antígona Oriental«)<br />
<strong>Die</strong> Dramaturgin:<br />
Marianella Morenas Tagebuch<br />
Marianella Morena ist Theaterregisseurin, Dramaturgin und<br />
Dozentin, geboren 1968 in Sarandí Grande / Uruguay, arbeitet<br />
unter anderem als Koordinatorin für das Kulturministerium<br />
Uruguays (MEC). Ihre Ausbildung absolvierte sie an der Schauspielschule<br />
der Theatereinrichtung El Gapón und erhielt ein<br />
Stipendium für Aufenthalte in Polen (u.a. Warschau) und<br />
Frankreich (Paris). Im Rahmen eines Austauschprogrammes<br />
des Goethe-Instituts Montevideo besuchte sie auch Berlin.<br />
Seit 1996 widmet sie sich dem szenischen Schreiben. 2003<br />
schrieb und inszenierte sie ein Stück über eine während der<br />
Diktatur in Uruguay verschwundene Lehrerin. Seit dem entstand<br />
in ihren Arbeiten ein enger Bezug ihrer historischen,<br />
künstlerischen und persönlichen Identität.<br />
März 2009 Ich treffe mich mit Elisabeth Lattaro vom Goethe-Institut<br />
Montevideo, um ihr einen aktiven Austausch<br />
zwischen dem deutschen und dem uruguayischen Theater<br />
vorzuschlagen. Ich recherchiere und stoße auf Volker Lösch.<br />
Provozierend, engagiert, kühn, frech. Seine Methode besteht<br />
darin, Schauspieler mit Laien zu konfrontieren, die das Thema<br />
des Stückes durch ihre Erfahrungen verkörpern. Es sind<br />
über einen Sprechchor an das Publikum herangetragene Zeugenaussagen.<br />
Eine zeitgenössische politische Methode, die<br />
den klassischen und dokumentarischen Text zurückerobert.<br />
Es ist die Begegnung zwischen so unterschiedlichen Materialien<br />
wie der Fiktion des Autors und den persönlich erlebten<br />
Zeugenaussagen der Betroffenen.<br />
17. – 19. Dezember 2009 Volker Lösch kommt nach Montevideo,<br />
trifft sich mit Theaterkünstlern und Vertretern von Institutionen<br />
aus dem Kulturbereich, sieht sich uruguayische<br />
Inszenierungen an. Er besucht das ›Museo de la Memoria‹,<br />
das Museum der Erinnerung, und lernt dort die ehemalige<br />
politische Gefangene Ana Demarco kennen.<br />
2010 Lösch schickt seinen Vorschlag: Antigone mit einem<br />
Sprechchor aus Frauen, die politische Gefangene der Diktatur<br />
waren.<br />
September / Oktober Ich fliege nach Deutschland und<br />
schaue mir dort zwei Inszenierungen von Volker an. <strong>Die</strong> Figur<br />
und die Person teilen den gleichen Ort, die Grenze zwischen<br />
Fiktion und Wirklichkeit wird durchbrochen. <strong>Die</strong> Bühne explodiert.<br />
<strong>Das</strong> Bewusstsein und die Sinne vibrieren. In genau<br />
dieser Begegnung liegt der szenische, politische und kulturelle<br />
Gedanke unserer Zeit.<br />
November Es kommt zu einem Gespräch mit der Leitung<br />
des Teatro Solís, die uns ihre Unterstützung für das Projekt<br />
zusagt.<br />
Februar / März 2011 Wir bereiten die Einladung für Schauspieler<br />
und Frauen vor. Wir stellen das Projekt vor. Volker Lösch<br />
kommt nach Montevideo. Ein Casting mit über vierzig Frauen<br />
wird durchgeführt. Neunzehn machen schließlich bei dem Projekt<br />
mit: es handelt sich um ehemalige Gefangene, um Exilierte<br />
und um zwei Töchter. Darüber hinaus werden sechs Schauspieler<br />
engagiert.<br />
Juni bis Juli Volker Lösch in Montevideo. <strong>Die</strong> Proben beginnen,<br />
es werden Interviews geführt, Zeugnisse abgelegt. Es<br />
kommt zu Treffen mit <strong>Journal</strong>isten und Politikern. Material<br />
wird gelesen: Bücher, Beiträge und Presseartikel.<br />
Oktober bis November 2011 Volker Lösch in Montevideo.<br />
Proben mit den Schauspielern, dem Chor. <strong>Die</strong> Ästhetik der<br />
Inszenierung nimmt Gestalt an. Sophokles tritt zurück, überlässt<br />
uns die Handlung. Ich schreibe. <strong>Die</strong> Figuren brauchen<br />
Stoff und Raum. <strong>Die</strong> Texte werden umfangreicher.<br />
Januar 2012 Proben mit Volker Lösch im Solís. Uraufführung<br />
am 28. Acht ausverkaufte Vorstellungen auf der bedeutendsten<br />
Bühne unseres Landes.<br />
<strong>Das</strong> auf den Proben Erlebte<br />
Es kommt zu hitzigen Diskussionen. <strong>Die</strong> Dolmetscherin bewahrt<br />
die Haltung. Manchmal habe ich das Gefühl in einem<br />
Land zu sein, das zerstückelt, zerlöchert ist, überall schießt<br />
Wasser heraus; in einem Land, in dem uns die kriminellen<br />
Gespenster wieder einholen, die Uruguay einst überfallen<br />
und geplündert haben. Heute verleihen ihm die Frauen eine<br />
Stimme. Es ist nicht egal, ob es sich um ehemalige männliche<br />
Gefangene handelt, oder um Frauen. Es ist deswegen<br />
nicht dasselbe, weil die Macht männlich ist, die Handlungen<br />
männlich sind und auch die Folterer männlich sind. »Es ist<br />
nicht dasselbe, eine Frau oder einen Mann auszuziehen«,<br />
sagen sie. In Erfahrung zu bringen, wer wir sind, was mit<br />
uns geschehen ist, was eigentlich passiert ist, geht über den<br />
20 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
21<br />
Fotos: Castagnello<br />
09.<br />
Schmerz oder die ideologische Ortung hinaus. Nicht jeder,<br />
nicht jede hat die Freiheit, eine eigene Geschichte zu haben,<br />
sie zu kennen, sie zu erzählen. Zu einer bestimmten Zeit in<br />
einem bestimmten Land geboren zu werden, ist ein Zufall,<br />
den niemand programmieren kann. Während ich ihnen zuhöre<br />
und ihre Texte lese, geht mir durch den Sinn, dass ich<br />
eine von ihnen hätte sein können. Der Abstand besteht allein<br />
darin, dass ich später geboren wurde. Ich habe eine Vision.<br />
Ich stelle mir eine Szene vor, in der Uruguay und Deutschland<br />
gemeinsame Erfahrungen austauschen. Dabei ist der<br />
Ausgangspunkt nicht etwa die Kolonisierung, die unsere Erziehung<br />
und unsere Hierarchie geprägt hat, sondern unsere<br />
historischen und kulturellen Standpunkte, die uns unterscheiden<br />
und uns einen. Ich setze auf Partnerschaft, darauf<br />
dass keiner über dem anderen steht. Darauf, dass wir leben,<br />
von dem ausgehend, was wir haben und was wir sind,<br />
und dass wir von dort aus auch produzieren.<br />
Wir ergreifen das Wort und die Bühne.<br />
Den Rest überlassen wir euch.<br />
Leben.<br />
Sein.<br />
Bitte beachten Sie auch diesen Artikel auf der Homepage<br />
des Goethe-Instituts:<br />
http://www.goethe.de/uun/bdu/de8861012.htm<br />
Aktuelle Inszenierung von Volker<br />
Lösch in <strong>Stuttgart</strong>: <strong>Die</strong> Gerechten<br />
Albert Camus greift in seinem 1949 erschienenen Theaterstück<br />
auf historische Ereignisse in Russland im Jahr 1905 zurück, als<br />
eine Gruppe junger, radikalisierter Intellektueller versuchte,<br />
durch Attentate auf Vertreter des absolutistischen Zarenregimes<br />
den Umsturz der politischen Verhältnisse zu erzielen.<br />
Während die Sozialrevolutionäre das Attentat planen, streiten<br />
sie um die Legitimation ihres politisch motivierten Handelns.<br />
Volker Lösch stellt ausgehend von Albert Camus’ Text die<br />
Fragen: Wie kann sich der einzelne Bürger gegen die Macht von<br />
Institutionen, Finanzmärkten und staatlicher Gewalt zur Wehr<br />
setzen? Wo sind die Grenzen, die sich der Rebellierende stellen<br />
muss, um nicht selbst zum Auslöser von Gewalt zu werden?<br />
Welches Ziel rechtfertigt den Einsatz welcher Mittel?<br />
<strong>Die</strong> Gerechten<br />
von Albert Camus<br />
Regie: Volker Lösch, Bühne und Kostüme: Cary Gayler,<br />
Dramaturgie: Jörg Bochow; Mit: Marco Albrecht, Lisa<br />
Bitter, Jan Jaroszek, Matthias Kelle, Markus Lerch<br />
Premiere am 19. Mai 2012 // 19:30 Uhr // Schauspielhaus
Foto: A. T. Schaefer<br />
22<br />
10. • Auf der Suche nach dem Originalklang<br />
Dirigent Bernhard Forck zu Gast beim Staatsorchester <strong>Stuttgart</strong><br />
Neue Bögen für das<br />
Staatsorchester Bereits<br />
Der Geiger und Dirigent Bernhard forcK leitete<br />
beim Staatsorchester <strong>Stuttgart</strong> einen Workshop zur<br />
Interpretation französischer Barockmusik.<br />
Der Konzertmeister der Akademie für Alte Musik ist ein<br />
Experte auf dem Gebiet der vorklassischen Musik.<br />
»Ich weiß nicht, wie die französische Armee ausgesehen hat, aber bitte spielen<br />
Sie diese Stelle so, als ob sie einen Federbusch auf dem Hut hätten. Metallhelme,<br />
Stiefelspitzen und ...«. Noch ehe der Zaungast auf der harten Treppe des<br />
schmucklosen Orchesterprobenraums dazu gekommen ist, sich einen imaginären<br />
Kopfschmuck aufzusetzen oder auch nur daran zu denken, das Schuhwerk<br />
zu wechseln, bewegen sich die Bögen bereits wieder mit leichtem Druck<br />
über die Saiten der Instrumente. Obwohl nur wenige Worte gefallen sind, hat<br />
sich der Charakter der Musik vollkommen gewandelt. Was Augenblicke zuvor<br />
noch ein wenig breit und schwer daher gestiefelt kam, huscht nun tänzelnd<br />
vorüber, mit anderem Glanz, mit anderer Spannung.<br />
Der Geiger und Dirigent Bernhard Forck ist zum ersten Mal beim Staats-<br />
orchester <strong>Stuttgart</strong> zu Gast. Er steht in der Mitte zwischen den Stimmgruppen,<br />
neben seinen sitzenden Kollegen ragt der groß gewachsene Mann empor. Doch<br />
er geht tief in die Knie um seinen Kollegen die dynamischen Veränderungen<br />
anzuzeigen, mit dem Hals seiner Geige scheint er jede Gruppe bei ihrem Einsatz<br />
zu berühren – das Zeigen und das Machen werden bei ihm, der mit seinem<br />
Instrument dirigiert, eins. Forcks erster Besuch beim Staatsorchester erfolgt<br />
in ungewöhnlicher Funktion: Nicht allein, um ein Werk einzustudieren, nicht<br />
allein, um ein Konzertprogramm zu erarbeiten ist er eingeladen – er leitet einen<br />
Workshop zur Interpretation französischer Barockmusik. Im 7. Kammerkonzert<br />
des Staatsorchesters am 4. Juli 2012 werden die Workshop-Ergebnisse<br />
zu erleben sein – und auch in den Vorstellungen der Neuproduktion von Jean-<br />
Philippe Rameaus närrischer Oper Platée, die ab dem 1. Juli unter der musikalischen<br />
Leitung von Christian Curnyn auf dem Spielplan der Oper <strong>Stuttgart</strong> steht<br />
(siehe auch Seite 13).<br />
Für den Workshop haben die Musikerinnen und Musiker des Staatsorchesters<br />
teilweise ihr Handwerkszeug vertauscht: Anstelle ihrer gewöhnlichen Bögen<br />
halten sie die stärker gebogenen Barockbögen in Händen. <strong>Die</strong> Unterschiede<br />
»liegen auf der Hand«: »Sie sind leichter, sie sind kürzer, sie reagieren schneller als<br />
ein moderner Bogen«, beschreibt Kathrin Scheytt aus der Gruppe der 1. Violi-<br />
nen. »Durch die leichtere Ansprache auf der<br />
Saite ergibt sich einiges von selbst. Dadurch<br />
musste man vieles, was man anders machen<br />
sollte, gar nicht mehr benennen. Es ergibt<br />
sich durch die Art wie ›der Bogen spielt‹.«<br />
„Der Klang ergibt sich wie<br />
von selbst durch die Art, wie<br />
der Bogen spielt.“<br />
Bereits im 19. Jahrhundert haben Musikwissenschaftler und Musiker sich erstmals<br />
mit der Frage beschäftigt, wie die Musik vor der Entwicklung der modernen<br />
Instrumente geklungen haben mag, welche stilistischen Besonderheiten<br />
sich im Laufe der Jahrhunderte abgeschliffen haben und wie sich der Zeitgeschmack<br />
in die musikalische Überlieferung hineingefressen hat. Seit der Pionierarbeit<br />
von Ensembles wie der 1954 gegründeten Capella Coloniensis oder<br />
des 1957 begründeten Concentus Musicus von Nikolaus Harnoncourt ist die<br />
Bezugnahme auf Erkenntnisse über »Musik als Klangrede«, Darmsaiten, tiefere<br />
Stimmung der Instrumente und aufführungspraktische Besonderheiten inzwischen<br />
auch über die Kreise der Spezialensembles hinaus zum Gradmesser für<br />
künstlerische Qualität geworden.<br />
unter dem Generalmusikdirektor Lothar Zagrosek hat sich das Staatsorchester<br />
<strong>Stuttgart</strong> mit Fragen der historischen Aufführungspraxis ausein-<br />
ander gesetzt. »Unser Orchester war bis zu diesem Zeitpunkt ein richtig<br />
romantisches Opernorchester, geprägt durch die Musik von Richard Strauss und<br />
Richard Wagner – und hatte dadurch seinen<br />
Rang und seinen Ruf. Bis in die 1990er Jahre<br />
wurde auch die Musik der Klassik und die<br />
bis dahin selten gespielten Barockopern auf<br />
die gleiche Art und Weise interpretiert wie<br />
Wagner oder Strauss. Seither hat ein großer<br />
Wandel stattgefunden, die individuelle Genauigkeit,<br />
mit der Musik interpretiert wird, hat sich vervielfacht. <strong>Die</strong> Arbeit, die<br />
Werner Erhart in <strong>Stuttgart</strong> begonnen hat, war für uns stilbildend«, erinnert sich<br />
Burkhart Zeh, seit 35 Jahren Bratscher im Staatsorchester <strong>Stuttgart</strong>. »Als ich<br />
hier im Orchester begonnen habe, hat man Monteverdis Il ritorno d’ Ulisse in<br />
patria noch in einer spätromantischen Instrumentation von Luigi Dallapiccola<br />
gespielt und L’ incoronazione di Poppea in einer spätbarocken Instrumentation<br />
von Raymond Leppard. Durch die Pionierarbeit eines Nikolaus Harnoncourt<br />
beispielsweise beim Opernorchester in Zürich wurde zu diesem Zeitpunkt jedoch<br />
auch für uns Nicht-Spezialisten die Frage wichtig, wie kommen wir auf<br />
unseren modernen Instrumenten dem ›Originalklang‹ nahe.«<br />
Im unbarmherzigen Takt des Repertoirebetriebs bleibt häufig wenig Zeit,<br />
sich kniffligen Fragen über die Unterschiede des französischen und des italienischen<br />
Stils zu stellen, um die es untergründig in Rameaus Beitrag zum<br />
Pariser Buffonistenstreit in den 1740er Jahren geht. »Häufig werden an großen<br />
Häusern Aufführungen von Barockopern daher an Spezialensembles delegiert.<br />
Doch für uns Musiker ist es unheimlich wichtig, durch Fortbildungen wie<br />
diese auch nach Jahren im Berufsleben wieder neue Facetten hinzu zu gewinnen<br />
oder Wissen aufzufrischen«, betont Kathrin Scheytt, die bereits während<br />
ihres Studiums bei Rainer Kussmaul in Freiburg mit der Alte Musik-Bewegung<br />
in Berührung kam. Ein Workshop, wie ihn das Staatsorchester im März durchgeführt<br />
hat, eröffnet den Musikern den Freiraum, auch einmal Dinge auszuprobieren,<br />
wie es im alltäglichen Orchesterdienst nur schwer möglich wäre. »Man<br />
muss den Mut und die Neugierde gewinnen, Dinge zu wagen, die man sonst<br />
unterlässt. Von Tag zu Tag wurde hörbar, dass wir uns auch getraut haben, extremer<br />
mit dem Bogen umzugehen, extremere Staccati zu gestalten oder extremere<br />
›Bäuche‹ beim lauter und leiser spielen.«<br />
Nach dem kriegerischen Beginn ist Bernhard Forck in Rameaus Dardanus-<br />
Suite inzwischen bei der Chaconne angelangt, in der sich die spannungsvollen<br />
Wechsel der vorangegangenen Sätze auflösen. Hier ist ihm eine Synkope »noch<br />
nicht frech genug«, dort hört er noch nicht ausreichend »Entspannung« im<br />
„Man muss den Mut<br />
und die Neugierde gewinnen,<br />
Dinge zu wagen, die man<br />
sonst unterlässt.“<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
10.<br />
Klang: »Vergessen Sie jetzt bitte wieder die Soldatenhelme und stellen Sie sich<br />
ein französisches Frühstück im Morgenmantel mit einer Zigarette im Mundwinkel<br />
nach einer Nacht mit viel schwerem Bordeaux vor«, rät er nun den<br />
Streichern. Von den Bläsern wünscht er sich<br />
stets »flockige Töne«. »Gerade auf den Blasinstrumenten<br />
ist es schwer, einem barocken<br />
Ideal nahe zu kommen, die modernen Instrumente<br />
beruhen auf einer ganz anderen Mechanik und Technologie«, räumt<br />
Bernhard Forck ein. »Doch geht es bei so einem Workshop vor allem darum<br />
aufzuzeigen, was möglich ist und dadurch die Phantasie der Musiker anzuregen.«<br />
Als Konzertmeister in der Akademie für Alte Musik, als Solist und als<br />
Ensembleleiter gehört er zu den Koryphäen der Alte Musik-Szene in Europa.<br />
Doch dogmatisch ist sein Ansatz nicht. »Um den dynamischen Klang dieser<br />
Musik zu erreichen ist es wichtig, dass jeder Musiker und jede Stimmgruppe<br />
selbst Verantwortung ergreift für Tempo, Artikulation und Dynamik – egal wer<br />
vor dem Ensemble als Dirigent steht. Nur so gelingt es, dem Klang jene Lebendigkeit<br />
zu geben, die dieser Musik entspricht.« Auch an den Opernhäusern in<br />
Köln und Brüssel war Forck bereits zu Gast, um an der Interpretation vorklassischer<br />
Musik zu arbeiten. »<strong>Das</strong> Ergebnis hängt jedoch wesentlich davon ab,<br />
welche Bereitschaft und Offenheit die Musiker selbst in eine solche Fortbildung<br />
einbringen.«<br />
<strong>Die</strong> gelöste Atmosphäre auf der Orchesterprobebühne in <strong>Stuttgart</strong> deutet<br />
auf die große Lust hin, mit der sich die Musiker den Affektwechseln des französischen<br />
Barock hingeben und damit sich und ihrem Klangkörper eine neue<br />
Facette spielerisch einverleiben. »Es ist interessant, dass ein Orchester nicht<br />
vergisst«, sinniert der Bratscher Burkhart Zeh. »Selbst wenn ein Dirigent mit<br />
einer anderen Klangvorstellung für einige Jahre ein Orchester prägt, erinnert es<br />
sich bei so einem Workshop auch an das, was es schon einmal gelernt hat. <strong>Das</strong><br />
Orchester kann immer noch reicher in den Ausdrucksmöglichkeiten werden.«<br />
Im Workshop, würde Bernhard Forck vielleicht sagen, kann man an solchen<br />
Möglichkeiten gern auch einmal ein bisschen »rumfummeln«. Patrick Hahn<br />
Ein französisches Frühstück<br />
im Morgenmantel<br />
Platée<br />
von Jean-Philippe Rameau<br />
Premiere am 01. Juli 2012 // 17:00 Uhr // Opernhaus<br />
Weitere Vorstellungen im Juli: 04.07. // 06.07. // 09.07. // 13.07.2012<br />
7. Kammerkonzert: Buffonistenstreit<br />
mit Werken von Corelli, Lully, Jommelli und Rameau<br />
04. Juli 2012 // 19:30 Uhr // Liederhalle, Mozartsaal<br />
23
Beate Seidel: Dein Stück beschäftigt sich mit einer der<br />
Widerstandsbewegungen des letzten Jahres, genauer der<br />
»Occupy«-Bewegung. Was interessiert dich daran?<br />
Martin Heckmanns: Allein das Wort Bewegung hat<br />
schon einen Sog, dass ich gerne dabei wär. Und im Anschluss<br />
sofort die Frage, wie eine Bewegung organisiert<br />
sein müsste, dass man sich ihr anschließt oder besser noch<br />
unterwirft, damit man weg kommt von seinen Privatpro-<br />
blemen und sich bewegen lässt von Fragen, die nicht immer<br />
nur das eigene Wohlbefinden betreffen.<br />
Ich finde auch die Selbstermächtigung der Sprecher bei<br />
Protest-Zusammenkünften interessant, für andere sprechen<br />
zu wollen, ohne den offiziellen Jargon zu beherrschen<br />
und die Suche nach alternativen Ausdrucksformen. Da ist<br />
das Stück auch ganz schlicht eine Solidaritätsadresse. Denn<br />
darum geht es ja bei »Occupy« erst einmal, eine wachsende<br />
Öffentlichkeit herzustellen, die sich traut, neu und unfertig<br />
über diese großen Fragen nach Gleichheit und Gerechtigkeit<br />
nachzudenken. Ich fände es falsch, wenn sich das Theater<br />
als Versammlungsort nicht auch davon bewegen ließe.<br />
Beate Seidel: Worin liegt für dich in Betrachtung des<br />
stattfindenden Diskurses das dramatische, das bühnentaugliche<br />
Potential?<br />
Martin Heckmanns: Sitzen und miteinander reden sind<br />
ja erst einmal keine herausragend dramatischen Vorgänge.<br />
<strong>Das</strong> kann man gut sehen angesichts der Zeltlager in Frankfurt<br />
zum Beispiel. Aber demokratische Willensbildung ist<br />
wahrscheinlich immer weniger dramatisch als Königskämpfe.<br />
<strong>Das</strong> heißt ja nicht, dass man nur noch Familiendramen<br />
schreiben sollte oder Märchen vom bösen König und<br />
vom armen Tropf.<br />
Es geht bei »Occupy« um die Besetzung öffentlicher Räume,<br />
und im Stück wird der öffentliche Raum Theater besetzt.<br />
Und es kommt die Frage auf, was das Theater leisten kann<br />
in diesen Debatten oder ob Kunst vielleicht eher stört in diesem<br />
Zusammenhang. Und dass auch noch der Widerstand<br />
gegen die Kunst in diesem Raum immer Kunst bleibt. <strong>Das</strong> ist<br />
ja ein alter Horror, dass Kunst so gerne Leben wäre oder Politik<br />
und doch immer Kunst bleibt. Oder die Wechselwirkungen<br />
zumindest unscharf bleiben. Und dann wird natürlich<br />
jeder, der in der Öffentlichkeit das Wort ergreift, zum Darsteller.<br />
Und wie sich ein Miteinander entwickelt aus diesen<br />
Einzeldarstellungen und wie dieses Miteinander aussehen<br />
könnte und wann sich Zuschauer eingeladen fühlen, das finde<br />
ich dann wiederum doch bühnenrelevante Fragen.<br />
Was leider fehlt für den dramatischen Konflikt, ist der<br />
eindeutig identifizierbare Gegenspieler der Bewegung. <strong>Das</strong><br />
führt im Stück zu den Selbstzerstörungsprozessen, die ja<br />
auch recht häufig sind in Protestbewegungen und Künstlergruppen,<br />
wenn der Feind sich nicht wehrt oder sich nicht<br />
einmal angesprochen fühlt.<br />
11. • Wir sind viele und reiten ohne Pferd<br />
Gegen die eigene<br />
Gemütlichkeit vorgehen<br />
<strong>Die</strong> Poesie als eine<br />
offene Form der<br />
gemeinsamen Suche nach<br />
einer lebendigen Sprache<br />
<strong>Die</strong> Dramaturgin Beate Seidel im Gespräch<br />
mit Martin hecKMannS, dessen neuester Theatertext<br />
»Wir sind viele und reiten ohne Pferd«<br />
als Auftragsarbeit für das Schauspiel <strong>Stuttgart</strong> entstanden ist<br />
und am 20. Mai im NORD zur Uraufführung kommt.<br />
Beate Seidel: Es gibt verschiedene Positionen in deinem<br />
Stück, ganz vereinfacht gesagt stößt zum Chefideologen,<br />
der Widerstandsromantikerin und dem Sophistiker der »kritische<br />
Intellektuelle«, der die »Widerstandszelle« einer Prüfung<br />
in eigener Sache unterzieht. Gibt es eine Position, der<br />
du dich am Nächsten fühlst?<br />
Martin Heckmanns: Mich interessiert eigentlich am<br />
meisten das Wir in dem Stück. Und auch die Protagonisten<br />
wehren sich ja immer wieder gegen ihre Typisierung und<br />
ihren Selbstoptimierungszwang. <strong>Das</strong> scheint mir für gegenwärtige<br />
Bewegungen auch eine zentrale Schwierigkeit, wie<br />
bei fortschreitender Individualisierung noch ein kraftvolles<br />
Miteinander entstehen kann, das Piraten-Partei-Problem.<br />
Im Stück gibt es deshalb diese Suche nach Slogans und Ritualen<br />
und nach Formen, in denen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit<br />
entsteht: singen, gemeinsam schweigen<br />
oder streiken. Spielen als täte man nichts. Oder die Poesie<br />
als eine offene Form der gemeinsamen Suche nach einer<br />
lebendigen Sprache. Auch wenn damit vielleicht kein Staat<br />
zu machen ist.<br />
Beate Seidel: Gibt es deiner Ansicht nach gemeinsame<br />
Potentiale in den verschiedenen Bewegungen, die in den<br />
letzten Jahren an den Fugen der bestehenden Weltordnung<br />
gerüttelt, sie manchmal sogar verändert haben? Und worin<br />
liegen für dich die Unterschiede?<br />
Martin Heckmanns: Ich habe vor ziemlich genau zehn<br />
Jahren ein Stück über »Attac« geschrieben und beim Wiederlesen<br />
war ich erstaunt, wie viele der damaligen Positionen<br />
sich heute bei »Occupy« wiederfinden lassen bis hin zu<br />
konkreten Forderungen wie der Transaktionssteuer. Auch<br />
diese Auseinandersetzungen und Abstufungen der Radikalität<br />
innerhalb der Bewegungen zwischen Reformern bis Anarchisten<br />
kehren in Variationen immer wieder, habe ich den<br />
Eindruck. Und dabei auch die Frage, wie stark man selbst<br />
involviert ist in das, was man gerade zu bekämpfen glaubt.<br />
<strong>Die</strong> Unterschiede in den Bewegungen liegen sicher in der<br />
persönlichen Betroffenheit. Globalisierung oder Finanzkrise<br />
betreffen den Bundesbürger anders als einen autoritären<br />
Herrscher der arabische Frühling. <strong>Das</strong> macht die Widersprüche<br />
hier abstrakter und die Bewegungen heterogener<br />
und auch kraftloser wahrscheinlich.<br />
Beate Seidel: Welche Rolle spielen solch prononciert<br />
politische Themen für dich beim Schreiben?<br />
Martin Heckmanns: Es kostet mich erst einmal Überwindung,<br />
Worte wie Transaktionssteuer oder Leerverkauf<br />
zu verwenden. Da geht es mir wie den Protagonisten im<br />
Stück oder denen der Bewegung, die ja auch zum größeren<br />
Teil eine geisteswissenschaftliche Herkunft haben. Aber ich<br />
finde es hier wie dort richtig, gegen die eigene Gemütlichkeit<br />
vorzugehen. So wie ich es richtig finde, dass das Schreiben<br />
sich schmutzig macht und zu seiner Unzulänglichkeit<br />
und Unfertigkeit steht in der Auseinandersetzung mit ökonomischen<br />
Prozessen, die ja selbst den Handelnden in diesen<br />
Prozessen ständig über den Kopf wachsen. Wenn es um<br />
Aufbruch gehen soll, muss auch der Text aufbrechen und<br />
da kann ein Theaterstück nur Fragment werden, aber das<br />
Fragment ist ja immer auch Aufforderung, dass jeder weiter<br />
dran werkeln kann. Insofern bin ich der Dramaturgie hier in<br />
<strong>Stuttgart</strong> dankbar, auf das Thema gebracht worden zu sein,<br />
weil es das Schreiben zwingt, sich zu öffnen und sich auch<br />
wieder der Frage zu stellen, welche Hoffnungen denn überhaupt<br />
mit dem Theater oder der Literatur verbunden sind,<br />
die über Unterhaltung hinausgehen.<br />
Beate Seidel: Welche Wünsche hat ein Autor an die Uraufführung<br />
seines Stücks?<br />
Martin Heckmanns: Ich wollte immer schon mal diese<br />
berühmte Regieanweisung von Elfriede Jelinek benutzen<br />
können: »Macht was ihr wollt«. Damit durch diese Freiheit<br />
die Wahrscheinlichkeit größer wird, dass eine Aufführung<br />
zu einer lebendigen Veranstaltung wird, wenn der Text von<br />
den Beteiligten nicht als eine fremde Vorschrift empfunden<br />
wird, die man zu erfüllen hat. Und das wäre mein Wunsch,<br />
dass sich Spieler und Zuschauer eingeladen fühlen. Konkret<br />
würde ich mich freuen bei Wir sind viele und reiten ohne<br />
Pferd, wenn die wesentlichen Aspekte des Titels in der Inszenierung<br />
eine spürbare Kraft entwickeln: Vielgestaltigkeit,<br />
Miteinander, Bewegung, Haltlosigkeit. Wir sind Tote<br />
auf Urlaub, heißt es im Stück, und der Gedanke macht mir<br />
immer gute Laune, weil man auf Urlaub andere Freiheiten<br />
hat und plötzlich vieles leichter wird.<br />
<strong>Die</strong> Faust im Logo als<br />
Aufforderung, dass das<br />
Theater ein Ort des<br />
Aufbegehrens bleibt<br />
Beate Seidel: Unser Theater ist zum zweiten Mal der<br />
Uraufführungsort eines deiner Stücke. Du hattest 2008 hier<br />
Premiere mit Wörter und Körper. Gibt es etwas, was dich<br />
mit diesem Haus verbindet?<br />
Martin Heckmanns: Meine wichtigste Verbindung zum<br />
Haus war Eva Heldrich, auch weil sie mich am Anfang des<br />
Schreibens fürs Theater sehr gefördert und unterstützt hat,<br />
unter anderem auch bei dem »Attac«-Stück. Eva hatte ein<br />
außergewöhnliches Gespür sowohl für lyrische als auch für<br />
kämpferische Aspekte in Texten. Seit ihrem Tod scheint mir<br />
der kämpferische Aspekt am Haus stärker prononciert. Ich<br />
schätze die Ernsthaftigkeit des Theaters hier, die Loyalität<br />
und das Vertrauen in der Zusammenarbeit, und auch wenn<br />
ich die Faust im Logo am Anfang eher befremdlich fand,<br />
finde ich sie inzwischen als Aufforderung und Erinnerung<br />
genau richtig, dass das Theater ein Ort des Aufbegehrens<br />
bleibt. Und wenn auch nur im Spiel.<br />
Wir sind viele und reiten ohne Pferd<br />
von Martin Heckmanns<br />
Regie: Marc Lunghuß, Bühne: Martin Dolnik,<br />
Kostüme: Jennifer Thiel, Dramaturgie: Beate Seidel<br />
Mit: Jonas Fürstenau, Marlène Meyer-Dunker, Lukas<br />
Rüppel, Bijan Zamani<br />
Uraufführung am 20. Mai 2012 // 20:00 Uhr // NORD<br />
24 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Mai/Juni/Juli 2012<br />
25<br />
11.<br />
Martin Heckmanns<br />
Foto: Andrej Glusgold, www.glusgold.com
01<br />
Seit wann arbeiten Sie an den<br />
Württembergischen <strong>Staatstheater</strong>n?<br />
Seit 1994.<br />
02<br />
Wie viele Vorhangzieher gibt es<br />
an den <strong>Staatstheater</strong>n?<br />
Insgesamt sind es zehn für Opernhaus und<br />
Schauspielhaus. Allein für die Oper sind vier<br />
Vorhangzieher zuständig.<br />
03<br />
Was macht eigentlich ein Vorhangzieher?<br />
Als Bühnenhandwerker arbeite ich in Schichten, da auf<br />
der Bühne von früh morgens bis spät abends Betrieb ist.<br />
In der Frühschicht werden Bühnenbildteile für Proben<br />
und Abendvorstellungen hergerichtet. So werden zum<br />
Beispiel Türdrücker montiert, Schlüssel gesteckt,<br />
Bruchglasscheiben in ihre Rahmen gesetzt, Nebelgeräte<br />
und Stoffe vorbereitet. In der Spätschicht wird die<br />
Abendvorstellung betreut. <strong>Das</strong> beinhaltet das Bedienen<br />
der Portalvorhänge, der Nebelgeräte und des<br />
Eisernen Vorhangs. (Der Eiserne Vorhang ist eine<br />
Brandschutzeinrichtung, die das Bühnenhaus vom<br />
Zuschauerraum trennt, Anm. d. Red.)<br />
Plus • 10 Fragen an ...<br />
04<br />
Wie wird man Vorhangzieher?<br />
Ich habe zunächst als Bühnenhandwerker beim Bodentrupp<br />
auf der Nordseite gearbeitet – es gibt nämlich<br />
eine Nordseite und eine Südseite der Bühne.<br />
Vom Zuschauer aus betrachtet, ist die Nordseite links<br />
und die Südseite rechts. Ich habe mich immer mehr für<br />
den Beruf des Vorhangziehers interessiert. Als dann eine<br />
Stelle frei wurde, wurde ich gefragt, ob ich den Job<br />
machen möchte. Ich erlernte dann nach und nach, wie<br />
man mit Stoffen und anderen Materialien umgeht.<br />
05<br />
Wie kamen Sie ans Theater?<br />
Nach Schreinerlehre und Zivildienst bewarb ich mich<br />
auf verschiedene Stellen, auch bei den <strong>Staatstheater</strong>n.<br />
Da ich privat Klavier und Orgel spiele, konnte ich mir<br />
gut vorstellen, hier zu arbeiten.<br />
Ich habe die Stelle bekommen. So vereinen sich heute<br />
Beruf und Musik miteinander.<br />
06<br />
Was war bisher die größte Herausforderung?<br />
<strong>Die</strong> größte Herausforderung für mich ist das Einrichten<br />
der großen, klassischen Opern wie zum<br />
Beispiel Der Rosenkavalier oder Der Freischütz.<br />
Impressum: Herausgeber <strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> // Geschäftsführender Intendant Marc-Oliver Hendriks //<br />
Intendant Oper <strong>Stuttgart</strong> Jossi Wieler // Intendant <strong>Stuttgart</strong>er Ballett Reid Anderson // Intendant Schauspiel<br />
<strong>Stuttgart</strong> Hasko Weber // Redaktion Oper <strong>Stuttgart</strong>: Sara Hörr, Claudia Eich-Parkin <strong>Stuttgart</strong>er Ballett: Vivien Arnold,<br />
Kristina Scharmacher Schauspiel <strong>Stuttgart</strong>: Ingrid Trobitz, Simone Voggenreiter // Gestaltung Anja Haas // Gestaltungs-<br />
konzept Bureau Johannes Erler // Druck Bechtle Druck&Service // Titelseite Jason Reilly, <strong>Stuttgart</strong>er Ballett. Foto:<br />
Sebastién Galtier Redaktionsschluss 26. April 2012 // Hausanschrift <strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong>, Oberer Schloßgarten 6,<br />
70173 <strong>Stuttgart</strong> / Postfach 10 43 45, 70038 <strong>Stuttgart</strong>.<br />
26<br />
Udo Katzmarek, Vorhangzieher am Opernhaus<br />
„Hier vereinen sich für mich Beruf<br />
und Musik miteinander“<br />
Udo Katzmarek hinter der Bühne des Opernhauses (Foto: Ulrich Beuttenmüller)<br />
Hauptsponsor des<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Balletts<br />
07<br />
<strong>Das</strong> schönste oder vergnüglichste Erlebnis?<br />
Sind für mich die Vorstellungen der John Cranko Schule<br />
und die Kinderopern wie zum Beispiel <strong>Die</strong> Reise zum<br />
Mond. Da erlebt man, wie die heutige Jugend die<br />
kommende Generation von Zuschauern für Ballett und<br />
Oper begeistern kann.<br />
08<br />
Meine Lieblingsinszenierung ...<br />
<strong>Die</strong> Entführung aus dem Serail von Hans Neuenfels.<br />
Mir gefällt an der Aufführung, dass die Rollen doppelt,<br />
mit Sängern und Schauspielern, besetzt sind. Und<br />
La Traviata von Ruth Berghaus. Hier mag ich besonders<br />
das schöne Bühnenbild von Erich Wonder.<br />
Theater ist für mich ...<br />
An jedem Tag ein Erlebnis!<br />
<strong>Das</strong> wünsche ich mir ...<br />
Jedes Jahr eine klassische Operninszenierung.<br />
Förderer des<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Balletts<br />
09<br />
10<br />
Partner der Oper <strong>Stuttgart</strong><br />
Förderer des <strong>Stuttgart</strong>er Balletts<br />
»<br />
Verlängern Sie die Spielzeit – ganz privat und Open Air. Mit<br />
Sonnensegeln von Bocklet können Sie Kultur genießen, wann<br />
und wo immer Sie wollen. Anspruchsvoll im Design und völlig<br />
frei in der Installation wird Ihre Terrasse im Nu zur Freiluftbühne.<br />
Entspannen Sie sich – wir kümmern uns um den Rest.<br />
Mehr Raum. Mehr Freiheit. Mehr vom Leben.<br />
Sonnensegel von Bocklet.<br />
Sonnensegel<br />
Markisen<br />
Schirme<br />
Jalousien<br />
Terrassendächer<br />
Ich bin dann<br />
mal in der Oper.<br />
Kastellstraße 6-10 • Esslingen-Berkheim<br />
Beratungstermin unter: Tel.07 11 / 3 41 69 70<br />
Infos unter www.bocklet.info<br />
BO1215_AZ_<strong>Staatstheater</strong>_<strong>Journal</strong>.indd 1 04.04.12 12:23<br />
FESTSPIELHAUS BADEN-BADEN<br />
Sommerfestspiele 2012<br />
P<br />
beim <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong><br />
Landesbibliothek<br />
Konrad-Adenauer-Straße 10, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 420 Plätze<br />
Ihr Partner rund ums Parken<br />
Parkraumgesellschaft<br />
Baden-Württemberg mbH<br />
in der Kulturmeile<br />
P P Staatsgalerie<br />
- Durchgehend geöffnet -<br />
jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />
Tageshöchstsatz 12 €<br />
TIPP<br />
Flanier-Pauschale Mo - Sa 15 - 6 Uhr max. 5 €<br />
Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr max. 4 €<br />
Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr max. 4 €<br />
Dauerparkberechtigung pro Monat inkl. USt. 115,61 €.<br />
Landtag<br />
Konrad-Adenauer-Straße 3, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 175 Plätze<br />
Konrad-Adenauer-Straße 32, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 123 Plätze<br />
- Durchgehend geöffnet -<br />
jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />
Tageshöchstsatz 12 €<br />
TIPP<br />
Flanier-Pauschale Mo - Sa 15 - 6 Uhr max. 5 €<br />
Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr max. 4 €<br />
Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr max. 4 €<br />
Dauerparkberechtigung pro Monat inkl. USt. 115,61 €.<br />
P P Haus der Geschichte<br />
- Durchgehend geöffnet -<br />
jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />
Tageshöchstsatz 12 €<br />
TIPP<br />
Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr 4 €<br />
Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr 4 €<br />
VALERY GERGIEV & Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg<br />
Konrad-Adenauer-Straße 3, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 59 Plätze<br />
- Durchgehend geöffnet -<br />
jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />
Tageshöchstsatz 12 €<br />
TIPP<br />
Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr 4 €<br />
Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr 4 €<br />
Huberstr. 3 · 70174 <strong>Stuttgart</strong> · pbw@pbw.de<br />
Tel.: 0711/89255-0 · Fax: -599 · www.pbw.de<br />
BORIS GODUNOW 20./22. Juli<br />
Valery Gergiev Musikalische Leitung · Graham Vick Regie<br />
„Musikalisches Volksdrama“ in sieben Szenen<br />
AUFERSTEHUNGSSINFONIE 21. Juli<br />
G. Mahler 2. Sinfonie c-Moll<br />
BILDER EINER AUSSTELLUNG 23. Juli<br />
S. Rachmaninow 2. Klavierkonzert<br />
Eintrittskarten erhalten Sie über unser Service-Center: 0 72 21/30 13-101. www.festspielhaus.de<br />
FOTO: ZWEIDREIEINS
Für die Kurven rund um den Schwanensee.<br />
Porsche ist Hauptsponsor des <strong>Stuttgart</strong>er Balletts.<br />
Wir schätzen die bravouröse Zusammenarbeit.<br />
Hier erfahren Sie mehr – www.porsche.de oder Telefon 01805 356 - 911, Fax - 912 (EUR 0,14/min).<br />
Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 12,2–10,6 · außerorts 6,9–5,9 · kombiniert 8,8–7,7; CO 2 -Emissionen 206–180 g/km