Interview im Sonntag, August 2009 (PDF) Teil 2 - garibovic.ch
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MENSCHEN<br />
<strong>Sonntag</strong> | Nr. 32 |9. <strong>August</strong> <strong>2009</strong><br />
Seite 12<br />
Konfliktmanagerin Sefika Garibovic<br />
mit Redaktorin Claudia Marinka.<br />
FORTSETZUNG VON SEITE 11<br />
zu sol<strong>ch</strong>en brutalen Kr<strong>im</strong>inellen,<br />
warum laufen sie aus dem Ruder<br />
Bei den geringsten Verhaltensauffälligkeiten<br />
s<strong>ch</strong>ickt man sie zur s<strong>ch</strong>ulpsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en<br />
Abklärung, dann von einer Familie<br />
zur nä<strong>ch</strong>sten, dann steckt man sie<br />
in He<strong>im</strong>e, und am S<strong>ch</strong>luss landen sie in<br />
einer ges<strong>ch</strong>lossenen Anstalt. Unser System<br />
ist eine Mas<strong>ch</strong>inerie. Man s<strong>ch</strong>aut<br />
ni<strong>ch</strong>t, was passiert mit den Jugendli<strong>ch</strong>en,<br />
man sperrt sie einfa<strong>ch</strong> weg.<br />
Dann kommen sie zu Ihnen oder<br />
werden von der Gemeinde zu Ihnen<br />
ges<strong>ch</strong>ickt. Frau Garibovic, was ma<strong>ch</strong>t<br />
eine Konfliktmanagerin genau<br />
Vereinfa<strong>ch</strong>t gesagt, i<strong>ch</strong> räume auf. I<strong>ch</strong><br />
werde geholt, wenn S<strong>ch</strong>ule, Elternhaus,<br />
Pflegeeltern, He<strong>im</strong>e und Psy<strong>ch</strong>ologen<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr weiterkommen. Wenn Jugendli<strong>ch</strong>e<br />
na<strong>ch</strong> jahrelangen Therapien,<br />
Abklärungen und Platzierungen seelis<strong>ch</strong><br />
so kaputt sind, dass niemand mehr<br />
mit ihnen klarkommt.<br />
Wie arbeiten Sie<br />
I<strong>ch</strong> habe meine Bedingungen: I<strong>ch</strong> brau<strong>ch</strong>e<br />
Eltern, Gemeinde oder Jugendanwalts<strong>ch</strong>aft<br />
als Auftraggeber, der Jugendli<strong>ch</strong>e<br />
soll in eine öffentli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ule, zurück<br />
in die Familie und dort selbstständig<br />
leben. Zudem arbeite i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mit<br />
Ritalin-Junkies und will keine Klienten,<br />
an deren Krise fünf so genannte Fa<strong>ch</strong>leute<br />
beteiligt sind. Wird das ni<strong>ch</strong>t erfüllt,<br />
fange i<strong>ch</strong> erst gar ni<strong>ch</strong>t an.<br />
Sie s<strong>ch</strong>liessen andere Fa<strong>ch</strong>leute aus<br />
Ja. Wenn der Auftraggeber, meist S<strong>ch</strong>ulbehörden,<br />
einlenkt, beginne i<strong>ch</strong> mit der<br />
Na<strong>ch</strong>erziehung. I<strong>ch</strong> gebe zu, i<strong>ch</strong> arbeite<br />
mit einer anderen Methode als alle anderen.<br />
I<strong>ch</strong> arbeite mit Hierar<strong>ch</strong>ie. Die<br />
Jugendli<strong>ch</strong>en müssen lernen, si<strong>ch</strong> unterzuordnen.<br />
Denn sie haben si<strong>ch</strong> mit<br />
ihrem Verhalten na<strong>ch</strong> oben in die Hierar<strong>ch</strong>ie<br />
ges<strong>ch</strong>afft, sie haben si<strong>ch</strong> <strong>im</strong>mer<br />
mehr Ma<strong>ch</strong>t angeeignet.<br />
Das klingt na<strong>ch</strong> militäris<strong>ch</strong>em Drill.<br />
Nein. Diese delinquenten Jugendli<strong>ch</strong>en<br />
wurden s<strong>ch</strong>on versetzt, weggesperrt<br />
und mit Drohungen kleingema<strong>ch</strong>t in ihrer<br />
Persönli<strong>ch</strong>keit. Sie haben Drogenkonsum<br />
hinter si<strong>ch</strong>, Alkoholmissbrau<strong>ch</strong>,<br />
kiffen, saufen, prostituieren<br />
si<strong>ch</strong> und rauben. Mein erster S<strong>ch</strong>ritt ist<br />
es, sie in einem ganz normalen Gesprä<strong>ch</strong><br />
kennen zu lernen. Dabei geht es<br />
um meine Vorgehensweise. Sie hören in<br />
den ersten zehn Minuten, wer i<strong>ch</strong> bin,<br />
wie i<strong>ch</strong> arbeite und was i<strong>ch</strong> verlange.<br />
AUS DEM PRIVATALBUM<br />
Ausflug mit Freundin: Sefika Garibovic (r.) mit 14 Jahren in<br />
ihrem He<strong>im</strong>atort Sandzak in Serbien-Montenegro.<br />
Wie verläuft dann der erste Kontakt<br />
zum Jugendli<strong>ch</strong>en<br />
Die Eltern sind dabei, dann aber, je<br />
na<strong>ch</strong>dem, wer Auftraggeber ist, beispielsweise<br />
die S<strong>ch</strong>ulbehörde. Dann sitzen<br />
alle zusammen und i<strong>ch</strong> komme als<br />
letzte Person hinzu. Alle begrüssen<br />
mi<strong>ch</strong>, ausser der Jugendli<strong>ch</strong>e. Die hängen<br />
oft einfa<strong>ch</strong> <strong>im</strong> Stuhl und s<strong>ch</strong>auen<br />
mi<strong>ch</strong> abs<strong>ch</strong>ätzig an, wenn überhaupt.<br />
Dann gehe i<strong>ch</strong> zu ihm und sage: «Steh<br />
auf. I<strong>ch</strong> bin Frau Garibovic. Wer bist du<br />
überhaupt» Ob Sie es glauben oder<br />
ni<strong>ch</strong>t, das ma<strong>ch</strong>en sie teilweise zum ersten<br />
Mal in ihrem Leben. Wissen Sie, was<br />
das heisst, wenn mi<strong>ch</strong> ein Jugendli<strong>ch</strong>er<br />
so s<strong>ch</strong>räg ans<strong>ch</strong>aut<br />
Dass er keinen Respekt hat vor Ihnen<br />
Das heisst, er will mi<strong>ch</strong> töten mit seinem<br />
Blick. Viele Eltern, Fa<strong>ch</strong>leute und<br />
Politiker haben dann Angst vor sol<strong>ch</strong>en<br />
Jugendli<strong>ch</strong>en.<br />
Und Sie haben keine Angst<br />
Nein. Das ist eine Aktion von ihm und<br />
dann kommt es auf meine Reaktion an.<br />
I<strong>ch</strong> sage au<strong>ch</strong>, was läuft in nä<strong>ch</strong>ster Zeit.<br />
Den Jugendli<strong>ch</strong>en fehlen elementare<br />
Anstandsregeln.<br />
Natürli<strong>ch</strong>, und wie! Aber au<strong>ch</strong> die kommunikative<br />
Fähigkeit. Aber i<strong>ch</strong> muss<br />
Ihnen sagen, die sind au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dumm,<br />
die <strong>ch</strong>ecken, was läuft. Wenn man ein<br />
Kind zum Abklären s<strong>ch</strong>ickt, vermittelt<br />
man ihm das Gefühl, krank zu sein. Alle<br />
Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Die<br />
einen s<strong>ch</strong>affen es, die anderen ni<strong>ch</strong>t.<br />
Wenn Kinder in die Pubertät kommen,<br />
ziehen si<strong>ch</strong> Eltern zu s<strong>ch</strong>nell zurück.<br />
«Jugendli<strong>ch</strong>e haben si<strong>ch</strong><br />
<strong>im</strong>mer mehr Ma<strong>ch</strong>t angeeignet.<br />
Sie müssen lernen,<br />
si<strong>ch</strong> unterzuordnen. »<br />
Wenn Kinder bereits als 10-Jährige<br />
kiffen oder mit 13 wegen Gewalt von<br />
der S<strong>ch</strong>ule fliegen, st<strong>im</strong>mt es do<strong>ch</strong> zu<br />
Hause ni<strong>ch</strong>t.<br />
In den meisten Familien, in denen i<strong>ch</strong><br />
arbeite, ist die Hierar<strong>ch</strong>ie total vers<strong>ch</strong>oben.<br />
Es gibt drei vers<strong>ch</strong>iedene Kategorien<br />
von Eltern: Die einen wollen die<br />
Liebe von ihren Kindern ni<strong>ch</strong>t verlieren.<br />
Bei der ersten Drohung ziehen sie<br />
si<strong>ch</strong> zurück. Die zweite Kategorie lässt<br />
si<strong>ch</strong> von Fa<strong>ch</strong>leuten zu s<strong>ch</strong>nell entma<strong>ch</strong>ten.<br />
Die S<strong>ch</strong>ule rät den Eltern, das<br />
Kind zur Abklärung zu s<strong>ch</strong>icken, dann<br />
verlieren sie no<strong>ch</strong> mehr an Bedeutung,<br />
die Kinder kriegen no<strong>ch</strong> mehr Ma<strong>ch</strong>t.<br />
Sie sagen, mein Vater ist ein Esel und<br />
meine Mutter Putzfrau oder Tussi.<br />
Und die dritte Kategorie<br />
Das sind Eltern, die haben resigniert. Sie<br />
haben keine Kraft mehr und unters<strong>ch</strong>reiben<br />
eine He<strong>im</strong>überweisung. Nur: Das<br />
Elend beginnt erst dann. Finanziell und<br />
emotionell. Laut Statistik werden 9 von<br />
10 Jugendli<strong>ch</strong>en aus einem He<strong>im</strong> wieder<br />
rückfällig. Sol<strong>ch</strong>e Jugendli<strong>ch</strong>e müssen<br />
lernen, zuerst mal Kommunikation.<br />
Dann räumen Sie auf.<br />
Die Jugendli<strong>ch</strong>en müssen lernen, zu<br />
si<strong>ch</strong> selber zu stehen, ihr Leben zu rekapitulieren.<br />
Natürli<strong>ch</strong> gibt es Streit, au<strong>ch</strong><br />
Streit mit Eltern. Au<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en mir<br />
und Jugendli<strong>ch</strong>en und Eltern gibt es laute<br />
Töne. Dann beginnen die Sozialarbeiter,<br />
mi<strong>ch</strong> anzurufen. Sie sagen, i<strong>ch</strong> sei<br />
zu streng, ein Jugendli<strong>ch</strong>er habe si<strong>ch</strong><br />
bes<strong>ch</strong>wert. Dann antworte i<strong>ch</strong>: Alle vor<br />
mir sind ges<strong>ch</strong>eitert. I<strong>ch</strong> habe einen<br />
Auftrag, den erfülle i<strong>ch</strong>, ziehen Sie<br />
si<strong>ch</strong> zurück! Anstatt die Symptome zu<br />
bekämpfen, bekämpfe i<strong>ch</strong> die Ursa<strong>ch</strong>e:<br />
mangelnde Erziehung.<br />
Die Eltern tragen die Hauptverantwortung,<br />
dass ihr Kind kr<strong>im</strong>inell wird<br />
Diese Kinder sind unterfordert und ohnmä<strong>ch</strong>tig.<br />
Sie brau<strong>ch</strong>en keine S<strong>ch</strong>ulpsy<strong>ch</strong>ologen,<br />
sondern jemanden, der voll<br />
und ganz für sie da ist und sie führt.<br />
Meine Klienten können mi<strong>ch</strong> Tag und<br />
Na<strong>ch</strong>t anrufen. Den Job kann man ni<strong>ch</strong>t<br />
von 8 bis 17 Uhr ausüben, die Jugendli<strong>ch</strong>en<br />
einfa<strong>ch</strong> ins Büro zitieren, 40 Minuten<br />
lang reden und fertig. Und die Sozialarbeiter<br />
verteilen Telefonnummern<br />
von Hotlines. Das nützt ni<strong>ch</strong>ts.<br />
Sie spre<strong>ch</strong>en die Fa<strong>ch</strong>leute an. Mangelt<br />
es denn na<strong>ch</strong> Ihrer Erfahrung an guten<br />
Fa<strong>ch</strong>leuten in der S<strong>ch</strong>weiz<br />
Absolut. Es herrs<strong>ch</strong>t eine veraltete Päd<br />
agogik. Wenn ein Jugendli<strong>ch</strong>er nä<strong>ch</strong>telang<br />
vor dem Computer sitzt und <strong>ch</strong>attet,<br />
dann den ganzen Tag s<strong>ch</strong>läft und<br />
am Abend Eltern und die halbe Na<strong>ch</strong>bars<strong>ch</strong>aft<br />
verprügelt, dann können Eltern,<br />
die oft ma<strong>ch</strong>tlos sind, ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
helfen, sondern nur no<strong>ch</strong> Fa<strong>ch</strong>leute.<br />
Aus wel<strong>ch</strong>em Milieu stammen die<br />
Jugendli<strong>ch</strong>en, die zu Ihnen kommen<br />
I<strong>ch</strong> habe ausländis<strong>ch</strong>e, aber au<strong>ch</strong><br />
S<strong>ch</strong>weizer Jugendli<strong>ch</strong>e. Man sagt oft,<br />
straffällige Jugendli<strong>ch</strong>e kämen aus<br />
s<strong>ch</strong>wierigen familiären Verhältnissen.<br />
I<strong>ch</strong> habe in letzter Zeit sehr viele Eltern<br />
mit akademis<strong>ch</strong>em Abs<strong>ch</strong>luss und au<strong>ch</strong><br />
Eltern in hoher berufli<strong>ch</strong>er Position.<br />
Wie unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> Kinder<br />
von Ausländern und S<strong>ch</strong>weizern<br />
in ihrem Verhalten<br />
S<strong>ch</strong>weizer Jugendli<strong>ch</strong>e zeigen ein anderes<br />
kr<strong>im</strong>inelles Verhaltensmuster, sie<br />
zeigen keinen Trend zu Bandenkr<strong>im</strong>inalität.<br />
Die Gruppendynamik ist bei ausländis<strong>ch</strong>en<br />
Jugendli<strong>ch</strong>en hingegen stark<br />
ausgeprägt. Chef ist der Mä<strong>ch</strong>tigste,<br />
ni<strong>ch</strong>t der Älteste. Das zeigt au<strong>ch</strong> die Jugendbande<br />
von Winterthur. Ni<strong>ch</strong>t ein<br />
16-Jähriger, sondern der 14-Jährige war<br />
Anführer. Es gibt eine Gemeinsamkeit<br />
mit S<strong>ch</strong>weizer kr<strong>im</strong>inellen Jugendli<strong>ch</strong>en:<br />
Sie sind allesamt unterfordert.<br />
Dann gehen Sie anders mit ihnen um<br />
Mit jedem Jugendli<strong>ch</strong>en, egal ob Ausländer<br />
oder S<strong>ch</strong>weizer. Ausländis<strong>ch</strong>e Jugendli<strong>ch</strong>e<br />
mö<strong>ch</strong>ten aber mehr Helden<br />
werden na<strong>ch</strong> aussen. Ein Kind von Herr<br />
und Frau Müller reagiert auf einer anderen<br />
Ebene, do<strong>ch</strong> am S<strong>ch</strong>luss kommt es<br />
auf dasselbe Konto, sie landen <strong>im</strong> He<strong>im</strong>.<br />
Sie kritisieren die Gesells<strong>ch</strong>aft,<br />
aber au<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>ulbehörden und<br />
die Pädagogen s<strong>ch</strong>arf.<br />
Wir brau<strong>ch</strong>en Fa<strong>ch</strong>leute mit Mut. I<strong>ch</strong><br />
habe Jugendli<strong>ch</strong>e, die hatten innerhalb<br />
eines Jahres unzählige Kontakte, mit<br />
Psy<strong>ch</strong>ologen und Beratungsstellen. Man<br />
hat begonnen mit Strei<strong>ch</strong>elpädagogik<br />
und teuren Privats<strong>ch</strong>ulen. Dann werden<br />
sie ausgere<strong>ch</strong>net in Familien platziert,<br />
wo die Familie selber Probleme mit eigenen<br />
Kindern hat. Wenn Eheleute an<br />
den eigenen Kindern s<strong>ch</strong>eitern und unsere<br />
Behörden s<strong>ch</strong>wer erziehbare Kinder<br />
dorthin s<strong>ch</strong>icken, ist das ein Skandal.<br />
Heute kommen Mäd<strong>ch</strong>en <strong>im</strong> Minirock<br />
und bau<strong>ch</strong>frei zur S<strong>ch</strong>ule.<br />
Und die Lehrer ma<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>ts! I<strong>ch</strong><br />
wurde von einer S<strong>ch</strong>ulbehörde gerufen,<br />
man habe eine s<strong>ch</strong>wierige Klasse. I<strong>ch</strong><br />
ging hin, na<strong>ch</strong> einer halben Minute war<br />
mir klar, wo das Problem liegt. Mäd<strong>ch</strong>en<br />
alle mit künstli<strong>ch</strong>en Nägeln und Korsett.<br />
I<strong>ch</strong> habe geda<strong>ch</strong>t, i<strong>ch</strong> sei in einem<br />
billigen Bordell an der Langstrasse und<br />
ni<strong>ch</strong>t in einem öffentli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ulhaus.<br />
Was ges<strong>ch</strong>ah dann<br />
I<strong>ch</strong> habe die Lehrerin gefragt, wo die<br />
S<strong>ch</strong>üler sind. I<strong>ch</strong> habe gefragt, ob es<br />
denn keine Regeln gebe. Nein, antwortete<br />
man mir, das sei die Sa<strong>ch</strong>e der Eltern.<br />
I<strong>ch</strong> habe die Telefonnummern der Eltern<br />
eingefordert, die haben gar ni<strong>ch</strong>t<br />
gewusst, wie ihr Kind in die S<strong>ch</strong>ule geht.<br />
Die Kommunikatorin<br />
Sefika Garibovic ist Expertin für interkulturelle<br />
Kommunikation, Konfliktlösung,<br />
Na<strong>ch</strong>erzieherin, Coa<strong>ch</strong> und Dozentin<br />
mit eigener Firma in Züri<strong>ch</strong> (KMG -<br />
Konfliktmanagement Garibovic). Sie<br />
kam vor 20 Jahren in die S<strong>ch</strong>weiz, wu<strong>ch</strong>s<br />
<strong>im</strong> Sandzak, <strong>im</strong> ehemaligen Jugoslawien,<br />
auf. An der Universität Luzern ma<strong>ch</strong>te sie<br />
ein NDS Konfliktmanagement und an<br />
der FH St. Gallen ein NDS als systemis<strong>ch</strong>e<br />
Therapeutin. Sie hat eine 29-jährige<br />
To<strong>ch</strong>ter, die bald zweifa<strong>ch</strong>e Mutter wird.<br />
Was haben Sie getan<br />
I<strong>ch</strong> habe alle Mäd<strong>ch</strong>en rausges<strong>ch</strong>ickt, sie<br />
mussten das Korsett ausziehen und Nägel<br />
wegma<strong>ch</strong>en. Wissen Sie, i<strong>ch</strong> bin ni<strong>ch</strong>t<br />
konservativ, <strong>im</strong> Gegenteil, die Mäd<strong>ch</strong>en<br />
sagen mir, Frau Garibovic, Sie sind cool<br />
(la<strong>ch</strong>t). Aber i<strong>ch</strong> bin gegen S<strong>ch</strong>muddelverhalten.<br />
Ein Lehrer sagte mir dana<strong>ch</strong>,<br />
das sind sowieso alle Tussis. Wie kann jemand<br />
mit sol<strong>ch</strong> einer abs<strong>ch</strong>ätzigen Haltung<br />
Vorbild oder Erzieher sein<br />
«I<strong>ch</strong> erlebe Mütter, die<br />
ihre Kinder bedienen.<br />
Keine Mutter verlangt vom<br />
Kind Danke und Bitte.»<br />
Oft werden die Kinder in He<strong>im</strong>en<br />
platziert.<br />
I<strong>ch</strong> höre jeden Tag, wie sie dort behandelt<br />
werden. Sie kriegen zu essen und<br />
ein Bett. Man<strong>ch</strong>e werden dort zum ersten<br />
Mal gewalttätig. Die Jugendli<strong>ch</strong>e, die<br />
bei mir landen, erzählen mir, sie hätten<br />
ihre erste Drogenerfahrung <strong>im</strong> He<strong>im</strong> gema<strong>ch</strong>t.<br />
Diejenigen, die keine Eltern<br />
mehr haben, dort ist das nötig. Aber<br />
dort, wo Ressourcen sind, bringt es<br />
ni<strong>ch</strong>ts. Das kostet den Steuerzahler viel<br />
Geld, und es wird <strong>im</strong>mer s<strong>ch</strong>l<strong>im</strong>mer.<br />
Sie behaupten, es fehlen Vorbilder,<br />
zu denen die Kinder und Jugendli<strong>ch</strong>en<br />
hinaufs<strong>ch</strong>auen können.<br />
I<strong>ch</strong> erlebe tagtägli<strong>ch</strong> Mütter, die ihre<br />
Kinder bedienen. Keine Mutter verlangt<br />
von ihrem Kind Danke oder Bitte. Anderseits<br />
geben si<strong>ch</strong> die Mütter unattraktiv.<br />
Auf ein Hus<strong>ch</strong>eli in Birkenstock oder<br />
in so genanntem Jugendlook s<strong>ch</strong>aut<br />
kein Kind ho<strong>ch</strong>. Wir brau<strong>ch</strong>en Respektpersonen.<br />
Eltern müssen Grenze, Werte<br />
und Normen vermitteln. Au<strong>ch</strong> eigene<br />
Betroffenheit zeigen, in aller Ruhe.<br />
Au<strong>ch</strong> eigene Tränen zeigen, sein Elend<br />
präsentieren. Aber ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> strecken<br />
und herums<strong>ch</strong>reien.<br />
Wie sollten si<strong>ch</strong> Eltern mit ihrem Kind<br />
auseinandersetzen<br />
Eltern müssen für ein Kind attraktiv sein.<br />
Das heisst: Si<strong>ch</strong> positionieren als Erzieher<br />
und Erzieherin. Ni<strong>ch</strong>t mit Streit, ni<strong>ch</strong>t<br />
mit Gewalt, ni<strong>ch</strong>t mit Konkurrenz. Ins<br />
S<strong>ch</strong>ulhaus gehen, si<strong>ch</strong> den Lehrern zeigen,<br />
au<strong>ch</strong> wenn si<strong>ch</strong> gewisse Lehrer keine<br />
Zeit nehmen wollen. Informationen über<br />
das Kind verlangen. Dann partners<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>,<br />
au<strong>ch</strong> mit Klassenlehrer bespre<strong>ch</strong>en,<br />
wo kann i<strong>ch</strong> mein Kind unterstützen,<br />
was fehlt ihm. Oft und öfter Nein sagen,<br />
wenn es um Abklärungen geht.<br />
Wie kann man diesen verloren gegangenen<br />
Respekt wieder einfordern<br />
I<strong>ch</strong> erziehe au<strong>ch</strong> Eltern um, die eine<br />
partners<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Beziehung zu ihrem<br />
Kind pflegen. Das geht ab 14 Jahren,<br />
dass man ab da in eine partners<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />
Kommunikation einsteigt, aber vorher<br />
ni<strong>ch</strong>t. Eltern sollten Kindern lehren<br />
und keine Freunde für sie sein.<br />
Sie gehen in die Familien und konfrontieren<br />
si<strong>ch</strong> mit zum <strong>Teil</strong> sehr aggressiven<br />
Jugendli<strong>ch</strong>en.<br />
I<strong>ch</strong> habe gerade einen 17-jährigen Anatolier.<br />
Er ist zwei Meter gross und bes<strong>ch</strong><strong>im</strong>pft<br />
seine Mutter, sie sei die grösste<br />
S<strong>ch</strong>lampe, den Vater verprügelt er tägli<strong>ch</strong>.<br />
Er wollte mi<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> verprügeln.<br />
I<strong>ch</strong> habe ihm in die Augen ges<strong>ch</strong>aut und<br />
gesagt: Fang an! Hier ist keine Polizei,<br />
keine Security. No<strong>ch</strong> hat er ni<strong>ch</strong>ts gema<strong>ch</strong>t.<br />
Wissen Sie, die Jugendli<strong>ch</strong>en<br />
sind si<strong>ch</strong> als Reaktion Angst gewöhnt.<br />
Und Sie, haben Sie nie Angst<br />
I<strong>ch</strong> sehe, wie si<strong>ch</strong> Jugendli<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> nur<br />
wenigen Monaten wandeln können. I<strong>ch</strong><br />
sehe das 16-jährige Mäd<strong>ch</strong>en, wel<strong>ch</strong>es<br />
no<strong>ch</strong> vor fünf Monaten kurz vor der<br />
Einweisung in eine ges<strong>ch</strong>lossene Anstalt<br />
stand und heute eine lebensbejahende<br />
und bezaubernde junge Frau ist.<br />
Nein, i<strong>ch</strong> habe keine Angst. I<strong>ch</strong> habe sie<br />
gerne, alle. (la<strong>ch</strong>t)
.<br />
<strong>Sonntag</strong> | Nr. 32 | 9. <strong>August</strong> <strong>2009</strong><br />
Seite 13<br />
MENSCHEN<br />
Vier Jugendli<strong>ch</strong>e und ihr<br />
persönli<strong>ch</strong>er Leidensweg<br />
Sie waren s<strong>ch</strong>wer erziehbar, nahmen Drogen und landeten auf der Strasse<br />
Sie wurden in He<strong>im</strong>e<br />
abges<strong>ch</strong>oben, ins<br />
Gefängnis gesperrt<br />
oder <strong>im</strong> Alltag allein<br />
gelassen. Dabei su<strong>ch</strong>ten<br />
die vier Teenager vor<br />
allem eines: Führung<br />
und Vertrauen.<br />
VON CLAUDIA MARINKA<br />
Duffy (18), Lisa (16), Marlene<br />
(17) und Mi<strong>ch</strong>ael (16) galten<br />
als s<strong>ch</strong>wer erziehbare Jugendli<strong>ch</strong>e.<br />
Mi<strong>ch</strong>ael drohte mit allem<br />
Mögli<strong>ch</strong>en, Duffy wurde<br />
international gesu<strong>ch</strong>t, Marlene<br />
klaute Autos und Lisa wurde<br />
um ein Haar heroinabhängig.<br />
So unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> ihre<br />
Lisa (16) mö<strong>ch</strong>te am liebsten «mit Tieren arbeiten».<br />
MICHAEL (16) SIEHT COOL UND RUHIG AUS.<br />
ER ERZÄHLT GERNE UND VIEL; SPRICHT<br />
DAVON, einmal in die Politik zu gehen,<br />
<strong>im</strong> Leben etwas errei<strong>ch</strong>en zu wollen.<br />
Ganz allein, aus eigener Kraft. Sein Auftreten<br />
wirkt selbstsi<strong>ch</strong>er, fröhli<strong>ch</strong>. Do<strong>ch</strong><br />
vor ni<strong>ch</strong>t allzu langer Zeit lebte Mi<strong>ch</strong>ael<br />
zurückgezogen in seiner eigenen kleinen<br />
Welt, liess niemanden daran teilhaben,<br />
sperrte Eltern und Freunde aus.<br />
Als er in die Oberstufe kam, fingen<br />
seine Probleme an: «Vorher war i<strong>ch</strong> ein<br />
guter S<strong>ch</strong>üler. Plötzli<strong>ch</strong> konnte i<strong>ch</strong> mit<br />
dem Druck in der S<strong>ch</strong>ule ni<strong>ch</strong>t umgehen,<br />
wurde in der S<strong>ch</strong>ule gehänselt. I<strong>ch</strong><br />
fand mi<strong>ch</strong> in meinem Leben ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr zure<strong>ch</strong>t.» Er war aggressiv und<br />
hatte Wutausbrü<strong>ch</strong>e, mit denen die Eltern<br />
ni<strong>ch</strong>t umgehen konnten. Man<strong>ch</strong>mal<br />
drängte er sie in eine Ecke und<br />
drohte ihnen. Kam er na<strong>ch</strong> Hause,<br />
s<strong>ch</strong>miss er oft mit Sa<strong>ch</strong>en um si<strong>ch</strong>, drohte<br />
mit allem Mögli<strong>ch</strong>en.<br />
IN DER SCHULE, sagt er, hätten Ausländer<br />
die S<strong>ch</strong>weizer S<strong>ch</strong>üler verprügelt und<br />
ihnen na<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>ule aufgelauert, Skaterlook<br />
war tabu. «I<strong>ch</strong> war hässig, in diesem<br />
Ausländerort aufwa<strong>ch</strong>sen zu müssen»,<br />
sagt Mi<strong>ch</strong>ael. Wobei er ni<strong>ch</strong>t generell<br />
gegen Ausländer sei, wie er betont.<br />
Die Eltern s<strong>ch</strong>ickten ihn in eine Privats<strong>ch</strong>ule,<br />
hofften dort auf Besserung. Do<strong>ch</strong><br />
es wurde ni<strong>ch</strong>t besser. Es folgten etli<strong>ch</strong>e<br />
Abklärungen: von S<strong>ch</strong>ulpsy<strong>ch</strong>ologen, Naturheilärzten<br />
bis hin zu esoteris<strong>ch</strong>en An<br />
laufstellen. «I<strong>ch</strong> war wütend, aggressiv<br />
und wurde verbal ausfällig», so Mi<strong>ch</strong>ael.<br />
Erwis<strong>ch</strong>t wurde er dabei nie.<br />
Selbstzweifel und Hassgefühle frass<br />
er in si<strong>ch</strong> hinein, seine Mutter konnte<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr mit ihm reden. Sie habe si<strong>ch</strong><br />
ma<strong>ch</strong>tlos gefühlt, erzählt sie. Man<strong>ch</strong>mal<br />
sei er na<strong>ch</strong> Hause gekommen, habe<br />
einen Stuhl oder Kleider um si<strong>ch</strong> geworfen<br />
und si<strong>ch</strong> dann türeknallend in sein<br />
Z<strong>im</strong>mer verzogen. Fa<strong>ch</strong>leute versu<strong>ch</strong>ten<br />
es mit Beruhigungsmitteln. Do<strong>ch</strong> selbst<br />
die Medikamente, die ihm Ärzte vers<strong>ch</strong>rieben,<br />
nützten ni<strong>ch</strong>ts.<br />
DANN LERNTE ER Konfliktmanagerin Sefika<br />
Garibovic kennen. «Sie war mit ihrer<br />
direkten, strengen, aber eben au<strong>ch</strong><br />
ehrli<strong>ch</strong>en und offenen Art die erste Person,<br />
die i<strong>ch</strong> an mi<strong>ch</strong> heranliess», sagt er.<br />
Früher habe er si<strong>ch</strong> von niemandem etwas<br />
vors<strong>ch</strong>reiben lassen. Sie habe ihm<br />
klar deutli<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t, wo die Grenzen<br />
liegen. Er sei selbstbewusster geworden,<br />
Wutausbrü<strong>ch</strong>e gebe es keine mehr.<br />
Heute hegt er Pläne: Na<strong>ch</strong> nur drei<br />
Bewerbungen hat er eine Lehrstelle als<br />
Drogist gefunden. Im Ges<strong>ch</strong>äft s<strong>ch</strong>ätzt ihn<br />
sein Lehrmeister wegen seiner höfli<strong>ch</strong>en<br />
und ruhigen Art. Das Mitglied der Jungen<br />
SVP will si<strong>ch</strong> später medizinis<strong>ch</strong> weiterbilden.<br />
A<strong>ch</strong> ja, einen IQ-Test habe er au<strong>ch</strong><br />
ma<strong>ch</strong>en lassen – und ist über das Resultat<br />
von 130 Punkten ho<strong>ch</strong>erfreut.<br />
Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten au<strong>ch</strong> sind, eines<br />
haben sie gemeinsam: Diese<br />
Jugendli<strong>ch</strong>en wurden von<br />
Fa<strong>ch</strong>leuten aufgegeben. Unzählige<br />
Therapien und He<strong>im</strong>aufenthalte<br />
haben sie hinter<br />
si<strong>ch</strong>. Do<strong>ch</strong> niemand konnte<br />
ihnen das geben, wona<strong>ch</strong> sie<br />
su<strong>ch</strong>ten: Regeln, Grenzen,<br />
Liebe, Vertrauen, Anerkennung,<br />
Motivation und Geborgenheit.<br />
Heute können sie beinahe<br />
selbst ni<strong>ch</strong>t fassen, wo sie<br />
no<strong>ch</strong> vor kurzem in ihrem Leben<br />
standen. Lisa malte si<strong>ch</strong><br />
ihre Zukunftsperspektiven<br />
damals düster aus. «I<strong>ch</strong> sah<br />
mi<strong>ch</strong> auf dem Sofa, vor dem<br />
Fernseher mit Joint.»<br />
«UNSER VATER DROHTE, UNS UMZUBRIN-<br />
GEN, DIE MUTTER WAR ALKOHOLIKERIN.<br />
Als i<strong>ch</strong> se<strong>ch</strong>s Jahre alt wurde, haben si<strong>ch</strong><br />
meine Eltern getrennt. Mit 13 kam i<strong>ch</strong><br />
ins Internat, ins Sonders<strong>ch</strong>ulhe<strong>im</strong> Friedhe<strong>im</strong><br />
in Bubikon. I<strong>ch</strong> wurde von Mits<strong>ch</strong>ülern<br />
fertiggema<strong>ch</strong>t, trank mi<strong>ch</strong> ins<br />
Koma, kiffte und nahm alle mögli<strong>ch</strong>en<br />
Drogen – von LSD bis Ecstasy. Beinahe wäre<br />
i<strong>ch</strong> heroinabhängig geworden. S<strong>ch</strong>ulunterri<strong>ch</strong>t<br />
hatten wir kaum, und wenn,<br />
dann meist nur Mathematik.<br />
I<strong>ch</strong> floh, ging auf Kurve, auf die<br />
Strasse. Sozialarbeiter haben mir <strong>im</strong>mer<br />
nur gedroht, einmal haben sie mi<strong>ch</strong> gewaltsam<br />
aus dem Büro ges<strong>ch</strong>missen. I<strong>ch</strong><br />
ritzte meine Arme. Psy<strong>ch</strong>ologen sagten,<br />
i<strong>ch</strong> sei suizidgefährdet. Niemand hörte<br />
mir ri<strong>ch</strong>tig zu. Von meiner Angst wusste<br />
niemand, i<strong>ch</strong> konnte mi<strong>ch</strong> niemandem<br />
anvertrauen. Du blöde Ritzpuppe, riefen<br />
sie mir <strong>im</strong> He<strong>im</strong> na<strong>ch</strong>, bring di<strong>ch</strong> um.<br />
I<strong>ch</strong> landete erneut auf der Strasse, die<br />
Polizei griff mi<strong>ch</strong> <strong>im</strong>mer wieder auf. I<strong>ch</strong><br />
kam in ein Isolierz<strong>im</strong>mer, bekam Seroquel,<br />
ein starkes Beruhigungsmittel gegen<br />
Angststörungen und Panikattacken.<br />
Wenn i<strong>ch</strong> das nahm, wurde i<strong>ch</strong> halb<br />
ohnmä<strong>ch</strong>tig und musste mi<strong>ch</strong> hinlegen.<br />
I<strong>ch</strong> wollte nur eines: geliebt werden,<br />
na<strong>ch</strong> Hause. Damals da<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong>, mein Leben<br />
sei gelaufen. I<strong>ch</strong> sah mi<strong>ch</strong> auf dem<br />
Sofa, vor dem Fernseher mit Joint.<br />
Das war bis vor einem Jahr. Meine<br />
Beiständin hat mir dann Frau Garibovic<br />
vermittelt – und mein Leben hat si<strong>ch</strong> radikal<br />
geändert. Sie hat mir gezeigt, was<br />
alles in mir steckt. Irgendwie ma<strong>ch</strong>t sie<br />
etwas, das einem wieder Hoffnung gibt.<br />
Sie ist sehr streng, mit Regeln und Grenzen,<br />
aber sie gibt viel, setzt si<strong>ch</strong> ein für<br />
mi<strong>ch</strong>. Sie war meine letzte Chance. Es war,<br />
als ob i<strong>ch</strong> permanent betäubt gewesen wäre.<br />
Heute wohne i<strong>ch</strong> zu Hause, fühle mi<strong>ch</strong><br />
super und lerne jeden Tag. Nä<strong>ch</strong>stes Jahr<br />
will i<strong>ch</strong> eine Lehre ma<strong>ch</strong>en, am liebsten<br />
als Tierpflegerin. Früher hatte i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
mal vor meiner Mutter Respekt.»<br />
Angehender Drogist Mi<strong>ch</strong>ael (16).<br />
Duffy (18): Praktikum <strong>im</strong><br />
Gesundheitswesen.<br />
BILDER: SIGGI BUCHER, HEIKE GRASSER, SUSI BODMER<br />
Marlene (17): Praktikum <strong>im</strong> Altershe<strong>im</strong>.<br />
WITZIG, WARMHERZIG, KECK – EINE<br />
SCHNELLDENKERIN: DAS UND NOCH<br />
VIEL MEHR IST MARLENE. Sie wurde<br />
kaputt gema<strong>ch</strong>t. Von He<strong>im</strong>en, Erziehern,<br />
Pädagogen. Von Fa<strong>ch</strong>leuten,<br />
die si<strong>ch</strong> ihrer ni<strong>ch</strong>t annahmen.<br />
Experten, die sie einfa<strong>ch</strong> nur ma<strong>ch</strong>en<br />
liessen. Sie klagt an: «Drogen,<br />
Alkohol, Prügeleien, das habe i<strong>ch</strong><br />
bei meinen He<strong>im</strong>aufenthalten gelernt.»<br />
Marlene war laut, wollte ni<strong>ch</strong>t<br />
gehor<strong>ch</strong>en. Na<strong>ch</strong> der 6. Klasse<br />
kommt sie ins Internat. Dort<br />
s<strong>ch</strong>meisst man sie raus. Nä<strong>ch</strong>ste<br />
Station ist ein Klosterinternat. Sie<br />
fühlt si<strong>ch</strong> einsam, vermisst ihr Zuhause.<br />
Was folgt, ist ein T<strong>im</strong>e-out:<br />
vier Monate bei einer Familie. Mit<br />
15 Jahren rau<strong>ch</strong>t sie Joints, betäubt<br />
si<strong>ch</strong> mit Alkohol. Sie flieht, lebt auf<br />
der Strasse, was <strong>im</strong> Jargon «auf Kurve<br />
gehen» heisst. Ihre Eltern su<strong>ch</strong>en<br />
sie. Als sie Marlene das nä<strong>ch</strong>ste Mal<br />
sehen, sitzt sie für drei Tage <strong>im</strong> Gefängnis.<br />
«I<strong>ch</strong> habe gestohlen, Alkohol<br />
getrunken und Autos geklaut»,<br />
erzählt Marlene.<br />
Im He<strong>im</strong> fängt sie an, Drogen<br />
zu nehmen. He<strong>im</strong>leiter s<strong>ch</strong>auen<br />
nur zu, als sie angetrunken auf<br />
dem Balkon liegt, betäubt von Alkohol.<br />
Traurig ist sie, fühlt si<strong>ch</strong><br />
von allen verlassen. Sie ist wütend<br />
auf alle und alles, verhaut grundlos<br />
Mitmens<strong>ch</strong>en, su<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> Liebe,<br />
wird wieder weggesperrt. Ihre<br />
Mutter besu<strong>ch</strong>t ihre To<strong>ch</strong>ter über<br />
Jahre jedes zweite Wo<strong>ch</strong>enende.<br />
Do<strong>ch</strong> die Eltern sind selbst verzweifelt,<br />
haben keine Kraft mehr –<br />
-<br />
DUFFY (18): VOR DREI<br />
JAHREN GERÄT DIE GEBÜRTIGE<br />
ENGLÄNDERIN AN FALSCHE FREUNDE. Sie<br />
rau<strong>ch</strong>t bis zu a<strong>ch</strong>t Gramm Has<strong>ch</strong> am<br />
Tag, s<strong>ch</strong>luckt Pillen und wird in die Klinik<br />
Hard in Embra<strong>ch</strong> eingeliefert. Ein<br />
harter Drogenentzug steht an. Sie liegt<br />
dort auf derselben Station mit Erwa<strong>ch</strong>senen<br />
– mit Drogenabhängigen, Borderlinern<br />
und HIV-Patienten. «Das war für<br />
mi<strong>ch</strong> der Horror», sagt sie.<br />
Man droht ihr mit He<strong>im</strong>, sie rappelt<br />
si<strong>ch</strong> auf. Mit 16 haut sie ab. Drei Monate<br />
lebt Duffy auf der Strasse, ist mit Asylanten<br />
unterwegs, gerät <strong>im</strong>mer wieder an<br />
Mens<strong>ch</strong>en, die sie ausnehmen. «I<strong>ch</strong> war<br />
auf der Flu<strong>ch</strong>t, habe einen Ausweg gesu<strong>ch</strong>t.<br />
Vor mir selbst», sagt sie.<br />
Ihre Eltern geben viermal<br />
eine Vermisstenanzeige auf,<br />
Duffy wird international gesu<strong>ch</strong>t.<br />
Ihr Vater ist ein Bankangestellter<br />
in Kaderposition.<br />
Die To<strong>ch</strong>ter klaut, dealt<br />
mit Drogen, bedroht einen<br />
Mann mit einem Kü<strong>ch</strong>enmesser.<br />
Ihre Eltern können<br />
ihre eigenen Fehler ni<strong>ch</strong>t eingestehen.<br />
Duffy gerät an etli<strong>ch</strong>e<br />
Sozialarbeiter, do<strong>ch</strong> keiner<br />
n<strong>im</strong>mt sie ernst, wie sie<br />
sagt. Bei einem Treffen<br />
wird sie gar grob angefasst<br />
– man s<strong>ch</strong>meisst sie aus<br />
dem Büro.<br />
DREI TAGE vor ihrem<br />
18. Geburtstag führt sie die<br />
Polizei mit Hands<strong>ch</strong>ellen ab.<br />
Sie hat Anzeigen am Hals –<br />
wegen Verstoss gegen das<br />
Betäubungsmittelgesetz und illegalen<br />
Waffenbesitzes. In Hands<strong>ch</strong>ellen wird<br />
sie zum Geri<strong>ch</strong>tssaal geführt. Das hübs<strong>ch</strong>e<br />
Gesi<strong>ch</strong>t ist von Alkoholexzessen<br />
aufges<strong>ch</strong>wemmt, ihr Blick apathis<strong>ch</strong>, ihre<br />
Seele zugemüllt. In diesem Zustand<br />
trifft sie Sefika Garibovic. «I<strong>ch</strong> konnte<br />
gut mir ihr reden, sie hat si<strong>ch</strong> Zeit genommen.»<br />
Zudem habe die Konfliktmanagerin<br />
au<strong>ch</strong> von den Eltern erwartet,<br />
dass sie si<strong>ch</strong> ändern. Duffy lebt heute zu<br />
Hause, absolviert ein Praktikum <strong>im</strong> Gesundheitswesen<br />
und fängt dort nä<strong>ch</strong>stes<br />
Jahr eine Lehre an. «Früher fühlte i<strong>ch</strong><br />
mi<strong>ch</strong> unwohl, heute habe i<strong>ch</strong> mir meinen<br />
Platz in der Familie ges<strong>ch</strong>affen, ohne Drogen<br />
und Alkohol. Das fühlt si<strong>ch</strong> gut an.»<br />
und unters<strong>ch</strong>reiben <strong>im</strong>mer wieder<br />
Dokumente: für eine He<strong>im</strong>einweisung,<br />
für die Beoba<strong>ch</strong>tungsstation<br />
Hirslanden, für die Jugendstätte<br />
Bellevue. Marlene besu<strong>ch</strong>t eine Anstalt<br />
na<strong>ch</strong> der anderen. Unfreiwillig,<br />
unverstanden. Eltern und Fa<strong>ch</strong>leute<br />
reden ihr ein, sie sei krank <strong>im</strong> Kopf.<br />
Man gibt ihr Medikamente: Ritalin<br />
und Risperdal, ein so genanntes<br />
Neuroleptikum – ein Mittel gegen<br />
Psy<strong>ch</strong>osen. Darüber hinaus wird es<br />
au<strong>ch</strong> in der Behandlung der Manie<br />
eingesetzt.<br />
DER SPUK DAUERT mehrere Jahre.<br />
Dann, eines Tages, n<strong>im</strong>mt die Mutter<br />
ihre To<strong>ch</strong>ter aus der Jugendstätte<br />
na<strong>ch</strong> Hause. Dorthin, wona<strong>ch</strong><br />
si<strong>ch</strong> Marlene s<strong>ch</strong>on <strong>im</strong>mer<br />
gesehnt hat. Bald darauf liest sie in<br />
einem Zeitungsartikel von Jugendcoa<strong>ch</strong><br />
Sefika Garibovic – und muss<br />
sie kennen lernen. Marlenes Beiständin<br />
stellte daraufhin den Kontakt<br />
her. «Diese Frau geht einem<br />
ni<strong>ch</strong>t mehr aus dem Kopf», sagt<br />
sie. Plötzli<strong>ch</strong> gibt es Grenzen. Unterstützung.<br />
Hoffnung. Sie denkt<br />
si<strong>ch</strong>: «Auf die Frau muss i<strong>ch</strong> hören.»<br />
Drogen, Alkohol, Medikamente<br />
– Marlene stellt alles ab.<br />
Seit einem Monat hat sie eine<br />
Praktikumsstelle in einem Altersund<br />
Pflegehe<strong>im</strong>. Marlene: «Wissen<br />
Sie, viele sind dement. Und allein.<br />
I<strong>ch</strong> glaube, sie erfassen aber do<strong>ch</strong><br />
viel. I<strong>ch</strong> rede mit ihnen, frage sie, wie<br />
es ihnen geht. Eines Tages bin i<strong>ch</strong><br />
viellei<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> froh, wenn si<strong>ch</strong> jemand<br />
liebevoll um mi<strong>ch</strong> kümmert.»