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Schizophrenie – mit der Krankheit leben - Prof. Dr. med. Asmus Finzen

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Entwurf.<br />

<strong>Asmus</strong> <strong>Finzen</strong><br />

<strong>Schizophrenie</strong> – <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> <strong>leben</strong><br />

Hilfen für Angehörige und Betroffene<br />

Der vorliegende Text ist unfertig. Ich werde ihn im Laufe des Jahres<br />

2010 überarbeiten und korrigieren. Ich hoffe auf Anregungen und<br />

Kritik für die Endfassung<br />

1


Stand: 30.3.2010<br />

313 000 Zeichen<br />

Inhalt<br />

Vorwort 5<br />

1 Die <strong>Krankheit</strong> 7<br />

Das zentrale schizophrene Syndrom. <strong>Schizophrenie</strong> als Metapher<br />

2 Warum die schizophrene Erkrankung eines Angehörigen eine Katastrophe<br />

für die ganze Familie ist 11<br />

Stigma und Schuldzuweisung. Die Identität <strong>der</strong> Eltern und die Rolle <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>.<br />

Die Familienkatastrophe <strong>Schizophrenie</strong>. Die grosse Kränkung. Die Bedrohung<br />

Der Verlust <strong>der</strong> Selbstverständlichkeit. Die Ungewissheit des Ausgangs. Die<br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> eigenen Biographie. Was wird, wenn wir alt sind. Ansätze<br />

zur Bewältigung<br />

3 Niemand ist schuld 25<br />

2


Was haben wir falsch gemacht Einer muss ja Schuld sein. Unbekannte<br />

Ursachen - erhöhte Verletzlichkeit. Lange Vorlaufzeit. Entwicklungskrisen<br />

unvermeidbar. Was können wir tun Informationen sind wichtig.<br />

Verän<strong>der</strong>ungen beginnen im Kopf.<br />

4 Im Vorfeld <strong>der</strong> Psychose. Frühintervention - Vorstellung<br />

und Wirklichkeit 35<br />

Unspezifische Symptome. Ratlosigkeit und Unverständnis. Überempfindlichkeit<br />

und Verletzlichkeit. Bewältigungsansätze im Vorfeld. Das Dilemma <strong>der</strong><br />

Frühintervention<br />

5 Die <strong>Krankheit</strong> erhält ihren Namen. Die Diagnose und was sie bedeutet 43<br />

Blinde Flecken und Verdrängung. Diagnosekriterien. Engagement, Wissen,<br />

Erfahrung<br />

6 Vor <strong>der</strong> Therapie. Behandlungsgrundsätze 49<br />

Individuelle Behandlung. Wi<strong>der</strong> das Verzagen: die Angehörigen.<br />

Über Behandlung verhandeln. Kann man eine <strong>Krankheit</strong> behandeln,<br />

<strong>der</strong>en Ursachen man nicht kennt. Wege <strong>der</strong> Behandlung<br />

7 Akute Psychose. Zeit <strong>der</strong> Krise. Die Kranken 56<br />

Medukamentenbehandlung. Zuwendung. Frühes Einbeziehen <strong>der</strong> Kranken.<br />

Zeit. Erfahrung <strong>der</strong> Krise. Psychoedukation. Psychotherapie. Milieutherapie.<br />

keine Alternativen<br />

8 Zeit <strong>der</strong> Krise. Die Angehörigen 70<br />

Wie es los geht. Am Anfang Ratlosigkeit. Die Frage nach <strong>der</strong> Schuld.<br />

Angehörige Brauchen Verständnis. Psychoinformation und Psychoedukation.<br />

Grund zur Hoffnung<br />

9 Der steinige Weg zur Wie<strong>der</strong>herstellung 79<br />

Ungeduld. Erschöpfung. Anstrengung. Regression und Aktivierung.<br />

Geduld und Zeit. "Wood shedding". Stabilisierung und Neuorientierung. Zeit für<br />

Psychotherapie. Die Psychose begreifen und integrieren<br />

10 Wie<strong>der</strong>erkrankung und Rückfallvermeidung 87<br />

Prophylaxe von Anfang an. Erste Anzeichen. Wie<strong>der</strong>aufnahmen <strong>der</strong><br />

Mediekamentenbehandlung. Diätetik des Lebens. Langfristige Strategie.<br />

Selbsthilfeinitiativen. Das Wie<strong>der</strong>erkrankungsrisiko bleibt bestehen.<br />

Pragmatische Lösungen. Soziotherapeutische Hilfen<br />

11 "Therapieresistenz". Wenn die <strong>Krankheit</strong> andauert 97<br />

Fortbestehen "positiver" Symptome. Fortbestehen negativer Symptome.<br />

3


Fehlende Kooperation (Compliance). Mangelde Einsicht.<br />

"Hospitalisierungsschäden": Störungen des Handelns und des Wollen.<br />

Die <strong>Dr</strong>ehtür. Psychose und Substanzmissbrauch. Was kann man tun<br />

12 Rehabilitation und Psychosoziale Hilfen 108<br />

Grundlagen. Was tun. Berufliche Rehabilitation. Psychosoziale Rehabiltitation.<br />

Hilfen im Alltag. Stimmige Ziele<br />

13 Wenn nichts mehr geht: Schwierigkeiten,<br />

Hin<strong>der</strong>nisse, Komplikationen 115<br />

„Mangelnde Einsicht“. Nicht-Wollen-Können. Wenn Kranke die Behandlung<br />

verweigern. Suizidgefährdung und Gewaltrisiko. Hilfe wi<strong>der</strong> Willen.<br />

Schweigepflicht und Auskunftsverpflichtung. Schlussbemerkungen<br />

14 Mit den Kranken <strong>leben</strong> 128<br />

Akzeptieren, was ist. Der Einbruch <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> in das Rollengefüge <strong>der</strong><br />

Familie. Grenzen <strong>der</strong> Therapie. Behin<strong>der</strong>ungen und die Folgen: Pflege, Wohnen,<br />

Betätigung, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Risiken. Auf sich achten:<br />

Gefühle zulassen, sich Zeit für sich selber nehmen, Hilfe suchen. Grenzen<br />

setzen. Überfürsorglichkeit vermeiden. Regeln aushandeln<br />

15 Pschoinformation und Psychoedukation 142<br />

Irrwege <strong>der</strong> Familienforschung. Die Entdeckung <strong>der</strong> "Expressed Emotions".<br />

Neuauflage <strong>der</strong> Schuldzuweisung Bündnispartner zeitgemässer<br />

<strong>Schizophrenie</strong>therapie. Verantwortung als Chance<br />

16 Angehörigenselbsthilfe 149<br />

Die National <strong>Schizophrenie</strong> Fellowship. Das Zusammen<strong>leben</strong> verän<strong>der</strong>t alle<br />

Beteiligten. Freispruch <strong>der</strong> Familie. Mit <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> <strong>leben</strong>. Angehörige als<br />

Experten<br />

4


Vorwort<br />

»Dem Schizophrenen bleibt das Gesunde erhalten.«<br />

Eugen Bleuler<br />

Psychische <strong>Krankheit</strong>en sind behandelbar. Das gilt auch für Psychosen aus dem<br />

schizophrenen Formenkreis, für schizophreniforme, schizotype und wahnhafte<br />

Störungen und für schizoaffektive Psychosen. Die größten Hin<strong>der</strong>nisse für eine<br />

erfolgreiche Therapie sind häufig nicht die begrenzten Möglichkeiten <strong>der</strong> Medizin,<br />

son<strong>der</strong>n eine Reihe scheinbarer Nebenfaktoren. So dauert es oft sehr lange, bis<br />

psychotisches Er<strong>leben</strong> und Verhalten als <strong>Krankheit</strong> erkannt wird. Zudem sind die<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> Betroffenen, angemessene Hilfe zu suchen und zu finden, oft<br />

beeinträchtigt. Schliesslich erweisen sich Vorurteile und Stigmatisierung als<br />

Behandlungshin<strong>der</strong>nisse ersten Ranges. Und nach wie vor geistert <strong>der</strong> Mythos <strong>der</strong><br />

Unheilbarkeit durch Medizin und Laienwelt. Alles dies macht es auch schwer,<br />

angemessen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> umzugehen - und wenn sie anhält, <strong>mit</strong> ihr zu <strong>leben</strong>.<br />

Dabei zu helfen ist Ziel dieses Buches, das sich an in erster Linie an Angehörige und<br />

Kranke wendet. Es will die Motivation aller Beteiligten stärken, Wege zu suchen,<br />

<strong>Krankheit</strong>, wo immer möglich, zu überwinden; o<strong>der</strong> wenn das nicht möglich ist, ihre<br />

Auswirkungen zu kontrollieren, und wenn es sein muss, <strong>mit</strong> ihr zu <strong>leben</strong>. Es will die<br />

Kranken und ihre Angehörigen ermutigen, Geduld und Hoffnung zu bewahren. Es<br />

appelliert an die Behandelnden, nicht vorschnell vor <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> und ihren Folgen<br />

zu kapitulieren Therapieerfolg zu kapitulieren. Es setzt auf die Zusammenwirkung<br />

5


von Kranken, Angehörigen und Behandelnden, auf den "Trialog" zwischen den<br />

Beteiligten.<br />

Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis sind <strong>Krankheit</strong>en, bei denen die<br />

Diagnose wenig über die Prognose, über den <strong>Krankheit</strong>sausgang aussagt. Eine<br />

Besserung, ja eine weitgehende Wie<strong>der</strong>herstellung, ist auch nach Jahren möglich,<br />

selbst wenn <strong>der</strong> Verlauf sich zunächst nicht so günstig anlässt, wie die Beteiligten<br />

sich das erhoffen. Das verlangt von allen Beteiligten nicht nur einen langen Atem. Es<br />

erfor<strong>der</strong>t auch langfristige Behandlungsstrategien, die sich durch Beharrlichkeit,<br />

Geduld, die Bereitschaft zu Neuanfängen und die Gewährleistung einer langfristigen<br />

Kontinuität <strong>der</strong> Behandlung auszeichnen. Bereits nach <strong>der</strong> ersten Wie<strong>der</strong>erkrankung<br />

geht es nicht mehr nur um Behandlung, son<strong>der</strong>n zugleich um den angemessenen<br />

Umgang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>. Das geht aber nur, wenn Angehörige und Betroffene von<br />

Anfang an einbezogen werden. Und wenn sie dabei die Hilfe erfahren, die sie<br />

benötigen.<br />

Ich beginne dieses Buch <strong>mit</strong> einer kurzen Beschreibung <strong>der</strong> zentralen Symptomatik<br />

schizophrener Psychosen und ihrer sozialen Folgen. Ich versuche zu zeigen, was es<br />

für eine Familie bedeutet, wenn eines ihrer Mitglie<strong>der</strong> krank wird. Ich stelle klar, dass<br />

niemand daran schuld ist. Ich befasse mich <strong>mit</strong> den Geschehnissen im Vorfeld <strong>der</strong><br />

Psychose. Erst danach wende ich mich den <strong>med</strong>izinischen Abläufen zu: Diagnose,<br />

Frühintervention, Akutbehandlung, Wie<strong>der</strong>herstellung, Wie<strong>der</strong>erkrankung,<br />

Rehabilitation und schliesslich <strong>der</strong> Frage, was zu tun ist, wenn die <strong>Krankheit</strong><br />

andauert. In allen diesen Phasen versuche ich - <strong>mit</strong> zunehmendem Gewicht - die<br />

Situation Angehörigen einzubringen, ihren Umgang und ihre Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> und <strong>der</strong>en Folgen für ihr eigenes Leben. Ich frage, was man tun<br />

kann, wenn nichts mehr geht. Ich zeige wie wichtig es für die Angehörigen ist, auf<br />

sich und ihre Kräfte zu achten, bei allem Willen zu helfen, Grenzen zu setzen und<br />

sich selber zu helfen: durch aktive Information und Psychoedukation, Engagement in<br />

<strong>der</strong> Angehörigenselbsthilfe und, wenn es ganz schlimm kommt, durch<br />

Inanspruchnahme von fachlicher Hilfe.<br />

Ich stelle die Situation, die Sorgen und die Probleme von Kranken und Angehörigen<br />

im Verlauf des Buches nicht unabhängig voneinan<strong>der</strong>, nebeneinan<strong>der</strong> o<strong>der</strong> – <strong>mit</strong><br />

wenigen Ausnahmen in geson<strong>der</strong>ten Einzelkapiteln vor. Ich folge vielmehr <strong>der</strong><br />

Chronologie des <strong>Krankheit</strong>sverlaufes von <strong>der</strong> Diagnosestellung über die<br />

6


Erstbehandlung zur Wie<strong>der</strong>herstellung, über den Rückfall, die Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Rückfallprophylaxe zur Notwenigkeit des Lebens <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>.<br />

Wenn alle Möglichkeiten <strong>der</strong> Behandlung ausgeschöpft werden, wenn die Hilfe <strong>der</strong><br />

Angehörigen verlässlich ist, haben fast alle <strong>Schizophrenie</strong>kranken eine Chance auf<br />

ein besseres Leben <strong>mit</strong> ihrer <strong>Krankheit</strong>. Dazu benötigen sie Hilfe und Unterstützung<br />

jenseits des <strong>med</strong>izinisch-professionellen Systems: ausser durch die Angehörigen -<br />

das wird oft vergessen - durch Freunde und Bekannte, eine verständnisvolle<br />

Nachbarschaft, eine halbwegs tolerante Öffentlichkeit; und durch gegenseitige Hilfe<br />

im kleinen Kreis und in Selbsthilfegruppen und -organisationen.<br />

Oberhofen Thunersee, Dezember 2009 <strong>Asmus</strong> <strong>Finzen</strong><br />

1 Die <strong>Krankheit</strong><br />

<strong>Schizophrenie</strong> ist eine unverstandene psychische Störung. <strong>Schizophrenie</strong> ist ein Leiden,<br />

das Angst macht. <strong>Schizophrenie</strong> ist - entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil - eine<br />

ernste, aber gut behandelbare <strong>Krankheit</strong>. Sie ist zugleich die schillerndste aller<br />

psychischen Störungen. Sie kann leicht sein o<strong>der</strong> schwer. Sie kann akut und dramatisch<br />

verlaufen o<strong>der</strong> schleichend und für Aussenstehende kaum wahrnehmbar. Sie kann kurze<br />

Zeit andauern o<strong>der</strong> ein ganzes Leben. Sie kann einmalig auftreten. Sie kann in längeren<br />

o<strong>der</strong> kürzeren Abständen wie<strong>der</strong>kehren. Sie kann ausheilen o<strong>der</strong> zu Invalidität führen. Sie<br />

trifft Jugendliche im Prozess des Erwachsenwerdens und in <strong>der</strong> beruflichen Entwicklung.<br />

Sie trifft Männer und Frauen, die <strong>mit</strong>ten im Leben stehen o<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Schwelle zum Alter.<br />

<strong>Schizophrenie</strong> ist nicht selten. Sie ist so häufig wie die insulinpflichtige Zuckerkrankheit.<br />

Je<strong>der</strong> Hun<strong>der</strong>tste von uns wird daran erkranken. In je<strong>der</strong> Nachbarschaft gibt es jemanden,<br />

<strong>der</strong> daran leidet.<br />

Weil sie so vielfältig in ihren Erscheinungsformen ist, ist sie auch für Erfahrene oft nur<br />

schwer greifbar. Unerfahrene - das sind auch Kranke am Beginn ihres Leidens,<br />

Angehörige, Menschen aus dem Freundeskreis und Berufskollegen und die breite<br />

Öffentlichkeit - stehen <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> eher ratlos gegenüber. Wo soviel Unklarheit besteht,<br />

müssen Vorurteile Platz greifen. Diese versteigen sich auf <strong>der</strong> einen Seite zum Märchen<br />

7


von <strong>der</strong> Unheilbarkeit <strong>der</strong> Störung, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu <strong>der</strong> Unterstellung, die<br />

<strong>Schizophrenie</strong> gäbe es gar nicht.<br />

Das zentrale schizophrene Syndrom<br />

Es gibt <strong>Krankheit</strong>serfahrungen, die ein „zentrales schizophrenes Syndrom“ bedingen, das<br />

bei Kranken überall in <strong>der</strong> Welt anzutreffen ist: es ist gekennzeichnet durch das Er<strong>leben</strong><br />

<strong>der</strong> Eingebung von Gedanken, <strong>der</strong> Gedankenübertragung und des Gedankenentzugs,<br />

durch Stimmen, die <strong>der</strong> o<strong>der</strong> die Betroffene über sich sprechen hört, o<strong>der</strong> die seine<br />

Handlungen und Gedanken begleiten, durch die verän<strong>der</strong>te Wahrnehmung seiner<br />

physischen Umgebung. So kann beispielsweise die ganze Welt in einen so intensiven<br />

persönlichen Bezug zu ihm treten, dass sich jedes Geschehen speziell auf ihn zu<br />

beziehen scheint und eine beson<strong>der</strong>e Mitteilung an ihn enthält.<br />

Es ist leicht einzusehen, dass davon Betroffene alle seinem kulturellen Hintergrund<br />

geläufigen Erklärungen - wie etwa Hypnose, Telepathie, Radiowellen o<strong>der</strong> Besessenheit<br />

zur Hilfe holen, um diese Störung zu erklären. Mit einiger Phantasie kann man sich<br />

vorstellen, was sich zu Beginn einer schizophrenen Psychose abspielt, und verstehen,<br />

weshalb Angst, Panik und Nie<strong>der</strong>geschlagenheit so häufig sind, warum das<br />

Urteilsvermögen so oft beeinträchtigt ist. Menschen, die unerschütterlich von <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit dessen, was sie sehen und hören, überzeugt sind, haben aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong><br />

Mitmenschen "Wahnideen". Sie er<strong>leben</strong>, dass an<strong>der</strong>e ihnen zu nahe treten, sie bedrohen;<br />

sie fühlen sich verfolgt. Die Aussenwelt nimmt das als "Verfolgungswahn" wahr. An<strong>der</strong>e<br />

Kranke isolieren sich. Ihre eigenen Gefühle werden ihnen fremd. Sie brechen ihre<br />

sozialen Kontakte ab. Sie verlieren ihren Antrieb. Sie kommen nicht mehr aus dem Bett.<br />

Sie vernachlässigen sich. Sie können gleichsam nicht mehr wollen. Sie kommen ihren<br />

persönlichen und sozialen Verpflichtungen nicht mehr nach. Sie geraten in vielfältige<br />

Schwierigkeiten.<br />

Das Er<strong>leben</strong>, insbeson<strong>der</strong>e aber das Verhalten <strong>der</strong> Kranken ist für an<strong>der</strong>e oft nicht mehr<br />

verständlich und nicht mehr nachvollziehbar. Es leuchtet ein, dass eine Verständigung<br />

zwischen verschiedenen Wahrnehmungswelten nur schwer möglich ist, manchmal sogar<br />

unmöglich. Insbeson<strong>der</strong>e solange die <strong>Krankheit</strong> nicht als solche erkannt ist, reagieren<br />

8


Mitmenschen <strong>mit</strong> Unverständnis. Sie erwarten, dass die an<strong>der</strong>en - die Kranken - die<br />

Regeln des üblichen <strong>mit</strong>menschlichen Umgangs einhalten, dass sie sich "normal"<br />

verhalten. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, sie könnten es <strong>mit</strong> psychisch<br />

gestörten Menschen zu tun haben. Sie verstehen ihre Angst und ihre Schreckhaftigkeit<br />

nicht und reagieren <strong>mit</strong> Gereiztheit, wenn sie <strong>mit</strong> ihrem Wunsch nach früher üblicher Nähe<br />

und sozialem und emotionalem Umgang zurückgewiesen werden. Auch das Gefühls<strong>leben</strong><br />

<strong>der</strong> Kranken ist oft gestört, ohne dass die Menschen aus ihrer Umgebung dies wissen<br />

können.<br />

Im Alltag gehen langwierige Leidensphasen dem Begreifen voraus, dass eine <strong>Krankheit</strong><br />

vorliegt: heftige Konflikte zwischen den Kranken und ihren Angehörigen, Abbrüche von<br />

Freundschaften, sozialer Rückzug, Ausschluss aus Vereinigungen und Gruppen, in denen<br />

sie lange gelebt haben, Berufs- und Wohnungsverlust, wenn nicht gar Verwahrlosung.<br />

Dem Scheitern <strong>der</strong> normalpsychologischen Bewältigungsversuche folgt die krisenhafte<br />

Zuspitzung, <strong>der</strong> psychische Zusammenbruch, <strong>der</strong> die Diagnose und die psychiatrische<br />

Behandlung oft erst möglich macht. Aber <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Therapie, wie immer sie ausgeht, ist es<br />

nicht getan. Denn <strong>Schizophrenie</strong> ist lei<strong>der</strong> nicht nur eine <strong>Krankheit</strong>sbezeichnung.<br />

<strong>Schizophrenie</strong> als Metapher<br />

<strong>Schizophrenie</strong> ist zugleich eine Metapher. Sie ist ein Symbolbegriff und steht im<br />

sprachlichen Gebrauch für alles mögliche an<strong>der</strong>e; und nichts davon ist gut. Das Wort<br />

<strong>Schizophrenie</strong> wird so<strong>mit</strong> zu einer Metapher <strong>der</strong> Diffamierung, des Vorurteils und <strong>der</strong><br />

Diskriminierung. Seine metaphorische Verwendung hat entscheidenden Anteil an <strong>der</strong><br />

Stigmatisierung, <strong>der</strong> Beschädigung <strong>der</strong> Identität <strong>der</strong> von <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> Betroffenen. Und<br />

das hat verheerende Folgen: „Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> Psychosekranken und ihren Angehörigen zu<br />

tun hat, weiss, welchen Schrecken die blosse Erwähnung des Wortes <strong>Schizophrenie</strong><br />

hervorruft. Er hat gelernt, es nur sehr vorsichtig o<strong>der</strong> überhaupt nicht zu verwenden.<br />

Offenbar hat <strong>der</strong> Begriff“, so <strong>der</strong> Wiener Psychiater Heinz Katschnig (1989), "ein<br />

Eigen<strong>leben</strong> entwickelt, das <strong>der</strong> heutigen Realität <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> <strong>Schizophrenie</strong> in keiner<br />

Weise entspricht."<br />

9


Das ist nicht Ergebnis des Versagens <strong>der</strong> Psychiatrie im Umgang <strong>mit</strong> ihrer zentralen<br />

<strong>Krankheit</strong>, son<strong>der</strong>n direkte Folge <strong>der</strong> Instrumentalisierung des Begriffs als Metapher <strong>der</strong><br />

Diffamierung. Als solche hat sie nichts <strong>mit</strong> jener <strong>Krankheit</strong> zu tun, <strong>der</strong>en beson<strong>der</strong>es<br />

Kennzeichen darin liegt, dass "das Gesunde dem Schizophrenen erhalten bleibt“ (M.<br />

Bleuler 1975). <strong>Schizophrenie</strong> als Metapher ist nur abwertend. Sie nährt Vorstellungen von<br />

Unberechenbarkeit und Gewalttätigkeit, von unverständlichem, bizarrem o<strong>der</strong><br />

wi<strong>der</strong>sinnigem Verhalten und Denken. Ob Teenager etwas "schizo" finden, ob politisch<br />

Tätige das Handeln des Gegners als "schizophren" brandmarken, macht da keinen<br />

Unterschied. Das Wort schizophren eignet sich hervorragend zur diffamierenden<br />

Verkürzung.<br />

Was hilft es da, wenn <strong>der</strong> bekannte englische Sozialpsychiater John Wing (1980) mahnt,<br />

<strong>Schizophrenie</strong> habe nichts <strong>mit</strong> Gewalttätigkeiten bei Fussballspielen zu tun, o<strong>der</strong> <strong>mit</strong> dem<br />

Verhalten gestresster Politiker, <strong>mit</strong> <strong>Dr</strong>ogenabhängigkeit o<strong>der</strong> Kriminalität, <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Kreativität von Künstlern o<strong>der</strong> nicht nachvollziehbaren Umtrieben von<br />

Wirtschaftsmanagern und Generälen: "Es ist nicht einmal richtig, dass alle Menschen <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> Diagnose <strong>Schizophrenie</strong> verrückt sind; sie können aus <strong>der</strong> Sicht des Laien<br />

vollkommen gesund sein."<br />

Dieser Missbrauch des Wortes <strong>Schizophrenie</strong> leitet sich von vagen vorurteilsbehafteten<br />

Vorstellungen von <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> <strong>Schizophrenie</strong> ab. Aber diese prägen das Bild <strong>der</strong><br />

Allgemeinheit von <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> und den daran Erkrankten. Wen kann es da wun<strong>der</strong>n,<br />

dass die Diagnose Angst und Schrecken und heftige Abwehr auslöst. Man will sie nicht<br />

wahrhaben; man kann sie gar nicht wahr haben wollen. <strong>Schizophrenie</strong> ist deshalb keine<br />

<strong>Krankheit</strong> wie an<strong>der</strong>e. Sie ist eine "verrufene" <strong>Krankheit</strong>. Zum Leiden an <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>,<br />

ihren Symptomen und ihren sozialen Folgen kommt das Leiden an Vorurteilen,<br />

Diskriminierung und Schuldzuweisung, am Stigma <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> <strong>Schizophrenie</strong>, das auf<br />

diese Weise zu einer zweiten <strong>Krankheit</strong> wird, die um alles in <strong>der</strong> Welt verborgen werden<br />

muss. Deshalb wird immer wie<strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>t, die Medizin möge den <strong>Schizophrenie</strong>begriff<br />

aufgeben. Lei<strong>der</strong> zeigt die Erfahrung, dass solche Unternehmungen regelmässig<br />

scheitern. Aber nichts spricht dagegen, im Alltag den weniger belasteten - wenngleich<br />

ungenaueren - Begriff <strong>der</strong> Psychose zu verwenden.<br />

10


Wer versucht, <strong>Schizophrenie</strong>kranke und ihre Angehörigen zu verstehen und ihnen zu<br />

helfen, wird <strong>mit</strong> Betroffenheit feststellen, in wie schrecklicher Weise das Bild <strong>der</strong><br />

Allgemeinheit von <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> ihr Leiden verstärkt. Es verzerrt die Selbstwahrnehmung<br />

<strong>der</strong> Kranken und ihrer Angehörigen, untergräbt ihr Selbstbewusstsein und prägt den<br />

Umgang <strong>der</strong> Gesunden <strong>mit</strong> ihnen in fataler Weise. So bleibt es nicht aus, dass die<br />

Diagnose <strong>Schizophrenie</strong> von allen Betroffenen und Mitbetroffenen in doppelter Weise als<br />

Katastrophe erlebt wird. Daraus folgt, dass alle Ansätze zur Bewältigung <strong>der</strong><br />

<strong>Schizophrenie</strong> sich nicht auf die Behandlung <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> selber beschränken dürfen. Sie<br />

müssen die Betroffenen - den Kranken wie den Angehörigen zugleich dabei helfen, die<br />

verletzenden und ungerechten Folgen von Diskriminierung und Stigmatisierung zu<br />

überwinden. Ich werde in den folgenden Kapiteln versuchen, dieser doppelten Aufgabe<br />

gerecht zu werden. Dabei wende ich mich zunächst den psychosozialen Auswirkungen<br />

des Einbruchs <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> in die Lebenswelt <strong>der</strong> Betroffenen zu. Erst danach werde ich<br />

dem Lauf und dem Verlauf <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> und des Umgangs <strong>mit</strong> ihr folgen.<br />

2 Warum die schizophrene Erkrankung eines Angehörigen<br />

eine Katastrophe für die ganze Familie ist<br />

...und warum es gar nicht an<strong>der</strong>s sein kann<br />

Die Erkenntnis, dass ein Familien<strong>mit</strong>glied an einer <strong>Schizophrenie</strong> erkrankt ist, wird von<br />

Angehörigen einhellig als Katastrophe erlebt, die alles verän<strong>der</strong>t. „Wenn nichts mehr ist,<br />

wie es war....“, heisst <strong>der</strong> Titel eines von Heinz Deger-Erlenmaier herausgegebenen<br />

Buches, in dem Angehörige psychisch Kranker über ihre erschütternden, bedrückenden<br />

Erfahrungen und über demütigende Erlebnisse berichten. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis<br />

ver<strong>mit</strong>telt einen Eindruck von <strong>der</strong> allumfassenden Betroffenheit: „Der Einbruch <strong>der</strong><br />

<strong>Krankheit</strong>“ ist <strong>der</strong> erste Teil überschrieben. „Die Welt schien in Ordnung...,“ „Ich war die<br />

schizophrenogene Mutter...“, „Schuldzuweisung, Isolation, Ängste und kaum Hilfe“, „Mein<br />

Gott, irgendetwas muss ich falsch gemacht haben.“, „Und helfen kann uns keiner...“, - das<br />

sind ausgewählte Titel <strong>der</strong> Beiträge von Angehörigen, die einen langen Weg hinter sich<br />

gebracht haben, bis sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen nie<strong>der</strong>schreiben konnten. Daraus<br />

allerdings resultiert Ermutigung, etwa in Beträgen des Herausgebers über „Angehörige<br />

11


psychischer Kranker auf dem Wege zur Selbsthilfe“ o<strong>der</strong> Susanne Heims: „Nur nicht<br />

bange machen lassen! Portrait einer erfolgreichen Angehörigeninitiative“.<br />

Stigma und Schuldzuweisung<br />

Was ist es, das die Erkrankung eines Angehörigen an <strong>Schizophrenie</strong> für den Rest <strong>der</strong><br />

Familie zur Katastrophe macht Ich bin überzeugt davon, dass das viel <strong>mit</strong> zwei sozialen<br />

Faktoren zu tun hat, die <strong>mit</strong> dem <strong>Krankheit</strong>sgeschehen selber gar nicht zwingend<br />

verknüpft sind: <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Stigmatisierung <strong>der</strong> Kranken und <strong>der</strong> Beschuldigung <strong>der</strong><br />

Angehörigen.<br />

Wir alle <strong>leben</strong> in <strong>der</strong> Gewissheit, das wir am Ende sterben müssen. Wir alle wissen, dass<br />

wir <strong>mit</strong> grosser Wahrscheinlichkeit an einer Herzkreislauferkrankung o<strong>der</strong> an Krebs<br />

sterben werden und dass es vielfältige an<strong>der</strong>e <strong>Krankheit</strong>en gibt, die vielen von uns<br />

Schmerzen und Leid, Einschränkungen und Verlust an Lebensqualität bringen können.<br />

Dennoch lassen wir das Wissen darum in gesunden Tagen nicht allzu nah an uns<br />

herankommen. Wir tun so, als gehe das alles uns nichts an. Wahrscheinlich müssen wir<br />

das tun, um nicht aus beständiger Angst vor kommendem körperlichem Leiden unsere<br />

psychische Gesundheit zu verlieren.<br />

Psychische <strong>Krankheit</strong> liegt uns noch ferner als körperliche. Sie geht uns in unserem<br />

Selbstverständnis nun wirklich nichts an. Das ist rational schwer verständlich, weil<br />

psychische <strong>Krankheit</strong>en ja keineswegs selten sind: Je<strong>der</strong> Hun<strong>der</strong>tste von uns erkrankt im<br />

Lauf seines Lebens an <strong>Schizophrenie</strong>. Die phasisch verlaufenden Depressionen und die<br />

manisch-depressive <strong>Krankheit</strong> sind annähernd ebenso häufig. Und irgendwo zwischen<br />

fünfzehn und zwanzig Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung befinden sich zu jedem gegebenen<br />

Zeitpunkt wegen Störungen <strong>der</strong> psychischen Befindlichkeit in ärztlicher - meist in<br />

hausärztlicher - Behandlung. Vielleicht ist es diese Tatsache, dass psychische<br />

Beschwerden fast allgegenwärtig sind, dass es offenbar keine klare Grenze zwischen<br />

psychischer Gesundheit und psychischer <strong>Krankheit</strong> gibt, die uns darin bestärkt, dass<br />

<strong>Schizophrenie</strong> und manisch-depressive <strong>Krankheit</strong> uns nicht betreffen.<br />

12


Aber schwere psychische Störungen haben einen völlig an<strong>der</strong>en gesellschaftlichen<br />

Stellenwert. <strong>Schizophrenie</strong>kranke sind stigmatisiert. Sie gehören nicht zu uns. Dennoch<br />

wird an ihnen deutlich, wie un<strong>mit</strong>telbar stigmatisierte Menschen unserer Mitte<br />

entstammen und wie unverschuldet das geschieht. Ihre Angehörigen sind diejenigen von<br />

uns, die sich in nächster Nähe dieses gesellschaftlichen Unfallortes aufhalten. Sie sind<br />

Zeugen und Mitbetroffene zugleich. Oft benötigen sie lange Zeit, um zu erfassen, was<br />

sich da vor ihren Augen in<strong>mit</strong>ten ihrer Familie zuträgt. Sie er<strong>leben</strong> Rat- und Hilflosigkeit.<br />

Die Stigmatisierung <strong>der</strong> Kranken trifft sie auch. Aber nicht nur das; sie müssen erfahren,<br />

dass sie, die Eltern, für die <strong>Krankheit</strong> ihres Kindes verantwortlich gemacht werden:<br />

falsche Erziehung, mieses Familienklima...<br />

Wenn wir die Statistik betrachten, dürften schizophrene Psychosen eigentlich niemandem<br />

fremd sein. Die Erfahrung von <strong>Schizophrenie</strong> in <strong>der</strong> Familie, in <strong>der</strong> Nachbarschaft, in<br />

Bekannten- und Freudeskreis o<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Arbeitsstelle müsste uns vertraut sein. Wenn es<br />

richtig ist, dass einer von hun<strong>der</strong>t im Lauf seines Lebens an <strong>Schizophrenie</strong> erkrankt und<br />

einer von zweihun<strong>der</strong>t aktuell krank ist - und das ist richtig -, müsste bei zwei Eltern <strong>mit</strong><br />

durchschnittlich zwei Kin<strong>der</strong>n in je<strong>der</strong> 25. Familie ein <strong>Krankheit</strong>sfall auftreten - zählen wir<br />

die Grosseltern hinzu, in je<strong>der</strong> zwölften.<br />

So darf man natürlich nicht rechnen, schon deswegen nicht, weil es - lei<strong>der</strong> - familiäre<br />

Häufungen gibt. Dennoch, wenn schon nicht in <strong>der</strong> Familie, im Freundes- und<br />

Bekanntenkreis o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Nachbarschaft müsste je<strong>der</strong> von uns einem<br />

Schnizophreniekranken begegnen. Wenn das nicht <strong>der</strong> Fall ist, so kann das nur einen<br />

Grund haben: Stigmatisierung und Diffamierung, Ausgrenzung und Zurückweisung sind<br />

auch heute noch so gewaltig, dass die meisten Familien die <strong>Krankheit</strong> ihres Angehörigen<br />

sorgsam verstecken. Und das erschwert die Bewältigung des gemeinsamen Schicksals<br />

ungemein.<br />

Die Identität <strong>der</strong> Eltern und die Rolle <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

Wie kommt es nun, dass eine andauernde o<strong>der</strong> invalidisierende <strong>Krankheit</strong> <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> -<br />

auch und beson<strong>der</strong>s jene heranwachsener Kin<strong>der</strong> - die Eltern <strong>mit</strong> <strong>der</strong> gleichen Wucht trifft,<br />

wie eine eigene schwere Erkrankung Wie kommt es, dass viele Eltern grössere<br />

13


Schwierigkeiten haben, die psychische <strong>Krankheit</strong> eines Kindes zu bewältigen und zu<br />

integrieren als ein eigenes Leiden Wie kommt es, dass viele Eltern die schizophrene<br />

Störung ihres Kindes als nachhaltige Verletzung, als Beschädigung o<strong>der</strong> gar Zerstörung<br />

ihrer eigenen Identität er<strong>leben</strong><br />

Um das zu verstehen, müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, welche Rolle Kin<strong>der</strong> für unser<br />

emotionales, soziales und materielles Leben spielen - zumal wenn wir uns entschieden<br />

haben, selber welche zu bekommen und aufzuziehen. Kin<strong>der</strong> werden für Jahrzehnte zum<br />

Lebens<strong>mit</strong>telpunkt <strong>der</strong> Eltern. Sie stiften Sinn und werden zur Begründung des Daseins.<br />

Die triviale Tatsache, dass Eltern die materiellen Belastungen, die Einschränkungen, die<br />

<strong>mit</strong> dem Aufziehen von Kin<strong>der</strong>n zwangsläufig verbunden sind, bereitwillig auf sich<br />

nehmen, mag <strong>der</strong>en grosse Bedeutung für die Elternidentität unterstreichen. Vielfältige<br />

Phantasien, Hoffnungen, Ängste, Wünsche, Frustrationen und Tröstungen sind <strong>mit</strong> den<br />

Kin<strong>der</strong>n verbunden. Sie sollen es einmal besser haben als man selber. Sie sollen<br />

realisieren können, was einem selber versagt geblieben ist. Sie entwickeln zu Mutter und<br />

Vater eine eigenständige emotionale Beziehung, die heutzutage in vielen Fällen stabiler<br />

ist, als die Beziehung des jeweiligen Elternteils zum Partner. Sie ver<strong>mit</strong>teln zuverlässige<br />

emotionale Befriedigung.<br />

Das klingt nun alles sehr technisch. Aber es ist keineswegs so gemeint. Diese<br />

Beschreibung <strong>der</strong> Rolle und <strong>der</strong> Funktion von Kin<strong>der</strong>n im Leben <strong>der</strong> Eltern mag genügen,<br />

um anzudeuten, was alles geschehen kann, wenn die Hoffnungen und Wünsche, wenn<br />

die Zukunftsphantasien sich als falsch erweisen, wenn <strong>mit</strong> dem Heranwachsen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

stattdessen die Ängste in den Vor<strong>der</strong>grund treten und alles an<strong>der</strong>s kommt, als man es sich<br />

über zwei Jahrzehnte o<strong>der</strong> noch länger vorgestellt hat. Alles das sitzt sehr tief. Es ist völlig<br />

unmöglich, sich von heute auf morgen umzustellen, sich darauf einzustellen, dass die<br />

Zukunft möglicherweise keine Erfüllung von Hoffnungen und Wünschen für das Kind<br />

bringen wird, dass dessen Eigenständigkeit als Erwachsener bedroht ist und dass die<br />

emotionale und materielle Fürsorgeverpflichtung <strong>der</strong> Eltern in eine ungewisse Zukunft<br />

hinein andauern wird. Wenn man alles dies zusammennimmt, kann man sich vorstellen,<br />

dass die Erkrankung eines Familienangehörigen an einer schizophrenen Psychose <strong>mit</strong><br />

einer weniger günstigen Verlaufsform dazu führt, dass „nichts mehr ist, wie es war.“<br />

14


Die Familienkatastrophe <strong>Schizophrenie</strong><br />

Ich will <strong>der</strong> Familienkatastrophe <strong>Schizophrenie</strong> anhand von sechs Teilaspekten<br />

nachgehen. Ich nenne sie<br />

1. Die grosse Kränkung<br />

2. Die Bedrohung des Familienzusammenhalts<br />

3. Der Verlust <strong>der</strong> Selbstverständlichkeit<br />

4. Die Ungewissheit des Ausgangs und des Verlaufs<br />

5. Die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> eigenen Biographie<br />

6. Was wird nach dem eigenem Tod<br />

Je<strong>der</strong> dieser Problemkreise für sich allein macht eine Bürde aus, die zu bewältigen<br />

Beharrlichkeit, Geduld und Kraft verlangt. Alle zusammen machen sie die dritte <strong>Krankheit</strong><br />

aus: Das Leiden <strong>der</strong> Angehörigen unter <strong>der</strong> schizophrenen Psychose eines<br />

Familien<strong>mit</strong>gliedes, zu dessen Bewältigung sie Anspruch auf Hilfe und Unterstützung<br />

haben.<br />

Die grosse Kränkung<br />

Wenn uns ein unerwarteter Schicksalsschlag trifft, reagieren wir, wie Soziologie und<br />

Sozialpsychologie herausgefunden haben, nach einem bestimmten mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

vorhersagbaren Muster. Das gilt unabhängig davon, ob wir einen vertrauten Menschen<br />

durch Tod o<strong>der</strong> durch Trennung verlieren, ob wir selber krank werden, ob wir unsere<br />

Arbeit und unser Vermögen verlieren o<strong>der</strong> ob ein Familien<strong>mit</strong>glied eine schwere<br />

Behin<strong>der</strong>ung entwickelt.<br />

In einer ersten Phase neigen wir zur Verleugnung. Wir wollen nicht, dass das wahr ist.<br />

Wir bestreiten es einfach. Wir beten; wir stecken den Kopf in den Sand. Oft ist es ein<br />

Gemisch von alledem, was unsere Gefühle und unser Handeln bzw. unser Nichthandeln<br />

bestimmt: „Um Himmels Willen nur keine <strong>Schizophrenie</strong>“ ist die stereotype Reaktion von<br />

Angehörigen, die ihr Kind o<strong>der</strong> ihren Partner erstmals in <strong>der</strong> psychiatrischen Klinik<br />

abliefern müssen: „<strong>Schizophrenie</strong> Was bedeutet dieses Wort Ich verstand es nicht, ich<br />

15


glaubte es nicht,“ berichtet Nancy Schiller im Buch ihrer Tochter „Wahnsinn im Kopf“, als<br />

sie das erste Mal <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Diagnose konfrontiert wird.<br />

Auf die Verleugnung folgen <strong>der</strong> Zorn, die Verzweiflung, die Kränkung, das Rechten,<br />

warum ausgerechnet uns dieses Unglück geschehen ist. Dazu gehört fast automatisch<br />

die Suche nach dem Schuldigen, fast immer auch nach <strong>der</strong> eigenen Schuld. Marvin<br />

Schiller, <strong>der</strong> Vater <strong>der</strong> schizophreniekranken Lori und selber Psychologie, steht für<br />

ungezählte Eltern:<br />

„Als ich Psychologie studiert hatte, führte man alle psychischen <strong>Krankheit</strong>en,<br />

auch die ernstesten, auf eine Ursache zurück: Auf Fehler in <strong>der</strong> Erziehung. Alles<br />

wurde darauf zurückgeführt, wie man aufgewachsen war... Alle glaubten, dass<br />

die Ursachen für psychische Störungen in den frühkindlichen Erfahrungen des<br />

Betroffenen zu suchen seien. Ein Patient <strong>mit</strong> ernsthaften psychischen Problemen<br />

war demnach in frühen Jahren einem unerträglichen <strong>Dr</strong>uck, inneren<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen o<strong>der</strong> destruktiven Verhaltensweisen <strong>der</strong> Eltern ausgesetzt<br />

gewesen. Meiner Ausbildung zufolge war ich also an Loris <strong>Krankheit</strong> schuld,<br />

wenn sie wirklich ernsthaft psychisch gestört war. Das konnte und wollte ich nicht<br />

glauben. Also weigerte ich mich einfach zu sehen, dass Lori tatsächlich krank<br />

war.“<br />

An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass die Phase <strong>der</strong> Verleugnung und die des<br />

Rechtens ineinan<strong>der</strong> übergehen können, ja dass sie sich vermischen. An<strong>der</strong>e Eltern<br />

suchen die Schuld in ihrer Verzweiflung an allen möglichen Orten: Im Mangel an Vitamin<br />

C, wie <strong>der</strong> amerikanische Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling das propagiert hat; im<br />

Mangel an Spurenelementen o<strong>der</strong> Fehlernährung, wie die orthomolekuläre Psychiatrie das<br />

tut, und - häufig - im Missbrauch von <strong>Dr</strong>ogen, insbeson<strong>der</strong>e von Cannabis und LSD.<br />

Sie schlagen in Lexika nach, die auch heute noch eher zweifelhafte Auskunft geben. Sie<br />

suchen Hilfe an vernünftigen und unvernünftigen Orten. Ihre ersten Begegnun-gen <strong>mit</strong><br />

Psychiatern und Psychopharmaka sind oft wenig vermutigend. Die Schwierigkeiten <strong>der</strong><br />

Medikamentenbehandlung können sie nicht verstehen, weil man sie ihnen nicht erklärt. Ich<br />

kenne viele Beispiele, wo sie dann auf Heilpraktiker und Naturheiler, auf<br />

Handauflegerinnen und Wahrsagerinnen ausweichen.<br />

16


Der Einbruch <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> des Kindes in das eigene Leben wird auch als Grenzverletzung,<br />

als Beschädigung <strong>der</strong> eigenen Identität schmerzlich empfunden und erlebt.<br />

Diese Phase bietet nur selten günstige Voraussetzungen für eine vernünftige,<br />

zielgerichtete Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> des Kindes o<strong>der</strong> des Partners und<br />

<strong>der</strong>en Auswirkungen auf das eigene Dasein. Fast regelmässig schliesst sich eine Zeit<br />

<strong>der</strong> Resignation, <strong>der</strong> depressiven Verstimmung, <strong>der</strong> stillen Verzweiflung an. Immer<br />

wie<strong>der</strong> bricht Angst über die Angehörigen herein. Ihnen wird zunehmend bewusst, dass<br />

die Welt <strong>der</strong> Familie nicht mehr in Ordnung ist, dass nichts mehr so sein wird, wie es<br />

war.<br />

Schuldzuweisungen von <strong>Dr</strong>itten treten hinzu. Die Familie isoliert sich regelmässig.<br />

Freunde und Bekannte ziehen sich zurück. Das gilt unabhängig davon, ob die<br />

Angehörigen sich entschliessen, <strong>mit</strong> Freunden, Bekannten und Nachbarn über die<br />

<strong>Krankheit</strong> des Familien<strong>mit</strong>gliedes zu sprechen o<strong>der</strong> darüber zu schweigen. Schweigen<br />

ist immer noch das häufiger. Ich zitiere noch einmal das Beispiel <strong>der</strong> Familie Schiller:<br />

„Vor allem durfte, wenn Lori geholfen werden sollte, nichts von diesem<br />

Zwischenfall bekannt werden. Als Psychologe wusste ich, dass man sie sonst für<br />

lange Zeit, wenn nicht für immer, für psychisch gestört brandmarken würde. Ich<br />

wollte nicht, dass meine Tochter.... stigmatisiert wurde. Ich glaubte, dass die<br />

Gefahr vorbei sei und sie jetzt das Krankenhaus verlassen könne. Aber das<br />

Krankenhauspersonal wollte sie nicht gehen lassen... Sie wollten Lori für einige<br />

Tage zur Beobachtung auf <strong>der</strong> psychiatrischen Station behalten. Doch das kam<br />

für uns überhaupt nicht in Frage. Ich wollte nicht, dass in Loris Akten irgendetwas<br />

stand, was ihr in ihrem späteren Leben einmal Schwierigkeiten bereiten konnte.“<br />

Die <strong>Krankheit</strong> zu verstecken, ist nicht nur Merkmal <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> Verleugnung. Sie setzt<br />

sich in <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> Resignation fort und verstärkt auf diese Weise die Ängste, die<br />

Vereinsamung und die Hilflosigkeit <strong>der</strong> Angehörigen. Erst danach kommt es günstigenfalls<br />

zu einer Phase <strong>der</strong> konstruktiven Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> des<br />

Familien<strong>mit</strong>gliedes und <strong>der</strong>en Folgen. Die Familie stellt sich darauf ein. Sie sucht gezielt<br />

und rational nach Hilfen, lässt sich beraten, schliesst sich Selbsthilfevereinigungen an und<br />

versucht das Beste aus <strong>der</strong> neuen Situation zu machen. Aber das ist nicht einfach, vor<br />

17


allem dann nicht, wenn <strong>der</strong> Kranke selber an<strong>der</strong>e Vorstellungen davon hat, was für ihn gut<br />

und richtig ist, als die Familie und bzw. o<strong>der</strong> seine Therapeutinnen und Therapeuten. Fast<br />

regelmässig entstehen dann unterschiedliche Auffassungen darüber, was nun zu tun sein.<br />

Spätestens dann ist <strong>der</strong> Zusammenhalt <strong>der</strong> Familie bedroht.<br />

Die Bedrohung des Familienzusammenhaltes<br />

Bei einer körperlichen <strong>Krankheit</strong> weiss man in <strong>der</strong> Regel, was man zu tun hat. Man geht<br />

zum Arzt. Der untersucht einem und gibt einem kompetenten Rat. Eine Behandlung<br />

wird eingeleitet, wenn dies erfor<strong>der</strong>lich ist. Die Kranken und ihre Angehörigen können<br />

und müssen sich dann auf die Folgen <strong>der</strong> Erkrankung einstellen. An<strong>der</strong>s als bei<br />

psychischen Störungen gibt es bei körperlichen <strong>Krankheit</strong>en in <strong>der</strong> Regel keine schwer<br />

überwindlichen Verständnisschwierigkeiten. Vor allem herrscht bei körperlichen Leiden<br />

meist Übereinstimmung zwischen kranken Angehörigen, Laien- umgebung und<br />

Medizin, was zu tun ist, und was die erfor<strong>der</strong>lichen Massnahmen zu sein haben.<br />

Bei psychischen Störungen ist das an<strong>der</strong>s. Oft sind sie über längere Zeit nicht eindeutig<br />

abgrenzbar und diagnostizierbar. Selbst wenn das <strong>der</strong> Fall ist, stimmen die<br />

Vorstellungen von Fachleuten und Laien über Art, Ursachen und<br />

Behandlungsnotwendigkeit nur begrenzt überein. Dazu kommen Vorurteile und<br />

Stigmatisierung und die Angst, die Psychiatrisierung <strong>der</strong> Kranken könne mehr schaden<br />

als ihr psychisches Leiden selber. Diese Differenz in <strong>der</strong> Wahrnehmung und <strong>der</strong><br />

Beurteilung <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> besteht nicht nur zwischen Fachleuten und Angehörigen,<br />

son<strong>der</strong>n auch zwischen Fachleuten und Kranken. Die beson<strong>der</strong>e Art ihrer Störung<br />

macht es ihnen oft über längere Zeit nicht möglich, zu verstehen und zu akzeptieren,<br />

dass das, was sie erleiden, <strong>Krankheit</strong> ist und da<strong>mit</strong> <strong>med</strong>izinischen Hilfen zugänglich.<br />

Etwas an<strong>der</strong>es kommt hinzu. Der Einordnung <strong>der</strong> Störung als <strong>Krankheit</strong> ist oft eine lange<br />

Zeit <strong>der</strong> psychischen und psychosozialen Verän<strong>der</strong>ung vorausgegangen, die sowohl die<br />

Kranken wie die Angehörigen erlebt und erfahren haben, die sie aber alle nicht als<br />

<strong>Krankheit</strong> einordnen und erklären konnten. In <strong>der</strong> Anfangsphase selbst ist fast allen<br />

Beteiligten schwer zu begreifen, dass sie es <strong>mit</strong> einem ernsten, von Chronifizierung<br />

bedrohten „<strong>med</strong>izinischen“ Leiden zu tun haben und nicht <strong>mit</strong> einer „normalen“ Störung<br />

18


des Familienzusammenhanges o<strong>der</strong> mutwilligem sozialem Fehlverhalten. Solche<br />

Fehleinschätzung ist beson<strong>der</strong>s häufig, wenn die Erkrankung zum ersten Mal in <strong>der</strong><br />

Spätpubertät auftritt, wo Ablösungskonflikte zwischen Kin<strong>der</strong>n und Eltern ohnehin an <strong>der</strong><br />

Tagesordnung sind.<br />

Der Versuch, das krankhaft gestörte Verhalten in normalen Kategorien zu erklären und zu<br />

bewältigen, ist zum Scheitern verurteilt. Es führt zu heftigen, emotional aufgeladenen<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen in <strong>der</strong> Familie. Er endet nicht selten <strong>mit</strong> dem Ausschluss des<br />

später als schizophren diagnostizierten Familien<strong>mit</strong>gliedes. Günstigenfalls folgt auf das<br />

Scheitern <strong>der</strong> normalen Bewältigungsversuche die Diagnose und die psychiatrische<br />

Behandlung. Allzu häufig werden aber Hilfserklärungen herangezogen wie <strong>der</strong> Missbrauch<br />

von Cannabis, Halluzinogenen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en <strong>Dr</strong>ogen. Dabei wird in <strong>der</strong> Regel oft<br />

übersehen, dass <strong>der</strong> <strong>Dr</strong>ogenmissbrauch ebenso wie <strong>der</strong> übermässige Genuss von Alkohol<br />

auch ein Zeichen <strong>der</strong> beginnenden schizophrenen Störung sein kann, beispielsweise in<br />

Form eines untauglichen Selbstbehandlungsversuches.<br />

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass Vater, Mutter und Geschwister<br />

im Verlauf <strong>der</strong> Störung zu ganz unterschiedlichen Auffassungen davon gelangen können,<br />

was denn nun zu tun sei. Die Mutter beispielsweise ist für Verständnis, Toleranz und<br />

Entgegenkommen, <strong>der</strong> Vater für eine klare und konsequente Linie. Die Geschwister<br />

meinen, beide Eltern hätten Unrecht. Das gilt in <strong>der</strong> Vorphase, in <strong>der</strong> noch kein<br />

Familien<strong>mit</strong>glied sich darüber klar ist, dass sie es <strong>mit</strong> psychischer <strong>Krankheit</strong> zu tun haben.<br />

Das gilt oft aber auch nach <strong>der</strong> psychiatrischen Diagnose. Es gilt insbeson<strong>der</strong>e dann,<br />

wenn eine Behandlung gegen den Willen notwendig ist.<br />

Lori Schillers Bru<strong>der</strong> berichtet nach <strong>der</strong> Krankenhauseinweisung seiner Schwester:<br />

„Ich drehte durch, als meine Eltern mir erzählten, was sie getan hatten. Ich stand<br />

da in <strong>der</strong> Küche, und meine Hände zitterten vor Wut. ‘Das ist nicht zu glauben’,<br />

schrie ich meine Eltern an. ‘Das könnt Ihr nicht machen. So könnt Ihr Eure<br />

Tochter doch nicht behandeln... Ihr könnt nur nicht <strong>mit</strong> ihr umgehen. Ihr tut, was<br />

das Beste für Euch ist.’... Ich glaubte damals wirklich, dass sie sie loswerden<br />

wollten... Ich wusste, wie die Leute hier unangenehme Dinge vertuschten, wie<br />

Scheidungen, drogenabhängige Kin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Kündigungen. Dass meine Eltern<br />

19


Lori in eine psychiatrische Klinik steckten, kam mir genauso verlogen vor. Es war<br />

etwas, worüber man sich nur flüsternd unterhielt.“<br />

Wenn die <strong>Krankheit</strong> bekannt und innerhalb <strong>der</strong> Familie als solche anerkannt ist, bestehen<br />

häufig dennoch erhebliche Differenzen über den richtigen Weg des Umgangs <strong>mit</strong> den<br />

Kranken. Ist eine psychiatrische Behandlung notwendig o<strong>der</strong> nicht Soll man es vielleicht<br />

nicht doch lieber <strong>mit</strong> einem Heilpraktiker versuchen Darf man gar eine Behandlung gegen<br />

den Willen des Kranken veranlassen Muss man es vieleicht<br />

Nicht wenige Familien zerbrechen über den Differenzen und den Belastungen, die die<br />

psychische <strong>Krankheit</strong> eines Familien<strong>mit</strong>gliedes <strong>mit</strong> sich bringt. Immer wie<strong>der</strong> bleibt am<br />

Ende die Mutter <strong>mit</strong> dem schizophrenen Kind - das längst kein "Kind" mehr ist, allein<br />

zurück - um sich am Ende vorwerfen lassen zu müssen, sie sei überängstlich o<strong>der</strong><br />

überfürsorglich.<br />

Der Verlust <strong>der</strong> Selbstverständlichkeit<br />

Buchtitel o<strong>der</strong> Kapitelüberschriften wie „Wenn nichts mehr ist, wie es war ...“ o<strong>der</strong> „Die<br />

Welt schien in Ordnung...“ stehen für die emotionale Katastrophe, die <strong>der</strong> Einbruch <strong>der</strong><br />

schizophrenen Psychose in eine Familie bewerkstelligt. Sie signalisieren, dass die Regeln<br />

des Zusammen<strong>leben</strong>s in <strong>der</strong> Familie, die Familiengeschichten, vielleicht sogar die<br />

Familienmythen ausser Kraft gesetzt sind. Sie signalisieren, dass man sich auf nichts<br />

mehr verlassen kann, was vorher selbstverständlich war. Das Zusammen<strong>leben</strong> <strong>mit</strong> einem<br />

<strong>Schizophrenie</strong>kranken verän<strong>der</strong>t alle Beteiligten. Das gilt in beson<strong>der</strong>em Masse, solange<br />

die Kranken durch Merkmale des zentralen schizophrenen Syndroms verän<strong>der</strong>t sind,<br />

wenn sie Stimmen hören, die die an<strong>der</strong>en Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong> nicht hören können, wenn sie<br />

Botschaften aus dem Radio o<strong>der</strong> aus dem Fernsehen aufnehmen und ihr Verhalten davon<br />

bestimmen lassen. Es gilt vor allem aber, wenn die emotionale und rationale<br />

Kommunikation <strong>mit</strong> den Angehörigen durch wahnhafte Wahrnehmung ihrer Beziehungen<br />

zur belebten und unbelebten Welt verän<strong>der</strong>t ist.<br />

20


Die Angehörigen verzweifeln, weil sie das nicht verstehen, die Kranken, weil niemand sie<br />

versteht: „Was soll ich denn tun,“ klagt eine junge schizophreniekranke Frau, „wenn nicht<br />

einmal meine Eltern mir glauben...“.<br />

Die Verän<strong>der</strong>ung in den Beziehungen endet nicht <strong>mit</strong> dem Abklingen <strong>der</strong> akuten<br />

Psychose. Einmal sensibilisiert, reagieren viele Angehörige überempfindlich und<br />

überängstlich. Sie hören gleichsam das Gras wachsen. Neigten sie vor <strong>der</strong> Diagnose <strong>der</strong><br />

schizophrenen Störung dazu, krankhaftes Verhalten zu normalisieren, verkehren sich die<br />

Verhältnisse nun. Jede Schlafstörung, jede gereizte Reaktion, je<strong>der</strong> Missmut, jede<br />

Erschöpfung, jede Fehlleistung wird nun zum möglichen .....Symptom, zum möglichen<br />

ersten Anzeichen eines Rückfalls. Die Selbstverständlichkeit im Umgang <strong>mit</strong> dem an<strong>der</strong>en<br />

ist geschwunden. Die Ungewissheit des Ausgangs und des Verlaufs ist allgegenwärtig.<br />

Die Ungewissheit des Ausgangs<br />

Die <strong>Schizophrenie</strong>, ich wie<strong>der</strong>hole es noch einmal, ist eine ernste, in <strong>der</strong> Regel aber gut<br />

behandelbare <strong>Krankheit</strong>. Aber niemand weiss, ob für den einzelnen Kranken in <strong>der</strong><br />

jeweiligen Situation <strong>der</strong> Ernst o<strong>der</strong> die gute Behandelbarkeit überwiegt. Am Beginn einer<br />

schizophrenen Psychose ist <strong>der</strong> Ausgang offen. Die Angst steht im Raum, dass es sich<br />

nicht um eine glimpfliche Verlaufsform handelt - nicht um eine einzelne Episode, die<br />

verschwindet und nie wie<strong>der</strong>kehrt, son<strong>der</strong>n um einen chronisch- rezidivierenden Verlauf,<br />

um eine invalidisierende Form.<br />

John Wing (1980) hat auf den Punkt gebracht, was die Angehörigen in beson<strong>der</strong>er Weise<br />

belastet: Das wechselnde Befinden von schizophrenen Symptomen Geplagten scheint<br />

eines <strong>der</strong> grössten Probleme für sie darzustellen. Die Eltern von geistig Behin<strong>der</strong>ten<br />

wissen, wo sie stehen. Sie wissen, welche Entscheidungen sie ihnen abnehmen müssen<br />

und was sie selbständig bewältigen können. Die psychotisch Kranken dagegen mögen in<br />

<strong>der</strong> akuten Phase völlig unfähig sein, für sich selbst zu entscheiden und zu sorgen. In <strong>der</strong><br />

Erholungsphase aber können sie wie<strong>der</strong> vollkommen selbständig werden. Wenn sie dann<br />

nicht bereit o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Lage sind zu akzeptieren, dass ihre Angehörigen zwischenzeitlich<br />

für sie handeln mussten, kann das zu einer zusätzlichen Last werden. Verzweifelte<br />

Hilflosigkeit ist gelegentlich das Ergebnis.<br />

21


Dazu kommt die wechselnde Herausfor<strong>der</strong>ung durch die <strong>Krankheit</strong>. Einmal sollen sie sich<br />

zurückhalten, sich nicht einmischen. Das an<strong>der</strong>e Mal müssen sie unbedingt eingreifen, um<br />

die soziale Existenz, manchmal sogar das Leben des erkrankten Familien<strong>mit</strong>gliedes zu<br />

schützen. Vielen Angehörigen fällt es schwer, dieses Wechselbad an Anfor<strong>der</strong>ungen und<br />

Gefühlen zu bewältigen:<br />

„Einige lernen es, <strong>mit</strong> den Kranken nicht über den Wahn und seine<br />

Halluzinationen zu diskutieren. An<strong>der</strong>e lernen es nie. Einige lernen es, den<br />

antriebsvermin<strong>der</strong>ten, sozial zurückgezogenen Behin<strong>der</strong>ten zu aktivieren, ohne<br />

ihn zu quälen. Wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e drängen den Kranken durch unablässige<br />

Antreiberei aus <strong>der</strong> Familie. An<strong>der</strong>e verkraften das Gefühl nicht, für ihre<br />

Bemühungen Undank zu ernten o<strong>der</strong> die Dinge nur noch schlimmer zu machen,<br />

und ziehen sich selbst in Passivität zurück“ (Wing 1980)<br />

Das einzige, was sicher ist, ist die Unsicherheit. An einem Tag freuen sie sich über eine<br />

Initiative des erkrankten Familien<strong>mit</strong>glieds. Am nächsten Tag schon kommt <strong>der</strong><br />

Rückschlag - vielleicht kommt er aber auch nie. Das schizophreniekranke Kind beginnt<br />

eine Ausbildung und bricht sie wie<strong>der</strong> ab, beginnt ein Studium und bricht es wie<strong>der</strong> ab,<br />

bezieht eine eigene Wohnung und kehrt einen Monat später nach Hause zurück, ist<br />

dynamisch und optimistisch und wenige Tage später aus scheinbar nichtigem Anlass tief<br />

verstimmt; heute weltfremd und kurz danach realistisch und zugewandt. Und es ist<br />

keineswegs so, dass wenigstens diese Wechselhaftigkeit anhält. Oft gibt es lange Phasen<br />

von Stabilität - manchmal halten sie über Jahre, ja über Jahrzehnte. Aber Angehörige, die<br />

ein Wechselbad an Hoffnung und Verzweiflung hinter sich gebracht haben, die immer<br />

wie<strong>der</strong> Fortschritte und Rückschläge in regellosen und nicht berechenbaren Abständen<br />

erlebt haben, können sich nie ganz sicher sein. Gelassenheit wird von ihnen verlangt<br />

Aber sie haben unterschwellig immer Angst.<br />

Die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> eigenen Biographie<br />

Der übliche Lebenslauf von Eltern in unserer Gesellschaft ist folgen<strong>der</strong>: Man hat Kin<strong>der</strong>.<br />

Man zieht sie auf. Sie wachsen heran. Sie verlassen das Haus. Sie werden selbständig.<br />

22


Man freut sich an ihnen o<strong>der</strong> man hat Kummer. Aber man ist nicht mehr für sie<br />

verantwortlich, wenn sie endlich erwachsen sind. Wenn man Glück hat, erfährt man von<br />

ihnen im Alter Unterstützung und Zuwendung. Das ist heute nicht mehr so<br />

selbstverständlich wie vor fünfzig Jahren. Aber selbst wenn man sich von ihnen verlassen<br />

fühlt, wenn man Undank spürt, muss man sich keine Sorgen um sie machen.<br />

Bei Eltern von <strong>Schizophrenie</strong>kranken ist das an<strong>der</strong>s. Zu einem Zeitpunkt, wo an<strong>der</strong>e<br />

Kin<strong>der</strong> das Haus verlassen, werden ihre Kin<strong>der</strong> unterstützungsbedürftig. Wenn sie noch im<br />

Teenageralter erkranken, bereiten sie zunächst Schwierigkeiten, die als<br />

Erziehungsprobleme in Erscheinung treten. Sie fallen in ihrer psychischen Entwicklung<br />

und in ihrer Selbständigkeit zurück. Sie finden nur <strong>mit</strong> Mühe o<strong>der</strong> gar nicht Anschluss an<br />

Gleichaltrige. Manchmal kehren sie ins Elternhaus zurück, nachdem sie bereits in eine<br />

eigene Wohnung o<strong>der</strong> in einer Wohngemeinschaft gezogen waren. Manche schaffen<br />

keine Berufsausbildung. An<strong>der</strong>e brechen ihr Studium ab. Viele verlieren ihre Arbeit. Viele<br />

werden frühinvalidisiert, sehr viele bevor sie einen Rentenanspruch erworben haben.<br />

Die Biographie <strong>der</strong> Eltern nimmt nicht den üblichen Lauf. Die Abnabelung des kranken<br />

Kindes wird erschwert, hinausgezögert. Oft findet sie nicht statt. Die erwachsenen kranken<br />

o<strong>der</strong> behin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong> bleiben <strong>der</strong> Mittelpunkt des Lebens ihrer Eltern. Und immer finden<br />

sich wohlmeinende Freunde, Nachbarn und Therapeuten, die dies den Eltern anlasten.<br />

Teilweise haben sie dabei gewiss auch nicht ganz Unrecht. Aber das ist nur die eine Seite<br />

<strong>der</strong> Medaille. Stigmatisierung und soziale Isolierung, Hilflosigkeit und<br />

Unterstützungsbedürftigkeit sind ein starkes Band. So kommt es, dass nicht wenige<br />

<strong>Schizophrenie</strong>kranke <strong>mit</strong> und bei ihren Eltern altern, so dass irgendwann die bange Frage<br />

unabweichbar ist: Was wird, wenn wir einmal nicht mehr <strong>leben</strong>.<br />

Was wird, wenn wir alt sind und nicht mehr <strong>leben</strong><br />

Wenn die <strong>Schizophrenie</strong> einen chronischen Verlauf nimmt, wenn die Eltern über siebzig<br />

sind, die „Kin<strong>der</strong>“ auf die fünfzig zugehen, spitzt sich die Frage nach dem „Was wird, wenn<br />

wir nicht mehr <strong>leben</strong>“ unerbittlich zu. Das ist keineswegs vorrangig<br />

eine Angelegenheit <strong>der</strong> Überfürsorglichkeit und Ängstlichkeit <strong>der</strong> Eltern. Die<br />

gesellschaftliche Fürsorge für Behin<strong>der</strong>te und chronisch Kranke ist nach wie vor<br />

23


mangelhaft. Ein grösster Teil an Pflege und Zuwendung, an sozialer und materieller<br />

Unterstützung insbeson<strong>der</strong>e psychisch Behin<strong>der</strong>ter wird von ihren Familien erbracht.<br />

Mit dem Altern <strong>der</strong> Eltern, <strong>mit</strong> <strong>der</strong>en Pflegebedürftigkeit und Tod än<strong>der</strong>t sich nicht nur die<br />

psychosoziale Situation <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ten, son<strong>der</strong>n auch ihre wirtschaftliche Lage in<br />

drastischer Weise.<br />

Die meisten Eltern leisten finanzielle Unterstützung aus ihrem Ersparten o<strong>der</strong> ihrer Rente.<br />

Mit eigener Pflegebedürftigkeit o<strong>der</strong> <strong>mit</strong> ihrem Tod versiegen die Ressourcen. Nur<br />

ausnahmsweise gelingt es den wenigen priveligierten Eltern chronisch psychisch Kranker<br />

ein Vermögen anzusammeln, das die wirtschaftliche Zukunft ihrer Kin<strong>der</strong> sichert. Die<br />

allermeisten sind nach dem Tod ihrer Eltern allein auf Sozialhilfe angewiesen. Nur<br />

gelegentlich können sie auf tatkräftige Unterstützung ihrer gesunden Geschwister bauen,<br />

und um die emotionale Zuwendung ist es oft auch nicht zum Besten bestellt. Welche<br />

Überraschung, dass die Eltern sich sorgen.<br />

Trauer<br />

Die amerikanische Psychiaterin Sarah D. Atkinson (1994) hat im Rahmen einer<br />

wissenschaftlichen Untersuchung gezeigt, dass anhaltende Gefühle von Verlust und<br />

Trauer das Leben und Er<strong>leben</strong> von Eltern <strong>mit</strong> schizophreniekranken Kin<strong>der</strong>n nachhaltig<br />

prägen. Sie zeigen ähnliche Reaktionen wie die Eltern, <strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> infolge von <strong>Krankheit</strong><br />

o<strong>der</strong> Unfall sterben. Allerdings besteht zwischen ihnen und den Eltern chronisch kranker<br />

Kin<strong>der</strong> ein entscheiden<strong>der</strong> Unterschied. Während es den meisten Angehörigen gelingt, die<br />

emotionalen Folgen des Todes ihrer Kin<strong>der</strong> innerhalb <strong>der</strong> darauffolgenden fünf Jahre zu<br />

überwinden, bewältigen Eltern von chronisch psychisch Kranken ihre Trauer und ihr<br />

Verluster<strong>leben</strong> selten vollständig. Vielmehr werden diese langfristig durch chronische<br />

Angst und wie<strong>der</strong>kehrende Schuldgefühle und dauernde Abhängigkeit ihrer erwachsenen<br />

Kin<strong>der</strong> kompliziert. Neben den konkreten Belastungen und Sorgen drängt sich <strong>leben</strong>slang<br />

wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> die Frage auf, was aus dem Kind hätte werden können, wenn es nicht<br />

krank geworden wäre.<br />

Ansätze zur Bewältigung<br />

24


Erst wenn man begriffen hat, warum die schizophrene Erkrankung eines Angehörigen eine<br />

Katastrophe für die ganze Familie ist und warum es gar nicht an<strong>der</strong>s sein kann, bestehen<br />

günstige Voraussetzungen für die Bewältigung dieser Katastrophe. Das gilt für die Hilfe<br />

wie für die Selbsthilfe. Man kann lernen, dass die schizophrene Psychose eine <strong>Krankheit</strong><br />

ist, dass sie <strong>der</strong> Behandlung zugänglich ist, dass sie durch unvermeidbare, aber<br />

mutmasslich unberechtigte Schuldgefühle und durch ungerechte gesellschaftliche<br />

Vorbehalte und Vorwürfe kompliziert wird. Diesen Schuh muss man sich nicht anziehen.<br />

Das gilt für die Kranken wie für die Angehörigen. Aber fast immer bedarf es harter Arbeit<br />

und intensiven Nachdenkens, bis man das verinnerlicht hat.<br />

3 Niemand ist schuld<br />

Eine schizophrene Psychose verän<strong>der</strong>t das eigene Leben – das <strong>der</strong> Kranken<br />

und das <strong>der</strong> Angehörigen und Freunde. Da ist zum einen das Leid <strong>der</strong><br />

<strong>Krankheit</strong>. Da sind möglicherweise andauernde Symptome. Da sind die<br />

<strong>Krankheit</strong>sfolgen. Und da sind Vorwürfe und Selbstvorwürfe. Die Kranken<br />

fragen sich zwangsläufig: Warum ich Die Angehörigen, vor allem die Eltern,<br />

fragen sich ebenso zwangsläufig: „Was haben wir falsch gemacht“. Ist es<br />

richtig, dass man sich <strong>mit</strong> dieser Frage konfrontiert Niemand macht in <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong>erziehung alles richtig. Aber es ist ebenso richtig, dass man am Ende zu<br />

dem Schluss gelangt, dass man es <strong>mit</strong> einer <strong>Krankheit</strong> zu tun hat, einer<br />

<strong>Krankheit</strong>, an <strong>der</strong> niemand „schuld“ ist. Viel wichtiger ist, dass man sich fragt,<br />

was kann ich tun Was kann ich tun, um die Behandlung möglichst erfolgreich<br />

zu gestalten, um die <strong>Krankheit</strong> zu bewältigen o<strong>der</strong>, wenn es sein muss, <strong>mit</strong> ihr<br />

zu <strong>leben</strong>. Auch dies gilt für die Kranken wie die Angehörigen in gleicher Weise.<br />

Was haben wir falsch gemacht<br />

25


Wer diese Frage stellt, hat schon verloren. Und doch bleibt sie niemandem erspart,<br />

<strong>der</strong> <strong>mit</strong> einer schizophrenen Erkrankung <strong>der</strong> Familie konfrontiert wird. <strong>Schizophrenie</strong>,<br />

das ist in Wirklichkeit nicht nur eine <strong>Krankheit</strong>; <strong>Schizophrenie</strong>, das sind drei<br />

<strong>Krankheit</strong>en. <strong>Schizophrenie</strong>, das ist zum einen jene ernste, in <strong>der</strong> Regel aber<br />

behandelbare psychische <strong>Krankheit</strong>, die durch Störungen des Fühlens, des Denkens<br />

und des Er<strong>leben</strong>s <strong>der</strong> eigenen Person charakterisiert ist und von <strong>der</strong> Eugen Bleuler<br />

in <strong>der</strong> Erstbeschreibung tröstlich geschrieben hat, ihr grundsätzliches Kennzeichen<br />

bestehe darin, "dass das Gesunde dem Schizophrenen erhalten bleibt."<br />

<strong>Schizophrenie</strong>, das ist zum an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> stigmatisierende Name <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>, das<br />

Wort in seiner negativen Besetzung, die Metapher. Zum <strong>Dr</strong>itten schliesslich verlangt<br />

die <strong>Schizophrenie</strong> eine Erklärung. Sie ist keine jener Erkrankungen, die im<br />

kollektiven Bewusstsein einfach so kommen - "einfach so", wie ein Schnupfen o<strong>der</strong><br />

ein Diabetes. <strong>Schizophrenie</strong> ist eine jener <strong>Krankheit</strong>en, die erklärungsbedürftig ist, für<br />

die ein Sündenbock herhalten muss, an <strong>der</strong> - so denken wir in westlichen<br />

Gesellschaften - jemand schuld sein muss. Und das sind - seit Frieda Fromm-<br />

Reichmann vor mehr als 60 Jahren das Wort von <strong>der</strong> "schizophrenogenen Mutter"<br />

geprägt hat - fast immer die Eltern. Da<strong>mit</strong> wird sie unausweichlich auch zu ihrem<br />

Leiden.<br />

Einer muss ja schuld sein<br />

Stellvertretend für viele an<strong>der</strong>e soll hier eine Mutter zu Wort kommen. Rose Maria<br />

Seelhorst (1984) berichtete über die Zeit un<strong>mit</strong>telbar nach <strong>der</strong> Erkrankung ihres<br />

Sohnes: "Für uns blieb neben <strong>der</strong> Betreuung des Jungen im Krankenhaus und dem<br />

Versuch, die übrigen Kin<strong>der</strong> zu beruhigen, die böse Frage nach <strong>der</strong> Ursache <strong>der</strong><br />

<strong>Krankheit</strong>. Die damals noch <strong>leben</strong>den Grosseltern wussten von keinem ähnlichen<br />

Fall in <strong>der</strong> Familie zu berichten. Also, so wurde uns von mehreren Seiten erklärt, es<br />

gebe nur eine Erklärung, und das sei überhaupt die Erklärung für die rätselhafte<br />

<strong>Krankheit</strong> <strong>Schizophrenie</strong>: falsche Erziehung, mieses Familienklima.“<br />

"Mütter sind an allem schuld, " lautet <strong>der</strong> Titel eines Buches <strong>der</strong> Basler Journalistin<br />

Jolanda Cadalbert Schmid: völlig kar. Wenn man erst einmal anfängt, darüber<br />

nachzudenken, was man alles falsch gemacht hat in <strong>der</strong> Erziehung seiner Kin<strong>der</strong>, kann<br />

26


man sich nur die Haare raufen. Eltern sind Menschen; und Menschen machen Fehler.<br />

Eltern sind Anfänger, wenn sie ihr erstes Kind haben; und Anfänger machen Fehler. Es<br />

hilft ihnen wenig, wenn sie die gutgemeinten Ratschläge von Grosseltern, Freunden und<br />

Nachbarn beherzigen und sich alle jene Bücher über die rechte Kin<strong>der</strong>erziehung zu<br />

Gemüte führen, <strong>der</strong>er sie habhaft werden können. Denn die Vorstellungen von <strong>der</strong><br />

richtigen Kin<strong>der</strong>erziehung sind keineswegs zeitlos. In zwanzig Jahren wird vieles als falsch<br />

gelten, was heute richtig ist. Und schizophren wird das Kind <strong>mit</strong> zwanzig und nicht im<br />

ersten Lebensjahr.<br />

Und was ist <strong>mit</strong> allen unseren Unzulänglichkeiten Unserer gelegentliche Trägheit<br />

Unserer Unausgeglichenheit, unserer Neigung zu überschiessenden Gefühlen, <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

eigenen depressiven Verstimmtheit Wie ist das <strong>mit</strong> Partnerschaftsproblemen Haben wir<br />

sie in <strong>der</strong> "richtigen" Art und Weise bewältigt Was ist, wenn wir uns gar getrennt haben<br />

O<strong>der</strong> ist es schlimmer, wenn wir trotz Schwierigkeiten zusammen-geblieben sind War es<br />

richtig, beizeiten wie<strong>der</strong> arbeiten zu gehen und das Kind allein zu lassen War es<br />

überfürsorglich, trotz Wunsches nach eigener Berufstätigkeit bis zur Einschulung des<br />

Kindes zu Hause zu bleiben Hat <strong>der</strong> Babysitter, vor dem die Schwiegermutter immer<br />

gewarnt hat, vielleicht doch einen schlechten Einfluss ausgeübt Wäre <strong>der</strong> Walldorf-<br />

Kin<strong>der</strong>garten nicht besser gewesen als <strong>der</strong> evangelische Und überhaupt, wie ist es <strong>mit</strong><br />

unseren eigenen Problemen Sind wir nicht vielleicht gestörter in unserer Persönlichkeit<br />

als wir das immer wahrhaben wollten<br />

Fragen über Fragen, und alle gehen an <strong>der</strong> Sache vorbei. Selbstverständlich verhalten<br />

Eltern sich falsch. Selbstverständlich unterlaufen ihnen Erziehungsfehler und<br />

Ungerechtigkeiten. Selbstverständlich gibt es Phasen von Überfürsorglichkeit - und von<br />

kühler Zurückhaltung. Selbstverständlich gibt es Familien, in denen ein mieses Klima<br />

herrscht, in denen es den Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> den Eltern o<strong>der</strong> allen zusammen nicht gut geht.<br />

Aber im Hinblick auf die schizophrene Erkrankung eines Familien<strong>mit</strong>gliedes sind alle diese<br />

Fragen müssig. Nach dem <strong>der</strong>zeitigen Stand unseres Wissens gibt es keinen<br />

Anhaltspunkt dafür, dass die <strong>Schizophrenie</strong> durch Fehler in <strong>der</strong> Erziehung o<strong>der</strong> ein<br />

ungutes Familinmilieu verursacht wird.<br />

Unbekannte Ursachen - erhöhte Verletzlichkeit<br />

27


Es ist hier nicht <strong>der</strong> Ort, dem <strong>der</strong>zeitigen Stand <strong>der</strong> Ursachenforschung im einzelnen<br />

nachzugehen. Auf das entsprechende ausführliche Kapitel im meinem Buch<br />

"<strong>Schizophrenie</strong> - die <strong>Krankheit</strong> verstehen" sei verwiesen. Wir gehen heute davon aus,<br />

dass Menschen, die später an <strong>Schizophrenie</strong> erkranken, schon vorher verletzlicher für<br />

Einwirkungen von innen und von aussen sind. Dabei wirken biologische, psychologische<br />

und soziale Einflüsse zusammen. Im Zusammenspiel machen sie die erhöhte<br />

Verletzlichkeit - die Vulnerabilität, wie es in <strong>der</strong> Fachsprache heisst - aus, die wir heute als<br />

Grundbedingung für die Entstehung einer schizophrenen Psychose betrachten. Es gibt<br />

aber keinen fassbaren Einzelfaktor, <strong>der</strong> dafür verantwortlich ist. Vieles spricht dafür, dass<br />

die Vulnerabilität individuell ist, dass je<strong>der</strong> einzelne durch an<strong>der</strong>e Belastungen verletzlich<br />

ist. Soviel ist sicher.<br />

Es gibt eine familiäre Häufung <strong>der</strong> Erkrankung. Sie tritt häufiger gleichsinnig bei eineiigen<br />

als bei zweieiigen Zwillingen auf. Sie wird häufiger bei adoptierten Kin<strong>der</strong>n<br />

psychosekranker Mütter beobachtet als bei solchen gesun<strong>der</strong> Mütter. Etwa fünf Prozent<br />

<strong>der</strong> Eltern <strong>Schizophrenie</strong>kranker sind selber krank; und wenn dies <strong>der</strong> Fall ist, wirkt sich<br />

das natürlich auf das Familienmilieu, auf die Beziehung <strong>der</strong> Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong> zu einan<strong>der</strong><br />

aus. Aber das ist dann nicht die Ursache <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> des Kindes.<br />

Lebensverän<strong>der</strong>nde Ereignisse - sogenannte Live-Events - wie Übergang von <strong>der</strong> Schule<br />

in den Beruf, Ablösung von den Eltern in <strong>der</strong> Pubertät, Verselbständigung in einer eigenen<br />

Wohnung spielen eine Rolle im Entstehungsgefüge; vor allem aber wirken sie sich auf<br />

den Verlauf <strong>der</strong> Psychose aus. Psychosoziale Spannungen innerhalb <strong>der</strong> Familie, <strong>mit</strong> dem<br />

Partner o<strong>der</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> übrigen un<strong>mit</strong>telbaren Lebensumwelt spielen bei Manifestation und<br />

Verlauf eine Rolle. Belastende <strong>leben</strong>sverän<strong>der</strong>nde Ereignisse, wie sie sich in Eckpunkten<br />

<strong>der</strong> Entwicklung junger Erwachsener in beson<strong>der</strong>er Deutlichkeit nie<strong>der</strong>schlagen, stehen<br />

unverkennbar im Zusammenhang <strong>mit</strong> Auslösung und Entwicklung schizophrener<br />

Psychosen. Neurochemische Verän<strong>der</strong>ungen im Gehirnstoffwechsel sind zumindest in <strong>der</strong><br />

akuten Psychose nachweisbar.<br />

Aber alle diese Befunde liefern keine Erklärung für die Entstehung <strong>der</strong> Erkrankung. Nach<br />

allem, was wir über die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis wissen, ist dies<br />

auch nicht zu erwarten. Vieles spricht dafür, dass wir es nicht <strong>mit</strong> einer in Ursache,<br />

28


Erscheinung und Verlauf einheitlichen <strong>Krankheit</strong> zu tun haben. Die Benennung <strong>der</strong><br />

Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis als "Gruppe <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong>n", die<br />

Eugen Bleuler um die Jahrhun<strong>der</strong>twende getroffen hat, unterstreicht das von Anfang an.<br />

Im Verlauf von <strong>mit</strong>tlerweile über hun<strong>der</strong>t Jahren <strong>Schizophrenie</strong>forschung haben sich jene<br />

Erklärungsansätze als am wenigsten tragfähig erwiesen, die eine einheitliche<br />

Entstehungsursache angenommen hatten: In <strong>der</strong> ersten Hälfte dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts die<br />

Vererbungslehre, im dritten Quartal die Theorie von <strong>der</strong> "schizophrenogenen" Mutter und<br />

im letzten Jahrzehnt die Molekulargenetik. Am tragfähigsten sind jene Erklärungsansätze<br />

gewesen, die von einer sogenannten „multifaktoriellen“ Bedingtheit <strong>der</strong> schizophrenen<br />

Psychose ausgingen. Die Annahme einer verstärkten Vulnerabilität ist ein solcher Ansatz.<br />

Soziale und kulturelle Aspekte<br />

Nun kann man argumentieren, dass sei ja alles schön und gut. Aber wenn es so ist, dass<br />

pychologische und soziale Faktoren für den Ausbruch <strong>der</strong> Erkrankung von Bedeutung<br />

sind, ist es eben doch schlechtes Familienmilieu, sind es eben doch gestörte Beziehungen<br />

den Eltern zu den Kin<strong>der</strong>n, die die <strong>Krankheit</strong> verursachen o<strong>der</strong> doch wenigstens auslösen;<br />

und dafür muss jemand verantwortlich sein. Daran muss jemand schuld sein; und das sind<br />

im Zweifelsfall in <strong>der</strong> Familie immer die Eltern. Das klingt plausibel. Aber es ist dennoch<br />

nicht logisch.<br />

Die Ableitung <strong>der</strong> Erkrankung aus dem Familienmilieu aus gestörten innerfamiliären<br />

Beziehungen hat nämlich die Tatsache zu berücksichtigen, dass die <strong>Schizophrenie</strong><br />

weltweit in allen Kulturen gleich häufig auftritt und dass dies, soweit nachweisbar, auch in<br />

vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ten so gewesen ist. Weil das innerfamiliäre emotionale und<br />

soziale Gefüge in unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Zeiten extreme<br />

Unterschiede aufweist und immer wie<strong>der</strong> radikalen Wandlungen unterworfen ist, müsste<br />

auch die <strong>Schizophrenie</strong>häufigkeit unterschiedlich sein, wenn ein spezifisches<br />

Familienmilieu wirklich "schizophrenogen" wirksam wäre.<br />

Auch die gegenwärtige Soziologie hat keinen definierbaren Erziehungsstil und kein<br />

abgrenzbares Familienmilieu ableiten können, in dem schizophrene Erkrankungen gehäuft<br />

29


auftreten. Richtig ist, dass wir in Familien <strong>mit</strong> schizophrenen Mitglie<strong>der</strong>n oft ein<br />

problematisches, gespanntes Milieu antreffen. Aber wen wun<strong>der</strong>t das. Es wäre gleichsam<br />

nicht "normal", wenn das Zusammen<strong>leben</strong> <strong>mit</strong> schizophrenen Angehörigen im<br />

Familienverbund die Beteiligten nicht belasten und verän<strong>der</strong>n würde.<br />

Lange Vorlaufzeit<br />

Es ist auch richtig, dass bei Befragungen von Familienangehörigen festgestellt worden ist,<br />

dass in Familien, in denen später jemand schizophren erkrankt, schon vor dem Ausbruch<br />

<strong>der</strong> Störung gehäuft Probleme bestanden haben. Dazu sind zwei Anmerkungen<br />

erfor<strong>der</strong>lich. Zum einen müssen wir uns erinnern, dass in Familien <strong>mit</strong> schizophrenen<br />

Kin<strong>der</strong>n gehäuft auch an<strong>der</strong>e Personen, etwa ein Elternteil, an dieser Störung leiden. Zum<br />

an<strong>der</strong>en geht dem Ausbruch <strong>der</strong> Psychose oft eine lange Vorphase voraus, ein<br />

sogenanntes Prodromalstadium, in dem sich <strong>der</strong> später manifest Schizophrene schon<br />

an<strong>der</strong>s verhält als in gesunden Zeiten: Er zieht sich zurück, ist verletzlicher, als Folge<br />

davon oft auch aggressiver in innerfamiliären Auseinan<strong>der</strong>setzungen. Ein solches<br />

Vorstadium kann Jahre andauern und bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die<br />

Beziehungen <strong>der</strong> Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong> zu einan<strong>der</strong>.<br />

Der englische Medizinsoziologe George Brown (1972) berichtet in einer Studie über die<br />

Familie schizophrener Patienten über die Befragung von Lehrern, die die späteren<br />

Kranken etwa fünf Jahre vor <strong>der</strong> Klinikaufnahme unterrichtet hatten: "Die Lehrer waren<br />

über das Ziel <strong>der</strong> Untersuchung nicht unterrichtet, und die Interviewer wussten bei <strong>der</strong><br />

Befragung ebenfalls nicht, ob es sich um einen Patienten o<strong>der</strong> ein Kind aus <strong>der</strong><br />

Kontrollgruppe handelte. Die Lehrer hatten bei den meisten Patienten mehrere Jahre vor<br />

Ausbruch <strong>der</strong> akuten Psychose Charaktereigentümlichkeiten bemerkt. Die auffälligsten<br />

Wesensmerkmale <strong>der</strong> präpsychotischen Kin<strong>der</strong> waren Scheu und soziale<br />

Zurückgezogenheit..."<br />

Aus solchen Befunden abzuleiten, dass es möglich sein müsste, gefährdete Kin<strong>der</strong> von<br />

Stress und belastenden Lebensereignissen zu bewahren, um so den Ausbruch <strong>der</strong><br />

Psychose zu verhin<strong>der</strong>n - eine neue Möglichkeit, sich Schuld aufzuladen, wenn man dies<br />

nicht tut. Aber das ist unrealistisch, für die nicht gefährdeten Kin<strong>der</strong> vielleicht sogar<br />

30


gefährlich: Für sehr viele Heranwachsende ist die Pubertät eine krisengeschüttelte Zeit.<br />

Für alle ist sie eine schwierige Lebensphase, die durchgestanden und bewältigt werden<br />

muss - nicht nur von ihnen, auch von den Eltern und Geschwistern. Selbst geschulte<br />

Beobachter würden nur in seltenen Ausnahmefällen zwischen einer "normalen" und einer<br />

präpsychotischen Krise in <strong>der</strong> Pubertät unterscheiden können, und die falsche Diagnose<br />

einer beginnenden <strong>Schizophrenie</strong> kann fatale Folgen haben.<br />

Entwicklungskrisen unvermeidbar<br />

Zur gesunden Bewältigung dieser Lebensphase ist Auseinan<strong>der</strong>setzung unabdingbar.<br />

Eine künstliche Schonhaltung könnte sehr wohl an<strong>der</strong>e negative Entwicklungen einleiten<br />

o<strong>der</strong> zumindest den Prozess <strong>der</strong> Ablösung von den Eltern und des Erwachsenwerdens<br />

verzögern. Hier scheint mir ein zentraler Schlüssel im Verständnis <strong>der</strong> Rolle<br />

<strong>leben</strong>sverän<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Ereignisse beim Ausbruch schizophrener Psychosen zu sein. Viele<br />

solche Ereignisse gehören unabdingbar zum Entwicklungsprozess einer gesunden<br />

Persönlichkeit. Die Ablösung von den Eltern, <strong>der</strong> Übergang von <strong>der</strong> Schule in den Beruf<br />

o<strong>der</strong> in die Universität, das Eingehen einer Partnerschaft und vieles an<strong>der</strong>e mehr sind<br />

Entwicklungsschritte, die je<strong>der</strong> durchmachen muss. Sie können nicht auf <strong>der</strong> Grundlage<br />

einer mehr o<strong>der</strong> weniger unspezifischen Theorie von <strong>der</strong> Psychoseauslösung vermieden<br />

werden.<br />

Um es abschliessend noch einmal zu wie<strong>der</strong>holen. Die Suche nach einer individuellen,<br />

fassbaren Schuld führt zu nichts. Sie ist durch die heutige Vorstellung von <strong>der</strong> Entstehung<br />

schizophrener Psychosen nicht begründbar. An <strong>Schizophrenie</strong> ist niemand schuld. Die<br />

Suche nach dem Sündenbock, das Hin- und Herschieben des Schwarzen Peters erweist<br />

sich rasch als Hin<strong>der</strong>nis bei <strong>der</strong> Bewältigung eines dramatischen <strong>leben</strong>sverän<strong>der</strong>nden<br />

Ereignisses, das die Erkrankung eines Familien<strong>mit</strong>gliedes an <strong>Schizophrenie</strong> darstellt. Es<br />

ist ein Ereignis, nach dem "nichts mehr ist, wie es war". Lähmung, Verleugnung,<br />

Depressivität, Zorn, Verzweiflung und Trauer und schliesslich Anname <strong>der</strong><br />

Herausfor<strong>der</strong>ung und Beginn <strong>der</strong> Verarbeitung sind Phasen <strong>der</strong> Bewältigung wie bei<br />

an<strong>der</strong>en Lebenskrisen auch, für die Angehörigen wie für die Kranken selber.<br />

31


Was können wir tun<br />

„Was können wir tun“ Ungezählte Male haben Eltern <strong>Schizophrenie</strong>kranker mir diese<br />

Frage gestellt, wenn ich Ihnen in <strong>der</strong> Sprechstunde, auf <strong>der</strong> Station o<strong>der</strong> bei Vorträgen<br />

begegnet bin. Es ist eine simple Frage, auf die eine einfache Antwort nicht möglich ist.<br />

Sicher, ich kann ihnen raten, sich zunächst einmal zu fassen, sich in Geduld zu üben. Die<br />

meisten Eltern er<strong>leben</strong> die Diagnose als Schock. Sie müssen erst einmal wie<strong>der</strong> zu sich<br />

selber finden. Dazu benötigen sie Hilfe von seiten <strong>der</strong> Ärzte und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Therapeutinnen ihres Kindes, das im Übrigen in <strong>der</strong> Regel erwachsen ist. Das macht es<br />

nicht leichter. Nur selten sind die Beziehungen zwischen dem erkrankten erwachsenen<br />

o<strong>der</strong> heranwachsenden Kind in <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> beginnenden <strong>Schizophrenie</strong> spannungsfrei.<br />

Wenn die Diagnose einer <strong>Schizophrenie</strong>, einer Psychose aus dem schizophrenen<br />

Formenkreis, gestellt wird, wenn die Eltern daran denken o<strong>der</strong> die Ärzte sie ihnen<br />

<strong>mit</strong>teilen, ist meist schon viel geschehen: häufig eine Klinikeinweisung unter mehr o<strong>der</strong><br />

weniger dramatischen und erschreckenden Umständen; fast immer eine Phase <strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ung des Verhaltens und des Wesens des später als krank erkannten Kindes.<br />

Ebenfalls fast immer ist eine längerandauernde Zeit quälen<strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

<strong>mit</strong> den Eltern über dieses Verhalten vorausgegangen, das diese nicht verstehen und oft<br />

auch nicht billigen können.<br />

Informationen sind wichtig<br />

Beim Vorliegen einer schizophrenen Psychose sollten die Angehörigen es dabei nicht<br />

belassen. Sie sollten auf weitere Informationsquellen zurückgreifen. Zum einen sollten sie<br />

lesen. Der nächstliegende Ort, sich zu informieren, ist in aller Regel nicht das<br />

Konversationslexion. Zwar hat sich da in den letzten Jahren einiges geän<strong>der</strong>t. In vielen<br />

Lexika stehen immer noch haarsträubende, überholte o<strong>der</strong> falsche Informationen über die<br />

<strong>Schizophrenie</strong>. Besser geeignet sind Bücher o<strong>der</strong> Broschüren, die sich speziell an<br />

Angehörige wenden o<strong>der</strong> doch so geschrieben sind, dass sie allgemein verständlich sind.<br />

Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Publikationen, die diese Anfor<strong>der</strong>ung erfüllen.<br />

32


Der zweite, möglicherweise fruchtbarste Weg, zu Informationen zu gelangen, ist die<br />

Kontaktaufnahme <strong>mit</strong> einer Selbsthilfevereinigung einer Angehörigenorganisation.<br />

Anschriften örtlicher Selbsthilfegruppen ver<strong>mit</strong>telt <strong>der</strong> Bundesverband <strong>der</strong> Angehörigen<br />

psychisch Kranker. Bestätigt sich die Diagnose einer schizophrenen Psychose, ist <strong>der</strong><br />

Anschluss an eine Selbsthilfegruppe, wenn irgendmöglich, dringend geboten. Erfahrene<br />

Angehörige kennen sich in an<strong>der</strong>er Weise <strong>mit</strong> den Folgen <strong>der</strong> Erkrankung aus als<br />

Therapeuten. Sie können für den alltäglichen Umgang <strong>mit</strong> dem Kranken Ratschläge<br />

erteilen und Hilfe leisten. Sie können nach <strong>der</strong> Krankenhausentlassung Ratschläge für den<br />

täglichen Umgang erteilen, wenn keine vollständige Wie<strong>der</strong>herstellung eingetreten ist.<br />

Die Angehörigenvereinigungen verfügen neben den Sozialdiensten <strong>der</strong> Kliniken auch über<br />

die solidesten Informationen darüber, an wen man sich bei konkreten wirtschaftlichen<br />

Schwierigkeiten wenden kann und wie dabei vorzugehen ist. Mitbetroffene Angehörige<br />

ver<strong>mit</strong>teln auch konkrete Hilfen und moralische Unterstützung in Not und weisen den Weg,<br />

wie die <strong>mit</strong> Angehörigen über <strong>der</strong> Sorge um das kranke Familien<strong>mit</strong>glied auch zu ihrem<br />

eigenen Recht kommen. Mit Selbsthilfe ist in diesem Sinn auch ganz gezielte Hilfe für die<br />

Angehörigen selber gemeint.<br />

Verän<strong>der</strong>ungen beginnen im Kopf<br />

Die <strong>Schizophrenie</strong> ist, wenn keine vollständige Genesung eintritt, eine Erkrankung <strong>mit</strong><br />

chronisch rezidivierendem Verlauf. Das heisst, <strong>mit</strong> dem Befinden eines Kranken geht es<br />

auf und ab. Phasen Wohlbefindens wechseln <strong>mit</strong> Phasen von <strong>Krankheit</strong> und Behin<strong>der</strong>ung<br />

ab. Wenn eine solche Verlaufsform eintritt, verlangt sie von den Angehörigen in erster<br />

Linie viel Geduld. In zweiter Linie bedeutet eine solche Entwicklung, dass sie ihr<br />

Alltags<strong>leben</strong> und ihre Lebensplanung in mancher Hinsicht än<strong>der</strong>n müssen.<br />

Diese Verän<strong>der</strong>ungen beginnen im Kopf. Die Erkrankung an <strong>Schizophrenie</strong> eines Kindes<br />

bedeutet, dass die die Vorstellungen, die sie sich in zwanzig o<strong>der</strong> dreissig Jahren über<br />

den weiteren Lebenslauf des heranwachsenden o<strong>der</strong> erwachsenen Kindes gemacht<br />

haben, revidieren müssen. Vieles wird in Zukunft nicht mehr sein, wie es war. Viele<br />

Hoffnungen werden nicht zu realisieren sein, zumindest nicht <strong>mit</strong> <strong>der</strong> gleichen<br />

Wahrscheinlichkeit wie vorher. Es ist nicht mehr sicher, dass <strong>der</strong> Auszubildende seine<br />

33


Lehre, <strong>der</strong> Student sein Studium abschliessen wird; und wenn er es dennoch schafft,<br />

spricht einiges dafür, dass er es nicht auf einen Spitzenjob, auf eine ausserordentliche<br />

Karriere anlegt, son<strong>der</strong>n dass er sich einen Platz in seinem Beruf sucht, in dem er gut<br />

zurechtkommt und sich wohlfühlt. Dagegen ist ja auch nichts einzuwenden. Im Gegenteil!<br />

Zum ganz grossen Sprung nach oben, kann er immer noch ansetzen, wenn die<br />

Gesundheit sich stabilisiert hat.<br />

Mit <strong>der</strong> Gründung einer eigenen Familie ist es ähnlich; und wenn er o<strong>der</strong> sie eine<br />

Partnerschaft eingeht, stellt sich die Frage nach Kin<strong>der</strong>n <strong>mit</strong> aller Schärfe. Will das Paar<br />

die Gefahr in Kauf nehmen, dass ein eigenes Kind ebenfalls an <strong>Schizophrenie</strong> erkrankt<br />

(Erkrankungsrisiko bis zehn Prozent) Will die Kranke einen Rückfall in <strong>der</strong><br />

Schwangerschaft risikieren Ist sie o<strong>der</strong> er stabil genug, ein Kind in Geborgenheit und<br />

Freiheit aufzuziehen und ihm emotionale Stabilität zu ver<strong>mit</strong>ten Für die Eltern des<br />

<strong>Schizophrenie</strong>kranken bedeuten negative Antworten auf diese Fragen unter Umständen<br />

den Verzicht auf die Vorstellung, jemals Enkel zu haben. Sie müssen lernen, da<strong>mit</strong><br />

umzugehen.<br />

An<strong>der</strong>e Verän<strong>der</strong>ungen sind viel konkreter und viel einschneiden<strong>der</strong>. Die schizo-phrene<br />

Erkrankung bei Heranwachsenden o<strong>der</strong> bei jungen Erwachsenen ist häufig <strong>mit</strong> einem<br />

Rückschritt in <strong>der</strong> persönlichen Entwicklung und Reife verbunden. Konkret bedeutet das<br />

häufig, dass <strong>der</strong> o<strong>der</strong> die Jugendliche, die auf dem Sprung aus dem Elternhaus in die<br />

eigene Wohnung o<strong>der</strong> die Wohngemeinschaft war, diesen Schritt nicht vollzieht o<strong>der</strong> dass<br />

<strong>der</strong> junge Erwachsene, <strong>der</strong> schon selbständig ist, durch die einsetzende Erkrankung<br />

vorübergehend o<strong>der</strong> auf länger Zeit ins Elternhaus zurückkehrt. Konkret bedeutet das<br />

auch, dass wirtschaftliche Selbständigkeit nicht o<strong>der</strong> nur <strong>mit</strong> Verzögerung eintritt. Das<br />

heisst, Eltern müssen ihre heranwachsenden o<strong>der</strong> erwachsenen Kin<strong>der</strong> über längere Zeit<br />

als geplant o<strong>der</strong> auf Dauer finanziell unterstützen, da sie kein eigenes Einkommen o<strong>der</strong><br />

keinen Anspruch auf eine eigene Rente haben. Bei beruflichem Scheitern o<strong>der</strong> bei<br />

Abbruch <strong>der</strong> Ausbildung kann es geschehen, dass die Kranken in den elterlichen Haushalt<br />

zurückkehren und dort bei entsprechen<strong>der</strong> Symptomatik untätig herumsitzen und auf die<br />

eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Weise die Zeit totschlagen. Nicht ganz selten wird die chronische<br />

Erkrankung durch einen sekundären Alkoholmissbrauch o<strong>der</strong> durch Cannabismissbrauch<br />

kompliziert. Alles dies kann dann zu einer erheblichen Belastung im Zusammen<strong>leben</strong><br />

werden.<br />

34


Alles dies sind Situationen, die bewältigt werden müssen. Das ist leichter, wenn man sie<br />

sich rechtzeitig vorstellt, wenn man sich <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Möglichkeit vertraut macht, dass sie<br />

eintreten können und wenn man nach Wegen sucht, ihnen zu begegnen. Auch dies ist am<br />

besten im Austausch <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en betroffenen Angehörigen möglich.<br />

35


4 Im Vorfeld <strong>der</strong> Psychose. Frühintervention –<br />

Vorstellung und Wirklichkeit<br />

Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis soll man so früh wie möglich<br />

behandeln. Denn die Psychose verän<strong>der</strong>t den Menschen - je länger sie anhält, umso<br />

mehr. Frühe Behandlung soll es den Kranken ermöglichen, ihr Leben ohne<br />

Beeinträchtigungen fortzusetzen. Gerade wenn die beginnende Psychose<br />

Heranwachsende trifft, ist die Gefahr gross, dass sie aus <strong>der</strong> Bahn zu geraten.<br />

Schulversagen, Abbruch <strong>der</strong> Lehre, Verlust <strong>der</strong> Beziehungen zu Gleichaltrigen,<br />

Verlust <strong>der</strong> Zukunftsperspektiven – des Lebensplans – sind nur einige <strong>der</strong> Risiken.<br />

Unspezifische Symptome<br />

Also früh behandeln! Das ist leichter gesagt als getan. Man kann und darf nicht<br />

behandeln, bevor klar ist, dass eine <strong>Krankheit</strong> vorliegt, bevor die Diagnose einer<br />

psychischen Störung eindeutig zu stellen ist. Aber das ist in <strong>der</strong> Vorphase <strong>der</strong><br />

Psychose sehr schwer. Die Wirklichkeit ist an<strong>der</strong>s: Irgendwann bemerken die<br />

Betroffenen, ihre Angehörigen und Freunde, dass »irgendetwas nicht stimmt«, dass<br />

sie sich verän<strong>der</strong>n. Mehr nicht. Nur aus <strong>der</strong> Rückschau lassen sich ein, zwei o<strong>der</strong><br />

drei Jahre vor <strong>der</strong> akuten Krise, die schließlich in Behandlung führt, Verän<strong>der</strong>ungen<br />

und Zeichen erkennen, die als Frühsymptome einer schizophrenen Psychose<br />

interpretiert werden können. Dann erfährt man gar nicht selten auch, dass die<br />

Kranken (o<strong>der</strong> ihre Angehörigen) in dieser Zeit Hilfe gesucht haben, dass sie zum<br />

Hausarzt o<strong>der</strong> zu einer psychologischen Beratung gegangen sind, weil es ihnen in<br />

<strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Weise nicht gut ging. Sie haben den Arzt aufgesucht, weil sie<br />

sich an<strong>der</strong>s als in <strong>der</strong> Zeit zuvor, erschöpft, gereizt, verletzlich, krank gefühlt haben,<br />

weil sie unter Schlaflosigkeit gelitten haben o<strong>der</strong> weil sie einfach nur das Gefühl<br />

gehabt haben, <strong>mit</strong> ihnen stimme etwas nicht. Sie haben psychologische Hilfe<br />

gesucht, weil sie, an<strong>der</strong>s als vorher, <strong>mit</strong> bestimmten Lebensproblemen nicht mehr<br />

zurecht kamen, sei es in ihren Beziehungen, in <strong>der</strong> Schule o<strong>der</strong> im Beruf.<br />

36


Sie haben <strong>mit</strong> Symptomen, die wir als unspezifisch bezeichnen, professionelle Hilfe<br />

gesucht; und wir können getrost davon ausgehen, dass die Helferinnen und Helfer in<br />

dieser Situation in <strong>der</strong> Regel nicht einmal den Verdacht auf eine Erkrankung aus dem<br />

schizophrenen Formenkreis gehabt haben. Solche Symptome sind allgegenwärtig.<br />

Es dürfte kaum jemanden geben, <strong>der</strong> sich in bestimmten Lebensphasen nicht<br />

ebenfalls da<strong>mit</strong> herumschlagen musste.<br />

Unsere Alltagssprache verfügt über ausreichend Wörter und Begriffe, <strong>mit</strong> denen wir<br />

sie erklären können – von <strong>der</strong> Frühjahrsmüdigkeit bis zum Formtief, vom Stress bis<br />

zur Erschöpfung. Viele dieser Begriffe enthalten auch gleich eine Erklärung: Wer zu<br />

viel Stress hat o<strong>der</strong> erschöpft ist, hat sich übernommen, leidet unter den Folgen einer<br />

verschleppten Grippe, ist schlicht urlaubsreif. Auch vielfältige psychologische<br />

Erklärungen bieten sich an. Man ist im Beruf o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Familie überfor<strong>der</strong>t; man ist<br />

unglücklich o<strong>der</strong> doch nicht wirklich glücklich in seinen partnerschaftlichen o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en zwischenmenschlichen Beziehungen. Man hat Zoff am Arbeitsplatz; o<strong>der</strong><br />

man wird gemobbt.<br />

Gelangt die Angelegenheit auf eine <strong>med</strong>izinische Ebene, so verfügen auch die<br />

Fachleute über viele Namen: Die Neurasthenie o<strong>der</strong> die Psychasthenie, das<br />

psychovegetative Syndrom, die psychovegetative Erschöpfung o<strong>der</strong> – das<br />

Mo<strong>der</strong>nste vom Mo<strong>der</strong>nen – das Chronic-Fatigue-Syndrom. Im Allgemeinen bleibt es<br />

bei solchen Benennungen, weil die Lebenserfahrung ebenso wie die professionelle<br />

Erfahrung unterstellt, dass es sich um einen vorübergehenden Zustand handelt, <strong>der</strong><br />

von allein wie<strong>der</strong> verschwindet. Meistens ist es ja auch so.<br />

Ratlosigkeit und Unverständnis<br />

Aber das ist nicht immer so. Alle diese Symptome können Vorboten, sog. Prodromi<br />

einer beginnenden schizophrenen Psychose sein. Nur sind wir nicht berechtigt, sie<br />

von vornherein so zu interpretieren, weil sie auch <strong>der</strong> Ausdruck an<strong>der</strong>er Störungen<br />

o<strong>der</strong> belasten<strong>der</strong> Lebenssituationen sein können - und weil sie eher das sind, als<br />

Symptome einer beginnenden Psychose.<br />

37


Die Angehörigen er<strong>leben</strong> in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Vorphase <strong>der</strong> beginnenden Psychose eine<br />

Verän<strong>der</strong>ung ihrer Kin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Geschwister, die sie <strong>mit</strong> Ratlosigkeit, Unverständnis<br />

und gelegentlich auch <strong>mit</strong> Ärger erfüllt. Freunden geht es ähnlich. Die er<strong>leben</strong> das<br />

meist nicht in <strong>der</strong> gleichen Intensität wie die Angehörigen. Freundschaftliche<br />

Beziehungen sind besser dosierbar. Sie unterliegen zudem nicht den gleichen<br />

gesellschaftlichen Regeln wie die Beziehungen zwischen Eltern und Kin<strong>der</strong>n.<br />

Eltern haben einen Erziehungsauftrag. Sie fühlen sich aufgerufen, ihre Kin<strong>der</strong> <strong>mit</strong><br />

möglichst großen Zukunftschancen in das Erwachsenen<strong>leben</strong> zu entlassen. Die<br />

Erfüllung dieses Auftrages wird durch die Verän<strong>der</strong>ungen, die <strong>mit</strong> <strong>der</strong> beginnenden<br />

Psychose einhergehen, in Frage gestellt. Angehörige beobachten <strong>mit</strong> Besorgnis<br />

Verän<strong>der</strong>ungen ihres Kindes auf <strong>der</strong> Gefühls- wie auf <strong>der</strong> Verhaltensebene, die sie in<br />

hohem Maße befremden.<br />

Kin<strong>der</strong>, die bis dahin ausgeglichen und freundlich gewesen sind, werden abrupt und<br />

"frech" (so er<strong>leben</strong> es wenigstens die Eltern). Die Kin<strong>der</strong>, die gewissenhaft und<br />

sorgfältig gewesen sind, werden nachlässig und zeigen keine Ausdauer mehr. Sie<br />

kommen morgens nicht mehr aus dem Bett. Sie werden ungesellig und ziehen sich<br />

zurück. Sie werden laut und distanzlos o<strong>der</strong> so leise, dass sie gar nicht mehr in<br />

Erscheinung treten. Sie gehen nicht mehr zur Schule, in die Universität o<strong>der</strong> zur<br />

Arbeit. Sie vernachlässigen ihre Kleidung, im Extremfall ihre Körperpflege. Sie<br />

machen die Nacht zum Tag. Sie vernachlässigen ihre sozialen Beziehungen. Sie<br />

sind ziellos und umtriebig. Sie sind ängstlich. Sie haben das Gefühl, ihnen werde<br />

ständig Unrecht getan, sie würden beobachtet, fremdkontrolliert o<strong>der</strong> gar verfolgt.<br />

Auch solche Symptome und Zeichen, die Fachpersonen alarmieren mögen, können<br />

normalpsychologisch interpretiert werden; und sie werden das auch. Sie werden das<br />

umso selbstverständlicher, wenn solche Verän<strong>der</strong>ungen sich in <strong>der</strong> Spätpubertät<br />

abspielen, in jener Entwicklungsphase, in <strong>der</strong> Jugendliche, wie je<strong>der</strong>mann weiß, es<br />

ohnehin nicht leicht <strong>mit</strong> sich haben (und in <strong>der</strong> sie es an<strong>der</strong>en nicht leicht machen), in<br />

<strong>der</strong> die Ablösung vom Elternhaus ohnehin angesagt ist, und in <strong>der</strong><br />

Stimmungsschwankungen schließlich ebenso die Regel sind wie das Schwanken<br />

zwischen erwachsenen und recht kindlichen Formen des Verhaltens.<br />

38


Überempfindlichkeit und Verletzlichkeit<br />

Wenn Eltern in dieser Phase überhaupt reagieren, reagieren sie<br />

normalpsychologisch. Sie versuchen, auf das Verhalten einzuwirken. Sie reagieren<br />

<strong>mit</strong> Ärger. Nicht selten wird die Atmosphäre in <strong>der</strong> Familie gespannt. Diese<br />

Spannung führt oft dazu, dass <strong>der</strong> Jugendliche den ohnehin fälligen Auszug vollzieht<br />

- und dann allein nicht zurecht kommt Solche Spannungen können allerdings auch<br />

dazu beitragen, dass eine beginnende Psychose zu einer manifesten <strong>Krankheit</strong><br />

gerät.<br />

Fragt man die Betroffenen selbst, wie sie diese Zeit erlebt haben, erhält man häufig<br />

die Auskunft, ja, es habe sich etwas verän<strong>der</strong>t. Die Konflikte zu Eltern und Freunden<br />

werden als spannungsgeladen wahrgenommen. Sie haben meist zu Kummer und<br />

Leid geführt. Die eigene Verletzlichkeit wird ebenfalls wahrgenommen. Alle diese<br />

Verän<strong>der</strong>ungen werden nicht nur registriert; die Betroffenen suchen auch nach<br />

Gründen dafür. Nachdem ihre Art und Weise zu <strong>leben</strong> bis dahin funktioniert hat,<br />

suchen sie sie allerdings nur teilweise in sich selbst.<br />

Zum Teil glauben sie, sie in verän<strong>der</strong>tem Verhalten <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en ausmachen zu<br />

können: An<strong>der</strong>e sind rücksichtslos; an<strong>der</strong>e gehen nicht auf sie ein. An<strong>der</strong>e meinen<br />

es nicht gut <strong>mit</strong> ihnen. An<strong>der</strong>e tuscheln ständig hinter ihrem Rücken (was sie sicher<br />

auch tun). An<strong>der</strong>e machen ihnen das Leben schwer,was vermutlich ebenfalls richtig<br />

ist, was aber auch in früheren Zeiten schon zutraf.<br />

Eine paranoid-ängstliche Interpretation dieser Situation ist häufig. Sie kann sich über<br />

das Wahnhafte zum manifesten Wahn steigern. Die Wahrnehmung <strong>der</strong> eigenen<br />

Verletzlichkeit schlägt sich dann in <strong>der</strong> Vermeidung von Situationen nie<strong>der</strong>, in <strong>der</strong><br />

man verletzt werden könnte. Sie ist nicht selten verbunden <strong>mit</strong> einer<br />

Überempfindlichkeit gegenüber Umwelt und Sinnesreizen überhaupt: Empfindlichkeit<br />

gegenüber Lärm, auch gegenüber lauter Musik, Empfindlichkeit gegenüber<br />

bestimmten Farben, beson<strong>der</strong>s grellen Farben, Empfindlichkeit gegenüber<br />

persönlicher und körperlicher Nähe an<strong>der</strong>er Menschen, gegenüber<br />

39


Menschenansammlungen, Gefühl <strong>der</strong> Überwachheit und endlich einem beständigen<br />

Andrängen von Gedanken, die schwer zu kontrollieren und zu sortieren sind.<br />

Alles das sind Zeichen <strong>der</strong> beginnenden Psychose. Man kann man annehmen, wenn<br />

Angehörige, Freunde und Fachleute solche Verän<strong>der</strong>ungen wahrnehmen, müsste es<br />

möglich sein, die Diagnose einer beginnenden Psychose frühzeitig, auf jeden Fall<br />

viel früher zu stellen als das heute üblich ist. Das ist richtig. Ich habe dennoch<br />

Zweifel, dass dies im Alltag wirklich so sein kann. Grundlage für ihre<br />

psychopathologische Interpretation ist nicht nur langjährige Erfahrung, son<strong>der</strong>n auch<br />

die Bereitschaft, die bei Angehörigen und Freunden gar nicht bestehen kann, (o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Auftrag - etwa in <strong>der</strong> ärztlichen Sprechstunde), ungewöhnliches o<strong>der</strong><br />

merkwürdiges Verhalten an<strong>der</strong>s als normalpsychologisch zu interpretieren. Im<br />

Übrigen ist bekannt, dass Jugendliche im Laufe ihrer Entwicklung fast zur Hälfte<br />

Verhaltensmerkmale und Empfindungen zeigen, die wir als Prodromalsymptome<br />

einer schizophrenen Psychose bezeichnen würden, wenn sie bei jemand auftreten,<br />

den wir später als schizophreniekrank diagnostizieren.<br />

Bewältigungsansätze im Vorfeld<br />

Die Vorphase <strong>der</strong> Psychose ist für den weiteren Lebenslauf <strong>der</strong> Betroffenen von<br />

großer Bedeutung. In dieser Zeit erfahren und er<strong>leben</strong> die späteren<br />

Psychosekranken ihre Beeinträchtigungen und ihre Verletzlichkeit, ohne dass sie als<br />

psychisch krank eingeordnet o<strong>der</strong> etikettiert werden. Sie werden <strong>mit</strong> einer neuen<br />

Lebenssituation bzw. einer neuen Selbstwahrnehmung konfrontiert, die von ihnen<br />

jenseits ihrer Ratlosigkeit verlangt, sich <strong>mit</strong> ihr auseinan<strong>der</strong> zu setzen. Sie müssen<br />

lernen, die neue Situation zu verstehen. Sie müssen Ansätze entwickeln, sie zu<br />

bewältigen – und sie tun dies auch.<br />

Das ist eine Chance, weil die "Kranken" hier das einsetzen, was sie im Lauf ihrer<br />

Sozialisation gelernt haben. Sie greifen auf ihre eigenen Ressourcen zurück, ihre eigene<br />

Kreativität; und sie tun das, zunächst ohne zu wissen, dass sie es <strong>mit</strong> einer <strong>Krankheit</strong> zu<br />

40


tun haben, ohne die Folgen von Psychiatrisierung, diagnostischer Etikettierung und ohne<br />

die Last des Stigmas. Das ist an<strong>der</strong>erseits ein Risiko, auch weil sie das ohne Expertenhilfe<br />

tun müssen. Sie stochern gleichsam <strong>mit</strong> einer Stange im Nebel. Günstigenfalls lernen sie<br />

auf diese Weise den Umgang <strong>mit</strong> ihrer Verletzlichkeit. Sie lernen,<br />

Überfor<strong>der</strong>ungssituationen zu meiden o<strong>der</strong> Techniken, diese zu bewältigen.<br />

Ungünstigenfalls för<strong>der</strong>n ihre Erklärungs- und Bewältigungsansätze eine paranoide Sichtund<br />

Er<strong>leben</strong>sweise <strong>der</strong> für sie verän<strong>der</strong>ten Welt. Sie können so<strong>mit</strong> zur Ausprägung des<br />

Vollbildes von Wahn- und Verfolgungssymptomatik beitragen. So kann die Vermeidung<br />

von belastenden Situationen zum totalen Rückzug aus <strong>der</strong> sozialen Welt und zum<br />

Abbruch zwischenmenschlicher Beziehungen führen.<br />

Günstigenfalls lernen sie ein für ihre weitere Zukunft wichtiges Verhalten <strong>der</strong><br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> ihrer vermin<strong>der</strong>ten Leistungsfähigkeit, ohne dass sie von<br />

ihrer <strong>Krankheit</strong> wissen und ohne dass sie <strong>mit</strong> einer Diagnose belastet sind. Dies kann<br />

gerade bei solchen Betroffenen von Bedeutung sein, die bis dahin sowohl in<br />

intellektueller wie in psychosozialer Hinsicht ein mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

unproblematisches Leben geführt haben – die in <strong>der</strong> Schule nie Schwierigkeiten<br />

gehabt haben; die in Familie und Freundeskreis ohne größere Probleme<br />

zurechtgekommen sind. Sie lernen in dieser Vorphase <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>, sich <strong>mit</strong><br />

Problemen auseinan<strong>der</strong> zu setzen, die sie bis dahin nicht gekannt haben: Alleinsein<br />

auszuhalten, Nie<strong>der</strong>lagen in <strong>der</strong> Schule o<strong>der</strong> im Beruf hinzunehmen,<br />

Konzentrationsstörungen auszuhalten und zu bewältigen, Leistungsdefizite zu<br />

überspielen und gegebenenfalls in einen geschützten Raum auszuweichen, in den<br />

sie niemanden Einblick nehmen lassen.<br />

Es ist ein Unterschied, ob sie dies vor <strong>der</strong> Diagnose aus eigenem Antrieb und<br />

eigener Not heraus tun o<strong>der</strong> ob sie dies später unter <strong>der</strong> Wucht des Vollbildes <strong>der</strong><br />

Psychose, <strong>der</strong> Diagnose, <strong>der</strong> Behandlung und <strong>der</strong>en Konsequenzen tun müssen. Die<br />

vorweggenommene Bewältigung im Prodromalstadium kann so<strong>mit</strong> auch positiv<br />

gesehen werden. Auch wenn man die Vorstellung haben kann, es wäre dennoch<br />

besser gewesen, früher gezielt zu behandeln, sollte man diese Seite des<br />

vorweggenommenen konstruktiven <strong>Krankheit</strong>sverhaltens nicht übersehen.<br />

41


Das ist die optimistische Sichtweise. Die Wirklichkeit ist oft an<strong>der</strong>s. Die Vorphase <strong>der</strong><br />

schizophrenen Psychose kann auch zur Leidensgeschichte unablässigen Scheiterns<br />

werden, wenn die Versuche, die wahrgenommenen Verän<strong>der</strong>ungen des Er<strong>leben</strong>s<br />

und Verhaltens zu meistern, misslingen. Das gilt vor allem, wenn das Handeln und<br />

das Wollen im Bleulerschen Sinne beeinträchtigt sind. Der <strong>Dr</strong>uck und das<br />

Unverständnis von Seiten <strong>der</strong> Familie, <strong>der</strong> Freunde und <strong>der</strong> Arbeitswelt können<br />

unerträglich werden. Gereiztheit, zunehmende Spannungen und <strong>der</strong> Abbruch<br />

wichtiger Beziehungen sind eher typisch als untypisch. Schulabbruch, Rückschläge<br />

im Studium, Verlust <strong>der</strong> Arbeit kommen hinzu. Untaugliche<br />

Selbstbehandlungsversuche <strong>mit</strong> Psychostimulantien, Cannabis o<strong>der</strong> Alkohol<br />

verschärfen die Krise. Das ist nicht selten <strong>der</strong> Zeitpunkt, zu dem angesichts des<br />

erlebten psychosozialen <strong>Dr</strong>ucks manifeste psychotische Symptome sichtbar werden,<br />

die dann günstigenfalls zur Diagnose und zur Behandlung führen.<br />

Das Dilemma <strong>der</strong> Frühintervention<br />

Am Ende stehen wir vor einem Dilemma. Einerseits sind wir überzeugt davon, dass<br />

die Frühintervention bei schizophrenen Psychosen richtig und wichtig ist.<br />

An<strong>der</strong>erseits bestehen schier unüberwindliche Schwierigkeiten, die Diagnose im<br />

Vorfeld <strong>der</strong> beginnenden akuten Psychose zu stellen. Fast immer vergehen Jahre<br />

zwischen dem Einsetzen <strong>der</strong> ersten Verän<strong>der</strong>ungen, die man im Nachhinein als<br />

Beginn <strong>der</strong> Erkrankung identifiziert und <strong>der</strong> ersten gezielten Behandlung <strong>der</strong><br />

psychotischen Störung. Darin werden die aktuellen Forschungen zur Frühdiagnose<br />

schizophrener Erkrankungen in absehbarer Zeit nichts än<strong>der</strong>n. Ihre Ergebnisse<br />

mögen geeignet sein, die Diagnose in Einzelfällen früher zu stellen als bislang.<br />

Im Übrigen ist offen, ob die Behandlung beim Verdacht auf eine beginnende<br />

Psychose ohne manifeste psychotische Symptome sich wesentlich an<strong>der</strong>s gestalten<br />

sollte, als <strong>der</strong> Umgang <strong>mit</strong> mutmaßlich gesunden Jugendlichen in <strong>der</strong> Phase des<br />

Erwachsenwerdens: Geduld, Verständnis, Unterstützung, Hilfe bei konkreten<br />

Schwierigkeiten sind in jedem Fall richtig und wichtig. Verständnisvolle<br />

psychotherapeutische Begleitung kann in kritischen Phasen sinnvoll sein.<br />

Neuroleptika-Behandlung bei ungesicherter Diagnose und fehlenden eindeutigen<br />

42


psychotischen Symptomen kommt allenfalls zur Differenzialdiagnose in Betracht. Als<br />

Therapie ist sie über die Maßen problematisch und entsprechend umstritten. Führt<br />

ihr versuchsweiser Einsatz zu einer deutlichen Verbesserung des Befindens und des<br />

Verhaltens, kann dies eine wichtige Hilfe zur Diagnosesicherung bei unklaren<br />

Symptomen sein. Dann kann die Neuroleptikabehandlung in möglichst niedriger<br />

Dosierung durchaus auch indiziert sein.<br />

Angehörige, die den Eindruck gewinnen, ihr Kind habe sich in einer Weise verän<strong>der</strong>t,<br />

die normalpsychologisch nicht zu erklären ist, sei geraten, sich zunächst<br />

vertrauensvoll an ihren Hausarzt zu wenden und sich gegebenenfalls von diesem an<br />

einen fachpsychiatrischen Dienst überweisen zu lassen und dort, zunächst ohne das<br />

Kind (den Heranwachsenden) <strong>der</strong> Belastung einer psychiatrischen Untersuchung<br />

auszusetzen, über die Art <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen und die Zeichen zu berichten, die sie<br />

als möglicherweise krankhaft o<strong>der</strong> als nicht »normal« er<strong>leben</strong>.<br />

43


5 Die <strong>Krankheit</strong> erhält ihren Namen. Die Diagnose und was<br />

sie bedeutet<br />

»Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt.« (Alte Medizinerweisheit)<br />

Wenn eine Diagnose gestellt wird, erhält die <strong>Krankheit</strong> einen Namen. Bis dahin ist<br />

vieles unklar. Vielfältige Symptome mögen die Kranken plagen und ängstigen. Aber<br />

bis zur Diagnose bleibt vieles unklar. Das Ergebnis kann Entlastung sein. Es kann<br />

aber auch Angst und Unverständnis auslösen. Bei <strong>der</strong> Diagnose einer Psychose aus<br />

dem Schizophrenen Formenkreis ist das lei<strong>der</strong> oft <strong>der</strong> Fall. Ich erinnere mich an die<br />

Reaktion eines Vaters, eines Arztes: "Bitte sagen Sie mir alles; aber sagen Sie mir<br />

nicht, meine Sohn ist schizophren. Das wäre das Ende." Ich hielt dagegen, die<br />

Diagnose sei eine Chance für einen Anfang. Nach einer quälend langen Vorphase<br />

wisse man nun endlich, was das Problem sei. Endlich könne man anfangen, sich <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> ausein<strong>der</strong>zusetzen, sie zu behandeln.<br />

An<strong>der</strong>erseits konnte ich den Vater verstehen. Er hatte bis zuletzt gehofft, sein Sohn<br />

sei in eine Krise geraten, die ohne schwerwiegende Konsequenzen <strong>mit</strong> o<strong>der</strong> ohne<br />

Hilfe abklingen werde. Jetzt war er <strong>mit</strong> einer ernsten <strong>Krankheit</strong> konfrontiert, die<br />

wahrscheinlich auch sein Leben verän<strong>der</strong>n würde. Ich habe die Auswirkungen des<br />

Einbruchs einer solchen <strong>Krankheit</strong> auf die Familie im zweiten Kapitel ausführlich<br />

dargestellt.<br />

Weil eine Schizoprenie-Diagnose so einschneidende Auswirkungen hat, sollte sie<br />

erfahrenen Experten vorbehalten sein. Kranke und Angehörige können durch ihre<br />

Beobachtungen viel zu ihrer Absicherung beitragen. Aber auch im Zeichen des<br />

Internet, muss <strong>der</strong> Arzt nachfragen, wenn sie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> fertigen Diagnose in die<br />

Sprechstunde kommen. Deshalb ist dieses Kapitel auch keine Anleitung zur Do-ityourself-Diagnostik.<br />

Es geht mir vielmehr darum darzustellen, wie Diagnostik in <strong>der</strong><br />

Psychiatrie heute praktiziert wird und welchen Stellenwert sie hat. Das ist nicht ganz<br />

44


einfach. Aus <strong>der</strong> klassischen Kunst <strong>der</strong> Diagnose ist in den vergangenen<br />

Jahrzehnten eine Technik geworden. Diese hat sich ihre eigene Sprache geschaffen,<br />

die nur schwer zu verdolmetschen ist. Ich bitte um Nachsicht, wenn mir das nur<br />

teilweise gelingt.<br />

Blinde Flecken und Verdrängung<br />

Die richtige Diagnose ist die Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie. Das<br />

festzustellen, ist eine Banalität. Aber aus dem psychiatrischen Alltag wissen wir, dass<br />

die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis trotz erkennbarer<br />

Symptome oft spät, allzu oft gar nicht gestellt wird. Gelegentlich tritt sie hinter<br />

Symptomen an<strong>der</strong>er gleichzeitig bestehen<strong>der</strong> Störungen zurück. Dazu gehören<br />

Alkohol- und <strong>Dr</strong>ogenabhängigkeit. Gar nicht selten ist es bei Jugendlichen <strong>der</strong><br />

Cannabismissbrauch, <strong>der</strong> als Erklärung für die wahrgenommenen psychotischen<br />

Symptome herhalten muss, während er in Wirklichkeit allenfalls auslösende Funktion<br />

hat, meist aber bereits Ausdruck eines untauglichen Selbstbehandlungsversuches<br />

ist.<br />

Immer wie<strong>der</strong> blenden Therapeutinnen und Therapeuten Symptome schizophrener<br />

Psychosen aus; o<strong>der</strong> sie bagatellisieren sie, sodass an<strong>der</strong>e Diagnosen gestellt<br />

werden können, die weniger gravierend erscheinen: Pubertäts- und<br />

Adoleszentenkrisen, abnorme Erlebnisreaktionen, Anpassungsstörungen, o<strong>der</strong>,<br />

zunehmend beliebt, Persönlichkeitsstörungen vom Bor<strong>der</strong>line-Typ. Nicht selten sind<br />

es Gegenübertragungsreaktionen, die die Behandelnden angesichts ihres eigenen<br />

Schreckens vor <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> daran hin<strong>der</strong>n, den Kranken durch eine richtige und<br />

rechtzeitige Diagnosestellung gerecht zu werden.<br />

Niemand würde auf den Gedanken kommen, er täte seinen Patienten einen Gefallen,<br />

wenn er ein leukämisches Blutbild zu einer »grenzwertigen Leukozytose«<br />

herunterdiskutierte. Niemand würde sich in einem solchen Fall befriedigt<br />

zurücklehnen, um festzustellen, die Kriterien für das Vorliegen einer Leukämie seien<br />

45


nicht erfüllt. Er würde vielmehr nicht ruhen und so lange aufmerksam beobachten<br />

und nachuntersuchen, bis eine solche <strong>Krankheit</strong> definitiv ausgeschlossen o<strong>der</strong><br />

bestätigt ist. Genau dies geschieht in <strong>der</strong> Psychiatrie lei<strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong>. Die<br />

Diagnosekriterien für eine schizophrene Psychose seien nicht erfüllt, die für eine<br />

Anpassungsstörung o<strong>der</strong> ein Bor<strong>der</strong>line-Syndrom ließen sich nachweisen. Also liege<br />

keine schizophrene Psychose vor.<br />

Diagnosekriterien<br />

Die mo<strong>der</strong>nen Klassifikationssysteme kommen solchen Bedürfnissen lei<strong>der</strong><br />

entgegen. Sie begünstigen die Diagnosestellung auf <strong>der</strong> Grundlage eines reduzierten<br />

psychopathologischen Befundes, auf <strong>der</strong> Grundlage weniger ausgewählter<br />

Symptome. Die Beachtung <strong>der</strong> biografischen Entwicklung, die wohlgemerkt von<br />

diesen Systemen auch gefor<strong>der</strong>t wird, tritt allzu leicht in den Hintergrund. Die<br />

Verän<strong>der</strong>ung des Er<strong>leben</strong>s und Verhaltens, <strong>der</strong> klassische »Knick in <strong>der</strong><br />

Lebenslinie«, soziales Rückzugsverhalten und verän<strong>der</strong>te Reaktionen auf die<br />

Umgebung - alles das was Angehörige in <strong>der</strong> Vorphase <strong>mit</strong> Sorge <strong>mit</strong>er<strong>leben</strong> -<br />

werden allzu häufig nicht ausreichend wahrgenommen o<strong>der</strong> gewürdigt. Die<br />

Mitwirkung <strong>der</strong> Kranken selber und ihrer Angehörigen wird oft sträflich<br />

vernachlässigt.<br />

Früher waren psychiatrische Diagnosen das Ergebnis einer klinischen Untersuchung,<br />

in die das Wissen und die Erfahrung des Untersuchers <strong>mit</strong> ein ging. Um die da<strong>mit</strong><br />

verbundenen subjektiven Aspekte auszuschliessen und die internationale<br />

Vergleichbarkeit zu sichern, wurde <strong>der</strong> Ruf nach Standardisierung laut.<br />

Das Ergebnis waren "Diagnosekriterien", festgeschrieben im Diagnostisch-<br />

Statisischen Manual (DSM IV) <strong>der</strong> Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft und<br />

<strong>der</strong> Diagnosenklassifikation <strong>der</strong> WHO, <strong>der</strong> ICD 10. Beide Systeme sind<br />

Expertenübereinkünfte, keine Naturgesetze, son<strong>der</strong>n Beschreibungen, die dem<br />

<strong>der</strong>zeitigen Stand des Wissens entsprechen.<br />

46


Ein zentrales Merkmal <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Klassifikationssysteme ist es, dass die<br />

Diagnosen aufgrund eines Kriterienkataloges erstellt werden, in dem bestimmte<br />

Symptome vorgegeben sind. Die Diagnosestellung erfolgt durch Aufsummierung <strong>der</strong><br />

bei den Kranken festgestellten Symptome. Im DSM-IV heißt es beispielsweise:<br />

»Mindestens zwei <strong>der</strong> Folgenden, jedes bestehend für einen erheblichen Teil einer<br />

Zeitspanne von einem Monat (o<strong>der</strong> weniger, falls erfolgreich behandelt):<br />

1.Wahn;<br />

2.Halluzinationen;<br />

3.Desorganisierte Sprechweise;<br />

4.Grob desorganisiertes Verhalten."<br />

Im Zeitalter <strong>der</strong> Operationalisierung und Digitalisierung komplexer Sachverhalte mag<br />

das akzeptabel sein – zumindest auf den ersten Blick. Bei weiterem Nachdenken<br />

stellen sich Zweifel ein. Denn Klassifikationen sind keine Diagnosen; denn "letztere<br />

gehen vom einzelnen Patienten aus.... Klassifikation ist bewusst reduktionistisch und<br />

dient statistischen und wissenschaftlichen Zwecken.« (Kurt Heinrich). So reduzieren<br />

sie die 340 Symptome, die etwa im englischen Present State Examination aufgeführt<br />

sind, auf weniger als ein Dutzend. Da<strong>mit</strong> sind Fehldiagnosen Tür und Tor geöffnet.<br />

Denn reduktionistische Systeme führen zwangsläufig zu falsch positiven o<strong>der</strong> falsch<br />

negativen Ergebnissen. Auch im Interesse <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Forschung ist<br />

es wichtig, dass möglichst wenige falsch positive Diagnosen gestellt werden. Aus<br />

klinischer Sicht ist dies fatal, weil viele Kranke wegen "Nichterfüllung" <strong>der</strong> Kriterien<br />

nicht – o<strong>der</strong> nicht rechtzeitig – die Behandlung erfahren, die sie benötigen.<br />

Engagement, Wissen und Erfahrung<br />

Für die Diagnosestellung genügt es <strong>mit</strong>hin nicht, den Kriterienkatalog des DSM-IV<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> ICD10 zu prüfen und abzuhaken. Der psychopathologische Befund muss<br />

ergänzt und erweitert werden. Dazu gehört die sorgfältige Erhebung <strong>der</strong><br />

Lebensgeschichte von Kindheit an. Wenn immer möglich, gehört dazu auch die<br />

47


Befragung von Angehörigen und Freunden. Dabei ist nicht nur auf vorbestehende<br />

Störungen, Frühsymptome o<strong>der</strong> Prodromalsymptome zu achten, son<strong>der</strong>n auch auf<br />

einschneidende biografische Verän<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong> auffallende Verän<strong>der</strong>ungen im<br />

sozialen Verhalten im persönlichen und im kulturellen Kontext. Die Bedeutung eines<br />

Symptoms ist nur zu ermessen, wenn die aktuelle Situation, <strong>der</strong> kulturelle<br />

Hintergrund und <strong>der</strong> Stellenwert des möglichen symptomatischen Verhaltens für die<br />

Person ausreichend berücksichtigt werden. Wenn ein Mensch schon immer so war,<br />

hat es eine an<strong>der</strong>e Bedeutung, als wenn es neu Verhalten ist<br />

Die neuen Klassifikationssysteme mögen zu einer Vereinheitlichung psychiatrischer<br />

Diagnostik beigetragen haben. Dennoch bleibt die Diagnostik eine hohe Kunst, die<br />

umfängliches psychiatrisches Wissen und klinische Erfahrung voraussetzt. Die<br />

meisten psychiatrischen Symptome sind nicht objektivierbar – zumindest nicht im<br />

naturwissenschaftlichen Sinne. Sie werden durch Beobachtung von Verhalten o<strong>der</strong><br />

aus den Mitteilungen <strong>der</strong> Kranken über ihr subjektives, ihr ureigenes Er<strong>leben</strong><br />

abgeleitet. Wenn sie uns nichts <strong>mit</strong>teilen o<strong>der</strong> wenn wir ihr Verhalten<br />

fehlinterpretieren, ist <strong>der</strong> Weg zur Fehldiagnose gebahnt. Auch deswegen sollten wir<br />

uns davor hüten, uns vorschnell festzulegen. Eine vorschnelle<br />

<strong>Schizophrenie</strong>diagnose ist genau so schädlich wie eine verpasste. Entscheidend<br />

bleibt es, dass wir uns die Differenzialdiagnose offen halten, solange Ungewissheit<br />

besteht, um die Diagnose schließlich zu sichern, wenn die Befunde dazu ausreichen.<br />

Der Name<br />

Der Name <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>, um die es hier geht, ist <strong>Schizophrenie</strong>. Richtiger wäre es<br />

eigentlich, von einer <strong>Krankheit</strong> aus <strong>der</strong> „Gruppe <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong>n“ zu sprechen.<br />

Das ist die ursprüngliche Bezeichnung, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Eugen Bleuler 1911 die frühere von<br />

Emil Kraepelin geprägte Diagnose „Dementia Präcox“ abgelöst hat – auch <strong>mit</strong> dem<br />

Ziel, eine weniger abwertende <strong>Krankheit</strong>sbezeichnung zu schaffen. Im<br />

psychiatrischen Alltag redet man meist verkürzt von „Schizophrenen Psychosen“<br />

o<strong>der</strong> einfach von Psychosen für „Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis“.<br />

48


Diese Vielfalt <strong>der</strong> Namensvarianten zeigt, wie schwer sich auch die Psychiatrie <strong>mit</strong><br />

dieser Diagnose tut. Das hat zwei Gründe. Zum einen gilt heute als wahrscheinlich,<br />

dass es sich bei <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> nicht um eine einheitliche <strong>Krankheit</strong> handelt,<br />

son<strong>der</strong>n um eine Gruppe o<strong>der</strong> ein Bündel von Störungen handelt, die ähnliche<br />

Erscheinungsformen haben, aber nicht den gleichen neurobiologischen Hintergrund.<br />

Deshalb verzichte ich hier auch auf die Nennung von Untergruppen, die<br />

Beschreibungen von (Verlaufs)Zuständen sind, aber keine Diagnosen eigener Art.<br />

Zum an<strong>der</strong>en ist man sich auch in <strong>der</strong> Fachwelt bewusst, das die<br />

<strong>Krankheit</strong>sbezeichnung <strong>Schizophrenie</strong> <strong>mit</strong> mannigfachen Vorurteilen belastet ist.<br />

Deshalb wird nicht nur von Betroffenen und Mitbetroffenen son<strong>der</strong>n auch von<br />

Fachleuten immer wie<strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> einen an<strong>der</strong>en Namen zu geben.<br />

Die Diskussion ist nicht abgeschlossen. Ich gebe aber zwei Dinge zu bedenken.<br />

Zum einen wird <strong>der</strong> neue zunächst unbelastete Name erfahrungsgemäss eher früher<br />

als später von den Vorurteilen <strong>der</strong> Vergangenheit eingeholt. Im Lexikon heisst es<br />

z.B. heute noch: „<strong>Schizophrenie</strong>, früher Dementia Präcox ...“ Zum an<strong>der</strong>en müssen<br />

Kranke und Angehörige wissen, <strong>mit</strong> welcher Kranheitsbezeichnung sie rechnen<br />

müssen, wenn ihnen Menschen begegnen, die voller Vorurteile sind. Im Alltag<br />

empfehle ich ihnen allerdings, von ihrer <strong>Krankheit</strong> schlicht als einer Psychose zu<br />

sprechen.<br />

49


6 Vor <strong>der</strong> Therapie. Behandlungsgrundsätze<br />

»Die <strong>Schizophrenie</strong>therapie ist die dankbarste für den Arzt."<br />

Eugen BLEULER 1911<br />

Schizophrene Psychosen sind schwere Erkrankungen. Entgegen einem verbreiteten<br />

Vorurteil sind sie behandelbar, nicht immer gut, aber oft befriedigend. Sie sind zwar<br />

<strong>mit</strong> <strong>med</strong>izinischen Mitteln nicht heilbar. Aber sie sind auch nicht unheilbar: Wir<br />

wissen seit <strong>mit</strong>tlerweile hun<strong>der</strong>t Jahren, dass sie bei etwa einem <strong>Dr</strong>ittel <strong>der</strong> Kranken<br />

ausheilen – <strong>mit</strong> o<strong>der</strong> ohne Behandlung. Wir wissen auch, dass ihr Verlauf bei einem<br />

weiteren <strong>Dr</strong>ittel günstig ist – dies in Abhängigkeit von kompetenter Behandlung. Ein<br />

letztes <strong>Dr</strong>ittel trifft die ganze Schwere des psychotischen Leidens. Bei ihnen ist <strong>der</strong><br />

<strong>Krankheit</strong>sverlauf chronisch-rezidivierend – wie<strong>der</strong>kehrend o<strong>der</strong> andauernd. Aber<br />

auch diesen Kranken kann geholfen werden, die Symptome zu lin<strong>der</strong>n, das Leiden<br />

zu min<strong>der</strong>n und zu lernen, <strong>mit</strong> ihrer <strong>Krankheit</strong> zu <strong>leben</strong>. Das for<strong>der</strong>t Geduld von allen<br />

Beteiligten und Verständnis von Seiten <strong>der</strong> Menschen, die <strong>mit</strong> den Kranken <strong>leben</strong> –,<br />

aber auch für diese Menschen, vor allem für ihre Angehörigen.<br />

Eines aber unterscheidet sie von fast allen an<strong>der</strong>en bedrohlichen <strong>Krankheit</strong>en: Die<br />

Diagnose entscheidet nicht über die Prognose. Die Diagnose ist nicht das Ende, wie<br />

das Vorurteil sagt, wie Kranke, Angehörige und manchmal auch Behandelnde dies<br />

immer wie<strong>der</strong> er<strong>leben</strong>, wenn die <strong>Krankheit</strong> ihren Namen bekommt. Sie ist <strong>der</strong> Anfang<br />

<strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> einem Leiden, das mutmaßlich tief in das eigene Leben<br />

eingreifen wird, einer Auseinan<strong>der</strong>setzung aber, in <strong>der</strong> man die Oberhand behalten<br />

kann wie bei an<strong>der</strong>en schweren Erkrankungen auch.<br />

Schizophrene Psychosen sind behandelbar. Aber das Vorurteil von <strong>der</strong><br />

<strong>Schizophrenie</strong> als »unheilbarer«, unheimlicher, ja verrufener <strong>Krankheit</strong> wirkt nach.<br />

Dieses Bild – in <strong>der</strong> Soziologie nennt man es soziale Repräsentation – wird zu einer<br />

Komplikation. Es behin<strong>der</strong>t die Therapie. Es behin<strong>der</strong>t die Entschlossenheit des<br />

therapeutischen Engagements bei den Behandelnden und bewirkt Kleinmut und<br />

50


Pessimismus bei den Kranken und ihren Angehörigen. Aus diesem Grunde muss<br />

das tief verwurzelte negative Bild <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong>, das Stigma <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>, das<br />

die Kranken zutiefst verletzt, zugleich <strong>mit</strong> dem Grundleiden behandelt werden.<br />

Individuelle Behandlung<br />

Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis sind vielfältig. Ihre Behandlung<br />

muss sich an die Art und die Ausprägung des <strong>Krankheit</strong>sbildes anpassen. Sie muss<br />

dem einzelnen kranken Menschen in seiner jeweiligen Situation gerecht werden. Sie<br />

muss auf die <strong>Krankheit</strong>ssymptomatik abgestimmt sein. Sie muss den Kranken<br />

helfen, ihr Leiden aktiv zu bewältigen o<strong>der</strong> zumindest <strong>mit</strong> ihm zu <strong>leben</strong>.<br />

<strong>Schizophrenie</strong>therapie verlangt Erfahrung, Engagement, Geduld und Zuwendung<br />

von Seiten <strong>der</strong> Behandelnden. Zugleich stellt sie hohe Anfor<strong>der</strong>ungen an die<br />

Kranken selbst: Geduld und Ausdauer und die Bereitschaft zur Mitarbeit.<br />

Erfolgreiche Therapie <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> verlangt auch, dass die Kranken ihre<br />

Erfahrungen <strong>mit</strong> ihrem Leiden in die Behandlung einbringen. Zusammenarbeit,<br />

Kooperation, steht als Leitmotiv über <strong>der</strong> erfolgreichen Behandlung schizophrener<br />

Psychosen. Ob diese gelingt o<strong>der</strong> nicht, entscheidet neben <strong>der</strong><br />

<strong>Krankheit</strong>ssymptomatik über Gelingen o<strong>der</strong> Scheitern <strong>der</strong> Therapie, über<br />

psychosoziale Integration o<strong>der</strong> soziale Isolierung, über langfristige <strong>Krankheit</strong>sfolgen.<br />

Therapie hat auch <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Haltung zu tun, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> man dem kranken Menschen und<br />

seinem Leiden gegenübertritt. Ob man optimistisch ist o<strong>der</strong> pessimistisch, ob man<br />

resigniert ist o<strong>der</strong> kampfbereit, ob man einen langen Atem hat o<strong>der</strong> nicht – alles dies<br />

schafft jeweils unterschiedliche Voraussetzungen für die Chancen <strong>der</strong> Behandlung<br />

dieser bedrohlichen <strong>Krankheit</strong> und ihrer potenziell schwerwiegenden Folgen. Da<strong>mit</strong><br />

will ich nicht sagen, dass es opportun o<strong>der</strong> auch nur zulässig sei, den Ernst und die<br />

Schwere <strong>der</strong> Erkrankung zu bagatellisieren. Im Gegenteil, eine konstruktive<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> den Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis setzt<br />

voraus, dass man die Gefahr und die Risiken dieser <strong>Krankheit</strong> zur Kenntnis nimmt<br />

und sich ihnen stellt. Die Behandelnden haben diese konstruktive Haltung <strong>mit</strong> in die<br />

Therapie einzubringen – von Anfang an und auf Dauer. Die <strong>Schizophrenie</strong> ist<br />

51


ehandelbar. Wer den Kranken <strong>mit</strong> dem klassischen Bild von <strong>der</strong> Unheilbarkeit<br />

gegenübertritt, sollte die Finger von <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong>therapie lassen.<br />

Wi<strong>der</strong> das Verzagen: Die Angehörigen<br />

Was für die Therapeuten gilt, trifft auch für die Angehörigen zu. Auch bei ihnen muss die<br />

erste Intervention <strong>der</strong> Überwindung von Angst und Verzagtheit gelten. Dazu gehört eine<br />

umfassende Aufklärung über die Art <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>, über den Verlauf, die Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Behandlung, über den Stand des <strong>med</strong>izinischen Wissens und über die Auswirkungen <strong>der</strong><br />

Stigmatisierung psychischer Störungen auf sie selbst, ihre Umgebung und ihr krankes<br />

Familien<strong>mit</strong>glied. Oft reicht das ärztliche Gespräch dazu nicht aus. Zum einen brauchen<br />

die Angehörigen Zeit, sich in ihr Schicksal zu finden. Zum an<strong>der</strong>en brauchen sie, wenn die<br />

<strong>Krankheit</strong> andauert, Informationen und Rat über das Verhalten <strong>Schizophrenie</strong>kranker zu<br />

Hause und über den Umgang da<strong>mit</strong>. Dabei können an<strong>der</strong>e Betroffene helfen, etwa<br />

Angehörigenvereinigungen und Angehörigenselbsthilfegruppen.<br />

Mit einem <strong>Schizophrenie</strong>kranken in <strong>der</strong> Familie zu <strong>leben</strong>, ist keine leichte Sache. Das<br />

muss man lernen. Man muss es nicht nur <strong>mit</strong> dem Kopf lernen, son<strong>der</strong>n auch emotional<br />

verkraften. Man muss begreifen und sich da<strong>mit</strong> abfinden, dass das eigene Kind – darum<br />

geht es ja meist – <strong>mit</strong> einiger Wahrscheinlichkeit ein an<strong>der</strong>es Leben führen wird, als man<br />

erwartet und erhofft hat.<br />

Es nützt den Kranken nichts, wenn die Angehörigen ihrer eigenen Verzweiflung über die<br />

Mitbetroffenheit ihren Lauf lassen, wenn sie sich Vorwürfe machen, sei es über die<br />

Erziehung, sei es über irgendwelche Spannungen, die zwischen ihnen und dem Kranken<br />

bestehen o<strong>der</strong> bestanden haben. Das Ziel ist es, ein gewisses Maß an Gelassenheit,<br />

zumindest aber Gefasstheit zu erreichen, das es möglich macht, die Kranken in<br />

schwierigen Situationen zu stützen und zu führen, sie dazu zu bewegen, Hilfe<br />

anzunehmen und <strong>mit</strong> ihren Therapeuten zusammenzuarbeiten. Auch dies ist oft keine<br />

leichte Sache.<br />

Über Behandlung verhandeln<br />

Dass Therapeuten nicht vor <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> verzagen sollen, die zu behandeln ihre<br />

Aufgabe ist, gehört zu den Banalitäten des ärztlichen Handwerks. Dass Angehörige<br />

52


ihrer Rolle als Unterstützer und Helfer besser gerecht werden können, wenn sie<br />

selbst emotional stabil sind, versteht sich von selbst. Dass es auch gilt, die Kranken<br />

selbst für die Mitarbeit an <strong>der</strong> Therapie zu gewinnen, ist nicht so selbstverständlich.<br />

Das ist eine Erkenntnis <strong>der</strong> letzten Jahre.<br />

Früher ist die Patientenrolle in <strong>der</strong> Psychiatrie wie auch in <strong>der</strong> Allgemein<strong>med</strong>izin eher<br />

als eine passive begriffen worden. Der Gedanke, dass die Kranken selbst <strong>mit</strong>wirken<br />

können, hat sich zunächst in <strong>der</strong> Psychotherapie und in <strong>der</strong> Rehabilitations<strong>med</strong>izin<br />

ausgebreitet. Inzwischen sollte allen Beteiligten klar sein, dass es bei <strong>der</strong> Gefahr<br />

eines langzeitigen <strong>Krankheit</strong>sverlaufes unabdingbar ist, dass Therapeuten und<br />

Kranke <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> kooperieren, dass sie den besten gangbaren Weg suchen, dass<br />

Therapeuten und Kranke gemeinsam nach den Ressourcen an gesunden Kräften<br />

und an Verletzlichkeiten und Unzulänglichkeiten fahnden, um die bestmögliche und<br />

tragfähigste Form <strong>der</strong> Behandlung auszuloten.<br />

Es kann heutzutage nicht mehr angehen, dass Therapeuten sich auf die Vorstellung<br />

von <strong>der</strong> fehlenden <strong>Krankheit</strong>seinsicht bei <strong>Schizophrenie</strong>kranken zurückziehen. Es<br />

mag schon sein, dass viele Kranke Schwierigkeiten haben zu begreifen, dass das,<br />

was <strong>mit</strong> ihnen geschieht, was sich in ihnen abspielt, aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Medizin<br />

<strong>Krankheit</strong> ist und dass man ihnen <strong>mit</strong> <strong>med</strong>izinischen Mitteln helfen kann. Es ist<br />

Aufgabe <strong>der</strong> Therapeutinnen und Therapeuten, ihnen das zu verdolmetschen und die<br />

fehlende <strong>Krankheit</strong>seinsicht nicht als unverän<strong>der</strong>bares Symptom eigener Art stehen<br />

zu lassen. Manchmal bedarf es vieler Anläufe, um das zu erreichen.<br />

Kann man eine <strong>Krankheit</strong> behandeln, <strong>der</strong>en Ursache man nicht kennt<br />

Viel von <strong>der</strong> Resignation gegenüber <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> <strong>Schizophrenie</strong> und ein<br />

beträchtlicher Teil des Mythos’ von <strong>der</strong> Unheilbarkeit hängen da<strong>mit</strong> zusammen, dass<br />

wir die Ursache <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> nicht kennen. Das Bedürfnis <strong>der</strong> Menschen nach<br />

Erklärungen ist unerschöpflich. Es wäre vermutlich hilfreich, wenn wir wüssten, auf<br />

welche Weise die <strong>Schizophrenie</strong> entsteht. Aber es wäre um die gesamte Medizin<br />

schlecht bestellt, wenn sie sich auf die Behandlung von <strong>Krankheit</strong>en beschränken<br />

müsste, <strong>der</strong>en Ursachen bekannt sind. Außer den Infektionskrankheiten sind es nur<br />

wenige an<strong>der</strong>e Leiden, <strong>der</strong>en Ursachen man wirklich von Grund auf kennt. Über die<br />

53


meisten an<strong>der</strong>en ist das Wissen begrenzt. Aber dieses begrenzte Wissen genügt, um<br />

in das Gefüge <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> einzugreifen, ihren Verlauf zu beeinflussen, die<br />

Selbstheilungskräfte des menschlichen Körpers zu stärken und günstigenfalls eine<br />

Heilung zu erreichen.<br />

So ist das bei den Herzkreislauferkrankungen, beim Krebs, bei Magen- und<br />

Darmkrankheiten, beim Diabetes, <strong>der</strong> Hochdruckkrankheit und vielen an<strong>der</strong>en mehr.<br />

So ist das auch bei den meisten psychischen Störungen. Wir wissen nicht nichts. Wir<br />

wissen im Gegenteil eine ganze Menge über die beson<strong>der</strong>e Verletzlichkeit einiger<br />

Menschen, über die Rolle <strong>der</strong> Disposition (manche reden von »Vererbung«); und wir<br />

wissen inzwischen auch einiges über die Biochemie <strong>der</strong> Botenstoffe zwischen den<br />

Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen. Alles das zusammen ist genug, um <strong>mit</strong><br />

Medikamenten, <strong>mit</strong> Psychotherapie, <strong>mit</strong> sozialer Unterstützung und <strong>mit</strong> Training in<br />

den »natürlichen« Verlauf <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> einzugreifen.<br />

Manfred Bleuler, einer <strong>der</strong> großen <strong>Schizophrenie</strong>forscher <strong>der</strong> jüngeren<br />

Vergangenheit, geht in seiner wissenschaftlichen Lebensbilanz sogar noch weiter. Er<br />

schreibt: »Unsere Therapie wird oft als symptomatisch beurteilt, und viele glauben,<br />

dass sie durch eine ›echte‹ kausale Therapie ersetzt werden wird, sobald die<br />

Ursachen <strong>der</strong> Psychose entdeckt ist. Ich bin überzeugt, dass wir schon heute viel<br />

über die Ursache <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> wissen. Dieses Wissen erlaubt es uns, unsere<br />

Therapie im Hinblick auf die Genese <strong>der</strong> Psychose als angemessen, kausal und sehr<br />

wichtig anzusehen. Wir meinen, diese Therapie verdient es, weiterentwickelt und <strong>mit</strong><br />

einem Gefühl <strong>der</strong> Überzeugung angewendet zu werden.« (1982)<br />

Wege <strong>der</strong> Behandlung<br />

Die <strong>Schizophrenie</strong>therapie stützt sich heute auf drei zentrale Säulen, die<br />

Medikamentenbehandlung, die Psychotherapie und Verfahren <strong>der</strong> sozialen<br />

Behandlung, die gemeinhin Milieu- o<strong>der</strong> Soziotherapie genannt werden. Dahinter<br />

verbergen sich vielfältige Maßnahmen sozialer Unterstützung, Rehabilitation,<br />

Trainingsverfahren, Selbsthilfe, Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Hilfe bei <strong>der</strong><br />

Gestaltung freier Zeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und vieles an<strong>der</strong>e<br />

mehr.<br />

54


Die Psychotherapie wird gemeinhin an erster Stelle genannt. Im Alltag spielt sie<br />

lei<strong>der</strong> nicht die Rolle, die ihr zukommt. Im psychiatrischen Alltag hat vielmehr die<br />

Medikamentenbehandlung den ersten Platz. Viele Therapeuten räumen das nur<br />

ungern ein. Aber die Medikamente haben - vor allem in <strong>der</strong> Akutbehandlung - ihren<br />

zentralen Platz. In <strong>der</strong> akuten Psychose sind sie es, die die Kranken von ihrer Angst<br />

entlasten, von ihrer Furcht, beeinträchtigt, verfolgt o<strong>der</strong> vergiftet zu werden. Sie<br />

helfen ihnen, das Durcheinan<strong>der</strong> ihrer Gedanken wie<strong>der</strong> zu ordnen und die Kontrolle<br />

über die eigenen Gefühle zurückzugewinnen. Sie tragen günstigenfalls dazu bei,<br />

ihnen ein Stück innerer Ruhe zu ver<strong>mit</strong>teln, die sie in dieser Situation dringend<br />

brauchen.<br />

Gewiss, Psychopharmaka sind nicht ohne Nebenwirkungen. Aber auch hier gilt <strong>der</strong><br />

Grundsatz <strong>der</strong> gesamten Medizin: Wirksame Medikamente haben Nebenwirkungen.<br />

Die entscheidende Frage ist jene nach dem Risiko und dem Nutzen <strong>der</strong> Behandlung.<br />

Die Antwort fällt bei <strong>der</strong> akuten Psychose zugunsten <strong>der</strong> Behandlung <strong>mit</strong><br />

Neuroleptika aus. Ausnahmen mag es bei kurzen Episoden geben, die auch von<br />

allein abklingen würden. Ansonsten ist die Medikamentenbehandlung bei <strong>der</strong> akuten<br />

Psychose das einfachste, wirksamste, schnellste und schonendste Verfahren, den<br />

Kranken zu helfen.<br />

Psychotherapie hat in <strong>der</strong> akuten Phase <strong>der</strong> Erkrankung den Charakter einer<br />

begleitenden Therapie. Psychotherapie ist in dieser Phase vor allem Unterstützung,<br />

Führung, Ermutigung. Mit Abklingen <strong>der</strong> akuten <strong>Krankheit</strong>sepisode nimmt sie mehr<br />

Platz ein. Im Rahmen <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung kann dann die<br />

Medikamentenbehandlung zur unterstützenden, die Psychotherapie zur führenden<br />

Behandlung werden. In dieser Phase hilft sie den Kranken bei <strong>der</strong> Bewältigung des<br />

<strong>Krankheit</strong>ser<strong>leben</strong>s, <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>serfahrung und <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>sfolgen. Sie hilft<br />

ihnen, ihre Lebenssituation zu klären, ihre Persönlichkeit und ihre Gefühlswelt auf<br />

dem Hintergrund <strong>der</strong> psychotischen Erkrankung zu entwickeln. Sie hilft ihnen auch,<br />

ihre individuelle Verletzlichkeit zu erkunden und nach Wegen zu suchen, <strong>mit</strong> ihr<br />

umzugehen und <strong>Krankheit</strong>srückfällen vorzubeugen. Alles dies macht die<br />

<strong>med</strong>ikamentöse Unterstützung nicht überflüssig. Die langzeitige<br />

Medikamentenbehandlung kann im Gegenteil eine wirksame Grundlage <strong>der</strong><br />

55


Rückfallprophylaxe sein und ist dies in sehr vielen Fällen auch tatsächlich.<br />

Soziotherapie ist nicht so eindeutig abzugrenzen und einzuordnen wie<br />

Medikamentenbehandlung und Psychotherapie. Ein bewusst gestaltetes<br />

therapeutisches Milieu ist in allen <strong>Krankheit</strong>sphasen sinn- und hilfreich. Ergotherapie,<br />

Musiktherapie, künstlerische Gestaltung und an<strong>der</strong>e kreative und aktivierende<br />

Betätigungen aller Art gehören vor allem im Krankenhaus zum Standard<br />

psychiatrischer Therapie. Im therapeutischen Alltag gewinnen sehr viel banalere<br />

Aspekte zentrale Bedeutung: Die Strukturierung <strong>der</strong> Zeit, Betätigung o<strong>der</strong> Arbeit, die<br />

eigene Wohnung und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie entscheiden<br />

neben <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>ssymptomatik, <strong>der</strong> Bereitschaft o<strong>der</strong> dem Vermögen <strong>der</strong><br />

Kranken, an <strong>der</strong> Behandlung <strong>mit</strong>zuwirken, neben Medikamenten und Psychotherapie<br />

über den langfristigen Verlauf und den Ausgang <strong>der</strong> Psychose.<br />

Da<strong>mit</strong> ist das Feld abgesteckt. Darüber hinaus braucht es vor allem Beharrlichkeit<br />

und Geduld – und viel Zeit.<br />

56


7 Die akute Psychose. Die Behandlung <strong>der</strong> Kranken<br />

In <strong>der</strong> Theorie ist die Behandlung <strong>der</strong> akuten Psychose einfach. Eine akute<br />

schizophrene Psychose könne je<strong>der</strong> behandeln, habe ich in meiner Zeit als Chef<br />

eines psychiatrischen Landeskrankenhauses immer wie<strong>der</strong> gegenüber meinen<br />

Universitätskollegen betont. Gemeint war allerdings: im Vergleich zur chronisch<br />

rezidivierenden Verlaufsform, um die sich Akutkliniken oft nur wi<strong>der</strong>willig kümmern.<br />

Außerdem unterscheidet die Theorie sich, wie wir alle wissen, in vieler Hinsicht von<br />

<strong>der</strong> Praxis, vom psychiatrischen Alltag.<br />

Im Alltag ist die akute schizophrene Psychose vorrangig die Domäne <strong>der</strong><br />

Medikamentenbehandlung. Neben dem selbstverständlichen Angebot eines<br />

beruhigenden und entängstigenden Milieus und <strong>der</strong> psychologischpsychotherapeutischen<br />

Stützung und Führung hat die Neuroleptika-Behandlung in<br />

<strong>der</strong> akuten Psychose Vorrang. Das gilt in beson<strong>der</strong>er Weise, wenn die produktive<br />

Symptomatik <strong>mit</strong> Angst, Denkstörungen, Wahn, Halluzinationen und Zuständen <strong>der</strong><br />

Erregung im Vor<strong>der</strong>grund steht. Das gilt aber auch beim Überwiegen von affektiven<br />

Störungen, von Störungen des Gefühlser<strong>leben</strong>s. Bei sog. negativen Symptomen <strong>mit</strong><br />

Vermin<strong>der</strong>ung des Antriebs, Apathie und sozialem Rückzug sowie bei Störungen des<br />

Wollens und des Handelns allerdings gerät die Medikamentenbehandlung an ihre<br />

Grenzen. Sie sind vor allem sie Domäne <strong>der</strong> Soziotherapie in Form von andauern<strong>der</strong><br />

sozialer Stimulation (s.u. S. ...)<br />

Neuroleptika wirken – insbeson<strong>der</strong>e bei Ersterkrankungen – im frühen Stadium auch<br />

in geringen Dosen recht zuverlässig auf die produktiven Symptome. Unter ihrer<br />

Einwirkung verschwindet als Erstes die Angst, später allmählich die Halluzinationen<br />

und die Störungen des Denkens. Die Wahngewissheit löst sich auf. Der Rückkehr in<br />

die Realität <strong>der</strong> Lebenswelt <strong>der</strong> gesunden An<strong>der</strong>en wird <strong>der</strong> Weg gebahnt.<br />

57


Dies ist das Feld, wo Neuroleptika bei richtiger Anwendung segensreich wirken und<br />

je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Behandlungsmethode überlegen sind. Richtige Anwendung bedeutet:<br />

Angemessene (niedrige) Anfangsdosierung, Ausbalancierung von Wirkungen und<br />

Nebenwirkungen, Absprache und Aussprache <strong>mit</strong> den Kranken darüber, wo immer<br />

möglich. Richtige Anwendung bedeutet nicht, die Symptome <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> möglichst<br />

rasch <strong>mit</strong> möglichst hohem Medikamenteneinsatz wegzudrücken. Die Symptome<br />

sind Zeichen <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>. Sie sind nicht die <strong>Krankheit</strong> selbst. Durch die<br />

Behandlung <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>ssymptome werden die Kranken in die Lage versetzt, sich<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Psychose, wie sie sie er<strong>leben</strong> und wie sie sie beeinträchtigt, auseinan<strong>der</strong> zu<br />

setzen und sie im günstigen Fall zu bewältigen.<br />

Daraus lässt sich ableiten, dass Medikamentenbehandlung sich nicht in <strong>der</strong><br />

schematischen Verabreichung einer chemisch wirksamen Substanz <strong>mit</strong> dem Ziel des<br />

Ausgleichs <strong>der</strong> Neurotrans<strong>mit</strong>ter-Balance erschöpft. Sie ist vielmehr ein komplexer<br />

therapeutischer Ansatz, in den psychotherapeutische und soziotherapeutische<br />

Elemente von Anfang an eingebunden sein müssen.<br />

In dieser Phase <strong>der</strong> Behandlung entscheidet sich häufig die künftige<br />

Grundeinstellung <strong>der</strong> Kranken zur Psychiatrie, zu den Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Medikamentenbehandlung, zu spezifischen Substanzen und – das ist das Wichtigste<br />

– zur <strong>Krankheit</strong> selbst. Sie ist von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung dafür, ob die Kranken<br />

sich <strong>der</strong> Psychose und <strong>der</strong> Behandlung) hilflos ausgeliefert fühlen; o<strong>der</strong> ob sie sie als<br />

etwas begreifen, dem sie sich stellen können und müssen; <strong>mit</strong> dem sie sich aktiv<br />

auseinan<strong>der</strong> setzen können und das sie allein o<strong>der</strong> <strong>mit</strong> frem<strong>der</strong> Hilfe ganz o<strong>der</strong><br />

teilweise bewältigen und überwinden können. Wir wissen auch, dass negative<br />

Erfahrungen <strong>mit</strong> Neuroleptika in dieser Phase prägend sind.<br />

Zuwendung<br />

Wer in <strong>der</strong> akuten Phase <strong>der</strong> Ersterkrankung die therapeutische Zuwendung von<br />

Pflegern und Schwestern, Ärztinnen und Ärzten positiv erlebt hat, wer in dieser Zeit<br />

gespürt hat, wie die Medikamente dazu beigetragen haben, ihn zunächst zu<br />

58


entängstigen, dann das psychotische Er<strong>leben</strong> mehr und mehr zu kontrollieren und<br />

später, sich davon zu distanzieren, wird die <strong>Krankheit</strong> und die Psychiatrie ganz<br />

an<strong>der</strong>s betrachten als jemand, <strong>der</strong> von vornherein als unmündiger, unselbstständiger<br />

Patient ohne entsprechende stützende und ver<strong>mit</strong>telnde Zuwendung <strong>mit</strong> hohen<br />

Dosen von Medikamenten »beruhigt« worden ist, ohne dass er viel gefragt wurde.<br />

Solche Patientinnen und Patienten berichten in <strong>der</strong> Rückschau nicht selten davon,<br />

dass die Medikamente für sie schlimmer waren als die <strong>Krankheit</strong>. Sie berichten über<br />

quälende Nebenwirkungen, über denen sie die ängstigenden und bedrückenden<br />

<strong>Krankheit</strong>ssymptome gar nicht mehr gespürt haben – also auch <strong>der</strong>en Rückgang<br />

unter <strong>der</strong> Medikamenteneinwirkung nicht. Sie sind diejenigen Kranken, die später<br />

erzählen werden, die Behandlung sei schlimmer als die <strong>Krankheit</strong> gewesen. Es ist<br />

leicht einzusehen, dass die negative Haltung, die sich aus dieser Erfahrung<br />

entwickelt, ein erheblicher komplizieren<strong>der</strong> Faktor für den weiteren <strong>Krankheit</strong>sverlauf<br />

ist. Bei diesen Patienten ist kaum da<strong>mit</strong> zu rechnen, dass sie sich zu einer<br />

regelmäßigen rückfallprophylaktischen Medikation bereit finden – eher schon, dass<br />

sie die Neuroleptika absetzen, sobald sie aus <strong>der</strong> Klinik entlassen worden sind. Bei<br />

diesen Patienten ist aber auch kaum zu erwarten, dass sie die Haltung <strong>der</strong><br />

beteiligten Therapeutinnen und Therapeuten ihnen gegenüber als verständnisvoll<br />

erlebt haben.<br />

Frühes Einbeziehen <strong>der</strong> Kranken<br />

Was bedeutet das für die Praxis Es bedeutet, dass wir versuchen müssen, die<br />

Psychosekranken von dem Augenblick an, in dem sie sich in unsere Behandlung<br />

begeben – o<strong>der</strong> in diese gebracht werden – wo immer möglich in die Gestaltung ihrer<br />

Behandlung einbeziehen, die von uns geplanten und veranlassten Maßnahmen<br />

erklären und die Zustimmung <strong>der</strong> Kranken dafür einholen. Es bedeutet aber auch,<br />

dass wir vor allem bei krankheitsunerfahrenen Patientinnen und Patienten vom<br />

ersten Augenblick an versuchen müssen, eine möglichst schonende Form <strong>der</strong><br />

<strong>med</strong>ikamentösen Intervention zu praktizieren. Gehen wir vom psychopathologischen<br />

59


Bild aus, ist dieses, außer im akuten psychomotorischen Erregungszustand, fast<br />

immer möglich.<br />

Die früher übliche Praxis, bei <strong>der</strong> Aufnahme mehr o<strong>der</strong> weniger undifferenziert<br />

hochpotente und nie<strong>der</strong>potente Neuroleptika, hochdosiert zu verabreichen, um für<br />

Ruhe zu sorgen, sollte überwunden sein. Wenn eine entängstigende, beruhigende<br />

Medikation anfangs erfor<strong>der</strong>lich ist, so kann sie neben <strong>der</strong> Verabreichung eines<br />

Neuroleptikums genauso wirksam, aber sehr viel schonen<strong>der</strong> durch Tranquilizer<br />

herbeigeführt werden, etwa durch Diazepam, (Valium) o<strong>der</strong> Lorazepam (Tavor,<br />

Temesta), die beide auch injiziert werden können. Wenn diese auf die Zeit <strong>der</strong><br />

akuten Krise beschränkt ist, besteht auch kein Abhängigkeitsrisiko.<br />

Zeit<br />

Was bei <strong>der</strong> Depressionsbehandlung als Selbstverständlichkeit gilt, was<br />

Medizinstudentinnen und -studenten bereits in <strong>der</strong> ersten Psychiatrie-Vorlesung<br />

lernen, scheint im Hinblick auf die <strong>Schizophrenie</strong>therapie bislang nicht ausreichend<br />

zur Kenntnis genommen worden zu sein: Neuroleptikabehandlung braucht Zeit. Nur<br />

die Sedierung bei Angst und Erregung ist rasch erreichbar. Alle an<strong>der</strong>en Symptome<br />

mil<strong>der</strong>n sich günstigenfalls nach Tagen. Zurückbilden werden sie sich erst nach<br />

Wochen. Diese Phase des geduldigen Wartens lässt sich nicht durch höhere<br />

Medikamentendosen verkürzen. Dagegen ist sie an<strong>der</strong>weitig sehr gut therapeutisch<br />

nutzbar. Wenn die Angst nachlässt, wenn die Kranken sich ihren Symptomen und<br />

ihrem entfremdeten Er<strong>leben</strong> nicht mehr im vollen Umfang ausgeliefert fühlen, ist <strong>der</strong><br />

richtige Zeitpunkt für das eingehende Gespräch über die <strong>Krankheit</strong> da.<br />

Das gilt vor allem, wenn eine Ersterkrankung vorliegt. Dann müssen wir davon<br />

ausgehen, dass die Betroffenen bis dahin kaum eine Chance gehabt haben,<br />

wahrzunehmen, dass das, worunter sie leiden, eine <strong>der</strong> <strong>med</strong>izinischen Behandlung<br />

zugängliche <strong>Krankheit</strong> ist. Im Gegenteil, wir können es als recht wahrscheinlich<br />

annehmen, dass sie sich bis dahin von etwas überwältigt fühlten, das sie ihrem<br />

»Wesen«, ihrem durch Herkunft und Erziehung ver<strong>mit</strong>telten Er<strong>leben</strong> und<br />

Bewusstsein entfremdet hat, das massiv in ihre Lebenswelt eingebrochen ist und sie<br />

ratlos gemacht hat. Wir nennen das fehlende <strong>Krankheit</strong>seinsicht.<br />

60


Aber dieser Begriff ist, so richtig er »objektiv« – also in <strong>der</strong> Außenschau – auch<br />

erscheinen mag, unzulänglich und unangemessen. Die Psychose befällt genau jene<br />

Fähigkeiten des Menschen, die es ihm erlauben, seiner selbst und seiner Stellung in<br />

<strong>der</strong> Welt gewiss zu sein – gegenüber an<strong>der</strong>en Menschen wie gegenüber sich selbst.<br />

Mit an<strong>der</strong>en Worten: Es sind Fähigkeiten erkrankt, die es ihm in gesunden Tagen<br />

erlauben würden, zu erkennen, dass er krank ist. Deshalb drängt es sich auf, dieses<br />

scheinbare Paradox aufzulösen, sobald <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> Kranken das möglich macht.<br />

Erfahrung <strong>der</strong> Krise<br />

Die beste Zeit dazu ist jene Phase, in <strong>der</strong> die Psychose die Kranken nicht mehr<br />

überwältigt, in <strong>der</strong> sie ihren Zugriff aber noch in aller Deutlichkeit spüren. Es ist in<br />

mancher Hinsicht ähnlich wie in <strong>der</strong> Krisenintervention. Die Erfahrung <strong>der</strong> Krise<br />

macht die Patientinnen und Patienten therapeutisch zugänglicher als sie dies in<br />

»normalen« Lebenssituationen sind. Die Erschütterung durch die Psychose, das<br />

Nicht-sicher-Sein, ob eine Wahrnehmung, eine Idee, eine Beobachtung »real« ist, ob<br />

sie real sein kann o<strong>der</strong> nicht, macht es den Psychosekranken erst möglich, den<br />

erlebten psychotischen <strong>Krankheit</strong>szustand als »fremd«, als aufgezwungen, als »nicht<br />

normal«, zuletzt auch als <strong>Krankheit</strong> zu er<strong>leben</strong>, einzuordnen und zu begreifen. Dies<br />

ist bereits kognitiv ein schwieriger Prozess.<br />

Das ist es aber nicht allein. Eine erfolgreiche Bewältigung ist <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis<br />

verbunden, dass man psychisch krank ist. Das wie<strong>der</strong>um bedeutet eine zweite ganz<br />

reale Erschütterung <strong>der</strong> eigenen psychosozialen Identität. Man muss sich selbst<br />

gegenüber zugeben, dass man an einer ernsten <strong>Krankheit</strong> leidet, die mannigfachen<br />

gesellschaftlichen Vorbehalten unterworfen ist, die stigmatisiert ist – und zwar nicht<br />

<strong>mit</strong> Vorurteilen und Vorbehalten, die man so einfach zurückweisen kann, son<strong>der</strong>n die<br />

man in gesunden Tagen selbst geteilt hat, die man bei Licht betrachtet auch jetzt<br />

noch teilt. Mit an<strong>der</strong>en Worten, das Selbstbild nimmt Schaden. Nachdem die eigene<br />

Identität durch die Psychose in hohem Maße verletzlich geworden ist, wird sie durch<br />

das erlebte soziale Stigma zusätzlich beschädigt.<br />

61


Psychoedukation<br />

Betrachtet man alles dies zusammen, so ist die Erkenntnis unausweichlich, dass<br />

Therapeuten und Patienten in dieser Phase <strong>der</strong> Erkrankung <strong>mit</strong> einer gewaltigen<br />

Aufgabe konfrontiert sind. Diese fällt auch dann nicht in sich zusammen, wenn die<br />

psychotische Symptomatik sich unter <strong>der</strong> Medikamentenbehandlung zurückbildet<br />

und die Psychose scheinbar folgenlos ausheilt. Man muss in diesem Zusammenhang<br />

»scheinbar« sagen, denn die Erschütterung durch das Erlebnis <strong>der</strong> Psychose bleibt<br />

in jedem Fall. Betrachtet man die therapeutischen Aufgaben im Einzelnen, so kann<br />

man folgende Schritte unterscheiden:<br />

- Klärende Unterstützung bei <strong>der</strong> Suche nach einer verlässlichen Wahrnehmung <strong>der</strong><br />

eigenen Wirklichkeit.<br />

- Hilfe bei <strong>der</strong> Abtastung <strong>der</strong> jeweiligen Position und des jeweiligen Er<strong>leben</strong>s<br />

zwischen eigener Wirklichkeit und <strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.<br />

- Fortwährende Klärung, worum es sich bei den erlebten o<strong>der</strong> wahrgenommenen<br />

Einzelphänomenen handelt und worum nicht: Angst, Wahn, Halluzinationen, Apathie.<br />

Benennung dieser Phänomene <strong>mit</strong> umgangssprachlichen und <strong>mit</strong> <strong>med</strong>izinischen<br />

Begriffen.<br />

- Klärung und Aufklärung, dass es sich dabei um Krankhaftes gehandelt hat bzw.<br />

immer noch handelt und dass dieses Krankhafte beschreibbar ist.<br />

- Benennung <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>; schonende Aufklärung über die Diagnose; allgemeine<br />

schonende, aber umfangreiche Aufklärung über die Art <strong>der</strong> Erkrankung, ihre<br />

Einordnung in den Bereich <strong>der</strong> psychischen Störungen, ihre möglichen<br />

Verlaufsformen, ihre Prognose, die therapeutischen Möglichkeiten und die Chance,<br />

durch aktive Auseinan<strong>der</strong>setzung selbst auf den Verlauf einzuwirken.<br />

Aufklärung über die Diagnose heißt auch, dass das Wort <strong>Schizophrenie</strong>,<br />

schizophrene Psychose o<strong>der</strong> Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis<br />

irgendwann fallen muss. Für den Alltag reicht es, von psychischer Störung o<strong>der</strong> von<br />

Psychose zu sprechen. Aber <strong>der</strong> Schrecken, den die Benennung <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> als<br />

<strong>Schizophrenie</strong> immer noch auslöst, darf kein Grund sein, den Kranken die<br />

62


wissenschaftliche Bezeichnung ihrer Störung auf Dauer vorzuenthalten, zumal sie sie<br />

irgendwann doch erfahren und dann womöglich unter brutalen Umständen. Das<br />

bedeutet aber nicht, dass die Aufklärung während <strong>der</strong> akuten floriden Psychose<br />

gleichsam gegen den Willen des wi<strong>der</strong>strebenden Patienten erfolgen darf.<br />

Dies sind Schritte <strong>der</strong> Aufklärung, die man heute unter <strong>der</strong> Überschrift<br />

»Psychoinformation« o<strong>der</strong> »Psychoedukation« zusammenfasst. Sie sind<br />

verständlicherweise keine Angelegenheit einer einzelnen therapeutischen Sitzung.<br />

Sie bedürfen <strong>der</strong> Geduld, des Fingerspitzengefühls, <strong>der</strong> Empathie und: sie müssen<br />

vor allen Dingen viele Male wie<strong>der</strong>holt werden. In diesen Rahmen gehört auch die<br />

Grundlegung für die Stigmabewältigung, für die Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> befürchteten<br />

und realen Vorurteilen<br />

Psychotherapie<br />

All das ist im weiteren Sinne Psychotherapie. Das mag diejenigen überraschen, die<br />

unter Psychotherapie ein systematisches Verfahren auf dem Hintergrund eines<br />

geschlossenen theoretischen Konzeptes und definierter Behandlungstechniken<br />

begreifen. Aber dieses Vorgehen entspricht <strong>der</strong> klassischen Definition Hans<br />

Strotzkas (1975) von Psychotherapie, die von <strong>der</strong> Deutschen Gesellschaft für<br />

Psychotherapeutische Medizin als »nach wie vor gültig« bezeichnet wird:<br />

»Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter interaktionärer Prozess zur<br />

Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem<br />

Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für<br />

behandlungsbedürftig gehalten werden, <strong>mit</strong> psychologischen Mitteln (durch<br />

Kommunikation) meist verbal, aber auch averbal in Richtung auf ein definiertes, nach<br />

Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung) und/o<strong>der</strong><br />

Strukturän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Persönlichkeit) <strong>mit</strong>tels lehrbarer Techniken auf <strong>der</strong> Basis einer<br />

Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens. In <strong>der</strong> Regel ist dazu eine<br />

tragfähige emotionale Bindung notwendig.«<br />

63


Auf dem Hintergrund dieser Definition (die trotz reichlicher Fremdwörtern<br />

verständlich sein sollte), wird allerdings deutlich, dass zum psychotherapeutischen<br />

Umgang <strong>mit</strong> Psychosekranken in <strong>der</strong> beginnenden Besserungsphase sowohl im<br />

Hinblick auf die Theorie wie im Hinblick auf die Praxis noch einiges an Nachdenken<br />

ansteht. Während <strong>der</strong> akuten Psychose ist es entscheidend, dass ganz einfache<br />

Formen psychotherapeutischer Betreuung und Begleitung im Vor<strong>der</strong>grund stehen:<br />

Zuhören, gut Zureden, Beruhigung, Zuwendung, Trost, Unterstützung bei <strong>der</strong> Suche<br />

nach Realität und Abgrenzung.<br />

Milieutherapie<br />

In <strong>der</strong> Begleitung von Kranken und ihren Angehörigen überschneiden sich<br />

psychotherapeutische und soziotherapeutische Ansätze. In <strong>der</strong> Tat haben<br />

Pharmakotherapie und Psychotherapie, wie oben geschil<strong>der</strong>t, in <strong>der</strong> Akutphase<br />

gegenüber spezifischen soziotherapeutischen Maßnahmen den Vorrang. Das<br />

bedeutet nicht, dass <strong>der</strong> soziotherapeutische Zugang im Sinne <strong>der</strong> Gestaltung des<br />

therapeutischen Milieus in dieser Phase ohne Bedeutung ist. Soziotherapie<br />

konzentriert sich in dieser Phase vor allem auf das Angebot eines schonenden,<br />

beruhigenden, klar strukturierten menschenwürdigen Behandlungsmilieus <strong>mit</strong><br />

einzelnen aktivierenden Elementen wie Ergotherapie.<br />

Ein solches Milieu soll dadurch gekennzeichnet sein, dass vermeidbare soziale<br />

Belastungen von den Kranken ferngehalten werden, dass sie in sozialen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen nicht überfor<strong>der</strong>t werden, dass die Bearbeitung von Alltagskonflikten<br />

zurückgestellt wird, dass sozialer Rückzug bis zu einem gewissen Grade und für eine<br />

begrenzte Zeit erlaubt und sogar erwünscht ist, dass die Anfor<strong>der</strong>ungen an das<br />

Alltags<strong>leben</strong> auf einer psychiatrischen Akutstation möglichst wenig wi<strong>der</strong>sprüchlich<br />

und klar verständlich sind.<br />

Das bedeutet auch, dass möglichst wenige unterschiedliche Mitarbeiter an einem<br />

Patienten o<strong>der</strong> einer Patientin herumtherapieren sollten. Ein behandeln<strong>der</strong> Arzt soll<br />

verantwortlich sein, ein Bezugspfleger o<strong>der</strong> eine Bezugsschwester soll ihn<br />

gemeinsam und in Absprache <strong>mit</strong> diesem Arzt o<strong>der</strong> dieser Ärztin betreuen.<br />

Therapeutische Entscheidungen sollen im Konsens zwischen den Kranken und den<br />

64


Therapeuten erarbeitet werden.<br />

Das bedeutet nicht, dass es in einem solchen therapeutischen Milieu keine<br />

Hausordnung und keinen geregelten Tagesablauf geben soll. Im Gegenteil, die<br />

Klarheit <strong>der</strong> Strukturen verlangt das. Aber an<strong>der</strong>s als im restriktiven Milieu <strong>der</strong> guten<br />

alten psychiatrischen Überwachungsstation, ist es möglich, individuelle Lösungen <strong>mit</strong><br />

den Kranken zu finden, in denen festgestellt wird: In <strong>der</strong> Regel steht man hier um<br />

sieben Uhr morgens auf, frühstückt um acht und geht um neun in die<br />

Beschäftigungstherapie.<br />

Aber im Einzelfall kann es sein, dass jemand zu krank, zu verletzlich, zu<br />

schonungsbedürftig ist, um sich zum gegebenen Zeitpunkt diesen Regeln und diesen<br />

Pflichten zu unterwerfen. Die Deklaration <strong>der</strong> Ausnahme zur Regel gehört zum<br />

Transparentmachen eines strukturierten Milieus. Während des therapeutischen<br />

Fortschrittes im weiteren Verlauf gehört die Fähigkeit, sich den Regeln zu<br />

unterwerfen, resp. ihre Einhaltung zu bewältigen zu den äußeren Zeichen <strong>der</strong><br />

Besserung. Zugleich ver<strong>mit</strong>teln die Strukturen des Stationsmilieus Hilfe bei <strong>der</strong><br />

Gestaltung <strong>der</strong> inneren Ordnung von Gefühlen und Verhalten.<br />

Keine Alternativen<br />

Zu diesem Konzept <strong>der</strong> integrierten Behandlung schizophrener Psychosen gibt es<br />

keine Alternativen. Es gibt keine ursächliche Psychotherapie <strong>der</strong> Psychosen, auch<br />

wenn dies eine verbreitete Volksmeinung ist. Es gibt auch keine<br />

milieutherapeutischen Ansätze, die in verantwortbarer Weise regelmäßig auf<br />

Psychopharmaka verzichten können. Auch die Soteria Bern, die in den letzten<br />

Jahren von sich reden gemacht hat, ist keine allgemein gültige Alternative. Es<br />

handelt sich dabei um ein Modellprojekt, das zunächst als Forschungseinheit<br />

entstanden war. In <strong>der</strong> Soteria wurden und werden ausgewählte Patienten<br />

behandelt: Ersterkrankte, die freiwillig in Behandlung kommen. Während <strong>der</strong><br />

Behandlungsphase werden tatsächlich weniger Medikamente eingesetzt als im<br />

konventionellen psychiatrischen Rahmen. Aber ganz auf Medikamente verzichten<br />

können auch die Therapeutinnen und Therapeuten dieses Modellprojektes entgegen<br />

65


ihren ursprünglichen Vorstellungen nicht. Insbeson<strong>der</strong>e im Hinblick auf die<br />

längerzeitige Behandlung setzen sie sehr wohl Neuroleptika ein.<br />

Für die Vermin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Medikamentendosis zahlen sie einen hohen Preis. Die<br />

Verweildauer in <strong>der</strong> Soteria ist etwa doppelt so lange wie im konventionellen<br />

psychiatrischen Rahmen. Ob das erstrebenswert ist, ob das für den weiteren<br />

Behandlungsverlauf günstig ist, darf zumindest gefragt werden. Gefragt werden darf<br />

auch, ob das Durchleiden <strong>der</strong> Psychose und <strong>der</strong> Verzicht auf Medikamente in <strong>der</strong><br />

Anfangsphase die positive Wirkung hat, die sich die Träger des Projektes davon<br />

versprechen. Uneingeschränkt positiv zugunsten des Soteria-Konzeptes können nur<br />

Antworten von Menschen ausfallen, die Medikamente unter allen Voraussetzungen<br />

für schädlich halten. Die sind unter Fachleuten die Ausnahme. Aber auch unter den<br />

Patienten und Patientinnen <strong>mit</strong> Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis<br />

stellen sie eine Min<strong>der</strong>heit dar.<br />

Über Behandlung verhandeln<br />

Dass Therapeuten nicht vor <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> verzagen sollen, die zu behandeln ihre<br />

Aufgabe ist, gehört zu den Banalitäten des ärztlichen Handwerks. Dass Angehörige<br />

ihrer Rolle als Unterstützer und Helfer besser gerecht werden können, wenn sie<br />

selbst emotional stabil sind, versteht sich von selbst. Dass es auch gilt, die Kranken<br />

selbst für die Mitarbeit an <strong>der</strong> Therapie zu gewinnen, ist nicht so selbstverständlich.<br />

Das ist eine Erkenntnis <strong>der</strong> letzten Jahre.<br />

Früher ist die Patientenrolle in <strong>der</strong> Psychiatrie wie auch in <strong>der</strong> Allgemein<strong>med</strong>izin eher<br />

als eine passive begriffen worden. Der Gedanke, dass die Kranken selbst <strong>mit</strong>wirken<br />

können, hat sich zunächst in <strong>der</strong> Psychotherapie und in <strong>der</strong> Rehabilitations<strong>med</strong>izin<br />

ausgebreitet. Inzwischen sollte allen Beteiligten klar sein, dass es bei <strong>der</strong> Gefahr<br />

eines langzeitigen <strong>Krankheit</strong>sverlaufes unabdingbar ist, dass Therapeuten und<br />

Kranke <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> kooperieren, dass sie den besten gangbaren Weg suchen, dass<br />

Therapeuten und Kranke gemeinsam nach den Ressourcen an gesunden Kräften<br />

und an Verletzlichkeiten und Unzulänglichkeiten fahnden, um die bestmögliche und<br />

tragfähigste Form <strong>der</strong> Behandlung auszuloten.<br />

66


Es kann heutzutage nicht mehr angehen, dass Therapeuten sich auf die Vorstellung<br />

von <strong>der</strong> fehlenden <strong>Krankheit</strong>seinsicht bei <strong>Schizophrenie</strong>kranken zurückziehen. Es<br />

mag schon sein, dass viele Kranke Schwierigkeiten haben zu begreifen, dass das,<br />

was <strong>mit</strong> ihnen geschieht, was sich in ihnen abspielt, aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Medizin<br />

<strong>Krankheit</strong> ist und dass man ihnen <strong>mit</strong> <strong>med</strong>izinischen Mitteln helfen kann. Es ist<br />

Aufgabe <strong>der</strong> Therapeutinnen und Therapeuten, ihnen das zu verdolmetschen und die<br />

fehlende <strong>Krankheit</strong>seinsicht nicht als unverän<strong>der</strong>bares Symptom eigener Art stehen<br />

zu lassen. Manchmal bedarf es vieler Anläufe, um das zu erreichen.<br />

.<br />

Kann man eine <strong>Krankheit</strong> behandeln, <strong>der</strong>en Ursache man nicht kennt<br />

Viel von <strong>der</strong> Resignation gegenüber <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> <strong>Schizophrenie</strong> und ein<br />

beträchtlicher Teil des Mythos’ von <strong>der</strong> Unheilbarkeit hängen da<strong>mit</strong> zusammen, dass<br />

wir die Ursache <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> nicht kennen. Das Bedürfnis <strong>der</strong> Menschen nach<br />

Erklärungen ist unerschöpflich. Es wäre vermutlich hilfreich, wenn wir wüssten, auf<br />

welche Weise die <strong>Schizophrenie</strong> entsteht. Aber es wäre um die gesamte Medizin<br />

schlecht bestellt, wenn sie sich auf die Behandlung von <strong>Krankheit</strong>en beschränken<br />

müsste, <strong>der</strong>en Ursachen bekannt sind. Außer den Infektionskrankheiten sind es nur<br />

wenige an<strong>der</strong>e Leiden, <strong>der</strong>en Ursachen man wirklich von Grund auf kennt. Über die<br />

meisten an<strong>der</strong>en ist das Wissen begrenzt. Aber dieses begrenzte Wissen genügt, um<br />

in das Gefüge <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> einzugreifen, ihren Verlauf zu beeinflussen, die<br />

Selbstheilungskräfte des menschlichen Körpers zu stärken und günstigenfalls eine<br />

Heilung zu erreichen.<br />

So ist das bei den Herzkreislauferkrankungen, beim Krebs, bei Magen- und<br />

Darmkrankheiten, beim Diabetes, <strong>der</strong> Hochdruckkrankheit und vielen an<strong>der</strong>en mehr.<br />

So ist das auch bei den meisten psychischen Störungen. Wir wissen nicht nichts. Wir<br />

wissen im Gegenteil eine ganze Menge über die beson<strong>der</strong>e Verletzlichkeit einiger<br />

Menschen, über die Rolle <strong>der</strong> Disposition (manche reden von »Vererbung«); und wir<br />

wissen inzwischen auch einiges über die Biochemie <strong>der</strong> Botenstoffe zwischen den<br />

Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen. Alles das zusammen ist genug, um <strong>mit</strong><br />

67


Medikamenten, <strong>mit</strong> Psychotherapie, <strong>mit</strong> sozialer Unterstützung und <strong>mit</strong> Training in<br />

den »natürlichen« Verlauf <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> einzugreifen.<br />

Manfred Bleuler, einer <strong>der</strong> großen <strong>Schizophrenie</strong>forscher <strong>der</strong> jüngeren<br />

Vergangenheit, geht in seiner wissenschaftlichen Lebensbilanz sogar noch weiter. Er<br />

schreibt: »Unsere Therapie wird oft als symptomatisch beurteilt, und viele glauben,<br />

dass sie durch eine ›echte‹ kausale Therapie ersetzt werden wird, sobald die<br />

Ursachen <strong>der</strong> Psychose entdeckt ist. Ich bin überzeugt, dass wir schon heute viel<br />

über die Ursache <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> wissen. Dieses Wissen erlaubt es uns, unsere<br />

Therapie im Hinblick auf die Genese <strong>der</strong> Psychose als angemessen, kausal und sehr<br />

wichtig anzusehen. Wir meinen, diese Therapie verdient es, weiterentwickelt und <strong>mit</strong><br />

einem Gefühl <strong>der</strong> Überzeugung angewendet zu werden.« (1982)<br />

Wege <strong>der</strong> Behandlung<br />

Die <strong>Schizophrenie</strong>therapie stützt sich heute auf drei zentrale Säulen, die<br />

Medikamentenbehandlung, die Psychotherapie und Verfahren <strong>der</strong> sozialen<br />

Behandlung, die gemeinhin Milieu- o<strong>der</strong> Soziotherapie genannt werden. Dahinter<br />

verbergen sich vielfältige Maßnahmen sozialer Unterstützung, Rehabilitation,<br />

Trainingsverfahren, Selbsthilfe, Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Hilfe bei <strong>der</strong><br />

Gestaltung freier Zeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und vieles an<strong>der</strong>e<br />

mehr.<br />

Die Psychotherapie wird gemeinhin an erster Stelle genannt. Im Alltag spielt sie<br />

lei<strong>der</strong> nicht die Rolle, die ihr zukommt. Im psychiatrischen Alltag hat vielmehr die<br />

Medikamentenbehandlung den ersten Platz. Viele Therapeuten räumen das nur<br />

ungern ein. Aber die Medikamente haben - vor allem in <strong>der</strong> Akutbehandlung - ihren<br />

zentralen Platz. In <strong>der</strong> akuten Psychose sind sie es, die die Kranken von ihrer Angst<br />

entlasten, von ihrer Furcht, beeinträchtigt, verfolgt o<strong>der</strong> vergiftet zu werden. Sie<br />

helfen ihnen, das Durcheinan<strong>der</strong> ihrer Gedanken wie<strong>der</strong> zu ordnen und die Kontrolle<br />

über die eigenen Gefühle zurückzugewinnen. Sie tragen günstigenfalls dazu bei,<br />

ihnen ein Stück innerer Ruhe zu ver<strong>mit</strong>teln, die sie in dieser Situation dringend<br />

brauchen.<br />

68


Gewiss, Psychopharmaka sind nicht ohne Nebenwirkungen. Aber auch hier gilt <strong>der</strong><br />

Grundsatz <strong>der</strong> gesamten Medizin: Wirksame Medikamente haben Nebenwirkungen.<br />

Die entscheidende Frage ist jene nach dem Risiko und dem Nutzen <strong>der</strong> Behandlung.<br />

Die Antwort fällt bei <strong>der</strong> akuten Psychose zugunsten <strong>der</strong> Behandlung <strong>mit</strong><br />

Neuroleptika aus. Ausnahmen mag es bei kurzen Episoden geben, die auch von<br />

allein abklingen würden. Ansonsten ist die Medikamentenbehandlung bei <strong>der</strong> akuten<br />

Psychose das einfachste, wirksamste, schnellste und schonendste Verfahren, den<br />

Kranken zu helfen.<br />

Psychotherapie hat in <strong>der</strong> akuten Phase <strong>der</strong> Erkrankung den Charakter einer<br />

begleitenden Therapie. Psychotherapie ist in dieser Phase vor allem Unterstützung,<br />

Führung, Ermutigung. Mit Abklingen <strong>der</strong> akuten <strong>Krankheit</strong>sepisode nimmt sie mehr<br />

Platz ein. Im Rahmen <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung kann dann die<br />

Medikamentenbehandlung zur unterstützenden, die Psychotherapie zur führenden<br />

Behandlung werden. In dieser Phase hilft sie den Kranken bei <strong>der</strong> Bewältigung des<br />

<strong>Krankheit</strong>ser<strong>leben</strong>s, <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>serfahrung und <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>sfolgen. Sie hilft<br />

ihnen, ihre Lebenssituation zu klären, ihre Persönlichkeit und ihre Gefühlswelt auf<br />

dem Hintergrund <strong>der</strong> psychotischen Erkrankung zu entwickeln. Sie hilft ihnen auch,<br />

ihre individuelle Verletzlichkeit zu erkunden und nach Wegen zu suchen, <strong>mit</strong> ihr<br />

umzugehen und <strong>Krankheit</strong>srückfällen vorzubeugen. Alles dies macht die<br />

<strong>med</strong>ikamentöse Unterstützung nicht überflüssig. Die langzeitige<br />

Medikamentenbehandlung kann im Gegenteil eine wirksame Grundlage <strong>der</strong><br />

Rückfallprophylaxe sein und ist dies in sehr vielen Fällen auch tatsächlich.<br />

Soziotherapie ist nicht so eindeutig abzugrenzen und einzuordnen wie<br />

Medikamentenbehandlung und Psychotherapie. Ein bewusst gestaltetes<br />

therapeutisches Milieu ist in allen <strong>Krankheit</strong>sphasen sinn- und hilfreich. Ergotherapie,<br />

Musiktherapie, künstlerische Gestaltung und an<strong>der</strong>e kreative und aktivierende<br />

Betätigungen aller Art gehören vor allem im Krankenhaus zum Standard<br />

psychiatrischer Therapie. Im therapeutischen Alltag gewinnen sehr viel banalere<br />

Aspekte zentrale Bedeutung: Die Strukturierung <strong>der</strong> Zeit, Betätigung o<strong>der</strong> Arbeit, die<br />

eigene Wohnung und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie entscheiden<br />

neben <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>ssymptomatik, <strong>der</strong> Bereitschaft o<strong>der</strong> dem Vermögen <strong>der</strong><br />

69


Kranken, an <strong>der</strong> Behandlung <strong>mit</strong>zuwirken, neben Medikamenten und Psychotherapie<br />

über den langfristigen Verlauf und den Ausgang <strong>der</strong> Psychose.<br />

Da<strong>mit</strong> ist das Feld abgesteckt. Darüber hinaus braucht es vor allem Beharrlichkeit<br />

und Geduld – und viel Zeit.<br />

70


8 Die akute Psychose. Die Begleitung <strong>der</strong> Angehörigen<br />

Parallel zur psychotherapeutischen Arbeit <strong>mit</strong> den Kranken vollzieht sich die<br />

Begleitung <strong>der</strong> Angehörigen. Diese hat im Ablauf mannigfache Ähnlichkeit <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Begleitung <strong>der</strong> Kranken. Der entscheidende Unterschied: In <strong>der</strong> Regel sind die<br />

Angehörigen in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Situation nicht durch psychotische<br />

Symptome beeinträchtigt. Sie sind dennoch häufig in hohem Maße verstört. Nur<br />

wenn man es selber erlebt hat, kann man das wirklichkeitsnah und authentisch<br />

ver<strong>mit</strong>teln.<br />

Wenn es los geht<br />

Ich zitiere im folgenden den Bericht einer Mutter über den Beginn <strong>der</strong> Erkrankung<br />

ihres Sohnes:<br />

"Er war damals sechzehn Jahre alt. Es begann da<strong>mit</strong>, dass er sich von <strong>der</strong><br />

Familie und den Klassenkameraden distanzierte und sich nur noch für bestimmte<br />

theologische Fragen interessierte. Er nahm Kontakt zu den 'Zeugen Jehovas' auf<br />

und lernte schliesslich die sogenannten 'Kin<strong>der</strong> Gottes kennen'. Aber zu <strong>der</strong> Zeit<br />

ging es ihm bereits so schlecht, dass er manchmal nicht mehr wusste, wer er<br />

war....<br />

Als mein Mann unserem Sohn die schriftliche Einwilligung, <strong>mit</strong> den Kin<strong>der</strong>n<br />

Gottes ziehen zu dürfen, nicht geben wollte, kam es zu einer schrecklichen<br />

Szene. Einen Tag später liess er sich von mir in die Sprechstunde eines<br />

Nervenarztes bringen... Die Medikamente nahm unser Sohn nicht und den<br />

Kontakt zu den Kin<strong>der</strong>n Gottes liess er sich nicht verbieten. An einem Sonntag<br />

fuhr er <strong>mit</strong> dem Rad weg und kam nicht wie<strong>der</strong> nach Hause. In hilflosem Zustand<br />

wurde er abends von <strong>der</strong> Hamburger Polizei auf dem Flughafen aufgegriffen. Als<br />

mein Mann und ich ihn von <strong>der</strong> Polizeistation abholten, wo er die Nacht in einer<br />

Zelle hatte verbringen müssen, fühlte er sich so krank, dass er bereit war, sich im<br />

Krankenhaus behandeln zu lassen...<br />

71


Es ist schwer zu schil<strong>der</strong>n, wie es in <strong>der</strong> Zeit bis zur ersten Einweisung um die<br />

Familie stand. Wir hatten alle noch nie einem psychisch Kranken zu tun gehabt.<br />

Deswegen waren wir uns lange nicht klar, ob unser Junge lediglich in einer<br />

schweren Pubertätskrise steckte o<strong>der</strong> ob <strong>mit</strong> ihm 'irgend etwas' nicht stimmt, wie<br />

man so sagt... Immer offensichtlicher wurde die Verän<strong>der</strong>ung im Wesen des<br />

Sohnes. Er mied uns alle, schlich im Haus herum, schloss sich stundenlang in<br />

seinem verdunkelten Zimmer ein und erzählte mir schliesslich von Stimmen, die<br />

ihn beschimpften. Wir hatten grosse Angst um ihn. Am nächsten Tag ... erhielt<br />

die <strong>Krankheit</strong> ihren Namen. Zu Hause blätterte mein Mann im<br />

Konversationslexikon nach, um zu erfahren, was <strong>Schizophrenie</strong> eigentlich für<br />

eine <strong>Krankheit</strong> sei. Was da stand, machte uns fassungslos. Eine junge Ärztin<br />

erklärte uns, dass es keine Therapie gäbe, die Heilung verspreche. Immerhin sei<br />

Heilung möglich."<br />

Was Rose Marie Seelhorst (1984) hier beschreibt, ist in vielfacher Hinsicht typisch.<br />

Typisch ist auch die Reaktion, die Wolfgang Gottschling (199x.) in dem von Heinz Deger-<br />

Erlenmeyer herausgegebenen Buch" Wenn nichts mehr ist, wie es war" in <strong>der</strong> Rückschau<br />

schil<strong>der</strong>t:<br />

"Man nannte uns eine glückliche Familie, beneidete uns. Aber das war vor sechs<br />

Jahren, als unser jüngster Sohn noch nicht erkrankt war o<strong>der</strong> wir es noch nicht<br />

wahrhaben wollten Die Welt schien in Ordnung, ich ging auf die Sechziger zu<br />

und schmiedete bereits Pläne, was ich alles tun würde, wenn ich erst im<br />

Ruhestand wäre. Viel reisen wollte ich, lesen, Museen besuchen, einfach im<br />

Alter <strong>mit</strong> meiner Frau glücklich und zufrieden sein. Ja, damals vor sechs Jahren.<br />

Heute weiss ich, dass alles ein Phantom war, ein schöner Traum. Denn ich<br />

kannte ja noch nicht die tückische <strong>Krankheit</strong>, die man <strong>Schizophrenie</strong> nennt. Wie<br />

sollte ich auch, denn soweit ich mich erinnern konnte, gab es in einer Familie<br />

keinen solchen Fall. Sicherlich gab es auch in merkwürdige Gestalten,<br />

Leichtfüsse, Geizhälse, Angeber - aber so was<br />

Heute beherrscht mich die <strong>Krankheit</strong>, sie ist zum Gesprächsthema <strong>der</strong> Familie<br />

geworden. Sie bedrückt mich, sie würgt mich, ich spüre ihre Fesseln. Manchmal<br />

kommt <strong>der</strong> Gedanke hoch: 'Hau doch einfach ab, fliehe weit weg irgendwo hin!'.<br />

72


Aber dann spricht eine innere Stimme in mir: 'Das kannst du doch nicht tun,<br />

einfach deine Familie im Stich lassen, deinen kranken Sohn opfern'. Also bleibe<br />

und leide. Dann ertappe ich mich bei dem Gedanken: 'Mach doch einfach<br />

Schluss, es hat alles keinen Sinn!' Aber dann erschrecke ich über diese<br />

Gedanken. Also lasse ich es und leide!'."<br />

Am Anfang Ratlosigkeit<br />

Für die Angehörigen gilt das Gleiche wie für die Patientinnen und Patienten selbst.<br />

Die Ratlosigkeit ob <strong>der</strong> Situation ist die Gleiche. Sie haben erlebt, wie ihr Kind, ihr<br />

Bru<strong>der</strong> ihre Schwester o<strong>der</strong> ihr Partner sich verän<strong>der</strong>t haben, wie vertraute<br />

Beziehungen ihnen fremd wurden, ohne dass sie das nachvollziehen konnten. Sie<br />

haben neben den Verhaltensän<strong>der</strong>ungen verän<strong>der</strong>te emotionale Reaktionen erlebt,<br />

die sie nicht verstanden. Sie sind in Konflikte geraten, die sie nach Jahrzehnten des<br />

Zusammen<strong>leben</strong>s nicht erwartet hätten und schon deshalb unbegreiflich fanden.<br />

Sie haben schließlich die Krise erlebt, die offenbar gemacht hat, dass es sich nicht<br />

um eine »normale« Krise gehandelt hat, son<strong>der</strong>n um etwas, was man in <strong>der</strong><br />

Alltagssprache Nervenzusammenbruch nennt: Nicht nachvollziehbare soziale<br />

Auffälligkeit in <strong>der</strong> Öffentlichkeit; aggressive, ebenfalls nicht nachvollziehbare<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen in <strong>der</strong> Familie aus nichtigem Anlass, Anschuldigungen, die<br />

aus Sicht <strong>der</strong> Angehörigen gegenstandslos waren; völliger emotionaler Rückzug <strong>mit</strong><br />

Sprachlosigkeit, Vernachlässigung <strong>der</strong> körperlichen Pflege, Verwahrlosung,<br />

Verweigerung von Essen, im Extremfall auch von Trinken; in mehr als Einzelfällen<br />

Versuche, sich das Leben zu nehmen.<br />

Die Erkenntnis, dass es sich bei dem Unbegreiflichen um Zeichen einer psychischen<br />

Störung handelt, mag für viele Angehörige eine Entlastung sein. Aber das ist nur die<br />

eine Seite. Der Schrecken darüber, was das für die Zukunft bedeutet, folgt auf dem<br />

Fuß. Dazu kommt, dass die erste Zuweisung zur psychiatrischen Behandlung allzu<br />

oft nicht die Folge <strong>der</strong> Einsicht des Kranken selbst ist, dass er <strong>med</strong>izinische Hilfe<br />

braucht, son<strong>der</strong>n die Folge einer krisenhaften Zuspitzung, die das Handeln von<br />

Seiten <strong>der</strong> Angehörigen o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> Polizei zwingend macht.<br />

73


Die Frage nach Schuld<br />

Der Beginn fachlicher Hilfe als Zwangsmaßnahme ist für alle Beteiligten mehr als<br />

problematisch. Die Angehörigen müssen sich fragen, ob das wirklich unvermeidbar<br />

war, ob sie nicht in an<strong>der</strong>er Weise schonen<strong>der</strong> hätten intervenieren können, ob sie<br />

vielleicht vorschnell gehandelt haben. Sie müssen <strong>mit</strong> Schuldvorwürfen von Seiten<br />

<strong>der</strong> Kranken rechnen und diese bewältigen. Viel schlimmer ist die Konfrontation <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> Frage, was bedeutet diese <strong>Krankheit</strong>, woher kommt sie, welche Ursachen hat<br />

sie, wer ist dafür verantwortlich, wer ist schuld Noch vor wenigen Jahrzehnten war<br />

auch die Antwort <strong>der</strong> Fachleute klar: Wir wissen zwar nicht, was die Ursache <strong>der</strong><br />

Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis ist. Wir nehmen jedoch <strong>mit</strong> guten<br />

Gründen an, dass sie ihre Wurzeln in einer Fehlentwicklung in <strong>der</strong> frühen Kindheit<br />

hat, die die Eltern, insbeson<strong>der</strong>e die nächste Bezugsperson, die Mutter zu<br />

verantworten hat. Das ist falsch.<br />

Aber diese Vorstellung ist nach hun<strong>der</strong>t Jahren psychoanalytischen Denkens als<br />

Kulturgut tief in uns verwurzelt. Insbeson<strong>der</strong>e wenn die Persönlichkeitsentwicklung<br />

an <strong>der</strong> Schwelle zum Erwachsenenalter o<strong>der</strong> bei jungen Erwachsenen in eine<br />

Katastrophe mündet, neigt die öffentliche Meinung, neigt unsere Kultur dazu, die<br />

Schuld daran in <strong>der</strong> Kindheitsentwicklung zu suchen: jemand hat eine schlechte<br />

Kindheit gehabt, heißt es ganz selbstverständlich in <strong>der</strong> Gerichtsverhandlung, wenn<br />

jemand straffällig geworden ist; und dafür gibt es ebenso selbstverständlich<br />

mil<strong>der</strong>nde Umstände. Wenn jemand wegen dieser »schlechten« Kindheit kriminell<br />

wird, warum dann nicht auch psychisch krank<br />

Nun soll hier überhaupt nicht bestritten werden, dass die Art und Weise, wie jemand<br />

seine Kindheit erlebt, wie er aufwächst, nachhaltigen Einfluss darauf hat, wie er<br />

später lebt und wie er sein Leben bewältigt. Er nimmt seine mannigfachen<br />

Befähigungen aus <strong>der</strong> Kindheit <strong>mit</strong> ins Erwachsenen<strong>leben</strong>. Ebenso sind die Wurzeln<br />

mannigfacher Defizite in <strong>der</strong> psychosozialen Entwicklung zu suchen. Aber angesichts<br />

einer <strong>Krankheit</strong>, <strong>der</strong>en Ursachen wir immer noch nicht kennen, und <strong>der</strong>en Basis wir<br />

heute mehr in einer konstitutionellen Verletzlichkeit vermuten als in einer primär<br />

74


psychischen, ist es unsinnig, die Schuld für die Entstehung bei einzelnen Situationen<br />

o<strong>der</strong> gar bei bestimmten Personen zu suchen.<br />

Dies klarzustellen, ist ein wesentlicher Teil <strong>der</strong> Begleitung <strong>der</strong> Angehörigen. Das<br />

Bedürfnis nach Erklärung ist unstillbar. Die immer noch übliche einfache Erklärung<br />

von Freunden, Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> weiteren Familie, Nachbarn und Arbeitskollegen lässt<br />

nicht lange auf sich warten: Das müsse doch an <strong>der</strong> Erziehung liegen, die zu<br />

nachsichtig o<strong>der</strong> zu streng gewesen sei. Das müsse seine Ursache doch im<br />

Familienklima haben, von dem man ja wisse, dass es mies sei, im Alkoholismus des<br />

Vaters, <strong>der</strong> Leichtlebigkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> herben Persönlichkeit <strong>der</strong> Mutter, o<strong>der</strong> worin<br />

immer sonst.<br />

Therapeutinnen und Therapeuten sollten sich je<strong>der</strong> Spekulation über eine mögliche<br />

Mitverantwortung <strong>der</strong> Familie auch für die Auslösung <strong>der</strong> Erkrankung enthalten. Sie<br />

können nicht in das Binnen<strong>leben</strong> einer Familie in <strong>der</strong> Vorphase <strong>der</strong> Psychose<br />

hineinschauen. Sie sollten sich Rechenschaft darüber ablegen, wie sie selbst sich<br />

verhalten würden, wenn sie <strong>mit</strong> einem Familien<strong>mit</strong>glied zusammen<strong>leben</strong> müssten,<br />

dass sich in seinem Verhalten und seinem Er<strong>leben</strong> verän<strong>der</strong>t und von dem sie nicht<br />

wissen, dass sich eine psychotische Erkrankung zusammenbraut. Es ist<br />

selbstverständlich, dass eine solche Entwicklung das Zusammen<strong>leben</strong> aller<br />

Beteiligten verän<strong>der</strong>t; und es ist fast selbstverständlich, dass diese Verän<strong>der</strong>ung<br />

nicht zu einer Harmonisierung <strong>der</strong> Beziehungen führt, son<strong>der</strong>n dass die Versuche,<br />

eine nicht begreifbare Situation zu bewältigen, zwangsläufig untaugliche<br />

Problemlösungsversuche zur Folge haben müssen.<br />

Angehörige brauchen Verständnis<br />

Angesichts einer solchen Situation brauchen Angehörige Verständnis, Geduld und<br />

Rat – in dieser Reihenfolge. Wenn ein Familien<strong>mit</strong>glied akut psychotisch erkrankt, ist<br />

dies jenseits aller Aufregung erklärungsbedürftig; und für die Erklärung zuständig<br />

sind die Therapeutinnen und Therapeuten des erkrankten Familien<strong>mit</strong>glieds. Es mag<br />

sein, dass <strong>der</strong> Augenblick <strong>der</strong> Einweisung in die Klinik ein ungeeigneter Augenblick<br />

75


für die Betreuung <strong>der</strong> Angehörigen ist, je dramatischer die Situation, desto<br />

ungeeigneter.<br />

Aber das darf nicht dazu führen, dass Angehörige in dieser Situation massiv<br />

zurückgewiesen und verletzt werden. Eine erste Erklärung muss sein, Zeit für<br />

begütigende und beruhigende Unterstützung allemal. Die Einweisungssituation ist in<br />

<strong>der</strong> Tat nicht <strong>der</strong> Augenblick für eine umfassende Aufklärung. In ihr gilt es zunächst<br />

einmal, Informationen über die Kranken, über ihre Entwicklung, über die<br />

Vorgeschichte <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> einzuholen.<br />

Aber im Rahmen <strong>der</strong> Erhebung <strong>der</strong> Fremdanamnese kann man den Angehörigen<br />

ohne Mühe ver<strong>mit</strong>teln, wie wichtig ihre Informationen für die Behandlung sind. Man<br />

kann ihnen auch über<strong>mit</strong>teln, dass Behandlung möglich ist, dass <strong>der</strong> gegenwärtige<br />

Zustand nichts über die Prognose aussagt, dass man sich Mühe gibt und dass man<br />

guten Mutes ist, die akute Situation erst einmal in den Griff zu bekommen und dass<br />

man gern bereit ist, sich in den allernächsten Tagen ausführlich Zeit zu nehmen, die<br />

Situation <strong>mit</strong> den Angehörigen durchzusprechen.<br />

In dieser Situation ist es mehr als überflüssig, die Angehörigen darauf hinzuweisen,<br />

dass man ja Arzt o<strong>der</strong> Ärztin des Patienten sei und dass man <strong>der</strong> Schweigepflicht<br />

unterliege und dass man ja gar nicht wisse, ob man den Angehörigen Auskunft<br />

erteilen dürfe. In <strong>der</strong> Situation <strong>der</strong> akuten Zuspitzung, an <strong>der</strong> die Angehörigen<br />

beteiligt gewesen sind, sind diese handelnde Personen des <strong>Dr</strong>amas und haben<br />

einen eigenen Anspruch darauf zu erfahren, was denn eigentlich passiert ist. Dazu<br />

mag im Augenblick nicht die Diagnose gehören. Aber eine Auskunft über die<br />

Behandlungschancen, die gegenüber <strong>der</strong> zugespitzten Situation immer günstig sind,<br />

gehört auf jeden Fall dazu.<br />

Psychoinformation und Psychoedukation<br />

Nach <strong>der</strong> Überwindung <strong>der</strong> akuten Krisensituation folgt die Begleitung <strong>der</strong><br />

Angehörigen fast dem gleichen Schema, wie die des Patienten o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Patientin.<br />

Wir müssen ihnen begreiflich machen, was die <strong>Krankheit</strong>ssymptome sind, worin sie<br />

76


estehen, wie sie einzuordnen sind, wie man lernen kann, sie zu verstehen. Dafür ist<br />

das Modell des zentralen schizophrenen Syndroms, das, wie John Wing es<br />

beschrieben hat und das ich in »<strong>Schizophrenie</strong> – die <strong>Krankheit</strong> verstehen«<br />

wie<strong>der</strong>gegeben habe, beson<strong>der</strong>s gut geeignet.<br />

Zur Begleitung <strong>der</strong> Angehörigen gehört es, zu versuchen, die <strong>Krankheit</strong> insgesamt<br />

verständlich zu machen. Auch bei den Angehörigen spielt die Bewältigung <strong>der</strong><br />

Stigmatisierung, die sich ja auch auf sie selbst erstreckt, eine entscheidende Rolle.<br />

Auch die Angehörigen sind jenseits des Gesprächs Partner für Psychoinformation<br />

und gegebenenfalls auch für Psychoedukation. Sie müssen lernen, sich <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Krankheit</strong> vertraut zu machen, um angemessen <strong>mit</strong> dem kranken Familien<strong>mit</strong>glied<br />

umgehen zu können.<br />

Dies mag bei <strong>der</strong> Ersterkrankung von nicht so entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung sein. Aber<br />

gewiss ist, dass die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis<br />

von den Angehörigen fast immer traumatisch erlebt wird. Immer wie<strong>der</strong> ist zu hören,<br />

die Diagnose einer <strong>Schizophrenie</strong> sei das Ende. Das darf nicht so stehen bleiben.<br />

Wir müssen darauf bestehen, dass eine solche Diagnose nicht das Ende ist, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Anfang von etwas Neuem. Die Erkrankung mag eine Katastrophe für die ganze<br />

Familie sein. Aber auch dabei darf die Familie nicht stehen bleiben. Eine<br />

schizophrene Erkrankung ist genau so eine Herausfor<strong>der</strong>ung wie eine schwere<br />

körperliche Erkrankung. Sie verlangt die Auseinan<strong>der</strong>setzung. Sie verlangt, dass die<br />

Angehörigen sich dieser Verän<strong>der</strong>ung des Lebenslaufes und <strong>der</strong> Hoffnungen ihres<br />

Familien<strong>mit</strong>gliedes genau so stellen, wie dieses selbst.<br />

Das ist die Mitverantwortung <strong>der</strong> Angehörigen für die Zukunft, für den zukünftigen<br />

Verlauf. Darauf ist in <strong>der</strong> gebotenen Vorsicht, aber <strong>mit</strong> Nachdruck, so früh wie<br />

möglich hinzuweisen und hinzuwirken. Es geht nicht um Schuld in <strong>der</strong><br />

Vergangenheit. Es geht auch nicht um Verantwortung dafür, wie die Dinge geworden<br />

sind, son<strong>der</strong>n es geht um Solidarität für die Zukunft. Die meisten Angehörigen<br />

er<strong>leben</strong> diese Einbindung angesichts <strong>der</strong> Schwere <strong>der</strong> Erkrankung auch nicht<br />

vorrangig als Belastung, son<strong>der</strong>n eher als entlastendes Gefühl, etwas Konstruktives<br />

tun zu können, in positiver Weise auf den künftigen Verlauf Einfluss zu nehmen.<br />

77


Zur Aufarbeitung <strong>der</strong> Situation <strong>mit</strong> den Angehörigen gehört noch mehr als bei den<br />

Kranken selbst das Gespräch über die Vorphase <strong>der</strong> Psychose. Es ist von<br />

entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung, dass die Angehörigen begreifen, was in diesen ein, zwei<br />

Jahren o<strong>der</strong> sechs Monaten, in denen die <strong>Krankheit</strong> schon bestanden hat, ohne dass<br />

irgend jemand <strong>der</strong> Beteiligten davon gewusst hat, <strong>mit</strong> ihnen allen passiert ist. Sie<br />

können dann begreifen, warum familiäre Bindungen massiv gestört waren o<strong>der</strong> gar<br />

zerbrochen sind und den Schritt von <strong>der</strong> normalpsychologischen Interpretation dieser<br />

Situation retrospektiv zum Verständnis für die <strong>Krankheit</strong>ssymptome des<br />

Familien<strong>mit</strong>gliedes nachvollziehen.<br />

Schlussbemerkungen<br />

Die <strong>Schizophrenie</strong> ist eine schwere, im Prinzip aber gut behandelbare <strong>Krankheit</strong>.<br />

Verlauf und Prognose sind so unterschiedlich, wie das bei keiner vergleichbar<br />

schweren körperlichen <strong>Krankheit</strong> <strong>der</strong> Fall ist. Ein <strong>Dr</strong>ittel <strong>der</strong> Kranken – das hat Eugen<br />

Bleuler bereits vor hun<strong>der</strong>t Jahren festgestellt und daran sei noch einmal erinnert –<br />

werden wie<strong>der</strong> gesund, unabhängig davon, ob sie behandelt werden o<strong>der</strong> nicht und<br />

unabhängig davon, wie sie behandelt werden. Das ist Grund für Hoffnung und<br />

Optimismus. Das öffnet zugleich aber ein weites Feld für alternative »Heilmethoden«:<br />

Sie alle können beanspruchen, bei jedem dritten Kranken erfolgreich zu sein. Bei<br />

einer schweren Erkrankung wie den Psychosen aus dem schizophrenen<br />

Formenkreis ist das nichts. »Wer heilt, hat Recht«, schrieb Paracelsus vor 500<br />

Jahren; und den Beweis, dass man wirklich geheilt hat, dass <strong>der</strong> Kranke nicht auch<br />

von allein wie<strong>der</strong> gesund geworden wäre, muss man im Einzelfall nicht erbringen.<br />

Wissenschaftlich ist das nicht. Wissenschaftlich nicht begründbare Verfahren fügen<br />

ungezählten Kranken und ihren Angehörigen unsägliches Leid zu.<br />

Wissenschaftlich begründet und wirksam ist die Behandlung in <strong>der</strong> akuten Psychose,<br />

wie ich sie in diesem Kapitel geschil<strong>der</strong>t habe. In aller Regel führt diese innerhalb<br />

weniger Tage zu einer Beruhigung <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>ssymptomatik und innerhalb weniger<br />

Wochen zu einer deutlichen Besserung, in vielen Fällen zur vollständigen<br />

Wie<strong>der</strong>herstellung. Dann kommt es darauf an, den weiteren Verlauf sorgfältig zu<br />

78


eobachten und einem eventuellen Rückfall, wo immer möglich, vorzubeugen. Da<strong>mit</strong><br />

werde ich mich in den nächsten Kapiteln beschäftigen.<br />

79


9 Der steinige Weg zur Wie<strong>der</strong>herstellung<br />

Auch für Kranke <strong>mit</strong> dem Glück einer guten Prognose ist zum Zeitpunkt <strong>der</strong><br />

Entlassung aus <strong>der</strong> Klinik nicht alles vorbei. Schizophrene Psychosen sind schwere<br />

<strong>Krankheit</strong>en. Sie verschwinden nicht wie ein Sommergewitter. Auf die akute<br />

Erkrankung folgt eine Zeit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung, <strong>der</strong> Remission. Das ist nicht<br />

an<strong>der</strong>s als nach einem Herzinfarkt, einem Beinbruch o<strong>der</strong> einer schweren<br />

Infektionskrankheit.<br />

Ungeduld<br />

Mit den uns zur Verfügung stehenden Medikamenten, den Neuroleptika, erreichen<br />

wir vorrangig die so genannten produktiven o<strong>der</strong> positiven <strong>Krankheit</strong>ssymptome wie<br />

Angst, Verfolgungsideen, Wahn, Halluzinationen und Denkstörungen. Diese<br />

Symptome verdecken die so genannten Negativsymptome wie vermin<strong>der</strong>ten Antrieb,<br />

Gefühlsstörungen, das Bedürfnis nach sozialem Rückzug o<strong>der</strong> die Einschränkung<br />

<strong>der</strong> Fähigkeit, in Alltagssituationen zu "wollen und zu handeln" wie in gesunden<br />

Tagen. Diese Symptome sind <strong>der</strong> Medikamentenbehandlung kaum zugänglich. Meist<br />

bestehen sie meist über längere Zeit fort.<br />

Es ist verständlich, dass die Kranken so rasch wie möglich die Schule, das Studium<br />

o<strong>der</strong> die Arbeit wie<strong>der</strong> aufnehmen möchten. Eigentlich sollten sie dies ja auch. Es ist<br />

auch verständlich, dass Angehörige nach einer erfolgreichen Klinikbehandlung<br />

ungeduldig werden, wenn die Rekonvaleszenten nicht zupacken, wenn sie nicht ihr<br />

altes Leben wie<strong>der</strong> aufnehmen, Sie sind irritiert, wenn diese statt dessen erschöpft in<br />

den Seilen hängen, initiativlos erscheinen, überlange schlafen, den ganzen Tag<br />

nichts tun, dem Herrgott gleichsam den Tag stehlen, o<strong>der</strong> ganz an<strong>der</strong>e Dinge tun als<br />

früher: etwa Bild lesen statt Die Zeit, Heino hören statt Bach, sich am Rande eines<br />

Fußballplatzes herumdrücken statt <strong>mit</strong>zuspielen. Die Folge ist oft eine gereizte<br />

Atmosphäre, die für alle Beteiligten zur Belastung wird. Die Reaktion <strong>der</strong><br />

Rekonvaleszenten kann weiterer sozialer Rückzug sein. Aufgrund ihrer<br />

80


krankheitsbedingten Verletzlichkeit vertragen sie keine Kritik. Zugleich veranlassen<br />

sie durch ihr Verhalten kritische Reaktionen von allen Seiten.<br />

Erschöpfung<br />

Es ist leicht vorstellbar, dass diese Situation nicht selten in einen Teufelskreis<br />

mündet, <strong>der</strong> über unerträgliche emotionale Anspannung in <strong>der</strong> Familie o<strong>der</strong> im<br />

Freundeskreis zu Verzweiflung bei den Kranken und den Angehörigen führt. Die<br />

Wie<strong>der</strong>kehr von Symptomen kann die Folge sein. Es ist deshalb wichtig, dass den<br />

Beteiligten klar ist, dass ein solches »postremissives Erschöpfungssyndrom«<br />

(Heinrich) nicht ungewöhnlich ist. Es gehört eher zu den üblichen <strong>Krankheit</strong>sfolgen.<br />

Die Kranken sind erschöpft, nachdem sie in <strong>der</strong> akuten Phase <strong>der</strong> Psychose oft eine<br />

lange Zeit <strong>der</strong> Überaktivität ihrer Gehirnfunktionen durchgemacht haben: u.a.<br />

Gedankendrängen, Überwachheit, Schlafstörungen, Angst, gelegentlich aggressive<br />

Gereiztheit, Überreaktion auf emotionale Verletzungen.<br />

Anstrengung<br />

Der Versuch, Das biologische Gleichgewicht im Gehirn wie<strong>der</strong>herzustellen - etwa die<br />

Dopaminüberaktivität zu begrenzen - greift tief in das System dieser<br />

verschiedenartigen Störungen ein. Es ist gut verständlich, dass die symptomatische<br />

Wie<strong>der</strong>herstellung dieses Gleichgewichts über die beruhigende Wirkung <strong>der</strong><br />

Medikamente zunächst vor allem anhaltende psychoemotionale Erschöpfung nach<br />

<strong>der</strong> lang andauernden übergroßen Anstrengung zur Folge hat. Das ist die<br />

physiologische Seite. Die psychosoziale Seite ist nicht weniger anstrengend und<br />

belastend. Die Kranken merken recht rasch, dass sie noch nicht wie<strong>der</strong> die Alten<br />

sind, dass ihnen die gewohnte Kraft fehlt. Wenn sie bis dahin noch nicht da<strong>mit</strong><br />

begonnen haben, müssen sie jetzt dringend ihre Situation überdenken. Sie müssen<br />

versuchen zu begreifen und einzuordnen, was <strong>mit</strong> ihnen geschehen ist und welche<br />

Konsequenzen das für ihr gegenwärtiges und ihr künftiges Leben hat. Sie müssen<br />

sich Gedanken über die Natur ihrer <strong>Krankheit</strong> machen..<br />

81


Regression und Aktivierung<br />

Was ist zu tun Psychiatrische Behandlung steht seit langem im Zeichen von<br />

aktivieren<strong>der</strong> Therapie, Frühentlassung aus <strong>der</strong> Klinik und aktiver<br />

Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung. Regression, also <strong>der</strong> Rückzug auf sich selbst, ist allenfalls in<br />

den ersten Tagen geduldet, selten erwünscht. Die Furcht vor den negativen Folgen<br />

<strong>der</strong> Hospitalisation, die in <strong>der</strong> Ära <strong>der</strong> Verwahrung allgegenwärtig waren, steckt <strong>der</strong><br />

Psychiatrie so tief in den Knochen, dass ein durchgängig strukturierter<br />

therapeutischer Tagesablauf zu ihren zentralen Qualitätsmerkmalen gehört. Denn<br />

solche Zustände entsprechen in ihren Erscheinungsformen ganz wesentlich <strong>der</strong><br />

Negativsymptomatik schizophrener Psychosen. Die Sorge, man könne die <strong>Krankheit</strong><br />

durch Vernachlässigung und Inaktivität verschlimmern o<strong>der</strong> gar chronifizieren,<br />

bewegt die Psychiatrie. Die For<strong>der</strong>ung nach einem durchgehend aktivierenden<br />

therapeutischen Tageslauf, 16 Stunden am Tag, sieben Tage in <strong>der</strong> Woche, hat –<br />

möglicherweise nicht in dieser Rigorosität – im Grundsatz immer noch Geltung.<br />

Aber ist das angesichts postremissiver Erschöpfung bei fortbestehen<strong>der</strong><br />

Negativsymptomatik wirklich <strong>der</strong> richtige Weg Nein. Seit den frühen Versuchen<br />

aktiver und forcierter Rehabilitation ist bekannt, dass diese auch <strong>Krankheit</strong>srückfälle<br />

auslösen können. Da<strong>mit</strong> wird klar, dass Psychosebehandlung jenseits <strong>der</strong> akuten<br />

Therapiephase eine Gratwan<strong>der</strong>ung zwischen sozialer Überstimulierung und<br />

Unterstimulierung, zwischen Symptomprovokation und Begünstigung von Apathie ist.<br />

Zu beiden kann die psychiatrische Behandlung beitragen. Ich habe das vor vielen<br />

Jahren (1974) in einem Schema zusammengefasst.<br />

Dieses Schema ist damals nicht speziell auf die Frage <strong>der</strong> Therapie in <strong>der</strong><br />

Remissionsphase zugeschnitten gewesen, son<strong>der</strong>n allgemein auf die Problematik<br />

psychiatrischer Rehabilitation. Trotzdem ist es gültig.<br />

___________________________________________________________________<br />

____<br />

SCHIZOPHRENIETHERAPIE BEI:<br />

SOZIALE STIMULIERUNG<br />

SOZIALE STIMULIERUNG<br />

82


durch <br />

} Strukturierung des Tagesablaufes (14 Std. täglich) <br />

} wechselnde Gruppensituationen <br />

} gestufte Belastung, z. B. Beschäftigungstherapie, Arbeit <br />

} »Normalisierung« von Wohnen und Freizeit <br />

__________________________________________________________________________________________________________________<br />

____<br />

Diese Ausgangkonstellation steckt den Rahmen für Therapie und Umgang <strong>mit</strong> den<br />

Kranken in <strong>der</strong> Remissionsphase ab.<br />

Geduld und Zeit<br />

Die Bewältigung <strong>der</strong> postremissiven Erschöpfungsphase vor allem zwei Dinge zur<br />

Voraussetzung hat: Geduld und Zeit. Sie lässt sich nicht durch Aktivierung<br />

beschleunigen. Aktivierung und soziale Stimulation dienen in dieser Phase <strong>der</strong><br />

Behandlung fast ausschließlich <strong>der</strong> Vermeidung von Sekundärschäden durch<br />

mangelnde Aktivität. Selbstverständlich ist, dass die Medikation in dieser Zeit <strong>der</strong><br />

ständigen Überprüfung bedarf. Günstige Wirkungen auf die Negativsymptomatik sind<br />

bei konventionellen wie atypischen Neuroleptika allenfalls bei niedrigen Dosen zu<br />

erwarten.<br />

.<br />

Da die Kranken in dieser Phase meist zu Hause sind, haben Angehörige und<br />

Freunde gute Möglichkeiten zur Hilfe und zur Unterstützung. Die Aufgabe, die sie<br />

erfüllen können, ist im Ergebnis günstigenfalls dankbar. Aber sie haben keine leichte<br />

Rolle. Was von ihnen verlangt wird, ist vor allem an<strong>der</strong>en Geduld, ist Zuwendung,<br />

ohne dass sie prompt <strong>mit</strong> dem erwünschten o<strong>der</strong> erhofften Echo rechnen können.<br />

Sie können beispielsweise versuchen, die Genesenden aus <strong>der</strong> Reserve zu locken<br />

o<strong>der</strong> ihnen soziale Angebote zu machen, ohne sie unter <strong>Dr</strong>uck zu setzen.<br />

83


Solche Angebote sollten zeitlich begrenzt sein. Sie sollten nicht <strong>mit</strong> allzu<br />

umfassenden o<strong>der</strong> komplexen sozialen Verpflichtungen verbunden sein. Sie sollten<br />

den je<strong>der</strong>zeitigen Rückzug erlauben. Zugleich ist in dieser Phase von Angehörigen<br />

und Freunden zu erwarten, dass sie sich nicht gekränkt zurückziehen, wenn ihre gut<br />

gemeinten Angebote nicht angenommen werden o<strong>der</strong> wenn sie gar aktiv<br />

zurückgewiesen werden. Mit fortschreiten<strong>der</strong> Stabilisierung und fortschreiten<strong>der</strong><br />

Rückbildung <strong>der</strong> Negativsymptome wird sich dies än<strong>der</strong>n. Dann ist es wichtig, dass<br />

solche Angebote noch vorhanden sind.<br />

»Wood-Shedding«<br />

Man kann die Phase <strong>der</strong> postremissiven Erschöpfung in <strong>der</strong> beginnenden Remission<br />

auch positiv betrachten. Amerikanische Ärzte (Liebermann und Strauss) red<br />

en von »Wood-Shedding«. Dieser Begriff stammt aus <strong>der</strong> Jazzkultur. Er bezieht sich<br />

auf das Verhalten traditioneller Bands in den amerikanischen Südstaaten, die sich<br />

außer Hör- und Sichtweite <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zurückzogen, wenn sie einen neuen Stil o<strong>der</strong><br />

auch nur ein neues Stück einüben wollten – etwa in eine Scheune o<strong>der</strong> einen<br />

Holzschuppen (wood shed). In diesem Sinne ist <strong>der</strong> Rückzug etwas Konstruktives.<br />

Die Kranken orientieren sich neu. Sie konfrontieren sich zunächst nur in Gedanken<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Rückkehr in die wirkliche soziale Welt. Sie versuchen, sich emotional und<br />

intellektuell zurechtzufinden. Sie erproben ihr Verhalten und ihre Gefühle, bevor sie<br />

aktiv in die soziale Welt zurückzukehren. Die Zeit <strong>der</strong> Rückkehr ist kein gradliniger<br />

Prozess. Sie kann von vielfältigen Rückschlägen gekennzeichnet sein, aber auch<br />

von großen, manchmal unverhältnismäßig großen Schritten nach vorn.<br />

Diese Phase dauert unterschiedlich lang. Sie kann nach drei Monaten<br />

abgeschlossen sein. Oft dauert sie ein halbes, manchmal ein ganzes Jahr,<br />

gelegentlich noch länger. Nach Abschluss dieser Phase ist dann eine Ebene erreicht,<br />

auf die die Kranken selbst und ihre Umgebung sich einstellen müssen. Es können<br />

Behin<strong>der</strong>ungen durch Negativsymptome zurückbleiben. Es kann aber auch sein,<br />

dass die volle psychische Gesundheit, die volle Kraft, das eigene Leben zu<br />

84


ewältigen, zurückgekehrt ist. Dies ist dann <strong>der</strong> Zeitpunkt für die Wie<strong>der</strong>aufnahme<br />

<strong>der</strong> vollen sozialen Aktivitäten. Für viele Patientinnen und Patienten kann das aber<br />

auch <strong>der</strong> Zeitpunkt für den Beginn einer systematischen Psychotherapie sein, <strong>mit</strong><br />

dem Ziel, die eigene Stellung im Leben nach <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> zu klären.<br />

Die Phase <strong>der</strong> Remission ist die Zeit <strong>der</strong> allmählichen Wie<strong>der</strong>herstellung. Die akuten<br />

<strong>Krankheit</strong>ssymptome sind überwunden o<strong>der</strong> durch Neuroleptika unterdrückt.<br />

<strong>Krankheit</strong>sbedingte Erschöpfung und Antriebsmin<strong>der</strong>ung sowie eine erhöhte<br />

Verletzlichkeit halten zunächst noch an. Der Weg zurück ins soziale Leben ist steinig<br />

und <strong>mit</strong> großer emotionaler Anstrengung verbunden. Die Schritte dorthin sind<br />

zunächst tastend. Überfor<strong>der</strong>ungssituationen sollen vermieden werden. Zugleich wird<br />

von den Kranken verlangt, dass sie ihr <strong>Krankheit</strong>ser<strong>leben</strong> integrieren und die<br />

Diagnose <strong>mit</strong> ihren sozialen Implikationen bewältigen. Das ist sehr viel. Dem steht<br />

die ungeduldige Erwartung von Familie und Freunden entgegen, dass es nun doch<br />

endlich bald genug sei, dass man doch endlich sein altes Leben wie<strong>der</strong> aufnehme;<br />

und diese Erwartung ist eine zusätzliche Prüfung.<br />

Zeit für Psychotherapie<br />

Die Psychotherapie <strong>Schizophrenie</strong>kranker ist ein Kapitel für sich – lei<strong>der</strong> immer noch<br />

ein unrühmliches, wie das Märchen von <strong>der</strong> »schizophrenogenen« Mutter. Lange<br />

Zeit hat sich ein schier unausrottbares Vorurteil als psychiatrische Lehrmeinung<br />

gehalten: dass schizophrene Kranke einer Psychotherapie nicht zugänglich seien, ja,<br />

dass sie darunter eher Schaden nähmen, als dass sie ihnen hülfe. Das hat da<strong>mit</strong> zu<br />

tun, dass <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Psychotherapie lange Zeit von <strong>der</strong> Psychoanalyse und <strong>der</strong><br />

tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie besetzt worden war – Verfahren, die<br />

konfliktorientiert und »aufdeckend« arbeiten und so<strong>mit</strong> eine Belastung für die<br />

Kranken <strong>mit</strong> sich bringen.<br />

Aber Psychotherapie ist nicht nur Psychoanalyse. Psychotherapie ist auch<br />

empathische Zuwendung, Unterstützung und Führung, Zuhören und Beraten sowie<br />

Training im Sinne verschiedener verhaltenstherapeutischer Konzepte.<br />

85


Psychotherapie ist neben Konfliktbearbeitung alles dies zusammen.<br />

<strong>Schizophrenie</strong>kranke haben neben den Symptomen ihrer Störung vielfältige<br />

Lebensprobleme, bei <strong>der</strong>en Bewältigung sie psychotherapeutischer Hilfe und<br />

Führung bedürfen. Niemand benötigt so dringlich Psychotherapie wie die jungen<br />

<strong>Schizophrenie</strong>kranken, die außer <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> und <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>serfahrung auch<br />

<strong>der</strong>en psychosoziale Konsequenzen, <strong>der</strong>en Auswirkungen auf die eigene Biografie<br />

und die Folgen <strong>der</strong> Stigmatisierung bewältigen müssen.<br />

Richtig ist, dass Psychotherapie bei <strong>Schizophrenie</strong>kranken pragmatisch und flexibel<br />

gestaltet werden und Rücksicht auf den jeweiligen Seelen- und Gesundheitszustand<br />

<strong>der</strong> Kranken nehmen muss. Aber dies ist nichts an<strong>der</strong>es als bei Neurosekranken –<br />

möglicherweise nur schwieriger. Im Übrigen ist im Intervall zwischen den<br />

<strong>Krankheit</strong>sperioden gelegentlich durchaus auch eine konfliktorientierte<br />

Psychotherapie möglich und notwendig. Gerade junge Menschen, die an<br />

<strong>Schizophrenie</strong> erkrankt sind, bedürfen <strong>der</strong> Entwicklung von Einsicht in ihr seelisches<br />

und soziales Dasein. Sie benötigen Unterstützung bei <strong>der</strong> Selbstprüfung, bei <strong>der</strong><br />

täglichen Konfrontation zwischen erlebter Welt und äußerer Realität. Die Erfahrung<br />

<strong>der</strong> Psychose hat die Selbstverständlichkeit erschüttert, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> wir an<strong>der</strong>e dies tun,<br />

es tun können. Psychotherapie ist für sie Hilfe zur Ich-Findung, Hilfe zur Abgrenzung<br />

von an<strong>der</strong>en Menschen und <strong>der</strong>en persönlichen Wertsystemen. Psychotherapie ist<br />

für sie Hilfe bei <strong>der</strong> Prüfung und Bewältigung <strong>der</strong> Wirklichkeit.<br />

Psychotherapie kann auf die individuelle Verletzlichkeit, die Vulnerabilität primär nicht<br />

einwirken. Dies ist eher <strong>mit</strong> Hilfe <strong>der</strong> Medikamentenbehandlung möglich, die den<br />

Kranken zu einem künstlichen »dicken Fell« verhilft, wie die englische<br />

Medizinsoziologin Barbara Stevens das vor vielen Jahren einmal formuliert hat.<br />

Psychotherapie ist aber sehr wohl geeignet, die Fähigkeit <strong>der</strong> Kranken zu stärken,<br />

sein eigenes Leben zu bewältigen.<br />

Der frühere Bonner Psychiater Tilo Held hält die Zeit nach dem ersten Rückfall für<br />

den günstigsten Zeitpunkt, ein Umdenken und eine Neubewertung <strong>der</strong> bisherigen<br />

Erfahrungen einzuleiten. Dann nehme auch die Bereitschaft zu, regelmäßig<br />

Medikamente einzunehmen und sich dem Therapeuten stärker zu öffnen und<br />

86


anzuvertrauen als dies vorher <strong>der</strong> Fall gewesen sei. Allerdings sei es wichtig, dass<br />

<strong>der</strong> Patient seine <strong>Krankheit</strong> als eine Herausfor<strong>der</strong>ung akzeptiert und sie nicht<br />

verleugnet: »Die innere Auflehnung des Patienten, seiner Familie und auch des<br />

Therapeuten gegen die Diagnose <strong>Schizophrenie</strong> stellt für keine <strong>der</strong> notwendigen<br />

Behandlungsmaßnahmen eine günstige Voraussetzung dar.« (Held 1993)<br />

Dem ist nichts hinzuzufügen.<br />

87


10 Wie<strong>der</strong>erkrankung und Rückfallvermeidung – eine<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

Der Rückfall – besser die Wie<strong>der</strong>erkrankung – gehört lei<strong>der</strong> zur <strong>Schizophrenie</strong> wie<br />

die Entgleisungen des Blutzuckerspiegels zum Diabetes. Die <strong>Schizophrenie</strong> ist eine<br />

chronisch-rezidivierende Erkrankung wie die manisch-depressive <strong>Krankheit</strong>. Nur eine<br />

Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Kranken, etwa ein Fünftel bis ein <strong>Dr</strong>ittel, bleibt von Rückfällen<br />

verschont. Deren Vermeidung wird so<strong>mit</strong> zum zentralen Bestandteil <strong>der</strong><br />

<strong>Schizophrenie</strong>therapie. Der Rückfall – <strong>med</strong>izinisch: das Rezidiv – hat zwei mögliche<br />

Ursachen. Er kann Ausdruck des natürlichen Verlaufes <strong>der</strong> Psychose sein, die<br />

phasenhaft – früher sagte man "in Schüben" – in unregelmäßigen Abständen wie<strong>der</strong><br />

auftreten kann. Häufiger ist <strong>der</strong> Rückfall nach einer unvollständigen<br />

Wie<strong>der</strong>herstellung (Remission). Die <strong>Krankheit</strong>sphase ist nicht wirklich abgeklungen.<br />

Ihre Symptome werden durch die Medikamente nur unterdrückt. Unter diesen<br />

Umständen ist <strong>der</strong> Rückfall oft Folge einer unzureichenden Behandlung, des<br />

Abbruchs <strong>der</strong> Medikamentenbehandlung o<strong>der</strong> einer psychosozialen Überfor<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Kranken.<br />

Prophylaxe von Anfang an<br />

Die <strong>Schizophrenie</strong> gehört zu den wenigen schweren Erkrankungen, bei denen die<br />

Diagnose keine Aussage über die Prognose enthält. Vielmehr ist es <strong>der</strong> Verlauf, <strong>der</strong><br />

die Weichen für die Zukunft stellt. Je<strong>der</strong> Rückfall wird zur zusätzlichen Belastung.<br />

Je<strong>der</strong> Rückfall verstärkt das Risiko, aus <strong>der</strong> Bahn geworfen zu werden, sozialen<br />

Statusverlust zu erleiden und Freunde, Arbeit und Wohnung zu verlieren. Oft<br />

erhöhen <strong>Krankheit</strong>srezivide auch die Gefahr, dass die Kranken sich nach <strong>der</strong><br />

Akutbehandlung nicht vollständig wie<strong>der</strong> erholen. Zudem gilt traditionell die Regel,<br />

dass es achtzehn Monate dauert, bis sie nach einem Rückfall, <strong>der</strong> zur<br />

Krankenhauseinweisung geführt hat, ihr optimales psychosoziales Funktionsniveau<br />

wie<strong>der</strong> erreichen.<br />

88


Im Mittelpunkt <strong>der</strong> Rückfallprophylaxe steht zunächst die Medikamentenbehandlung,<br />

die Fortsetzung <strong>der</strong> ursprünglichen Medikamententherapie in niedriger Dosierung.<br />

Nach Überwindung einer ersten schizophrenen Episode gibt es nach dem heutigen<br />

Erkenntnisstand nur einen Grund, auf die prophylaktische Langzeit<strong>med</strong>ikation zu<br />

verzichten: Die Hoffnung, die Kranken könnten zu jener Min<strong>der</strong>heit gehören, <strong>der</strong>en<br />

Psychose definitiv ausheilt. Angesichts <strong>der</strong> vielfältigen unerwünschten Wirkungen <strong>der</strong><br />

uns zur Verfügung stehenden Medikamente ist dies in <strong>der</strong> Tat ein gewichtiger Grund.<br />

Die Risiko-Nutzen-Abwägung legt dennoch nahe, auch bei vollständiger<br />

Überwindung aller <strong>Krankheit</strong>ssymptome eine Stabilisierungsphase von sechs bis<br />

zwölf Monaten abzuwarten, bevor unter enger ärztlicher Überwachung ein<br />

vorsichtiger Absetzversuch in ausschleichen<strong>der</strong> Dosierung unternommen wird.<br />

Voraussetzung dafür ist, dass nicht noch irgendwelche diskreten Restsymptome<br />

verblieben sind. Die Chancen, dass das gut geht, sind um so günstiger, je begrenzter<br />

die vorangegangene psychotische Episode gewesen ist, je weniger und je kürzer<br />

Prodromalsymptome vorhanden waren, je rascher die akuten produktiven Symptome<br />

abgeklungen sind und je kürzer schließlich die Zeit bis zur vollständigen Remission<br />

war.<br />

Vorbehalte gegen Medikamente<br />

Oft ist es in dieser Phase schwer, die Kranken und ihre Angehörigen von <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit <strong>der</strong> <strong>med</strong>ikamentösen Nachbehandlung zu überzeugen. Das hat<br />

vielfältige Gründe. Zum einen haben die Medikamente in <strong>der</strong> Psychiatrie einen<br />

schlechten Ruf. Zum an<strong>der</strong>en besteht in <strong>der</strong> Bevölkerung ganz allgemein eine<br />

zurückhaltende Skepsis gegenüber <strong>der</strong> Dauereinnahme von Medikamenten. Sie<br />

würden abhängig machen. Sie würden nur dämpfen. Sie hülfen nicht wirklich und<br />

wirkten nur gegen Symptome, die ja gar nicht mehr vorhanden sind. Das sind einige<br />

<strong>der</strong> Vorbehalte. Schließlich gibt es reale Nebenwirkungen, unter denen die<br />

Patientinnen und Patienten leiden, die von Fachleuten gelegentlich nicht ausreichend<br />

ernst genommen werden.<br />

89


Dazu gehören die Gewichtszunahme und die Auswirkungen auf sexuelles Empfinden<br />

und Verhalten. Dazu gehören <strong>med</strong>ikamentenbedingte Müdigkeit und Inaktivität im<br />

Sinne einer Übersedierung. Dazu gehören schließlich die subjektiv erlebten<br />

extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen, insbeson<strong>der</strong>e eine quälende<br />

Bewegungsunruhe im Sinne <strong>der</strong> Akathisie sowie Muskelsteifigkeit und<br />

Muskelschmerzen im Rahmen eines Parkinsonoids. Lei<strong>der</strong> lassen sich diese<br />

Nebenwirkungen nicht immer ganz vermeiden. Nicht selten fehlt es allerdings auch<br />

am gebotenen ärztlichen Engagement o<strong>der</strong> an <strong>der</strong> notwendigen Erfahrung.<br />

Es gehört wenig Fantasie dazu, zu begreifen, dass all diese Gründe zusammen eher<br />

dazu angetan sind, die Kranken zu veranlassen, die Medikamente abzusetzen – und<br />

sei es auf eigene Faust – als dem ärztlichen Ratschlag zur Vorsicht bereitwillig zu<br />

folgen. Dazu bedarf es geduldiger und beharrlicher Aufklärungs- und<br />

Überzeugungsarbeit, die nach <strong>der</strong> ersten <strong>Krankheit</strong>sepisode noch schwieriger ist als<br />

nach <strong>der</strong> zweiten und <strong>der</strong> dritten. Dazu kommt ein starkes Motiv, es ohne<br />

Medikamente versuchen zu wollen, gegen das die betreuenden Therapeutinnen und<br />

Therapeuten nur ihre statistisch begründete Erfahrung setzen können. Gerade wenn<br />

es ihnen gut geht, haben Kranke wie ihre Angehörigen nach Überwindung <strong>der</strong> ersten<br />

Erkrankungsphase das mächtige Bedürfnis und die übergroße Hoffnung, sich zu<br />

beweisen, dass sie doch nicht schizophreniekrank sind, dass es sich bei ihrer<br />

psychotischen Episode um eine einmalige <strong>leben</strong>sgeschichtlich einzuordnende<br />

psychische Krise gehandelt hat.<br />

Der Arzt befindet sich hier in einer schwierigen Situation. Er kann vor einer<br />

vorzeitigen Beendigung <strong>der</strong> Medikamentenbehandlung warnen. Wenn die Kranken<br />

darauf bestehen, kann er sich einer Probe aufs Exempel kaum entziehen, wenn er<br />

nicht einen vollständigen Behandlungsabbruch riskieren will. Tatsächlich ist <strong>der</strong><br />

kontrollierte Absatzversuch <strong>mit</strong> professioneller Begleitung weniger risikoreich als <strong>der</strong><br />

Behandlungsabbruch <strong>mit</strong> abrupter Medikamentenverweigerung.<br />

90


Lei<strong>der</strong> muss hinzugefügt werden, dass <strong>der</strong> Behandlungsabbruch, die Verweigerung<br />

einer Anschlusstherapie o<strong>der</strong> die unregelmäßige Nachbehandlung ohnehin häufiger<br />

sind als die systematische und regelmäßige therapeutische Begleitung nach <strong>der</strong><br />

Remission.<br />

Anzeichen eines Rückfalls<br />

Wenn die Medikamente abgesetzt werden, ist eine sorgfältige Beobachtung durch die<br />

Therapeuten ebenso unabdingbar wie die Selbstbeobachtung. Typischerweise werden die<br />

ersten Tage <strong>der</strong> Medikamentenreduktion von den Kranken als umfassende Besserung<br />

ihres Zustandes erlebt. Sie fühlen sich wach. Sie sind aktiver. Sie sind sozial zugewandter.<br />

Wenn es gut geht, kann das auch so bleiben. Lei<strong>der</strong> ist die Entwicklung in den meisten<br />

Fällen an<strong>der</strong>s. Nach unterschiedlich langer Zeit, nach zwei, vier, sechs, acht Wochen tritt<br />

eine Än<strong>der</strong>ung zum Negativen ein, <strong>der</strong>en Anzeichen vielfältig sein können und sich über<br />

das gesamte Spektrum <strong>der</strong> Prodromal- und Frühsymtpome schizophrener Psychosen<br />

erstrecken. Es ist hilfreich, wenn Therapeutinnen und Therapeuten die Vorgeschichte <strong>der</strong><br />

Psychose sorgfältig erhoben haben. Es spricht einiges dafür, dass frühere Prodromi sich<br />

bei einem Rückfall wie<strong>der</strong>holen.<br />

Einige dieser Zeichen und Symptome seien hier angeführt: vermehrte Ängstlichkeit,<br />

sozialer Rückzug, Vernachlässigung <strong>der</strong> Kleidung und/o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Körperpflege,<br />

Schlafstörungen, vermehrte Aktivität, vermehrter Rededrang, Überreaktionen auf<br />

akustische o<strong>der</strong> optische Reize, insbeson<strong>der</strong>e Farben, Anklänge von paranoiden<br />

Ideen o<strong>der</strong> Befürchtungen, körperliche Missbefindlichkeiten und hypochondrische<br />

Anwandlungen, vermehrte Ambivalenz und Ratlosigkeit, Schwerbesinnlichkeit,<br />

Verän<strong>der</strong>ungen des Affekts, Klagen über andrängende Gedanken.<br />

Die bloße Aufzählung so zahlreicher diskreter Zeichen macht deutlich, was alles<br />

geschehen und <strong>der</strong> Beobachtung entgehen kann, wenn man nicht sorgfältig<br />

nachfragt, wenn man nicht <strong>der</strong> Zusammenarbeit <strong>der</strong> Kranken und ihrer Angehörigen<br />

gewiss sein kann.<br />

Faustregel muss sein, dass jede Verän<strong>der</strong>ung, welcher Art immer, die nicht plausibel<br />

durch äußere psychosoziale Ereignisse erklärt werden kann, erstes Zeichen eines<br />

91


eginnenden Rückfalls sein kann. In dieser Phase sind Angehörige und Therapeuten<br />

und die Kranken selbst gehalten, so sorgfältig auf Verän<strong>der</strong>ungen zu achten, dass<br />

sie gleichsam das Gras wachsen hören und dass sie in <strong>der</strong> Tat bereit sind.<br />

An<strong>der</strong>erseits ist nicht jede unerwartete o<strong>der</strong> unerwünschte Reaktion eines ehemals<br />

Psychosekranken als Zeichen des Rückfalls zu interpretieren. Das führt leicht zu<br />

Überfürsorglichkeit und Gängelung.<br />

Wie<strong>der</strong>aufnahme <strong>der</strong> Neuroleptikatherapie<br />

Die Gewichtung <strong>der</strong> Zeichen und <strong>der</strong> Symptome – <strong>der</strong> potenziellen Zeichen und<br />

Symptome muss man in diesem Zusammenhang sagen – hat in einem beson<strong>der</strong>en<br />

Prozess zu erfolgen. Ist man zu dem Erkenntnis gekommen, dass man es <strong>mit</strong> einem<br />

beginnenden Rezidiv zu tun hat, sollte man die Neuroleptikabehandlung schleunigst<br />

wie<strong>der</strong> aufnehmen, selbstverständlich in Absprache <strong>mit</strong> den Kranken. In dieser<br />

Initialphase des Wie<strong>der</strong>beginns ist das dann in <strong>der</strong> Tat nicht mehr<br />

Rückfallprophylaxe, son<strong>der</strong>n Behandlung von neu aufgetretenen, wie immer<br />

diskreten <strong>Krankheit</strong>ssymptomen. Man muss deshalb eine Dosisfindungsphase<br />

einschalten, bevor man zur Routine <strong>der</strong> Rückfallprophylaxe zurückkehren kann.<br />

Lei<strong>der</strong> findet <strong>der</strong> Rückfall in <strong>der</strong> Regel nicht unter solchen Bedingungen <strong>der</strong><br />

klinischen Beobachtung, also gleichsam unter Laborbedingungen, statt.<br />

Medikamente werden ohne ärztliche Zustimmung abgesetzt o<strong>der</strong> unregelmäßig<br />

eingenommen. Viele Kranke denken, es werde schon gut gehen. Nicht selten folgen<br />

sie dem Rat von Angehörigen, häufiger von Freunden, die ihnen wohlmeinend raten,<br />

das <strong>mit</strong> den Medikamenten doch zu lassen. Sie würden davon nur krank. Bei<br />

fehlen<strong>der</strong> kritischer Selbstbeobachtung dauert es länger, bis die Kranken zurück in<br />

die Behandlung finden. Gerade wenn sie sich beweisen wollen, dass ihre Psychose<br />

Ausdruck einer Lebenskrise war und sich nicht wie<strong>der</strong>holen wird, tendieren sie auch<br />

dazu, die Zeichen des Wie<strong>der</strong>erkrankens zu missdeuten.<br />

Das beste Mittel, die Wie<strong>der</strong>erkrankung vermeiden, ist die konsequente<br />

Rückfallprophylaxe <strong>mit</strong> Medikamenten. Lei<strong>der</strong> ist diese keine Garantie. Auch bei<br />

regelmäßiger Medikamenteneinnahme kann es zum Rückfall kommen. Aus Gründen,<br />

die <strong>mit</strong> dem phasenhaften bzw. dem schubweisen Verlauf des <strong>Krankheit</strong>sprozesses<br />

92


zu tun haben, kann die <strong>Krankheit</strong> unabhängig von <strong>der</strong> Behandlung eine solche<br />

Durchschlagkraft entwickeln, dass es zum psychotischen Rezidiv kommt. Es spricht<br />

einiges dafür, dass solche Wie<strong>der</strong>erkrankungen auch nicht durch rechtzeitige, zum<br />

Teil massive Erhöhung <strong>der</strong> Medikamente abgefangen werden können.<br />

Diätetik des Lebens<br />

In den Katalog <strong>der</strong> Maßnahmen <strong>der</strong> Rückfallprophylaxe gehört neben <strong>der</strong><br />

Medikamentenbehandlung auch eine »Diätetik« des Lebens <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Psychose: Die<br />

Erkundung <strong>der</strong> eigenen Verletzlichkeit, die Vermeidung von überfor<strong>der</strong>nden<br />

psychosozialen Situationen, das aktive Aufsuchen und Herbeiführen von<br />

Lebenssituationen, die gut tun, die aufbauen.<br />

Mit <strong>der</strong> Gewissheit, dass wir es <strong>mit</strong> einem chronisch-rezidivierenden Verlauf zu tun<br />

haben, beginnt das eigentliche Ringen um die Bewältigung <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> -<br />

letztliche um das Leben <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>. Das kann nur gelingen, wenn alle<br />

Beteiligten zusammenwirken, wenn die Kranken bei ihrer Aufgabe <strong>der</strong> Unterstützung<br />

<strong>der</strong> ihnen nahe stehenden Menschen wie <strong>der</strong> Behandelnden gewiss sein können.<br />

Dazu bedarf es des Lernens auf allen Seiten. Grundvoraussetzung dafür ist, wie bei<br />

allen chronisch-rezidivierenden Erkrankungen, die Befähigung <strong>der</strong> Kranken zur<br />

aktiven Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> ihrem Leiden. Sie müssen, so gut es geht, lernen,<br />

<strong>mit</strong> ihrer <strong>Krankheit</strong> zu <strong>leben</strong>, wenn sie sie schon nicht überwinden können.<br />

Voraussetzung dafür wie<strong>der</strong>um ist, dass sie so viel wie möglich über diese <strong>Krankheit</strong><br />

wissen, dass sie aus <strong>der</strong> Betroffenenperspektive zu Experten ihrer <strong>Krankheit</strong> werden.<br />

Für die Angehörigen ist das nicht an<strong>der</strong>s.<br />

Die Therapeuten wie<strong>der</strong>um müssen sich auf die langfristige Begleitung ihrer<br />

psychosekranken Patientinnen und Patienten einlassen. Lei<strong>der</strong> ist die Verbindung<br />

von lang andauern<strong>der</strong> Präsenz und Kompetenz im gegenwärtigen <strong>med</strong>izinischen<br />

Versorgungssystem keine Selbstverständlichkeit.<br />

Obwohl sich das Zusammenwirken von Behandelnden, Kranken und Angehörigen<br />

gleichzeitig vollzieht, seien ihre unterschiedlichen Perspektiven dabei aus Gründen<br />

93


<strong>der</strong> Darstellungssystematik in geson<strong>der</strong>ten Abschnitten dieses Kapitels behandelt.<br />

Dies ist auch deswegen erfor<strong>der</strong>lich, weil zwar das Ziel <strong>der</strong> Überwindung und<br />

Beherrschung <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> für alle Beteiligten dasselbe ist. Das bedeutet aber nicht,<br />

dass Behandelnde, Angehörige und Kranke auf dem Weg dahin auch immer die<br />

gleichen Interessen haben. Das kann gar nicht so sein. Das Ausmaß an Betroffenheit<br />

ist dazu zu unterschiedlich.<br />

Langfristige Strategie<br />

Spätestens nach dem ersten Rückfall ist es notwendig, eine langfristige<br />

Behandlungsstrategie zu entwickeln, die von Kranken und Therapeuten in gleicher<br />

Weise getragen wird. Die klassische Arzt-Patienten-Rolle verän<strong>der</strong>t sich. Die<br />

paternalistische Vorstellung von Medizin ist in <strong>der</strong> Psychiatrie ohnehin seit langem in<br />

Frage gestellt. Aber bei einer <strong>Krankheit</strong> <strong>mit</strong> chronisch-rezidivierendem Verlauf zeigt<br />

sich das in aller Deutlichkeit. Hier kann es nicht mehr darum gehen, dass <strong>der</strong> Patient<br />

tut, was die Ärztin o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Arzt ihm sagt. Es bleibt nützlich, wenn er<br />

Expertenratschläge befolgt.<br />

Aber auf lange Sicht kommt es darauf an, einen Behandlungsplan zu erarbeiten, dem<br />

ein gemeinsames <strong>Krankheit</strong>s- und Behandlungsverständnis zugrunde liegt und <strong>der</strong><br />

von beiden Seiten aktiv <strong>mit</strong>getragen wird – ein Vertrag, <strong>der</strong> letzten Endes<br />

ausgehandelt werden muss. Die <strong>Krankheit</strong> wird behandelt. Aber über die Art und<br />

Weise <strong>der</strong> Behandlung wird verhandelt. Eine Therapie, hinter <strong>der</strong> vor allem die<br />

Experten stehen, die Kranken aber nicht überzeugt, kann langfristig nicht tragfähig<br />

sein. Sie ist ständig vom Behandlungsabbruch bedroht. Da es auch in dieser<br />

<strong>Krankheit</strong>sphase noch häufig vorkommt, dass die Behandelnden den Kranken ihre<br />

Therapie und ihre therapeutischen Vorstellungen aufdrängen, gehört die Gewinnung<br />

<strong>der</strong> Kranken für eine gemeinsame aktive und konstruktive Behandlungslinie zu den<br />

zentralen Therapiezielen, bis dies gelungen ist. Neben Medikamenten,<br />

Psychoinformation bzw. Psychoedukation und begleiten<strong>der</strong> Psychotherapie<br />

gewinnen die Selbsthilfe und die Ermutigung dazu an Gewicht, für die Angehörigen<br />

wie die Kranken.<br />

94


Selbsthilfe<br />

Die psychoedukative Gruppenarbeit ist aber nur einer <strong>der</strong> vielfältigen Wege <strong>der</strong> Hilfe<br />

zur Selbsthilfe, die heute zur Verfügung stehen. Das Psychoseseminar, das von zwei<br />

Hamburgern, <strong>der</strong> psychose-erfahrenen Bildhauerin Dorothea Buck und dem<br />

Psychologen Thomas Bock entwickelt wurde, und das im deutschen Sprachraum<br />

große Verbreitung gefunden hat, ist ein an<strong>der</strong>er möglicher Weg. Im<br />

Psychoseseminar treffen sich ebenfalls zeitlich begrenzt für jeweils ein Semester<br />

psychose-erfahrene Menschen, Expertinnen und Experten verschiedener<br />

Berufsgruppen und interessierte Mitbürger im Rahmen einer Volkshochschule o<strong>der</strong><br />

eines Universitätsseminars, auf jeden Fall aber außerhalb eines institutionalisierten<br />

therapeutischen Rahmens. Alle Beteiligten steuern ihre Erfahrungen bei, als Kranke<br />

o<strong>der</strong> ehemals Kranke, als Ärztinnen o<strong>der</strong> Psychologen, Sozialarbeiterinnen o<strong>der</strong><br />

Krankenpfleger, als beteiligte Angehörige, Freunde o<strong>der</strong> Nachbarn o<strong>der</strong> schlicht als<br />

Interessierte, die ihren gesunden Menschenverstand einbringen.<br />

Diese Seminare haben den Vorteil, dass sie die Psychose bis zu einem gewissen<br />

Grad normalisieren und un<strong>mit</strong>telbare Verbündete bei <strong>der</strong> persönlichen<br />

Entstigmatisierung und beim Stigmamanagement schaffen. Das Psychoseseminar<br />

relativiert die »Einmaligkeit« des Er<strong>leben</strong>s in <strong>der</strong> Psychose. Es zeigt, dass auch<br />

Menschen, die nicht in psychiatrischer Behandlung waren, Grenzerfahrungen<br />

gemacht haben, die sie in die Nähe psychotischen Er<strong>leben</strong>s gebracht haben, und<br />

hilft bei <strong>der</strong> sozialen Einordnung des eigenen Er<strong>leben</strong>s bzw. <strong>der</strong> eigenen<br />

psychiatrischen Vorerfahrungen.<br />

Eine weitere Möglichkeit <strong>der</strong> Hilfe bieten Selbsthilfegruppen von Angehörigen wie<br />

von psychisch Kranken o<strong>der</strong> ehemals psychisch Kranken. Solche Gruppen können<br />

für viele Kranke hilfreich sein. An<strong>der</strong>e er<strong>leben</strong> sie eher als Belastung, weil sie sie<br />

ständig <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> und <strong>mit</strong> dem Leid an<strong>der</strong>er konfrontieren. Dazu kommt, dass<br />

Selbsthilfegruppen nicht ganz selten einen militanten, teilweise einen<br />

antipsychiatrischen Charakter haben, dass sie sich gegen den Einsatz von<br />

Neuroleptika wenden und dass sie die Psychiatrie vorrangig als eine Institution <strong>der</strong><br />

Gewalt betrachten. Dies kann so sein. Dies ist aber keineswegs immer so. In vielen<br />

95


Gruppen lernen Psychiatrieerfahrene den differenzierten Umgang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Psychiatrie<br />

und <strong>mit</strong> den Medikamenten. Und selbst wenn es so ist, kann das für manche Kranke<br />

eine Hilfe sein, ihre traumatischen Erfahrungen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Psychiatrie und <strong>der</strong><br />

psychiatrischen Behandlung abzuarbeiten.<br />

Familienklima und Rückfallrisiko<br />

In Forschungen über die Beziehung zwischen <strong>Schizophrenie</strong>kranken und ihren<br />

Angehörigen, insbeson<strong>der</strong>e ihren Eltern, in geringerem Ausmaß ihren Partnern, wird<br />

offenbar, dass die Atmosphäre nicht selten gespannt, manchmal sogar feindselig ist,<br />

dass man Mühe hat, sich gegenseitig zu ertragen und doch aufeinan<strong>der</strong> angewiesen<br />

ist – und dass dies un<strong>mit</strong>telbare Folgen für den weiteren <strong>Krankheit</strong>sverlauf hat. Wenn<br />

das Familienmilieu entspannt und freundschaftlich ist, wird das Rückfallrisiko<br />

vermin<strong>der</strong>t. Wenn grosse familiäre Spannungen bestehen, insbeson<strong>der</strong>e wenn<br />

Angehörige ständig Kritik aussprechen, erhöht sich das Rezidivrisiko. Ein einfaches<br />

Schema <strong>der</strong> englischen Gruppe um J. Leff verdeutlicht diese Zusammenhänge.<br />

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

Schema<br />

___________________________________________________________________<br />

_<br />

Es geht hier nicht darum, zu urteilen o<strong>der</strong> gar zu verurteilen. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> psychisch<br />

Kranken, <strong>mit</strong> über die Maßen verletzlichen Menschen, zusammengelebt o<strong>der</strong> im<br />

therapeutischen Rahmen gearbeitet hat, weiß, wie schwer es ist, Gelassenheit zu<br />

wahren. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> seiner Verletzlichkeit und <strong>mit</strong> psychotischen Symptomen eng<br />

<strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Menschen zusammengelebt hat, weiß, wie leicht Gereiztheit auf beiden<br />

Seiten aufkommen kann.<br />

Solche Probleme lassen sich nicht immer auflösen. Wichtig ist zu klären, was sich<br />

dort abspielt und dass Wege aus <strong>der</strong> Falle des Beziehungsclinchs gesucht werden.<br />

Das kann in dem pragmatischen englischen Ansatz bestehen, den zeitlichen<br />

96


un<strong>mit</strong>telbaren Kontakt auf 35 Stunden in <strong>der</strong> Woche zu begrenzen, z.B. durch den<br />

Besuch einer Tagesstätte, durch den Aufenthalt in einer eigenen Wohnung o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e äußere Maßnahmen. Das kann aber auch darin bestehen, dass sich alle<br />

Beteiligten an einen Tisch setzen und versuchen, eine Lösung zu finden, die von<br />

gegenseitiger Toleranz und Einsicht getragen ist. Aber es ist of schwer, die richtige<br />

Relation von Nähe und Distanz zu finden. Dabei zu helfen, ist ein Ziel von<br />

Psychoedukation.<br />

97


11 Wenn die <strong>Krankheit</strong> andauert<br />

Wenn eine <strong>Krankheit</strong> andauert, müssen die Betroffenen und die Mitbetroffenen<br />

lernen, da<strong>mit</strong> zu <strong>leben</strong>. Das ist bei allen chronischen Leiden so, ob nun beim<br />

Diabetes, nach Herzinfarkten, bei Erkrankungen des Bewegungsapparates o<strong>der</strong> im<br />

Gefolge von Hirnschlägen. Andauernde chronische <strong>Krankheit</strong>en prägen die Medizin<br />

<strong>der</strong> zweiten Lebenshälfte. In <strong>der</strong> Psychiatrie ist das lei<strong>der</strong> oft schon früher <strong>der</strong> Fall -<br />

bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis manchmal schon im dritten<br />

Lebensjahrzehnt.<br />

Niemand ist nur krank. <strong>Krankheit</strong>en bedingen Einschränkungen und Behin<strong>der</strong>ungen<br />

in bestimmten Lebensbereichen. In an<strong>der</strong>en bleiben die Betroffenen leistungsfähig,<br />

sind sie gesund. Diese müssen des Lebenlernens <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> erkundet und<br />

ausgeweitet werden, um die Lebensqualität zu verbessern. Dabei ist vor allem <strong>der</strong><br />

Betroffene selber gefor<strong>der</strong>t. Aber Angehörige, Freunde, Arbeitskollegen und natürlich<br />

ihm dabei helfen. Allerdings gibt es auch bei andauern<strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> die Möglichkeit<br />

zur Lin<strong>der</strong>ung einzelner Symptome durch therapeutische Massnahmen.<br />

Fortbestehen "positiver" Symptome<br />

Positive <strong>Krankheit</strong>ssymptome sind nicht positiv. Sie werden nur so genannt. Wenn<br />

sie auf keine Behandlung ausreichend ansprechen geschieht Folgendes:<br />

Denkstörungen bilden sich nicht zurück. Halluzinationen bleiben bestehen. Angst hält<br />

an. Verfolgungsideen o<strong>der</strong> systematisierter Wahn bleiben unbeeinflussbar. Bevor<br />

man sich da<strong>mit</strong> abfindet, muss geklärt sein, ob Wirklich alle<br />

Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Wenn das so ist, muss man sich<br />

darauf einstellen, dass die noch vorhandene Symptomatik in <strong>der</strong> Tat<br />

"therapieresistent" ist. Dann gilt es, Kranken zu helfen, <strong>mit</strong> dieser Symptomatik <strong>mit</strong><br />

möglichst geringen Einschränkungen und Behin<strong>der</strong>ungen zu <strong>leben</strong>. In welcher Weise<br />

dies zu geschehen hat, hängt von <strong>der</strong> Art und <strong>der</strong> Ausprägung <strong>der</strong> Symptome ab.<br />

Davon hängt natürlich auch ab, wie erfolgreich eine solche Behandlung sein kann.<br />

98


Nicht wenige Patientinnen und Patienten lernen es, ganz gut <strong>mit</strong> ihren Stimmen zu<br />

<strong>leben</strong>, insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn sie eher beiläufig sind und wenn sie keine<br />

quälenden, belastenden o<strong>der</strong> gar imperativen Inhalte haben. Wenn dies <strong>der</strong> Fall ist,<br />

helfen häufig nie<strong>der</strong>potente Neuroleptika, den quälenden Charakter <strong>der</strong> Stimmen zu<br />

mil<strong>der</strong>n. Der Umgang <strong>mit</strong> den Stimmen kann dann gut zum Gegenstand<br />

psychotherapeutischer Betreuung und Begleitung werden. Jenseits von Klärung und<br />

psychotherapeutischer Unterstützung gibt es eine Reihe von<br />

verhaltenstherapeutischen Techniken, die dabei helfen können, <strong>mit</strong> den Stimmen zu<br />

<strong>leben</strong>. Dazu gehört beispielsweise die systematische Ablenkung durch das Hören<br />

von Musik. Manchen Kranken hilft die "Gegenrede", hilft es den Stimmen zu<br />

wi<strong>der</strong>sprechen.<br />

Denkstörungen etwa können auch dann durch niedrige Dosen von Neuroleptika<br />

gemil<strong>der</strong>t werden, wenn sie persistieren. Hier sind im Rahmen <strong>der</strong><br />

psychotherapeutischen Begleitung individuelle Wege zu suchen, wie die Kranken<br />

da<strong>mit</strong> <strong>leben</strong> können. Selbstverständlich ist das nicht leicht. Aber es lohnt, sich immer<br />

wie<strong>der</strong> den Bleulerschen Satz in Erinnerung zu rufen, »dass das Gesunde dem<br />

Schizophrenen erhalten bleibt«. Dies gilt auch dann, wenn Störungen des Denkens<br />

vorliegen. Hier gilt es, <strong>mit</strong> den gesunden Anteilen zu arbeiten und die gestörten<br />

Anteile <strong>mit</strong> ihrer Hilfe möglichst weit gehend zu kontrollieren.<br />

Fortbestehen negativer Symptome<br />

Das Vorgehen beim Persistieren negativer Symptome ist noch mühseliger. Von <strong>der</strong><br />

Medikamentenbehandlung ist wenig Hilfe zu erwarten. Das gilt insbeson<strong>der</strong>e von<br />

hochdosierter Neuroleptikabehandlung. Im Gegenteil, beim Vorherrschen von<br />

Negativsymptomatik muss man versuchen, <strong>mit</strong> möglichst niedrigen Dosen<br />

auszukommen, um nicht sogenannte sekundäre Negativsymptome auszulösen, die<br />

Nebenwirkungen <strong>der</strong> Neuroleptikabehandlung sind, insbeson<strong>der</strong>e bei <strong>der</strong><br />

Behandlung <strong>mit</strong> konventionellen hochpotenten Neuroleptika. atypische<br />

Neuroleptikum. Gegenüber behaupteten günstigen Wirkungen von - niedrig<br />

dosierten - Neuroleptika ist lei<strong>der</strong> Skepsis angesagt. Alles, was die Neuroleptika<br />

nicht bewirken, ist Angelegenheit von psychosozialem Training und Rehabilitation –<br />

o<strong>der</strong> Angelegenheit von Geduld und Zeit. Meist dürfte es die Verbindung von beiden<br />

sein.<br />

99


Fehlende Kooperation. Leben <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> als Ringen <strong>mit</strong> den Behandelnden<br />

Die fehlende Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient, zwischen Ärztin und<br />

Patientin ist ein häufiger Grund für eine dann scheinbare Therapieresistenz<br />

psychotischer Störungen. Der Begriff <strong>der</strong> Compliance ist unglücklich gewählt. Er<br />

gerät bei Kranken, insbeson<strong>der</strong>e bei solchen, die in Selbsthilfeorganisationen<br />

organisiert sind, zunehmend in Verruf. Er unterstellt einen einseitigen Prozess. Die<br />

Behandelnden ordnen an, die Kranken führen aus. Dies kann heute nicht mehr so<br />

gemeint sein. Wegen <strong>der</strong> Belastung des Begriffes setzt sich im angelsächsischen<br />

Sprachraum zunehmend <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> »Konkordanz« durch.<br />

Kranke und ihre Behandelnden suchen in Übereinstimmung den besten und<br />

geeignetsten Weg zur Behandlung <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>. Bei lang anhaltenden psychischen<br />

Störungen muss das selbstverständlich so sein. Ich habe das in den einführenden<br />

Kapiteln bereits mehrfach hervorgehoben. Bei fehlen<strong>der</strong> Übereinstimmung über<br />

Behandlungsziele und über die beste Art <strong>der</strong> Therapie kommt es zu<br />

Missverständnissen, kommt es zur Verweigerung <strong>der</strong> Kranken gegenüber<br />

<strong>med</strong>izinischen Ratschlägen. Das beginnt <strong>mit</strong> einem unterschiedlichen<br />

<strong>Krankheit</strong>sverständnis und endet <strong>mit</strong> dem Unverständnis und <strong>der</strong> inneren Ablehnung<br />

<strong>der</strong> vorgeschlagenen Maßnahmen, häufig ohne dass diese Vorbehalte artikuliert<br />

werden.<br />

Bei fehlen<strong>der</strong> Compliance genügt deshalb nicht das Insistieren <strong>der</strong> Behandelnden<br />

auf Medikamenteneinnahme o<strong>der</strong> regelmäßiger Teilnahme an soziotherapeutischen<br />

Maßnahmen. Mangelnde Compliance ist Anlass für eine Bestandsaufnahme für die<br />

Überprüfung <strong>der</strong> Grundlagen <strong>der</strong> Behandlung und für den Versuch, eine neue<br />

Übereinstimmung zu finden – eben eine Konkordanz darüber, wie vorzugehen ist.<br />

Das bedarf nicht nur <strong>der</strong> Zeit, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Bereitschaft <strong>der</strong> Therapeuten,<br />

zuzuhören und, wenn erfor<strong>der</strong>lich, einen Weg auszuhandeln, <strong>der</strong> nicht in jedem Fall<br />

ihren Idealvorstellungen von dem entspricht, was sinnvoll und notwendig ist. Im<br />

Umgang <strong>mit</strong> psychisch Gesunden gilt die Regel, dass körperlich Kranke in jedem Fall<br />

für sich selbst verantwortlich sind und entscheiden können, ob sie kooperieren wollen<br />

o<strong>der</strong> nicht. Gegenüber psychisch Kranken gilt sie <strong>mit</strong> Einschränkungen, weil die<br />

Schwierigkeit, eine Übereinstimmung zu finden, <strong>mit</strong> persistierenden<br />

<strong>Krankheit</strong>ssymptomen im Bereich des Denkens o<strong>der</strong> des Affekts zu tun haben<br />

100


können. Auf keinen Fall kann es um ein Alles o<strong>der</strong> Nichts gehen. Vielmehr ist es<br />

angezeigt, über einen tragfähigen Weg <strong>der</strong> Behandlung zu verhandeln.<br />

Mangelnde »<strong>Krankheit</strong>seinsicht«<br />

Mit <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>seinsicht ist das so eine Sache. Sie gilt als psychopathologisch<br />

begründetes Merkmal schizophrener Psychosen – als kognitives Defizit. Das mag<br />

teilweise berechtigt sein. Es sei jedoch davor gewarnt, das allzu einseitig zu sehen.<br />

Wer unter einem Wahn leidet, wer felsenfest davon überzeugt ist, verfolgt zu werden,<br />

bedroht und vergiftet zu werden, kann aufgrund seiner Weltsicht nicht verstehen,<br />

dass das, was <strong>mit</strong> ihm geschieht, krankhaft ist, dass er in Wirklichkeit an einer<br />

psychischen <strong>Krankheit</strong> leidet. An<strong>der</strong>erseits gibt es vielfältige Symptome psychischer<br />

Störungen, <strong>der</strong>en krankhafter Charakter auch bei Vorliegen psychotischer Störungen<br />

ver<strong>mit</strong>telt werden kann. Auch hier gilt die Warnung vor dem Alles o<strong>der</strong> Nichts.<br />

Angst beispielsweise o<strong>der</strong> Schlafstörungen, Müdigkeit, Erschöpfung,<br />

Abgeschlagenheit und Passivität gelten im Alltagswissen weiter Kreise <strong>der</strong><br />

Bevölkerung als potenzielle <strong>Krankheit</strong>ssymptome. Die Erfahrung zeigt, dass sie auch<br />

»krankheitsuneinsichtigen« Psychosekranken als solche ver<strong>mit</strong>telt werden können.<br />

Wenn die Verständigung zwischen den Kranken und ihren Behandelnden sich<br />

schwierig gestaltet, kann es sinnvoll sein, sich über die Therapie solcher<br />

Teilsymptome zu einigen und auf diese Weise den Einstieg zu finden. Das kann auch<br />

<strong>der</strong> Einstieg in die Neuroleptikabehandlung sein.<br />

Auf diesem Wege ist nicht nur eine Basisverständigung über die<br />

Behandlungsnotwendigkeit möglich, son<strong>der</strong>n auch darüber, dass das, was die<br />

Kranken ängstigt und sich selbst entfremden lässt, etwas <strong>mit</strong> Medizin und <strong>mit</strong><br />

<strong>Krankheit</strong> zu tun hat. Dieses Basisverständnis kann dann allmählich ausgeweitet<br />

werden. Mit <strong>der</strong> Rückbildung <strong>der</strong> Symptome bietet sich die Chance, die Einsicht zu<br />

för<strong>der</strong>n und womöglich den <strong>Krankheit</strong>scharakter des Gesamtbildes <strong>der</strong><br />

psychotischen Verän<strong>der</strong>ung zu erläutern und verständlich zu machen. Aber<br />

unabhängig davon kann <strong>der</strong> Betroffene eine für ihn Gangbare Form des Umgangs<br />

<strong>mit</strong> seiner Situation entwickeln.<br />

101


Störungen des Handelns und des Wollens<br />

Nach allgemeinem Verständnis sind solche Zustände <strong>mit</strong> vollständigem sozialem<br />

Rückzug verbunden, <strong>mit</strong> dem Bedürfnis, sich rundum versorgen zu lassen bei<br />

gleichzeitiger Vermin<strong>der</strong>ung fast aller an<strong>der</strong>en Bedürfnisse auf ein Minimum. Kranke,<br />

die in diesem Zustand zu Hause <strong>leben</strong>, bewegen sich nicht o<strong>der</strong> nur unter großem<br />

Zureden (o<strong>der</strong> unter <strong>Dr</strong>uck) aus ihrem Zimmer. Sie stehen morgens nicht auf. Sie<br />

vernachlässigen ihre Körperpflege. Sie sind mühsam unter die Dusche zu bringen.<br />

Sie laufen den ganzen Tag im Trainingsanzug herum. Sie wechseln ihre Kleidung<br />

nicht. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nichts tun. Sie freuen sich über nichts.<br />

Sie scheinen unbeeindruckt zu sein von dem, was um sie herum vorgeht. Sie<br />

nehmen nicht am gemeinsamen Essen teil. In schweren Fällen stellen sie<br />

vorübergehend sogar das Essen ein. Meist nehmen diese Patienten auch keine<br />

Medikamente ein.<br />

Hier zu helfen, ist schwer. Wenn diese Patienten allein <strong>leben</strong>, tritt nicht selten ein<br />

Zustand von Verwahrlosung ein, <strong>der</strong> dann doch zur Intervention von außen führt.<br />

Wenn sie in <strong>der</strong> Familie <strong>leben</strong>, entwickelt sich häufig eine Szenerie stillen Leidens, in<br />

<strong>der</strong> die Angehörigen auch dann ohne Hilfe bleiben, wenn sie darum nachsuchen.<br />

Allenfalls <strong>der</strong> Hausarzt kommt in solchen Fällen ins Haus. Beim Psychiater ist das<br />

eher selten <strong>der</strong> Fall; und das Einweisungsgesetz greift nicht, weil ja keine dringende<br />

Gefahr <strong>der</strong> öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegt. Wenn eine Klinikbehandlung<br />

nicht herbeigeführt werden kann, ist <strong>der</strong> erfolgversprechendste Weg, die Kranken in<br />

irgendeiner Weise zu überreden, wenigstens niedrige Dosen von Medikamenten<br />

einzunehmen. Wenn sich in solchen Konstellationen die Situation zuspitzt, müssen<br />

unkonventionelle Wege zur einer Lösung gesucht werden.<br />

Die <strong>Dr</strong>ehtür<br />

Der häufige Rückfall <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Konsequenz <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>aufnahme in <strong>der</strong><br />

Psychiatrischen Klinik ist ein Son<strong>der</strong>fall <strong>der</strong> Therapieresistenz. Kranke erleiden ein<br />

Rezidiv. Sie dekompensieren in einem solchen Ausmaß, dass sie in die Klinik<br />

102


eingewiesen werden müssen. Ihr Zustand bessert sich. Sie werden entlassen, und<br />

kurze Zeit später dekompensieren sie erneut. Es gibt Kranke, die innerhalb weniger<br />

Jahre fünf-, zehn-, zwanzigmal wie<strong>der</strong> aufgenommen und wie<strong>der</strong> entlassen werden,<br />

die zuverlässig nach wenigen Wochen o<strong>der</strong> wenigen Monaten wie<strong>der</strong> zurückkehren.<br />

Auch das kann vielfältige Gründe haben.<br />

Der häufigste besteht darin, dass sie kurze Zeit nach <strong>der</strong> Entlassung die ambulante<br />

Behandlung abbrechen, dass sie sie häufig erst gar nicht aufsuchen. Meistens<br />

setzen sie bald nach <strong>der</strong> Entlassung die Medikamente ab. Häufig werden sie zu<br />

schnell wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Klinik entlassen. Das wie<strong>der</strong>um kann unterschiedliche Gründe<br />

haben. Die bloße Vorgeschichte entmutigt die Therapeutinnen und Therapeuten oft,<br />

eine konsequente Durchbehandlung zu versuchen. Wer zum 37.Mal in die Klinik<br />

kommt, wird oft nur als vorübergehen<strong>der</strong> Gast begrüßt, eine Krisenintervention<br />

absolvieren und, wenn er dies wünscht, nach wenigen Tagen wie<strong>der</strong> entlassen.<br />

Eine an<strong>der</strong>e Gruppe von Patientinnen und Patienten wird als behandlungsbedürftig<br />

erkannt, ist jedoch behandlungsunwillig; und Gründe für eine fürsorgliche<br />

Zurückhaltung liegen nicht vor. Sie sind krank, aber friedfertig. Sie stören niemanden,<br />

wenn sie in die Gemeinde entlassen werden. Gerichtsärzte, Amtsärzte,<br />

psychiatrische Kommissionen und Gerichte sehen keinen Grund, sie einer<br />

Behandlung gegen ihren Willen zuzuführen. Sie bleiben auf diese Weise ihrem<br />

Schicksal des Lebens <strong>mit</strong> <strong>der</strong> unzureichend behandelten <strong>Krankheit</strong> überlassen. Sie<br />

selbst sind nicht im Stande, angemessene Hilfe zu organisieren. Oft ist ihr<br />

Hilfesuchverhalten gestört. Oft erkennen sie auch ihre eigenen Bedürfnisse nicht.<br />

Genau so oft sind sie zufrieden <strong>mit</strong> dem Leben im Elend, weil die <strong>Krankheit</strong> zu einer<br />

Minimisierung ihrer Lebensbedürfnisse geführt hat.<br />

Bei dieser Patientengruppe lohnt es, die <strong>Dr</strong>ehtür zu stoppen. Das kann auf doppelte<br />

Weise geschehen: Durch die Aufnahme in die Klinik für eine längere Zeit: drei<br />

Monate, sechs Monate, ein Jahr – o<strong>der</strong> durch die Zuweisung an eine gut<br />

durchorganisierte Nachsorgeeinrichtung, die auch aufsuchende Hilfe leistet, die also<br />

nicht resignierend die Hände in den Schoß legt, wenn ein Patient o<strong>der</strong> eine Patientin<br />

den vereinbarten Termin nicht einhält. Oft ist eine Kombination von beiden<br />

Maßnahmen angezeigt: Erst Stabilisierung durch eine stationäre Behandlung, dann<br />

103


nach sorgsamer Vorbereitung Zuweisung an einen sozialpsychiatrischen Dienst, an<br />

eine multiprofessionell organisierte Nachsorgeeinrichtung.<br />

Doppelerkrankung Psychose und Abhängigkeit<br />

Es gibt <strong>Krankheit</strong>en, die in Mode kommen. Nicht selten geschieht dies zum Nutzen<br />

<strong>der</strong> Kranken. Derzeit sind die so genannten »Doppeldiagnosen« Mode, so sehr, dass<br />

sie gelegentlich ohne Spezifizierung für sich stehen. Gemeint ist in <strong>der</strong> Regel, dass<br />

jemand, <strong>der</strong> an einer Psychose erkrankt ist, außerdem noch alkohol-, <strong>med</strong>ikamenteno<strong>der</strong><br />

drogenabhängig ist. An verschiedenen Orten, etwa in Hamburg o<strong>der</strong> in Zürich<br />

hat man Spezialstationen für diese Kranken eingerichtet. Dafür gibt es gute Gründe.<br />

Im gewöhnlichen psychiatrischen Setting sind diese Kranken wenig erwünscht. Sie<br />

»passen nirgendwo ins Konzept«. Auf den Abteilungen für Abhängigkeitskranke stört<br />

man sich daran, dass sie an einer Psychose leiden. Auf den Abteilungen, die<br />

allgemeinpsychiatrisch arbeiten, sprengt die Abhängigkeit das Konzept. Ob sie nun<br />

Cannabis rauchen, übermäßig dem Alkohol zusprechen o<strong>der</strong>, am schlimmsten,<br />

Kokain o<strong>der</strong> Heroin missbrauchen, sie bringen die Abteilungsordnung durcheinan<strong>der</strong><br />

und sie fügen sich in keinen rechten Therapieplan ein.<br />

Trotzdem bedarf es <strong>der</strong> Spezialisierung auf diese Patientengruppen nicht unbedingt,<br />

um Zuweisung und angemessene Behandlung zu gewährleisten. Ein<br />

<strong>Schizophrenie</strong>kranker, <strong>der</strong> außerdem von irgendwelchen Suchtstoffen abhängig ist,<br />

bleibt vorrangig ein <strong>Schizophrenie</strong>kranker. Er wird dort angemessen behandelt, wo<br />

an<strong>der</strong>e <strong>Schizophrenie</strong>kranke auch behandelt werden. Diese For<strong>der</strong>ung ist an das<br />

psychiatrische Behandlungssetting zu stellen. Nur in <strong>der</strong> akuten Situation beim<br />

Entzug von Alkohol o<strong>der</strong> Heroin ist <strong>der</strong> Rahmen einer Abteilung für<br />

Abhängigkeitskranke angemessen und richtig. Wenn <strong>der</strong> Entzug vorbei ist, wird die<br />

allgemeine Psychiatrie wie<strong>der</strong> zuständig. Die Behandlung <strong>der</strong> Psychose hat Vorrang.<br />

Allzu häufig ist <strong>der</strong> Gebrauch von Suchtstoffen eine sekundäre <strong>Krankheit</strong>sfolge in<br />

dem Sinn, dass die Psychose nicht zureichend behandelt worden ist. Alkohol o<strong>der</strong><br />

Heroin werden als untaugliche Mittel zum Bekämpfung von psychotischen<br />

Symptomen wie Angst und Unruhe eingenommen. Das ist <strong>der</strong> Grund, weshalb die<br />

Behandlung <strong>der</strong> Grundkrankheit zugleich <strong>der</strong> erste Schritt zur Behandlung <strong>der</strong><br />

sekundären Abhängigkeit ist. Die Komplikation <strong>der</strong> Psychose durch die<br />

Suchtstoffabhängigkeit kann ein Grund sein, ähnlich wie beim <strong>Dr</strong>ehtürpatienten eine<br />

104


längere stationäre Behandlungsphase einzuschalten, um zu einer Stabilisierung<br />

beizutragen und die Rückkehr in ein verän<strong>der</strong>tes soziales Milieu einzuleiten.<br />

Was kann man tun<br />

Im ersten Teil dieses Kapitels habe ich eine Reihe von Faktoren erörtert, die zu<br />

Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> Behandlung schizophrener Psychosen führen. Nur zwei<br />

davon haben da<strong>mit</strong> zu tun, dass die <strong>Krankheit</strong> sich gegenüber den verfügbaren<br />

Behandlungsmethoden als »resistent« erweist: Das Persistieren positiver und<br />

negativer psychotischer Symptome. Die geson<strong>der</strong>t aufgeführten Störungen des<br />

Handelns und des Wollens gehören zu den Negativsymptomen. Bei allen an<strong>der</strong>en<br />

handelt es sich um Probleme <strong>der</strong> Verständigung zwischen Therapeuten und<br />

Patienten über die Notwendigkeit und die Art <strong>der</strong> Behandlung, um Unzulänglichkeiten<br />

des Behandlungssystems und um <strong>Krankheit</strong>sfolgen wie Institutionalismus und<br />

sekundäre Abhängigkeit von Alkohol o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Suchtstoffen.<br />

Mit an<strong>der</strong>en Worten: Nicht alles, was unter Therapieresistenz subsumiert wird, ist <strong>der</strong><br />

Behandlung wirklich nicht zugänglich, wenn man alle zu Gebote stehenden<br />

Möglichkeiten ausnützt, die Geduld bewahrt und die Kranken nicht aus den Augen<br />

verliert. Fehlende Kooperation und Compliance sind möglicherweise doch durch<br />

Beharrlichkeit und geduldiges Verhandeln <strong>mit</strong> den Kranken zu überwinden. Wenn<br />

das nicht o<strong>der</strong> nur teilweise gelingt, ist die Unterstützung durch die Angehörigen<br />

hilfreich, gegebenenfalls auch die von Freunden und Bekannten. Kooperation und<br />

Compliance sind nicht Ergebnis einer einmaligen Entscheidung. Sie sind Ausdruck<br />

eines Fließgleichgewichtes von Argumenten und Gegenargumenten, von<br />

Erlebnissen und Erfahrungen sowie von mannigfachen Einflussfaktoren im Umfeld<br />

<strong>der</strong> Kranken. Mit an<strong>der</strong>en Worten: es muss ständig daran gearbeitet werden.<br />

Auch die »<strong>Krankheit</strong>seinsicht« ist ein solcher Faktor. Es sei daran erinnert, dass nicht<br />

nur Psychosekranke »uneinsichtig« sind. Der »unvernünftige« Umgang <strong>mit</strong> <strong>Krankheit</strong><br />

und Therapie ist ein zentrales Problem <strong>der</strong> gesamten Medizin. Menschen wollen<br />

nicht krank sein. Sie tun alles, um ihren Zustand zu verleugnen, und<br />

Medikamenteneinnahme und Arztbesuche sind <strong>der</strong> Beweis des Gegenteils. Die<br />

Beendigung <strong>der</strong> Medikamenteneinnahme ist aus <strong>der</strong> Perspektive des Nicht-Krank-<br />

105


Sein-Wollens nur konsequent. Das gilt um so mehr, als <strong>der</strong> Rückfall ja nur<br />

ausnahmsweise auf dem Fuß folgt. Das Psychoserezidiv lässt nicht Tage, son<strong>der</strong>n<br />

Wochen auf sich warten. Durch den Fortfall <strong>der</strong> unerwünschten<br />

Medikamentenwirkungen fühlen die Kranken sich vielmehr zunächst oft besser, bis<br />

es dann soweit ist. Bei solchem Verhalten wird die Geduld <strong>der</strong> Behandelnden arg<br />

strapaziert. Das än<strong>der</strong>t aber nichts daran, dass man dann <strong>mit</strong> dem gleichen<br />

Engagement wie vorher von vorn anfangen muss, so schwer einem das<br />

gegebenenfalls auch fallen mag.<br />

Noch schwieriger ist die Situation, wenn <strong>der</strong> Mangel an Einsicht in die <strong>Krankheit</strong><br />

durch psychotische Symptome gestützt wird. Meist sind dies Wahnsymptome, die<br />

einer un<strong>mit</strong>telbaren Argumentation nicht zugänglich sind. Das bedeutet aber nicht,<br />

dass solche Kranke überhaupt nicht erreichbar sind. Oft gibt es periphere Symptome,<br />

die sie stören o<strong>der</strong> unter denen sie leiden und die sie behandelt haben möchten.<br />

Dazu gehören Schlafstörungen, Unruhe und Angst, über <strong>der</strong>en Behandlung<br />

gegebenenfalls auch die Psychose selbst <strong>der</strong> Therapie zugänglich wird. Auch hier<br />

gilt es beharrlich, das Gespräch <strong>mit</strong> den Kranken zu suchen in <strong>der</strong> Hoffnung, sie am<br />

Ende doch für ein Behandlungsbündnis zu gewinnen.<br />

Wenn Störungen des Handelns und des Wollens im klassischen Bleulerschen Sinne<br />

im Vor<strong>der</strong>grund stehen, geht es häufig gar nicht um Überzeugungsarbeit, son<strong>der</strong>n<br />

darum, den Kranken möglichst weit entgegenzukommen. Wenn ihr Wollen bzw. ihr<br />

Wollen-Können erkrankt ist, sind sie oft dennoch bereit, Hilfe entgegenzunehmen,<br />

wenn diese an sie herangetragen wird. In <strong>der</strong> Begrifflichkeit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Sozialpsychiatrie nennt man dies »aufsuchende Hilfe«. Solche Kranken müssen,<br />

zumindest vorübergehend, zu Hause aufgesucht werden. Sie benötigen umfassende<br />

Unterstützung bei <strong>der</strong> Bewältigung ihres Alltags. In <strong>med</strong>ikamentöser Hinsicht sind sie<br />

die typischen Kranken, bei denen eine längerzeitig wirkende Depot<strong>med</strong>ikation<br />

indiziert ist. Voraussetzung allerdings ist, abgesehen von ihrem Einverständnis, dass<br />

die Medikamente ein spürbare positive Wirkung haben.<br />

Wenn <strong>Krankheit</strong>ssymptome fortbestehen, ist das zunächst eine Herausfor<strong>der</strong>ung an<br />

die Pharmakotherapie. Die Ausschöpfung aller Möglichkeiten erfor<strong>der</strong>t umfassende<br />

106


psychopharmakologische Kenntnisse und langzeitige Erfahrungen in <strong>der</strong><br />

Psychosentherapie gepaart <strong>mit</strong> Beharrlichkeit und Geduld. Unter den produktiven<br />

Symptomen ist es meist <strong>der</strong> systematisierte Wahn, nicht selten gepaart <strong>mit</strong> Angst<br />

und imperativen Eingebungen, <strong>der</strong> die Therapie auf die Probe stellt. Bei den<br />

negativen Symptomen sind es die Vermin<strong>der</strong>ung des Antriebes, das Nicht-Wollen-<br />

Können und <strong>der</strong> Autismus, die am schwersten zugänglich sind. Daran haben auch<br />

die neueren atypischen Neuroleptika nicht viel geän<strong>der</strong>t. Allerdings ist die<br />

versuchsweise Gabe von Clozapin indiziert, wenn man an<strong>der</strong>s nicht zum Erfolge<br />

kommt.<br />

Bei persistierendem systematisiertem Wahn gelten ähnliche Überlegungen. Hier ist<br />

sicher eine höhere Medikamentendosis indiziert. Aber es ist sicher falsch, nach <strong>der</strong><br />

Devise zu handeln: Viel hilft viel. Wenn keine bedrohliche Erregung vorliegt, wenn<br />

<strong>der</strong> Wahn und die Eingebung für die Kranken o<strong>der</strong> für <strong>Dr</strong>itte keine un<strong>mit</strong>telbare<br />

Gefährdung o<strong>der</strong> Bedrohung darstellen, reicht eine <strong>mit</strong>tlere, in ihren unerwünschten<br />

Wirkungen erträgliche Neuroleptikadosis aus. Wichtig ist, dass sie über lange Zeit<br />

gegeben wird. Das können beim systematisierten Wahn sechs Monate o<strong>der</strong> ein<br />

ganzes Jahr sein, bis sich <strong>der</strong> Erfolg einstellt. Da bei solchen Patientinnen und<br />

Patienten meist alle konventionellen Medikamente ausgereizt sind, ist Clozapin<br />

(Leponex) bei ihnen das Neuroleptikum <strong>der</strong> Wahl.<br />

Wenn Kranke über lange Zeit <strong>mit</strong> einem systematisierten Wahn gelebt haben, ist<br />

dieser, auch wenn er sie quält und sie unfähig macht, das soziale Leben<br />

wahrzunehmen, das sie sich wünschen, oft zu einem Teil ihrer Identität geworden.<br />

Das gilt vor allem, wenn sie ihren Tageslauf aufgrund ihrer Wahninhalte gestalten,<br />

wenn ihre Aktivitäten durch Wahnideen gesteuert sind, ganz beson<strong>der</strong>s, wenn es<br />

sich um Größenideen handelt. Dann kann die Unterdrückung des Wahns zu<br />

Inaktivität und innerer Leere führen und eine Sinnkrise bewirken, die geradewegs in<br />

den Suizid führt. Die Kranken sagen einem dies; und man tut gut daran, auf sie zu<br />

hören.<br />

Wenn dies <strong>der</strong> Fall ist, erweist es sich als sinnvoll, einen Mittelweg anzusteuern: Die<br />

Angst und die Unruhe <strong>med</strong>ikamentös zu mil<strong>der</strong>n, die produktive Aktivität aber nur in<br />

107


Grenzen zurückzudrängen, sodass <strong>der</strong> Kranke <strong>mit</strong> seinem Wahn sozial mehr o<strong>der</strong><br />

weniger integriert <strong>leben</strong> kann. Ich kenne eine Reihe von Patientinnen und Patienten,<br />

die auf diese Weise ein selbstständiges, subjektiv erfülltes Leben führen: als<br />

Künstler, als Erfin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> als Denker. Sie <strong>leben</strong> auf diese Weise in und <strong>mit</strong> ihrer<br />

Psychose. Bei ihnen zeigen sich die Grenzen <strong>der</strong> Therapie: Mehr würde ihnen<br />

schaden.<br />

Entscheidend für Art und Ausmaß <strong>der</strong> Behandlung »therapieresistenter« Zustände<br />

bleibt die Entwicklung <strong>der</strong> psychotischen Störung über die Zeit. Die Psychose ist kein<br />

stabiler Zustand. Sie kann nach Jahren, ja nach Jahrzehnten wie<strong>der</strong> aufflackern o<strong>der</strong><br />

re<strong>mit</strong>tieren, wechselhafte Symptome zeigen und auch in höherem Alter noch<br />

abklingen. Wichtig ist, dass die jeweilige Therapie sich dem Verlauf anpasst, dass<br />

die Behandelnden den Menschen hinter <strong>der</strong> Psychose nicht aus dem Auge verlieren.<br />

108


12 Rehabilitation und psychosoziale Hilfen<br />

Ziel von Therapie ist es, eine <strong>Krankheit</strong> zu heilen, Gesundheit wie<strong>der</strong> herzustellen<br />

und die von <strong>Krankheit</strong> Betroffenen in die Lage zu versetzen, ihr früheres Leben<br />

vollumfänglich wie<strong>der</strong> aufzunehmen. Rehabilitation kommt zum Tragen, wenn die<br />

Behandlung ausgeschöpft ist, wenn sich die Hoffnungen auf vollständige<br />

Wie<strong>der</strong>herstellung als falsch erwiesen haben. Rehabilitation setzt sich zum Ziel,<br />

durch <strong>Krankheit</strong> o<strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>sfolgen Behin<strong>der</strong>ten dabei zu helfen, besser <strong>mit</strong> ihrer<br />

Behin<strong>der</strong>ung zu <strong>leben</strong>, behin<strong>der</strong>ungsbedingte Einschränkungen durch das Erlernen<br />

neuer Fähigkeiten o<strong>der</strong> Training zu überwinden und durch För<strong>der</strong>ung gesun<strong>der</strong><br />

Persönlichkeitsanteile Defizite in einem Lebensbereich durch verbesserte<br />

Leistungsfähigkeit in an<strong>der</strong>en Bereichen auszugleichen. Die Rehabilitation von<br />

Psychosekranken beruft sich auf Eugen Bleulers zentralen Satz: »Den<br />

Schizophrenen bleibt das Gesunde erhalten«. Psychiatrische Rehabilitation greift auf<br />

die verbliebenen Ressourcen zurück und sucht sie für die berufliche und soziale<br />

Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung wo immer möglich zu nutzen.<br />

Wichtig ist, dass die Rehabilitation als gezielte Maßnahme erst einsetzt, wenn durch<br />

Behandlung eine weit gehende Stabilisierung erreicht ist. Wenn noch<br />

behandlungsfähige psychotische Symptome bestehen, etwa Denkstörungen, Wahn<br />

o<strong>der</strong> Verfolgungsideen und Angst, krankhafte Irritierbarkeit <strong>der</strong> Gefühle o<strong>der</strong><br />

therapiefähige Störungen des Wollens und des Handelns, sind Vorsicht und<br />

Zurückhaltung angebracht. Überfor<strong>der</strong>ung und vorzeitige hohe Erwartungen führen<br />

leicht zum Rückfall, zu Enttäuschung, Verlust <strong>der</strong> Hoffnung und Verzweiflung.<br />

Rehabilitationsmaßnahmen bedürfen <strong>der</strong> sorgsamen individuellen Dosierung. Sonst<br />

werden sie zum Risiko. Rehabilitation bedarf <strong>der</strong> Vorbereitung im<br />

milieutherapeutischen Rahmen <strong>der</strong> Klinik o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Tagesklinik durch Prüfung <strong>der</strong><br />

sozialen Kompetenzen im Rahmen von Ergotherapie, Arbeitstherapie und <strong>der</strong><br />

soziotherapeutischen Gestaltung des Alltags auf <strong>der</strong> Abteilung – o<strong>der</strong> zu Hause.<br />

109


Grundlagen <strong>der</strong> Rehabilitation bei psychischen Störungen<br />

Bei <strong>der</strong> Rehabilitation Psychosekranker ist Folgendes von zentraler Bedeutung:<br />

Psychische Behin<strong>der</strong>ung ist, an<strong>der</strong>s als geistige o<strong>der</strong> körperliche Behin<strong>der</strong>ung, nicht<br />

stabil, son<strong>der</strong>n mannigfachen Wechselfällen unterworfen. Der Langzeitverlauf von<br />

Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis ist typisch dafür. Die<br />

Beson<strong>der</strong>heiten seelischen Krankseins wirken sich so<strong>mit</strong> in an<strong>der</strong>er Weise aus, als<br />

bei <strong>der</strong> Rehabilitation körperlich o<strong>der</strong> geistig Behin<strong>der</strong>ter. Das bedingt auch, dass<br />

ihre Integration in allgemeine Rehabilitationsprogramme sich immer wie<strong>der</strong> als<br />

untauglich erweist. Ein Rezidiv zur Unzeit kann langjährige<br />

Rehabilitationsbemühungen zunichte machen. Deswegen gehört die<br />

Langzeitbehandlung unabdingbar zu allen Bemühungen <strong>der</strong> Rehabilitation<br />

Psychosekranker. Dabei bedürfen vor allem drei Faktoren beson<strong>der</strong>e Beachtung.<br />

Psychotische Störungen und die daraus erwachsenden Behin<strong>der</strong>ungen sind durch<br />

einen chronisch-rezidivierenden Verlauf <strong>der</strong> Grundstörung gekennzeichnet.<br />

Behin<strong>der</strong>ungen, die im Gefolge einer psychischen <strong>Krankheit</strong> zu erwarten sind, sind<br />

um so schwerer, je unzureichen<strong>der</strong> die Anfangsbehandlung gewesen ist und je<br />

größer die sozialen Defizite sind, die die Kranken <strong>mit</strong>bringen. Wer eine gute<br />

Schulbildung und einen Beruf hat, wer Angehörige und Freunde hat, die sich um<br />

einen kümmern, hat günstige Voraussetzungen für eine psychiatrische<br />

Rehabilitation. Aber bezeichnen<strong>der</strong>weise genügen für solche Kranke meist die<br />

Maßnahmen einer konventionellen psychiatrischen Behandlung. Der typische<br />

rehabilitationsbedürftige psychisch Kranke hat keinen Schulabschluss, keinen Beruf,<br />

keine Freunde, begrenzten Kontakt zu Angehörigen und lebt in ungünstigen<br />

wirtschaftlichen Verhältnissen.<br />

Die Persönlichkeitseigenschaften, die eine erfolgreiche Rehabilitation gewährleisten,<br />

sind von <strong>der</strong> psychischen <strong>Krankheit</strong> <strong>mit</strong>betroffen. Solche Eigenschaften sind gute<br />

Motivation, geistige und soziale Beweglichkeit, soziale Kontaktfähigkeit und<br />

Kontaktbereitschaft, Beharrlichkeit und Ausdauer sowie gutes<br />

Konzentrationsvermögen. Seelisch Behin<strong>der</strong>te sind aber in aller Regel durch<br />

Antriebslosigkeit, erhöhte Verstimmbarkeit und Verletzlichkeit, vermehrte Angst und<br />

110


Zurückgezogenheit gekennzeichnet. Man könnte schlussfolgern, den typischen<br />

Rehabilitanden <strong>mit</strong> psychischen Behin<strong>der</strong>ungen fehlen alle jene Eigenschaften, die<br />

für einen Rehabilitationserfolg notwendig sind. Sie haben keine Motivation, sind<br />

unbeweglich und kontaktarm. Sie können sich nicht konzentrieren und haben keine<br />

Ausdauer. Wir erwarten von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, dass sie aktiv<br />

<strong>mit</strong>arbeiten, dass sie motiviert sind, dass sie einen klaren Willen zeigen. Und wir sind<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Tatsache konfrontiert, dass eben dieser Wille von seelischer <strong>Krankheit</strong><br />

<strong>mit</strong>betroffen sein kann. Das stellt sich nun beson<strong>der</strong>e Anfor<strong>der</strong>ungen an<br />

Rehabilitationsmaßnahmen für psychisch Kranke. Es stellt auch die Rehabilitanden<br />

und ihre Angehörigen vor große Probleme. Sicher ist, dass die Beson<strong>der</strong>heiten<br />

psychischer Störungen und ihrer Folgen bei <strong>der</strong> Entwicklung von<br />

Rehabilitationsmaßnahmen berücksichtigt werden müssen. Sie begrenzen die<br />

Erwartungen. Ihre Berücksichtigung eröffnet aber neue Chancen.<br />

Was ist zu tun<br />

Was ist nun im Einzelnen zu tun Eine allgemein gültige Antwort auf diese Frage ist<br />

kaum möglich. Psychiatrische Rehabilitation muss individuell auf die Bedürfnisse und<br />

auf die Ressourcen und Defizite <strong>der</strong> einzelnen Kranken abgestimmt sein. Dabei<br />

fallen zunächst die Unterschiede zur Rehabilitation geistig Behin<strong>der</strong>ter o<strong>der</strong><br />

körperlich Kranker auf. Geistig Behin<strong>der</strong>te beispielsweise müssen entsprechend<br />

ihren Ressourcen auf bestimmte Tätigkeiten vorbereitet und in ihnen trainiert werden.<br />

Wenn sie sie einmal gelernt haben, werden sie sie in angemessener sozialer<br />

Umgebung auch fortführen können. Körperlich Kranke, die die Beweglichkeit eines<br />

Arms verloren haben, sich wegen ihrer Grun<strong>der</strong>krankung nicht körperlich anstrengen<br />

dürfen o<strong>der</strong> die rollstuhlbedürftigtig geworden sind, müssen lernen, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> neuen<br />

Situation zurechtzukommen. Sie werden trainiert, ihre verbliebenen körperlichen<br />

Ressourcen entsprechend einzusetzen und gegebenenfalls auf einen Beruf<br />

umgeschult, <strong>der</strong> ihrer neuen Lebenssituation angemessener ist.<br />

Berufliche Rehabilitation<br />

Psychisch Behin<strong>der</strong>te, die eine Berufsausbildung absolviert haben, benötigen keinen<br />

neuen Beruf. Es hilft ihnen in <strong>der</strong> Regel auch nicht weiter, auf einen an<strong>der</strong>en<br />

111


umgeschult zu werden. Ihre Behin<strong>der</strong>ungen sind im Bereich <strong>der</strong> psychosozialen<br />

Kompetenz, <strong>der</strong> Ausdauer, <strong>der</strong> psychoemotionalen Verletzlichkeit, <strong>der</strong><br />

Beziehungsfähigkeit. Solche Einschränkungen sind durch an<strong>der</strong>e Fähigkeiten wie die<br />

verbliebene Intelligenz, die ungemin<strong>der</strong>te körperliche Kraft und Beweglichkeit kaum<br />

zu ersetzen.<br />

Psychiatrische Rehabilitation setzt deshalb vorrangig auf Training: Training sozialer<br />

Kompetenzen, kognitives Training, Ausdauertraining usf. Dazu sind in den<br />

vergangenen Jahren vielfältige Programme und Manuale entwickelt worden, die<br />

durchaus Erfolg geltend machen können. Spezielle auf psychisch Kranke<br />

zugeschnittene Rehabilitationsprogramme weisen ebenfalls Erfolge auf. Allerdings<br />

sei vor allzu großem Optimismus im Hinblick auf berufliche Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung<br />

gewarnt.<br />

Dies hängt nicht so sehr <strong>mit</strong> den psychosespezifischen Behin<strong>der</strong>ungen und den<br />

Grenzen <strong>der</strong> Rehabilitationsprogramme zusammen. Vielmehr ist es eine Folge <strong>der</strong><br />

Entwicklung <strong>der</strong> betrieblichen Strukturen und <strong>der</strong> allgemeinen Arbeitsmarktsituation.<br />

Weil Arbeit teuer ist, sind Betriebe rigoros auf Effizienz ihrer Mitarbeiter ausgerichtet.<br />

Nischenarbeitsplätze o<strong>der</strong> Positionen, <strong>mit</strong> denen Schwankungen <strong>der</strong><br />

Leistungsfähigkeit von Tag zu Tag o<strong>der</strong> von Monat zu Monat vereinbar sind, werden<br />

wegrationalisiert. Angesichts von Arbeitslosenquoten von zehn Prozent plus<br />

Vorruhestand plus Frühpensionierung ist zu überdenken, welche Ziele die berufliche<br />

Rehabilitation psychisch behin<strong>der</strong>ter Menschen überhaupt haben kann.<br />

Dieser Situation hat die Rehabilitation psychisch Kranker zwar nicht konzeptionell,<br />

aber in <strong>der</strong> Praxis Rechnung getragen: Berufliche Integration nach psychischer<br />

<strong>Krankheit</strong> erfolgt ganz überwiegend auf dem zweiten Arbeitsmarkt in<br />

Behin<strong>der</strong>teninstitutionen, in Selbsthilfebetrieben o<strong>der</strong> in an<strong>der</strong>en Formen von<br />

beschützten Arbeitsplätzen. Das ist die heutige Realität. Da<strong>mit</strong> gilt es umzugehen<br />

und im Einzelfall die bestmögliche Lösung zu suchen. Dies mag bedauerlich sein.<br />

Aber es ist <strong>der</strong> Psychiatrie lei<strong>der</strong> nicht möglich die gesellschaftliche Realität zu<br />

än<strong>der</strong>n. Es wäre geradezu unmoralisch, ausgerechnet psychisch verletzliche<br />

Rehabilitanden gleichsam als »Rammböcke« einzusetzen, um die Situation zu<br />

112


verbessern. Dies bedeutet natürlich nicht, dass wir auf den Versuch verzichten<br />

sollten, psychisch Behin<strong>der</strong>te in ihre frühere Arbeitsumgebung zu reintegrieren.<br />

Aussichtsreich ist das allerdings nur bei mäßiger Ausprägung <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung.<br />

Noch schwieriger ist die Rehabilitation bei Jugendlichen ohne Schulabschluss o<strong>der</strong><br />

ohne abgeschlossene Ausbildung. Bei ihnen geht es zunächst einmal darum, zu<br />

helfen, dass sie einen solchen Abschluss erwerben – allerdings auch dies nicht um<br />

jeden Preis und orientiert an ihrer individuellen Belastbarkeit. Danach sind die<br />

Möglichkeiten erneut zu überprüfen.<br />

Psychosoziale Rehabilitation<br />

An<strong>der</strong>s ist es <strong>mit</strong> <strong>der</strong> psychosozialen Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung. Hier bestehen<br />

Rehabilitationschancen, die bislang nicht ausreichend genutzt sind. Es sei daran<br />

erinnert, dass viele Psychosekranke als Heranwachsende o<strong>der</strong> als Jugendliche<br />

erkrankten. Einige von ihnen habe die Schule noch nicht abgeschlossen. An<strong>der</strong>e<br />

stehen in <strong>der</strong> Berufsausbildung. Viele, insbeson<strong>der</strong>e junge Männer, <strong>leben</strong> noch bei<br />

den Eltern. Ihnen fehlen Alltagsfertigkeiten, die sie daran hin<strong>der</strong>n, ein selbstständiges<br />

Leben in eigener Wohnung zu führen und die sie, wenn sich das nicht än<strong>der</strong>t, in<br />

späteren Lebensabschnitten in Abhängigkeit von ihrer Herkunftsfamilie halten.<br />

Bei ihnen hat die psychosoziale Rehabilitation bei <strong>der</strong> Bewältigung des alltäglichen<br />

Lebens anzufangen. Sie müssen lernen, einzukaufen und zu kochen. Sie müssen<br />

lernen, den Herd und die Waschmaschine zu bedienen. Sie müssen lernen, ihr<br />

Zimmer o<strong>der</strong> ihre Wohnung zu putzen, zu waschen und zu bügeln. Sie müssen<br />

lernen, die Alltagsbürokratie zu bewältigen: Briefe zu beantworten, Rechnungen zu<br />

bezahlen, Behördengänge zu erledigen. Sie müssen, wenn sie keine Arbeit haben,<br />

lernen, ihren Tag zu strukturieren, sich zu beschäftigen, zu betätigen.<br />

Sie müssen, wenn ihr Freundes- und Bekanntenkreis sich aufgelöst hat, lernen,<br />

diesen wie<strong>der</strong> zu aktivieren o<strong>der</strong> soziale Kreise zu suchen, in denen sie neue<br />

Kontakte knüpfen können. Dazu gehört auch die Aktivität in <strong>der</strong> Selbsthilfegruppe.<br />

Sie müssen lernen und darin trainiert werden, ihre Freizeitbedürfnisse zu erkunden<br />

113


und umzusetzen und wo immer es geht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.<br />

Dieser Aspekt <strong>der</strong> Rehabilitation wird in seiner Bedeutung an vielen Orten – auch<br />

von den Kranken und ihren Angehörigen – in seiner Bedeutung nicht ausreichend<br />

wahrgenommen. Die Chancen, die er bietet, werden allzu oft nicht genutzt.<br />

Hilfen im Alltag<br />

Wie bei <strong>der</strong> Behandlung müssen wir da<strong>mit</strong> rechnen, dass die Rehabilitation ihre Ziele<br />

nicht erreicht. Das bedeutet Scheitern, das von Rehabilitanden auch so erlebt wird.<br />

Aber da<strong>mit</strong> es dabei nicht bleibt, müssen wir nach Alternativen zur Rehabilitation<br />

suchen. Wenn es nicht gelingt, das behin<strong>der</strong>ungsbedingte eingeschränkte berufliche<br />

o<strong>der</strong> psychosoziale Funktionsniveau zu heben, müssen wir den Kranken helfen, so<br />

zu <strong>leben</strong>, wie sie sind. Das aber bedeutet, dass wir <strong>mit</strong> ihnen zusammen die<br />

Voraussetzungen dafür schaffen müssen, dass sie ihr durch die Psychosefolgen<br />

behin<strong>der</strong>tes Leben nach ihren Möglichkeiten in Würde und Muße führen können. Sie<br />

bedürfen neben <strong>der</strong> psychiatrischen Behandlung einer angemessenen eigenen<br />

Wohnung. Sie müssen die Chance haben, sich zu betätigen – das kann, das muss<br />

aber nicht geschützte Arbeit sein. Und sie haben den Anspruch auf Teilhabe am<br />

gesellschaftlichen Leben.<br />

Ich will hier nicht ausführen, wie das im Einzelnen aussehen kann. Ich will nur darauf<br />

verweisen, dass zur Verwirklichung dieser Ziele gegebenenfalls Hilfen im Alltag<br />

notwendig sind, die über die Bereitstellung einer betreuten Wohnung, einer<br />

Tagesstätte o<strong>der</strong> einer beschützenden Werkstatt hinausgehen. Das können<br />

persönliche Hilfen im Alltag sein, wie beispielsweise bei <strong>der</strong> Bewältigung <strong>der</strong><br />

Haushaltsführung, so seltsam einem dies bei einem körperlich gesunden jungen<br />

Mann o<strong>der</strong> einer jungen Frau auch erscheinen mag. Es können an<strong>der</strong>e Formen <strong>der</strong><br />

aufsuchenden Hilfe sein, die <strong>der</strong> sozialen Aktivierung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Entwicklung von<br />

Kontakten und Beziehungen dienen.<br />

Schlussbemerkungen<br />

Die Rehabilitation Psychosekranker war über lange Zeit ein Stiefkind des hoch<br />

entwickelten Rehabilitationswesens in den deutschsprachigen Län<strong>der</strong>n. Das hat sich<br />

114


geän<strong>der</strong>t. Heute besteht jedoch <strong>der</strong> Eindruck, dass ihre Ziele allzu oft nicht den<br />

Bedürfnissen und den Möglichkeiten <strong>der</strong> behin<strong>der</strong>ten psychisch Kranken<br />

entsprechen. Die berufliche Rehabilitation endet, auch wenn sie erfolgreich ist, allzu<br />

oft in Arbeitslosigkeit. Die Frage ist, ob es in einer Gesellschaft, in <strong>der</strong> ohnehin wenig<br />

mehr als vierzig Prozent einer bezahlten Arbeit nachgehen, nicht antiquiert ist, in<br />

Arbeit, sei sie nun beschützt o<strong>der</strong> nicht, das alleinige rehabilitative Heil zu suchen.<br />

Wir müssen ernsthaft prüfen, ob es nicht an<strong>der</strong>e Formen <strong>der</strong> Betätigung gibt, die die<br />

wesentlichen positiven sozialen Merkmale von bezahlter Arbeit ersetzen können.<br />

Zugleich ist im Zusammenhang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Rehabilitation das Augenmerk verstärkt auf<br />

die Folgen des Scheiterns für die Betroffenen zu richten. Wer scheitert, hat weniger<br />

psychosoziale Ressourcen als <strong>der</strong> Erfolgreiche. Deshalb braucht er auch mehr<br />

Hilfen. Er braucht diese Hilfen bei <strong>der</strong> Bewältigung seiner Alltagsprobleme, bei <strong>der</strong><br />

Erfüllung seiner Grundbedürfnisse, nach angemessenem menschenwürdigen<br />

Wohnen, nach Betätigung und nach Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.<br />

115


13 Wenn nichts mehr geht: Schwierigkeiten, Komplikationen,<br />

Risiken<br />

Das Leben <strong>mit</strong> Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis ist immer wie<strong>der</strong> <strong>mit</strong><br />

Schwierigkeiten und Hin<strong>der</strong>nissen verbunden, die den <strong>Krankheit</strong>sverlauf<br />

komplizieren, die soziale Kompetenz <strong>der</strong> Betroffenen vermin<strong>der</strong>n und ihre<br />

Behandlung erschweren. Dazu gehört die kognitive Unfähigkeit mancher<br />

Psychosekranker, ihr Leiden als <strong>Krankheit</strong> zu erkennen; gehören Störungen des<br />

Handelns und des Wollens, die zu Isolation, sozialer Entwurzelung,<br />

Wohnungslosigkeit und Verelendung führen können; um Behandlungsverweigerung;<br />

um Gewaltrisiken und Suizidgefährdung; und schließlich um die Notwendigkeit <strong>der</strong><br />

Hilfe wi<strong>der</strong> willen, um Zwangseinweisung und Zwangs<strong>med</strong>ikation. Alles dies führt zu<br />

mannigfachen Problemen, zu Ängsten und zu Ratlosigkeit bei den Betroffenen<br />

selber, auch und vor allem aber bei ihren Angehörigen. Alles dies muss<br />

angesprochen werden, obwohl die Auseinan<strong>der</strong>setzung da<strong>mit</strong> schmerzlich ist.<br />

„Mangelnde Einsicht“<br />

(Die Kranken erkennen ihr Leiden nicht als psychische Störung und sehen deshalb keine<br />

Notwendigkeit, sich psychiatrisch behandeln zu lassen.)<br />

Wenn wir etwas nicht einsehen, gibt es dafür viele Gründe – gute und weniger gute.<br />

Wir machen es uns zu einfach, wenn wir die Unfähigkeit von Psychosekranken, ihr<br />

Leiden als <strong>Krankheit</strong> zu erkennen, beziehungsweise anzuerkennen, als<br />

»<strong>Krankheit</strong>suneinsichtigkeit« abtun. Wer an einer Psychose erkrankt, wird einer<br />

grundlegend neuen Erfahrung unterworfen, die seine Weltwahrnehmung<br />

entscheidend verän<strong>der</strong>t und <strong>mit</strong> nichts vergleichbar ist, was er bisher erlebt hat.<br />

Diese verän<strong>der</strong>te Wahrnehmung des Selbst und <strong>der</strong> Außenwelt, wie sie sich im<br />

»zentralen schizophrenen Syndrom« (siehe Kapitel 1) nie<strong>der</strong>schlägt, irritiert und<br />

ängstigt die Betroffenen meist in hohem Maße. Weil entsprechende Vorerfahrungen<br />

116


fehlen, bemerken die meisten Betroffenen zwar, dass sich etwas verän<strong>der</strong>t. Sie sind<br />

aber nicht im Stande, zu begreifen, dass es sich dabei um ein <strong>med</strong>izinisches<br />

Phänomen, eine <strong>Krankheit</strong> handelt.<br />

Es macht wenig Sinn, <strong>mit</strong> ihnen über die verän<strong>der</strong>te Weltwahrnehmung zu<br />

räsonieren, die uns als Wahn erscheint, o<strong>der</strong> über die Stimmen, die wir nicht hören.<br />

Es gibt keinen einfachen Weg des Zugangs zu einem Menschen in <strong>der</strong> beginnenden<br />

o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> beginnenden Psychose. Auch so zu tun, als erlebten wir die verän<strong>der</strong>te<br />

Weltwahrnehmung des psychosekranken Menschen <strong>mit</strong>, führt zu nichts - ganz<br />

abgesehen davon, dass es unehrlich ist. Am sinnvollsten ist es, einerseits<br />

Mitempfinden zu äußern. An<strong>der</strong>erseits klare Grenzen zu setzen: Ich verstehe, dass<br />

du die Welt an<strong>der</strong>s siehst als ich. Aber ich kann deine Wirklichkeit nicht als meine<br />

akzeptieren.<br />

Darüber hinaus gibt es Symptome und Zeichen, über die man reden und über die<br />

man sich verständigen kann. Die Angst gehört dazu, ebenso wie Schlafstörungen,<br />

Überwachheit, Gedankendrängen, innere Unruhe, Hyperakusis (störend lautes Hören<br />

von Geräuschen) und gelegentlich grelles Wahrnehmen von Farben. Angst, Unruhe<br />

und Schlafstörungen kann man haben, ohne sich als psychisch krank identifizieren<br />

zu müssen. Man kann sie auch behandeln, wenn man sich als gesund begreift,<br />

obwohl man selbstverständlich, wenn man wirklich gesund ist, zurückhaltend <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Medikamentenbehandlung solcher Befindlichkeitsstörungen sein sollte.<br />

Ist ein solcher indirekter Zugang nicht möglich, ist freundliche Beharrlichkeit<br />

angesagt: Das Gespräch suchen und dabei den Konflikt vermeiden; darüber<br />

sprechen, dass man als Angehöriger o<strong>der</strong> Freund den an<strong>der</strong>en als verän<strong>der</strong>t erlebt;<br />

ihm raten, die Hilfe des Hausarztes, eines Psychotherapeuten o<strong>der</strong> eines Psychiaters<br />

zu suchen; ihn vorsichtig <strong>mit</strong> den Verän<strong>der</strong>ungen konfrontieren, die er in seinem<br />

psychosozialen Bereich und in seiner Weltwahrnehmung selbst spürt.<br />

Auf diese Weise gelingt es immer wie<strong>der</strong>, Kranke von <strong>der</strong> Notwendigkeit zu<br />

überzeugen, sich behandeln zu lassen, obwohl die <strong>Krankheit</strong> im Kern nicht als solche<br />

erkannt und anerkannt wird. Manchmal dauert das lange, gelegentlich sehr lange.<br />

117


Dennoch ist <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> Überzeugung <strong>der</strong> beste denkbare Weg, solange es nicht<br />

zum psychotischen Zusammenbruch o<strong>der</strong> zu akuter Suizidgefährdung kommt s. u.)<br />

Ich. Zwangsmaßnahmen sind außerhalb <strong>der</strong> akuten Notsituation <strong>der</strong> schlechteste<br />

Weg.<br />

Nicht-Wollen-Können<br />

Die angebliche »Uneinsichtigkeit« <strong>Schizophrenie</strong>kranker in ihr Leiden steht in <strong>der</strong><br />

psychiatrischen Diskussion ganz im Vor<strong>der</strong>grund. Auch Angehörigen wird dies immer<br />

wie<strong>der</strong> als zentrales Problem über<strong>mit</strong>telt. Dass es sich dabei um eine komplexe<br />

Angelegenheit handelt, habe ich bereits mehrfach betont. An dieser Stelle will ich noch<br />

einen Teilaspekt <strong>der</strong> mangelnden Kooperationsfähigkeit vieler Kranker ansprechen. Nicht<br />

nur das Denken und das Fühlen <strong>der</strong> Kranken können einer Psychose betroffen sein,<br />

son<strong>der</strong>n auch das Wollen und das Handeln. Lei<strong>der</strong> ist es verhältnismäßig oft <strong>der</strong> Fall. Vor<br />

allem Störungen des Handelns und des Wollens sind gemeint, wenn wir von<br />

Negativsymptomen sprechen.<br />

Man kann sich leicht vorstellen, dass jemand, <strong>der</strong> psychosebedingt »nicht wollen«<br />

kann, stark beeinträchtigt ist. Er kommt morgens nicht aus dem Bett, er bringt es<br />

nicht fertig, unter die Dusche zu gehen, seine Klei<strong>der</strong> in die Waschmaschine zu<br />

stecken, zu frühstücken, das Haus zu verlassen, schon gar nicht zur Arbeit zu gehen<br />

o<strong>der</strong> den Tag sonst irgendwie zu gestalten. Er schafft es auch nicht, Hilfe zu suchen<br />

– we<strong>der</strong> in angemessener noch in unangemessener Form. Er ist einfach<br />

zurückgezogen und apathisch, manchmal so sehr, dass er äußerlich verwahrlost.<br />

Wichtig ist, dass wir begreifen, dass solche Störungen keine aktive Verweigerung<br />

sind. Für solche Kranke ist es wichtig, dass sie im Sinne <strong>der</strong> nachgehenden Fürsorge<br />

bzw. <strong>der</strong> aufsuchenden Hilfe aktiv betreut werden. Bei ihnen sind Hausbesuche<br />

unabdingbar, wenn sie nicht im Stande sind, vereinbarte Termine einzuhalten. Sie<br />

benötigen häusliche Hilfe, wenn sie es nicht schaffen, ihre Wohnung zu putzen o<strong>der</strong><br />

den Kühlschrank aufzufüllen (und wenn ihre Angehörigen diese Hilfen nicht leisten<br />

können). Solche Hilfe soll immer das Ziel haben, diesen Zustand zu überwinden.<br />

Aber das kann sehr schwer sein. Bei solchen Störungen verlieren viele Angehörige<br />

118


am Schluss die Geduld. Vielleicht hilft es ihnen, wenn sie sich bewusst werden, das<br />

Ihre freundliche und bestimmte andauernde Unterstützung bei <strong>der</strong> Bewältigung<br />

elementarer Alltagsleistungen Alltagsleistungen das wichtigste ist, was man in dieser<br />

Situation für die Kranken tun kann. Die Angehörigen sollen sich nicht scheuen, dafür<br />

professionellen Rat und Hilfe zu suchen. Die längerfristige Betreuung in einer<br />

Tagesstätte kann eine große Entlastung für alle Beteiligten sein.<br />

Eine <strong>med</strong>ikamentöse Therapie bewirkt bei solchen Zuständen lei<strong>der</strong> keine Wun<strong>der</strong>,<br />

obwohl eine Neuroleptikatherapie in sehr niedriger Dosierung meistens hilfreich ist.<br />

Um es noch einmal zu wie<strong>der</strong>holen: am wichtigsten ist ein Mindestmaß an sozialer<br />

Aktivierung. Das kann <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Hilfe beim Aufstehen, Waschen, Anziehen anfangen,<br />

<strong>mit</strong> ein paar Schritten vors Haus o<strong>der</strong> längeren Spaziergängen. Ziel muss aber sein,<br />

die Kranken zu stimulieren und sie dahin zu bringen, dass sie ein Minimum an<br />

Tageslaufstrukturierung annehmen können.<br />

Dabei muss man sich klar sein, dass man es hier <strong>mit</strong> einem schwerwiegenden und<br />

schwer zu behandelnden <strong>Krankheit</strong>ssymptom zu tun hat, eben <strong>mit</strong> »Nicht-Wollen-<br />

Können« und nicht <strong>mit</strong> »nicht wollen«. Der Appell, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e möge sich<br />

zusammenreißen, ist in diesem Zusammenhang wenig hilfreich. Noch weniger<br />

konstruktiv sind allerdings alle Maßnahmen, die weiteren Rückzug, eine weitere<br />

Regression begünstigen. Am besten ist es, den Betroffenen freundlich, bestimmt und<br />

beharrlich gegenüberzutreten und sich auf eine Therapie <strong>der</strong> kleinen Schritte<br />

einzurichten. Um das erfor<strong>der</strong>t unendlich viel Geduld<br />

Wenn Kranke die Behandlung verweigern<br />

Die sog. fehlende <strong>Krankheit</strong>seinsicht und das Nicht-Wollen-Können sind zwei<br />

zentrale Therapie-Hin<strong>der</strong>nisse. Hat man nun das Einverständnis eines Patienten<br />

o<strong>der</strong> einer Patientin zur Behandlung erreicht, bedeutet dies noch lange nicht, dass<br />

alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt sind. Das gilt für Soziotherapie und<br />

Psychotherapie ebenso wie für die Medikamentenbehandlung. Diese ist aus<br />

psychiatrischer Sicht ein wesentlicher Stützpfeiler <strong>der</strong> Psychosentherapie. Auf sie will<br />

119


ich mich hier konzentrieren. In <strong>der</strong> Öffentlichkeit aber haben antipsychotische<br />

Medikamente, gemeinhin als Neuroleptika geläufig, einen schlechten Ruf. Weite Teile<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit geben <strong>der</strong> Psychotherapie, ja selbst <strong>der</strong> Naturheilkunde, den<br />

Vorzug gegenüber <strong>der</strong> Neuroleptikabehandlung. Die Mehrzahl <strong>der</strong> Bevölkerung hält<br />

Letztere sogar für schädlich.<br />

Hier besteht also eine denkwürdige Diskrepanz zwischen Medizin und öffentlicher<br />

Meinung, die in dieser Schärfe sonst kaum vorkommt. Das hat Konsequenzen. Wir<br />

Behandelnde können darüber nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, indem wir<br />

unseren Patientinnen und Patienten einfach sagen, dass wir es schließlich am<br />

besten wüssten. Wir müssen uns <strong>mit</strong> ihnen und ihren Angehörigen darüber<br />

auseinan<strong>der</strong> setzen. Wir müssen ein Stück Aufklärungsarbeit über die <strong>Krankheit</strong> und<br />

über die Behandlung leisten. Wir müssen die Kranken und ihre Angehörigen darüber<br />

ins Bild setzen, warum wir davon überzeugt sind, dass eine Neuroleptikabehandlung<br />

unabdingbar ist und warum Psychotherapie allein in den meisten Fällen nicht<br />

ausreicht.<br />

Nur wenn wir das tun, können wir <strong>mit</strong> mehr als einem wi<strong>der</strong>willigen Dulden von<br />

Seiten <strong>der</strong> Kranken rechnen. Da eine konstruktive <strong>Schizophrenie</strong>behandlung aber<br />

nur möglich ist, wenn es uns gelingt, gemeinsam <strong>mit</strong> den Kranken eine längerfristige<br />

Behandlungsstrategie auszuhandeln, benötigen wir ein einigermaßen tragfähiges<br />

Einverständnis <strong>der</strong> Kranken. Sonst müssen wir da<strong>mit</strong> rechnen, dass sie die<br />

Medikamente spätestens nach Klinikentlassung wie<strong>der</strong> absetzen o<strong>der</strong> die Dosis<br />

eigenständig vermin<strong>der</strong>n. Der Rückfall ist dann fast immer vorprogrammiert.<br />

Um das zu verhin<strong>der</strong>n, hilft we<strong>der</strong> <strong>der</strong> erhobene Zeigefinger noch eine<br />

moralisierende Haltung. Was hilft, ist das Gespräch über die Medikamente, ihre<br />

Wirkungen, ihre unerwünschten Wirkungen; darüber, warum wir überzeugt sind, dass<br />

die Behandlung über längere Zeit fortgeführt werden sollte. Dieses Gespräch darf<br />

nicht einseitig sein. Wir müssen auf die Argumente <strong>der</strong> Kranken eingehen, und,<br />

soweit wir dies verantworten können, auf ihre Vorschläge zur Dosisverän<strong>der</strong>ung –<br />

meist die Dosisvermin<strong>der</strong>ung – einlassen: Zur Selbstständigkeit ermutigen; sie, wo<br />

immer verantwortbar, eigene Erfahrungen sammeln lassen; sie dabei unterstützen,<br />

120


<strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> zu <strong>leben</strong> und an <strong>der</strong>en Behandlung <strong>mit</strong>zuwirken. Das heißt unter<br />

vielem an<strong>der</strong>en auch, dass wir versuchen, gemeinsam <strong>mit</strong> ihnen die effektivste<br />

nebenwirkungsärmste Medikation auszuhandeln (und auszutesten) und <strong>mit</strong> ihnen<br />

gemeinsam das Präparat herauszusuchen, das ihnen auch subjektiv am meisten<br />

hilft.<br />

Aber da<strong>mit</strong> sind nicht alle Schwierigkeiten ausgeräumt. Wer je gezwungen war,<br />

selbst über längere Zeit Medikamente einzunehmen, weiß, wie schwer es fällt, dies<br />

regelmäßig und zuverlässig zu tun. Er weiß auch, wie groß die Versuchung ist, die<br />

Medikamente abzusetzen – auch wi<strong>der</strong> besseren Wissens –, wenn es einem gut<br />

geht. Auch hier hilft Überzeugungsarbeit. Aber wir können uns nicht darauf<br />

verlassen, dass unsere Patientinnen und Patienten nach einer Erst- o<strong>der</strong><br />

Zweiterkrankung es irgendwann nicht doch wissen wollen, dass sie ausprobieren<br />

wollen, ob <strong>der</strong> Rückfall wirklich kommt, wenn die lästigen Medikamente weggelassen<br />

werden.<br />

In solchen Situationen können und sollen wir sie nicht zu etwas zwingen, was sie auf<br />

keinen Fall wollen. Es ist risikoloser, ihnen in solchen Situationen<br />

entgegenzukommen, sie zu bewegen, die Neuroleptika nicht abrupt abzusetzen und<br />

sie in engmaschiger ambulanter Betreuung zu behalten, auch wenn sie die<br />

Medikamente gegen unseren ausdrücklichen Rat nicht weiternehmen wollen. Bei<br />

Wie<strong>der</strong>aufflackern <strong>der</strong> Symptomatik können wir dann einen neuen<br />

Behandlungsvertrag aushandeln, ohne dass allzu viel Schaden entsteht.<br />

Allerdings können die Dinge auch ganz an<strong>der</strong>s verlaufen. Es misslingt uns, aus welchen<br />

Gründen immer, den Kontakt <strong>mit</strong> den Kranken aufrechtzuerhalten. Sie verweigern sich<br />

uns, ebenso wie ihren Angehörigen. Sie verweigern eine Medikation, obwohl sie in <strong>der</strong><br />

Vergangenheit die Erfahrung gemacht haben, dass sie ihnen hilft. Die gesetzlichen<br />

Grundlagen reichen nicht aus für eine Behandlung gegen den Willen. Die Balance<br />

zwischen dem Recht auf Freiheit <strong>der</strong> Person und <strong>der</strong> Verpflichtung <strong>der</strong> Gesellschaft zur<br />

Fürsorge ist heikel. Wenn keine Gefährdung <strong>Dr</strong>itter und keine akute Suizidgefährdung<br />

bestehen, wenn Kranke in ihrer Psychose zurückgezogen vor sich hin <strong>leben</strong>, ist oft keine<br />

121


Hilfe von aussen möglich. Dann kommt es wie im letzten Abschnitt ausgeführt vor, dass<br />

sie eine totale Entwurzelung erleiden, dass sie all ihre sozialen Bindungen verlieren, aus<br />

ihrer Wohnung vertrieben werden und schließlich verelenden. Diese Kranken geraten<br />

leicht aus dem Blickfeld. Oft brechen sie auch die Kontakte zu ihren Angehörigen ab und<br />

lösen da<strong>mit</strong> grosse Ängste aus.<br />

Suizidgefährdung und Gewaltrisiken<br />

Die Suizidalität ist ein weiteres Risiko <strong>der</strong> behandelten wie <strong>der</strong> nicht behandelten<br />

Psychose. Akute Suizidgefahr ist ein Grund für die sofortige Einweisung in eine<br />

psychiatrische Klinik – schlimmstenfalls auch unter Zwang. Allerdings sei angemerkt,<br />

dass ein gewisses Mass an Suizidgefährdung über die gesamte Dauer <strong>der</strong><br />

psychotischen Erkrankung bestehen bleibt. Die Psychose ist jenseits ihrer konkreten<br />

Inhalte ein Einschnitt in die Biografie <strong>der</strong> Erkrankten <strong>mit</strong> vielfältigen psychosozialen<br />

Folgen, <strong>mit</strong> reaktiven, gut einfühlbaren depressiven Verstimmungen, schier<br />

ausweglosen Lebenssituationen und <strong>der</strong> Konfrontation <strong>mit</strong> einer Realität, die sie sich<br />

vor <strong>der</strong> Erkrankung nicht hätten vorstellen können. Suizidprävention besteht unter<br />

diesem Gesichtspunkt einerseits in <strong>der</strong> Behandlung <strong>der</strong> Psychose, an<strong>der</strong>erseits in<br />

einer langfristigen, stützenden und klärenden psychotherapeutischen Behandlung<br />

und Betreuung. Deshalb ist es für Aussenstehende schwierig, das Ausmass <strong>der</strong><br />

Gefährdung festzustellen. Aber Fragen hilft.<br />

Ein an<strong>der</strong>er Aspekt, <strong>der</strong> viel zu wenig beachtet wird, ist das erhöhte Risko<br />

Psychosekranker, auf an<strong>der</strong>e gewaltsame Weise zu sterben: Durch Unfall, aber auch<br />

infolge von gewaltsamen Auseinan<strong>der</strong>setzungen o<strong>der</strong> von Angriffen. Beides hängt<br />

wahrscheinlich <strong>mit</strong> einer durch die Psychose vermin<strong>der</strong>ten Fähigkeit zusammen,<br />

gefährlichen Situationen auszuweichen.<br />

Psychosekranke seien unberechenbar und gefährlich. Das ist ein in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

verbreitetes Vorurteil. Allerdings ist diese Meinung nicht nur Vorurteil. Aber man<br />

muss die Gefährdung <strong>Dr</strong>itter durch <strong>Schizophrenie</strong>kranke ebenso wie <strong>der</strong>en<br />

Selbstgefährdung durch Unfall o<strong>der</strong> Suizid im Rahmen sehen. Die Psychose hin<strong>der</strong>t<br />

122


manche Betroffene mehr o<strong>der</strong> weniger ausgeprägt an einer realitätsgerechten<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> den Eindrücken, denen sie ausgesetzt sind. Die Verkennung<br />

von Situationen, ihre Angst vor Verfolgung, Beeinträchtigung, Vergiftung, vor<br />

Angriffen versetzt sie, je ausgeprägter die Psychose ist, um so mehr in eine subjektiv<br />

wahrgenommene Notsituation, gegen die sie sich zur Wehr setzen müssen. Ihre<br />

Realitätseinschätzung wird zusätzlich beeinträchtigt, wenn sie etwa zur Bekämpfung<br />

<strong>der</strong> Angst vermehrt Alkohol trinken, <strong>Dr</strong>ogen o<strong>der</strong> Medikamente (vom Tranquilizertyp)<br />

einnehmen.<br />

Bis vor wenigen Jahren war die Argumentation von uns Psychiatern gegenüber <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit die, dass Psychosekranke nicht häufiger gewalttätig seien als an<strong>der</strong>e<br />

Menschen. Diese Auffassung wurde teilweise, aber nur teilweise, von <strong>der</strong><br />

wissenschaftlichen Literatur gestützt. Richtig ist, dass Gewalttaten psychisch Kranker<br />

dann nicht häufiger o<strong>der</strong> nicht wesentlich häufiger sind als die Nicht-Psychisch-<br />

Kranker, wenn kein sekundärer Alkohol- o<strong>der</strong> <strong>Dr</strong>ogenmissbrauch vorliegt, wenn sie<br />

nicht in Wohnungslosigkeit und Verarmung gedrängt werden und – vor allem – wenn<br />

sie rechtzeitig und gründlich behandelt werden.<br />

Eine beson<strong>der</strong>e Gefährdung besteht, wenn die Symptomatik <strong>mit</strong> Wahninhalten o<strong>der</strong><br />

imperativen Stimmen verbunden ist, die die Kranken zur aktiven<br />

»Selbstverteidigung« drängen. Dies war z.B. bei <strong>der</strong> »Frau in Weiß« <strong>der</strong> Fall, die im<br />

Jahre 1990 Oskar Lafontaine angriff und schwer verletzte. Sie wähnte, dass die<br />

Politiker unterirdische »Menschenfabriken« eingerichtet hätten, in denen gefoltert<br />

würde. Entsprechend handelte sie unter dem Zwang, diese Menschen erlösen zu<br />

müssen. Bemerkenswert ist, dass ihre Angehörigen bereits Wochen vor <strong>der</strong> Tat das<br />

zuständige Gesundheitsamt informiert hatten, dass Handlungsbedarf bestehe und<br />

dass ihre Schwester in eine psychiatrische Klinik zur Behandlung eingewiesen<br />

werden müsste.<br />

Neuere englische Untersuchungen zeigen, dass rechtzeitige Behandlung die<br />

wirksamste Prävention gegen Gewalt von Seiten psychosekranker Menschen ist.<br />

Dies ist nicht nur im Sinne <strong>der</strong> Opfer, son<strong>der</strong>n auch im Sinne <strong>der</strong> psychisch Kranken,<br />

123


denen auf diese Weise unsägliches Leid durch die spätere Konfrontation <strong>mit</strong> einer<br />

Tat erspart wird, die sie im Zustand <strong>der</strong> Urteilsunfähigkeit begangen haben und die<br />

sie nicht verstehen – und ebenso großes Leid durch die konkreten Folgen <strong>der</strong> Tat,<br />

nämlich jahrelange Verwahrung in Einrichtungen für psychisch kranke<br />

Rechtsbrecher. Es führt nichts daran vorbei: Wer ein konkretes Gewaltrisiko<br />

wahrnimmt, ist zum Handeln verpflichtet – im Interesse aller Beteiligten.<br />

Hilfe wi<strong>der</strong> Willen<br />

(Die Kranken verweigern eine stationäre Behandlung, obwohl ihre Angehörigen und<br />

ihre Umgebung diese für unbedingt erfor<strong>der</strong>lich halten).<br />

Was ist zu tun, wenn nichts mehr geht Was ist, wenn ein junger Mann o<strong>der</strong> eine<br />

junge Frau sich vollständig zurückzieht, nicht mehr o<strong>der</strong> nur noch in <strong>der</strong> Nacht aus<br />

dem Zimmer kommt, nicht mehr spricht, die sozialen Regeln und Normen im engeren<br />

Umfeld und in <strong>der</strong> Familie nicht mehr beachtet, sich im Kreis <strong>der</strong> Familie<br />

vernachlässigt, nicht mehr pflegt, nicht mehr wäscht, die Kleidung nicht mehr<br />

wechselt, schließlich Essen und Trinken einstellt<br />

Spätestens dann, wenn er o<strong>der</strong> sie nicht mehr trinkt, ist jedem klar, was zu<br />

geschehen hat. Ohne Flüssigkeitszufuhr stirbt <strong>der</strong> Mensch innerhalb weniger Tage.<br />

Dann ist Handeln gegen den Willen des Betroffenen unabdingbar. Die bange Frage<br />

bleibt, wer das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen hat. Auch dies ist beim<br />

geschil<strong>der</strong>ten Szenarium klar. Es sind die Mitbewohner, die Angehörigen, in <strong>der</strong><br />

Regel die Eltern. Sie haben den Hausarzt zu rufen, dieser den Amtsarzt o<strong>der</strong> den<br />

Notfallpsychiater o<strong>der</strong> wer immer für die Durchführung einer Einweisung gegen den<br />

Willen auf <strong>der</strong> Grundlage des Psychisch-Kranken-Gesetzes o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Grundlage<br />

<strong>der</strong> Regelungen für das Handeln in einem übergesetzlichen Notfall zuständig ist.<br />

124


Das aber for<strong>der</strong>t Überwindung und Kraft: Das eigene Kind gegen seinen Willen,<br />

vielleicht sogar gegen seine heftige Gegenwehr in die geschlossene Abteilung eines<br />

psychiatrischen Krankenhauses einzuweisen, das hinterlässt bei den Eltern, den<br />

Geschwistern, dem Partner, <strong>der</strong> Partnerin ganz unweigerlich ein ungeheuer mieses<br />

Gefühl, hinterlässt Gewissensbisse und Schuldgefühle, die nagende Frage, ob es<br />

vielleicht nicht doch an<strong>der</strong>s gegangen wäre, wenn man nur geduldig gewesen wäre.<br />

Die Hoffnung, die Kranken könnten es einem später einmal danken, ist in <strong>der</strong> akuten<br />

Situation wenig tröstlich. Außerdem ist sie trügerisch. Nach Zwangseinweisungen<br />

müssen diejenigen, die sie veranlasst haben, manchmal langzeitig <strong>mit</strong> Vorwürfen<br />

rechnen und zwar um so mehr, je näher sie den Kranken stehen. Dennoch gibt es<br />

Situationen, in denen keine Alternative vorhanden ist. Und wer sonst sollte dann<br />

handeln, als diejenigen, die den Kranken nahe stehen<br />

Gelegentlich hört man das Argument, es sei besser zu warten, bis die Kranken<br />

gegenüber <strong>Dr</strong>itten o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Öffentlichkeit auffällig würden. Dann würden Nachbarn,<br />

Bürger o<strong>der</strong> die Polizei aktiv werden. Ich halte diesen Standpunkt für<br />

verantwortungslos.<br />

Es gibt zum einen Kranke, <strong>der</strong>en Symptomatik durch Passivität und<br />

Zurückgezogenheit gekennzeichnet ist, die nie öffentlich auffällig werden, <strong>der</strong>en<br />

<strong>Krankheit</strong> aber zur unerträglichen Belastung für sie selbst wie für die Angehörigen<br />

wird, und die die Chance einer erfolgreichen Behandlung nicht nutzen.<br />

Zum an<strong>der</strong>en kann das Abwarten bei Kranken, die von ihrem Wahn o<strong>der</strong> ihren<br />

Stimmen getrieben werden, gefährlich sein. Diese Kranken sind erhöht suizid- und<br />

unfallgefährdet, wenn sie in ihrer Angst keinen Ausweg wissen o<strong>der</strong><br />

Alltagssituationen verkennen. Bei ihnen besteht auch eine erhöhte Gefahr <strong>der</strong><br />

Tätlichkeit gegenüber an<strong>der</strong>en, weil sie etwa im Verfolgungswahn in Situationen<br />

geraten, in denen sie wähnen, sich gegen Angriffe wehren zu müssen und aus einer<br />

subjektiven Notwehrsituation entsprechend handeln.<br />

Die Entscheidung, wann es soweit ist, dass nur <strong>der</strong> Zwang zur Behandlung hilft, kann<br />

den Angehörigen niemand abnehmen. Sie können sich <strong>mit</strong> ihrem Hausarzt, <strong>mit</strong><br />

125


Freunden, <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Angehörigen beraten lassen. Aber die Verantwortung bleibt<br />

bei ihnen. Lei<strong>der</strong> kommt es immer wie<strong>der</strong> vor, dass, wenn sie aktiv geworden sind,<br />

eine notwendige Einweisung dann doch nicht durchgeführt wird, weil manche Kranke<br />

es über kurze Zeit fertig bringen, sich in Gegenwart des zugezogenen Amtsarztes<br />

o<strong>der</strong> Notfallpsychiaters »zusammenzureißen« und ihn zu überzeugen, dass eine<br />

Einweisung keineswegs notwendig ist. Nicht ganz selten wird die dringende<br />

Behandlungsbedürftigkeit erkannt und anerkannt, ohne dass die gesetzlichen<br />

Voraussetzungen für eine Behandlung gegen den Willen vorliegen, etwa weil keine<br />

„dringende Gefahr“ bestehe.<br />

Natürlich kommt es auch vor, dass die Angehörigen einer Fehleinschätzung<br />

unterliegen. In jedem Fall geraten sie dann in eine Situation, wo <strong>der</strong> Eindruck<br />

entsteht, sie würden ihr krankes Familien<strong>mit</strong>glied »in die Irrenanstalt abschieben«<br />

wollen. Dies ist für diejenigen, die aus Sorge handeln, nur schwer zu ertragen. Nicht<br />

ganz selten müssen sie sich gefallen lassen, dass die Nachbarn sich über sie das<br />

Maul zerreißen, dass man <strong>mit</strong> dem Finger auf sie zeigt. Und dennoch nimmt ihnen<br />

niemand die Verantwortung ab.<br />

Schweigepflicht und Auskunftsverpflichtung<br />

Behandelnde aller Berufsgruppen unterliegen <strong>der</strong> Schweigepflicht. Sie dürfen nur <strong>mit</strong><br />

Zustimmung <strong>der</strong> betroffenen Kranken Auskunft erteilen. Dazu gehören auch<br />

Angehörige und enge Freunde. Bei schweren körperlichen <strong>Krankheit</strong>en <strong>mit</strong><br />

andauern<strong>der</strong> Bewusstlosigkeit darf die Zustimmung unterstellt worden. Das gilt nicht<br />

bei psychischen Störungen, insbeson<strong>der</strong>e nicht, wenn die Kranken die Zustimmung<br />

ausdrücklich verweigern – auch dann nicht, wenn ihre Urteils- und<br />

Entscheidungsfähigkeit offensichtlich durch ihr Leiden beeinträchtigt ist. Dann gilt <strong>der</strong><br />

unterstellte »natürliche Wille«. Diese Regelung ist gut und richtig. Sie gilt dem Schutz<br />

<strong>der</strong> Kranken, wenn sie ihre Rechte vorübergehend nicht wahrnehmen können.<br />

An<strong>der</strong>erseits haben Angehörige berechtigte Interessen auf Auskunft über die<br />

<strong>Krankheit</strong> ihres Familien<strong>mit</strong>gliedes und <strong>der</strong>en mutmaßlichen Verlauf. Das ist in erster<br />

126


Linie ein moralischer Anspruch, zumindest wenn eine fürsorgliche Beziehung<br />

zwischen den Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>n besteht. Es ist aber auch ein materieller Anspruch,<br />

wenn <strong>der</strong> Kranke im gleichen Haushalt lebt wie seine engsten Angehörigen,<br />

insbeson<strong>der</strong>e wenn von diesen erwartet wird, dass sie beispielsweise nach<br />

Klinikentlassung für ihn sorgen. Aber dieser Anspruch besteht gegenüber dem<br />

Kranken, nicht gegenüber dessen Therapeuten. Das macht die Situation so<br />

schwierig und so belastend für die besorgten Angehörigen.<br />

Weil das so ist, dürfen die Therapeuten sich nicht einfach auf ihre Schweigepflicht<br />

zurückziehen. Sie sind verpflichtet, auf den Kranken entsprechend einzuwirken,<br />

sobald <strong>der</strong> Gesundheitszustand des Betroffenen das erlaubt. Und das können<br />

Angehörige von ihnen verlangen. Sie dürfen darauf hinweisen, dass die<br />

Verantwortung für etwaige Komplikationen nach <strong>der</strong> Entlassung in die Familie beim<br />

Therapeuten verbleibt, wenn keine ausreichende Aufklärung erfolgt. Gegebenenfalls<br />

müssen sie das sogar. Wenn dies geschieht, wenn die Therapeuten <strong>mit</strong> den Kranken<br />

entsprechend verhandeln, lässt sich fast immer einen Kompromiss erreichen, <strong>der</strong> die<br />

Angehörigen in ihren Sorgen entlastet. Befriedigend ist es meistens nicht. Aber man<br />

kann da<strong>mit</strong> <strong>leben</strong>. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite müssen sich Angehörige Rechenschaft<br />

darüber ablegen, dass <strong>der</strong> Kranke in <strong>der</strong> Regel ein erwachsener Mensch ist, dessen<br />

Recht auf seine Abgrenzungswünsche zu respektieren ist, zumindest soweit diese<br />

nicht das Zusammen<strong>leben</strong> unter den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> beeinträchtigten.<br />

Schlussbemerkungen<br />

Gewiss habe ich in diesem Kapitel nicht alle Schwierigkeiten und Hin<strong>der</strong>nisse einer<br />

erfolgreichen <strong>Schizophrenie</strong>behandlung angesprochen. Aber die mangelnde<br />

Bereitschaft o<strong>der</strong> die mangelnde Fähigkeit, Hilfe zu suchen o<strong>der</strong> anzunehmen, ist ein<br />

zentrales Problem, das manche theoretische Möglichkeit einer bestmöglichen<br />

Behandlung <strong>mit</strong> Psychotherapie, Soziotherapie und Medikamenten zur Utopie<br />

werden lässt. Beson<strong>der</strong>s tragisch ist dies, wenn von früheren Therapieversuchen<br />

bekannt ist, dass die Kranken gut, sehr gut o<strong>der</strong> sogar hervorragend auf die<br />

Behandlung angesprochen haben. Bei solchen Kranken können wir da<strong>mit</strong> rechnen,<br />

127


dass sie das auch künftig tun werden bzw. würden. Je mehr Zeit verstreicht, je mehr<br />

die Kranken sozial entwurzelt sind, ihre Bezugspersonen verlieren, wohnungs- und<br />

beschäftigungslos o<strong>der</strong> sekundär alkohol-, <strong>med</strong>ikamenten- o<strong>der</strong> drogenabhängig<br />

werden, desto schwieriger wird es, einen neuen Anfang zu finden.<br />

Die gesetzlichen Möglichkeiten, selbst bei eindeutiger Tatsachenlage gegen den<br />

Willen <strong>der</strong> Betroffenen einzugreifen, sind meist wenig hilfreich. Aber auch die ethischmoralischen<br />

Grundlagen für Zwangsinterventionen außerhalb <strong>der</strong> Akutsituation sind<br />

keineswegs eindeutig.<br />

Dem von Jim Birley formulierten Recht darauf, bei Verlust <strong>der</strong> Urteilsfähigkeit durch<br />

psychische <strong>Krankheit</strong> gegebenenfalls auch gegen den eigenen Willen behandelt zu<br />

werden, steht die Auffassung gegenüber, auch psychisch Kranke müssten das Recht<br />

haben, sich für ein Leben in <strong>Krankheit</strong> zu entscheiden. Dabei wird allerdings oft<br />

vergessen, was <strong>der</strong> krankheitsbedingte Verlust <strong>der</strong> Urteilsfähigkeit ist und welche<br />

Konsequenzen er hat. Alles dies wird noch schwieriger, wenn Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong><br />

Behandlung o<strong>der</strong> Nichtbehandlung <strong>mit</strong>betroffen sind, insbeson<strong>der</strong>e, wenn sie im<br />

Falle <strong>der</strong> Nichtbehandlung unweigerlich den Kontakt zu ihrer Mutter o<strong>der</strong> ihrem Vater<br />

verlieren, sei es aufgrund <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>sfolgen o<strong>der</strong> sei es, weil sie durch die<br />

Jugendbehörden aus <strong>der</strong> Familie entfernt werden (Sollberger 2000).<br />

Tatenlos zuzusehen, wenn man weiß o<strong>der</strong> davon überzeugt ist, dass wirksame Hilfe<br />

möglich wäre, ist manchmal fast nicht auszuhalten, für die Therapeutinnen und die<br />

Therapeuten nicht, für Eltern, Kin<strong>der</strong>, Partner o<strong>der</strong> Geschwister schon gar nicht. Hier<br />

hilft nur die Hoffnung, dass auch in scheinbar aussichtslosen Fällen später, aber<br />

nicht zu spät Besserung erreicht wird. Angehörigen sollten alle Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

psychischen und sozialen Unterstützung, vor allem in Form von Selbsthilfe offen<br />

stehen.<br />

128


14 Mit den Kranken <strong>leben</strong><br />

Viele Angehörige neigen dazu, sich aufzuopfern o<strong>der</strong> sich bei <strong>der</strong> Fürsorge für ihr<br />

krankes Familien<strong>mit</strong>glied zu übernehmen. Sie wollen das bestmögliche erreichen -<br />

am liebsten alles. Das ist verständlich. Sie müssen aber bedenken, dass es ihrem<br />

kranken Familien<strong>mit</strong>glied eher schadet, wenn sie selber ausbrennen, wenn sie unter<br />

<strong>der</strong> Last körperlicher o<strong>der</strong> emotionaler Erschöpfung zusammen klappen o<strong>der</strong> gar<br />

selber krank werden. Mit an<strong>der</strong>en Worten, sie müssen auf sich achten. Das geht<br />

nur, wenn sie akzeptieren, was ist; und wenn sie lernen Grenzen zu setzen - sich<br />

abzugrenzen, wenn ihnen die Dinge über den Kopf wachsen.<br />

Akzeptieren, was ist<br />

Ich habe im zweiten Kapitel ausführlich beschrieben, warum die Erkrankung eines<br />

Angehörigen an einer schizophrenen Psychose eine Katastrophe für die ganze<br />

Familie ist. Ich will das hier nicht wie<strong>der</strong>holen. Ich will vielmehr herausarbeiten, wie<br />

wichtig es für das eigene Leben wie für das des Kranken ist, dass man sich dem<br />

Unglück stellt. Denn ein Unglück ist niemandes Schuld. Man fragt sich unweigerlich:<br />

warum ich warum meine Familie Das muss so sein. Aber man verschleisst seine<br />

Gefühle und seine Kraft, wenn man dabei stehen bleibt. Man muss sich stellen und<br />

erkunden, was zu tun ist, was man realistischerweise tun kann und was nicht - und<br />

was man hinnehmen muss, weil es nicht zu än<strong>der</strong>n ist. Das ist schwer. Aber noch<br />

schwerer wird es, wenn man sich weigert, das Unvermeidliche zu akzeptieren.<br />

Der Einbruch <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> in das Rollengefüge <strong>der</strong> Familie<br />

Wenn eine schwere <strong>Krankheit</strong> in das Leben o<strong>der</strong> in die Familie einbricht, ist nichts<br />

mehr wie war. Es ist nicht nur das Leiden an <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>. Es ist auch die<br />

Ungewissheit des Ausmasses an Betroffenheit, des weiteren Verlaufes und des<br />

Ausgangs. Es ist die emotionale Mitbetroffenheit <strong>der</strong> Angehörigen, das Aushalten<br />

müssen des Mitleidens. Es ist schliesslich die Aktivierung und Beanspruchung <strong>der</strong><br />

Unterstützungsfunktionen, die es in je<strong>der</strong> Familie gibt. Eine andauernde <strong>Krankheit</strong><br />

129


ingt das gewachsene Rollen- und Aufgabengefüge in <strong>der</strong> Familie durcheinan<strong>der</strong>:<br />

Der bis dahin starke Partner ist plötzlich schwach und hilfebedürftig. Das<br />

erwachsene Kind kehrt nach Hause zurück. Die alten Eltern, die immer alles<br />

bestimmt haben, sind auf Pflege angewiesen. Man muss solche Verän<strong>der</strong>ungen erst<br />

einmal begreifen, bevor man seinen neuen Platz in <strong>der</strong> Familie findet. Man muss<br />

lernen, die Hilfe zu dosieren: so viel wie nötig, aber nicht mehr. Sonst wird die Hilfe<br />

leicht als Entmündigung erlebt. Und man muss sich wie<strong>der</strong> zurücknehmen, wenn <strong>der</strong><br />

Hilfebedürftige sich wie<strong>der</strong> selber helfen kann.<br />

Grenzen <strong>der</strong> Therapie<br />

Man darf auf die Hilfe <strong>der</strong> Medizin hoffen. Auch schwere <strong>Krankheit</strong>en sind<br />

behandelbar. Die meisten enden glücklich o<strong>der</strong> doch glimpflich. Aber viele an<strong>der</strong>e<br />

dauern an. Sie sprechen unzureichend auf die Behandlung an. Sie werden<br />

chronisch. Es ist richtig und wichtig - auch für einen selber - nicht zu schnell<br />

aufzugeben, nicht zu resignieren. Aber irgendwann kommt <strong>der</strong> Zeitpunkt, an dem<br />

alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Dann muss man auch das akzeptieren. Sonst<br />

verliert man seine Kraft im vergeblichen Kampf gegen Windmühlenflügel. Aber diese<br />

Kraft braucht man, um sich auf die neue Situation einzustellen - und dem kranken<br />

Angehörigen dabei zu helfen, das ebenfalls zu tun. Wenn Heilung nicht möglich ist,<br />

geht es darum, an<strong>der</strong>s zu helfen.<br />

Behin<strong>der</strong>ungen und ihre Folgen<br />

Wenn die <strong>Krankheit</strong> andauert und ihre Symptome nicht o<strong>der</strong> fast nicht beeinflussbar<br />

sind, werden sie zur Behin<strong>der</strong>ung. Dabei müssen wir unterscheiden zwischen<br />

fortbestehenden sog. positiven Symptomen und Einschränkungen des Wollens, des<br />

Handelns und des Fühlens, die Auswirkungen von sog. negativen Symptomen sind.<br />

Wenn man diese als Behin<strong>der</strong>ungen akzeptiert, geht es nicht mehr vorrangig darum,<br />

sie <strong>mit</strong> <strong>med</strong>izinischen Massnahmen zu beseitigen. Es geht vielmehr und vor allem<br />

darum, den psychisch Behin<strong>der</strong>ten zu helfen, <strong>mit</strong> ihnen umzugehen, letztlich <strong>mit</strong><br />

130


ihnen zu <strong>leben</strong>. In jedem Falle geht es darum, ihre gesunden Seiten zu unterstützen<br />

und zu för<strong>der</strong>n.<br />

Bei fortbestehenden produktiven Symptomen kann das beson<strong>der</strong>s hilfreich sein.<br />

Erinnern wir uns daran, dass die Intelligenz bei den Psychosen, <strong>mit</strong> denen wir zu tun<br />

haben, nie gestört ist. Das Problem sind die sog. kognitiven Störungen, die<br />

verän<strong>der</strong>te Wahrnehmung <strong>der</strong> Welt in Form von irrationalen Ängsten und<br />

Bedeutungszuschreibungen, Verfolgungs- und Bedrohungserlebnissen,<br />

Stimmenhören o<strong>der</strong> wahnhaften Überzeugungen. Wichtig ist: für die Betroffenen ist<br />

nichts davon irreal o<strong>der</strong> irrational; für sie ist es Wirklichkeit. Deshalb ist es - wie bei<br />

<strong>der</strong> akuten Psychose - falsch, ihnen die Symptome ausreden zu wollen. Das gibt nur<br />

Ärger.<br />

Aber an<strong>der</strong>s als bei dieser ist die psychotisch geprägte Wahrnehmung <strong>der</strong> Welt in<br />

<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ungsphase nicht mehr all umfassend. Es ist eine gewisse Ruhe<br />

eingekehrt, wenn so will, eine Gewöhnung: Wenn die Symptome lange andauern<br />

gehören sie gleichsam zu einem, auch wenn sie einen plagen. Dann hilft es, wenn<br />

man als Angehöriger o<strong>der</strong> als Freund geduldig zuhört. Aber man sollte sich auch<br />

hüten, den Kranken in seinen Wahrnehmungen zu bestätigen. Wenn er das verlangt<br />

kann die Antwort sein: Ich weiss, du erlebst das so; aber ich sehe das an<strong>der</strong>s. Oft ist<br />

den Betroffenen eine solche "Realitätsprüfung" wichtig. Oft sagen sie einem etwa:<br />

Die Stimmen sagen mir...., aber das kann eigentlich nicht sein. Dann ist es sinnvoll<br />

zu bekräftigen, dass die Stimmen in ihm sind, ggf. dass sie Ausdruck <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong><br />

sind. Für an<strong>der</strong>e Symptome gilt ähnliches.<br />

Wichtig ist es, dass man für solche "Rückversicherungen" an die Realität zur<br />

Verfügung steht, wenn das gewünscht ist, aber nur dann. Man hüte sich davor, sich<br />

auf zu drängen; o<strong>der</strong> gar - vorwurfsvoll - zu sagen, das bildest du dir ein. Abgesehen<br />

davon, dass das neurobiologisch falsch ist. Psychotische Symptome bildet man sich<br />

nicht ein. Sie sind Ausdruck <strong>der</strong> Wirklichkeit im Gehirn. Falsch ist es auch, zu immer<br />

noch mehr Medikamenten zu raten, o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e zu erproben. Diese Möglichkeiten<br />

sind ausgeschöpft. Was man erreicht, sind stärkere Nebenwirkungen. Im Gegenteil,<br />

wenn <strong>der</strong> Psychosekranke es lernt, <strong>mit</strong> den behin<strong>der</strong>nden Symptomen zu <strong>leben</strong>, ist<br />

oft sogar eine Vermin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Medikamentendosis möglich.<br />

131


Man kann lernen, <strong>mit</strong> andauernden psychotischen Symptomen zu <strong>leben</strong>; und man<br />

kann als Angehöriger o<strong>der</strong> als Freund dabei helfen, indem man geduldig und<br />

freundlich als Partner zur Verfügung steht.<br />

Handeln und wollen<br />

Behin<strong>der</strong>ungen, die aus Störungen des Handelns und Wollens und des Gefühls<br />

erwachsen sind an<strong>der</strong>er Art. Die beeinträchtigen den Antrieb, die persönliche<br />

Dynamik und die Aktivität. Sie hin<strong>der</strong>n einen darin, <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en emotional<br />

<strong>mit</strong>zuschwingen und den Alltag zu gestalten. Konkret kann das heissen, dass die<br />

Betroffenen Schwierigkeiten haben, eigenständig zu <strong>leben</strong>, eine geregelte Tätigkeit<br />

auszuüben, ihre Zeit zu gestalten, manchmal auch, sich selber zu pflegen. Sie<br />

brauchen dabei Hilfe. Manchmal reicht die Unterstützung durch Angehörige. Aber<br />

oft geht es nicht ohne professionelle Hilfe. Dort wird zwischen vier Grundformen <strong>der</strong><br />

Hilfe unterschieden, die gleichzeitig Ansprüche sind: Pflege, Wohnen, Betätigung<br />

und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Je nach Ausmass <strong>der</strong> zugrunde<br />

liegenden Störungen reichen einfache Angebote nicht aus. die Behin<strong>der</strong>ten bedürfen<br />

<strong>der</strong> aktiven Hilfe von aussen, <strong>der</strong> sozialen Stimulation - ggf. über lange Zeit, da<strong>mit</strong><br />

sie nicht völlig vereinsamen o<strong>der</strong> gar innerlich und äusserlich verwahrlosen.<br />

Angehörige akzeptieren solche Störungen nur schwer. Das hat da<strong>mit</strong> <strong>mit</strong> zu tun,<br />

dass Absprachen und Ermahnungen kaum nützen. Auch Training o<strong>der</strong><br />

Rehabilitationsmassnahmen helfen nur begrenzt. An<strong>der</strong>s als etwa bei geistig<br />

Behin<strong>der</strong>ten bleibt einmal erreichtes Niveau <strong>der</strong> Selbständigkeit nicht stabil: wenn<br />

man nicht wollen kann, kann man auch nicht handeln, so gerne man im Grunde den<br />

Ansprüchen <strong>der</strong> Mitmenschen gerecht werden möchte.<br />

Pflege<br />

Am schwersten fällt das bei <strong>der</strong> Vernachlässigung <strong>der</strong> Körperpflege. Dabei handelt<br />

es sich je nach Ausmass um eine komplexe Störung. Die Betroffenen kommen<br />

morgens nicht aus dem Bett; o<strong>der</strong> sie ziehen sich tagsüber dorthin zurück. Sie<br />

waschen we<strong>der</strong> sich noch ihre Kleidung. Sie wechseln die Bettwäsche nicht. Sie<br />

132


putzen nicht. Sie essen nur unregelmässig; sie waschen nicht ab. Sie verlassen ihr<br />

Zimmer nicht mehr. Wenn sie aber doch unter Menschen gehen, verbreiten sie<br />

eindringliche Düfte, die die Mitmenschen auf Abstand halten. Wenn sie selbständig<br />

wohnen, können nach aussen dringende Gerüche Grund für Kündigung<br />

Zwangsräumung o<strong>der</strong> Zwangseinweisung sein. Wenn sie zuhause <strong>leben</strong>, sind sie<br />

eine Herausfor<strong>der</strong>ung für alle Beteiligten, lei<strong>der</strong> meist vor allem für die Mütter.<br />

Da Ermahnungen meist nicht nützen - o<strong>der</strong> nur wenn <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>te diese als<br />

lästiger empfindet als zu handeln - bleibt im Zweifel nur die energische Intervention:<br />

Die Bettdecke wegziehen, die Bettwäsche und die Kleidung waschen, den Gang<br />

unter die Dusche erzwingen, den Gang vor die Tür desgleichen. Das klingt<br />

entwürdigend: Aber ohne das ist ein Zusammen<strong>leben</strong> in <strong>der</strong> Familie nicht möglich.<br />

Sowohl tatsächlich wie psychologisch mag einem dabei entgegen kommen, das<br />

Störungen des Wollens ja nicht bedeuten, dass jemand aktiv nicht will. Auch <strong>mit</strong><br />

einer solchen Störung schläft man lieber in frischer Bettwäsche, zieht man lieber<br />

saubere Unterhosen an. Dennoch ist die Situation bei allem Verständnis heikel und<br />

konfliktbeladen. Letzten Endes geht es nicht nur um das Akzeptieren. Es geht auch<br />

ums Aushaltenkönnen, vor allem von Seiten <strong>der</strong> Angehörigen. Wenn sie das nicht<br />

können, ist das kein moralisches Versagen. Dann müssen sie nach an<strong>der</strong>en<br />

Lösungen suchen.<br />

Wohnen<br />

Selbständiges Wohnen gehört zum Erwachsenen<strong>leben</strong>. Die meisten psychisch<br />

Behin<strong>der</strong>ten erstreben das auch für sich. Aber das ist nicht immer möglich: aus<br />

wirtschaftlichen Gründen, aber auch wegen des Ausmasses <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung. Viele<br />

<strong>leben</strong> zu Hause, meist bei den Eltern; seltener bei Geschwistern o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Verwandten. Oft kehren erwachsene Kin<strong>der</strong>, die bereits ausgezogen waren, <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Erkrankung ins Elternhaus zurück. Das angestrebte Ziel aber ist die eigene<br />

Wohnung. Ist das nicht möglich, bieten sich die betreute Einzelwohnung o<strong>der</strong> die<br />

betreute Wohngemeinschaft an. Erst wenn alles dieses nicht möglich ist, kommt das<br />

Wohnheim infrage. Hier ist die professionelle Betreuungsdichte am grösssten.<br />

Lei<strong>der</strong> ist dort auch die individuelle Gestaltungsmöglichkeit am geringsten.<br />

Umgekehrt sind die Unterstützungsanfor<strong>der</strong>ung an die Angehörigen - aber auch<br />

133


<strong>der</strong>en Einflussmöglichkeit im Heim am geringsten. Dort erfolgt eine Art<br />

Rundumversorgung.<br />

Demgegenüber werden die Angehörigen am stärksten gefor<strong>der</strong>t,<br />

wenn <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>te zu Hause lebt. Die Darstellung <strong>der</strong> potentiellen Bedürfnisse an<br />

Alltagspflege deutet an, was auf die Angehörigen zukommen kann. Das kann gut<br />

gehen, wenn das Familienklima einigermassen entspannt ist und ein eigenes Zimmer<br />

zur Verfügung steht, idealerweise <strong>mit</strong> einem Minimum an eigener Infrastruktur und<br />

eigenem Eingang. Wichtig ist, dass die Beteiligten nicht den ganzen Tag<br />

aufeinan<strong>der</strong> hocken. Sonst sind Spannungen unausweichlich. Eigenes Fernsehen<br />

und Radio helfen dabei. Wenn das erwachsene Kind nach <strong>der</strong> Erkrankung wie<strong>der</strong><br />

einzieht, sollten die Eltern sich bewusst sein, dass es die eingespielten Regeln aus<br />

früheren Jahren möglicherweise nicht einhalten kann. Trotzdem empfiehlt es sich,<br />

keinen Zweifel lassen, dass sie im Prinzip gelten: Zimmer aufräumen und reinigen;<br />

Essenszeiten einhalten, im Haushalt helfen usw. Grundregel ist es, normal<br />

<strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> umzugehen. Wenn <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>te das nicht kann, hilft es nicht<br />

Vorwürfe zu machen. Dann muss man helfen, wo Hilfe erfor<strong>der</strong>lich ist, aber nicht<br />

mehr. Sonst för<strong>der</strong>t man Rückzug und Unselbständigkeit. Wenn man überfor<strong>der</strong>t ist<br />

sollte man das sagen und gemeinsam nach einer Lösung suchen.<br />

Am besten ist es, wenn man sich und dem behin<strong>der</strong>ten Angehörigen von Anfang an<br />

deutlich macht, dass das Zusammenwohnen eine Übergangslösung ist, dass eine<br />

an<strong>der</strong>e Wohnform das Ziel ist. Bis dahin kann man ihm helfen zu lernen, einen<br />

eigenen Haushalt zu führen. Es ist nicht möglich, die Störungen des Wollens weg zu<br />

trainieren. Aber viele junge Männer - gelegentlich auch Frauen - haben nie gelernt,<br />

die Waschmaschine o<strong>der</strong> den Geschirrspüler zu bedienen, einfache Mahlzeiten zu<br />

bereiten, einen vernünftigen Speiseplan zu gestalten, o<strong>der</strong> Lebens<strong>mit</strong>tel einzukaufen<br />

und zu lagern - o<strong>der</strong> <strong>mit</strong> ihrem knappen Geld umzugehen. Das kann man,<br />

Behin<strong>der</strong>ung hin o<strong>der</strong> her, lernen; und dabei kann man ihnen helfen. Grundsatz<br />

dabei ist, zu helfen, nicht selber tun, etwa weil es schneller geht!<br />

Wenn man sich gegen das Wohnen zu Hause entscheidet, geht es nicht um alles<br />

o<strong>der</strong> nichts, um volle Selbständigkeit ohne jede Hilfe o<strong>der</strong> Heim. Bei den<br />

Alternativen, die sich bieten, gibt es vielfältige Abstufung von<br />

134


Unterstützungsmöglichkeiten. Die Frage, ob Wohngemeinschaft o<strong>der</strong> nicht,<br />

entscheidet sich wie bei Gesunden vor allem an <strong>der</strong> Frage nach den eigenen<br />

Bedürfnissen: Ist man lieber für sich o<strong>der</strong> fühlt man sich in <strong>der</strong> Gemeinschaft wohler<br />

Und: verfügt man über ausreichende Sozialkompetenz und ein ausreichend dickes<br />

Fell, um in einer Wohngemeinschaft zurechtzukommen Die Frage betreute o<strong>der</strong><br />

eigene Wohnung beantwortet sich auf Grund des Ausmasses an Hilfen, die man<br />

benötigt - und ob diese professionell sein müssen, o<strong>der</strong> ob sie auch von Angehörigen<br />

o<strong>der</strong> Freunden geleistet werden können.<br />

Eltern können auf Grund des Verhaltens des Behin<strong>der</strong>ten abschätzen, welche Hilfen<br />

er benötigt. Das kann von einer täglichen Mahlzeit zu Hause, dem täglichen Besuch<br />

eines Angehörigen bis zu völligen Selbständigkeit reichen. Meist sind<br />

Zwischenschritte sinnvoll: dosierte regelmässige Besuche zu Hause; zunächst Hilfe<br />

beim Putzen, beim Abwasch, bei <strong>der</strong> Wäsche, beim Einkaufen, beim Umgang <strong>mit</strong><br />

dem Geld usw. Alles das ist einfach, wenn Angehörige und Betroffene sich einig<br />

sind. Wenn die Besuche und Hilfen <strong>der</strong> Eltern als Kontrolle empfunden werden, was<br />

sie ja letztlich auch ist, kann man einverständlich eine neutrale Person da<strong>mit</strong><br />

beauftragen. Bei allem guten Willen <strong>der</strong> Angehörigen müssen diese lernen, die<br />

Grenzen zu akzeptieren, die <strong>der</strong> Betroffene setzt - <strong>mit</strong> einer Einschränkung: solange<br />

das zu verantworten ist. Wenn nicht, müsse sie handeln, müssen sie professionelle<br />

Hilfe beiziehen - aber bitte nicht zu früh.<br />

Betätigung<br />

Wenn man als Behin<strong>der</strong>ter zu Hause lebt, braucht man einen - subjektiv - sinnvoll<br />

strukturierten Tageslauf, sonst entwickeln sich sekundäre Behin<strong>der</strong>ungen, die alles<br />

nur noch schlimmer machen. In <strong>der</strong> Vergangenheit hat sich alles auf Arbeit<br />

konzentriert, und sei es auf den sogenannten zweiten Arbeitsmarkt. Aber <strong>der</strong> ist oft<br />

eher abstumpfend als anregend. Seit es kaum mehr Arbeit für Menschen <strong>mit</strong><br />

psychischen Behin<strong>der</strong>ungen gibt, sind Phantasie und Kreativität gefragt; und man<br />

redet verstärkt von Betätigung statt von Arbeit: Dazu bietet sich ehrenamtliche<br />

Tätigkeit an, stundenweise Beschäftigung als Aushilfe, Zuverdienstbetriebe,<br />

Tätigkeit in Selbsthilfe-Organisationen, Volkshochschulkurse - oft ein Patchwork von<br />

135


alledem. Wenn das nicht ausreicht, sollte man darauf drängen, dass <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>te<br />

wenigsten einmal am Tag seine Wohnung verlässt, etwa um einzukaufen, einen<br />

Behördengang zu erledigen, eine Bibliothek auf zusuchen, in einem Cafe ein Zeitung<br />

zu lesen, zu schwimmen, zum Sport o<strong>der</strong> zur Gymnastik o<strong>der</strong> in eine<br />

Selbsthilfegruppe zu gehen. Englische Forscher haben schon vor Jahrzehnten vier<br />

Stunden tägliche Betätigung <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Art gefor<strong>der</strong>t - und<br />

Fernsehen gehöre nicht dazu. Daran hat sich bis heute nichts geän<strong>der</strong>t.<br />

Viele Eltern verkraften es nur schwer, wenn ihr Kind keine geregelte Arbeit findet<br />

bzw. durchhält. Aber in einer Gesellschaft, in <strong>der</strong> ohnehin nur 40 Prozent <strong>der</strong><br />

Arbeitsfähigen einer bezahlten Arbeit nachgehen, die sie auf 10 Prozent Arbeitslose<br />

eingestellt hat und 50jährige zum alten Eisen abschiebt, darf man die Arbeit auch<br />

nicht als Fetisch aufbauen: Betätigung, eigenständige Beschäftigung ist wichtig. Am<br />

schlimmsten wäre es, den Behin<strong>der</strong>ten immer wie<strong>der</strong> zur Arbeit zu treiben, die sie<br />

ohnehin nicht finden, o<strong>der</strong> sie gar als Versage dastehen zu lassen: Das sind sie<br />

nicht. Sie sind durch schwere <strong>Krankheit</strong> behin<strong>der</strong>t. Sie können sich <strong>mit</strong> dem, was sie<br />

erreicht haben, fast immer sehen lassen.<br />

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben<br />

Dieses Grundbedürfnis überschneidet sich in Zeiten <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft, <strong>mit</strong><br />

vielem, das ich letzten Abschnitt angesprochen habe. Hier deshalb nur wenige<br />

Sätze. Es geht dabei neben <strong>der</strong> Betätigung vor allem um die Teilhabe am Leben <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> Gesunden, aber auch an<strong>der</strong>er Behin<strong>der</strong>ter. Es geht um soziale<br />

Kontakte zu an<strong>der</strong>en Menschen - und zwar zu solchen, die für einen selber stimmig<br />

sind. Deswegen können Eltern und Freunde nur anregen, allenfalls Hilfe anbieten,<br />

aber nicht für sie handeln. Und sie müssen es hinnehmen, wenn das nicht ihren<br />

Vorstellungen von Kultur entspricht.<br />

Angst vor Risiken<br />

136


Schizophrene Psychosen sind in ihrem Verlauf von einem hohen Mass an<br />

Unsicherheit gekennzeichnet. Einerseits bedeutet die Diagnose, wie betont, keine<br />

Aussage über die Prognose, also über den Ausgang <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>. Charakteristisch<br />

für sie ist viel mehr ein Auf und Ab, das keinen vorgegebenen Regeln unterliegt. Der<br />

Möglichkeit zur andauernden Besserung steht das Risiko des Rückfalls und <strong>der</strong><br />

Chronifizierung gegenüber. Für die Eltern bedeutet das, dass sie in ständiger Angst<br />

um die Zukunft ihres kranken Kindes <strong>leben</strong>. Und nicht nur das, sie müssen diese<br />

Ängste zugleich unter Kontrolle halt, um ihr Kind nicht zusätzlich zu belasten. Das<br />

hat konkrete Konsequenzen. Ängste lassen sie bei je<strong>der</strong> kleinen Verän<strong>der</strong>ung seines<br />

psychischen Befindens o<strong>der</strong> seines Verhaltens leicht überreagieren und einen<br />

Rückfall vermuten, wo keiner in Sicht ist, <strong>mit</strong> dem Ergebnis, dass sie Gott und die<br />

Welt verrückt machen - und am Ende auch ihr Kind.<br />

Der Rückfall ist nicht das einzige Risiko, das es auszuhalten gilt. Das schlimmste<br />

Risiko überhaupt ist <strong>der</strong> Suizid. Es ist ein traurige Wahrheit, dass je<strong>der</strong> Zehnte<br />

Psychosekranke durch Selbsttötung stirbt. Den Angehörigen ist das, je länger die<br />

<strong>Krankheit</strong> dauert umso schmerzlicher bewusst; und sie können fast nichts tun, zumal<br />

es keine sicheren Anzeichen <strong>der</strong> Gefahr gibt. Aber auch wenn Phasen von<br />

Depressivität und Lebensmüdigkeit sichtbar werden, bedeutet das nicht, dass sie<br />

jedes Mal eingreifen können o<strong>der</strong> auch nur dürfen. Das ist kritischen Situationen<br />

vorbehalten. Suizidalität ist etwas, was viele Menschen über Jahre begleitet. Mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten, auch chronische Suizidalität gehört zu den Belastungen, die<br />

Angehörige <strong>mit</strong>tragen und letztlich auch akzeptieren müssen.<br />

Auf sich achten<br />

Wer einem an<strong>der</strong>en Menschen helfen will, muss darauf achten, dass er dabei nicht<br />

selber unter die Rä<strong>der</strong> gerät. Für die berufsmässigen Helfer gehört es zur<br />

Ausbildung, bei aller Empathie - allem Mitgefühl - nicht den sie schützenden<br />

Abstand zu verlieren. Wenn sie das nicht schaffen, spricht man vor "Helfersyndrom".<br />

Angehörige heben es schwerer. Zum einen erfahren sie keine Ausbildung. Zum<br />

an<strong>der</strong>en wird ihre Hilfe nicht zeitlich begrenzt über Stunden o<strong>der</strong> Tage gefor<strong>der</strong>t,<br />

son<strong>der</strong>n gegebenenfalls über ein ganzes Leben. Zum dritten schliesslich werden sie<br />

137


für ihre Hilfe nicht materiell entschädigt wie die professionellen Helfer. Im Gegenteil,<br />

fast immer ist auch ihre materielle Unterstützung ein Teil <strong>der</strong> Hilfe.<br />

Umso wichtiger ist es, dass sie auf sich selber achten, auf ihre persönlichen<br />

Bedürfnisse, ihren individuellen Entfaltungsspielraum, und dass sie lernen, sich<br />

abzugrenzen. Wenn man sich um einen lieben Menschen sorgt, ist das gewiss<br />

leichter gesagt als getan. Dennoch ist es unabdingbar, insbeson<strong>der</strong>e, wenn die<br />

<strong>Krankheit</strong> andauert. Das ist bei Angehörigen <strong>mit</strong> psychosebedingten Behin<strong>der</strong>ungen<br />

nicht an<strong>der</strong>s als bei Eltern, die an einer Alzheimerschen Erkrankung leiden. Nur<br />

wenn es einem gelingt, sich abzugrenzen, auf sich zu achten und über die Fürsorge<br />

für den kranken Angehörigen hinaus ein eigenes Leben zu führen, wird man<br />

längerfristig helfen können.<br />

Was kann man in einer solchen Situation für sich selber tun Darauf gibt es keine<br />

allgemeingültige Antwort. Je<strong>der</strong> Mensch ist an<strong>der</strong>s. Die eigenen Grundbedürfnisse<br />

können – auch in <strong>der</strong> gleichen Familie – recht unterschiedlich sein. Man muss in sich<br />

hineinhorchen, um heraus zu finden, was man in schwierigen Lebensphasen<br />

unbedingt braucht, um durchzuhalten, um nicht alle Lebensfreude zu verlieren.<br />

Allerdings lassen sich einige allgemeine Themenkreise benennen, die einem helfen<br />

können, sich zurechtzufinden. Grundvoraussetzung ist die Notwendigkeit, zu<br />

akzeptieren, was ist und was man nicht än<strong>der</strong>n kann. Dazu habe ich im zweiten und<br />

im vorigen Kapitel einiges geschrieben.<br />

Gefühle zulassen<br />

Erst dann kann man da<strong>mit</strong> beginnen, die Krise emotional in den Griff zu bekommen<br />

und Vertrauen in sich selber zu suchen. Erst dann schafft man es, an sich selber zu<br />

denken und wahrzunehmen, wie es einem geht. Erst dann kann man Trauer<br />

zulassen, Trauer über den Verlust, den nicht nur <strong>der</strong> kranke Angehörige erleidet<br />

son<strong>der</strong>n auch man selber. Aber auch Gefühle von Hilflosigkeit, Wut, Verzweiflung,<br />

Bitterkeit und Ärger müssen sein dürfen. Wenn die da sind, muss man sie zulassen.<br />

Nur dann kann man ihnen begegnen. Nur dann kann man irgendwann einen Schritt<br />

zurücktreten, ein wenig Abstand gewinnen und versuchen, die eigene Situation von<br />

138


aussen zu betrachten und ggf. auch eigene Ansprüche zu hinterfragen – an sich und<br />

an den kranken Angehörigen.<br />

Sich Zeit nehmen<br />

Sich Zeit nehmen kann heissen: versuchen, auf an<strong>der</strong>e Gedanken zu kommen. Das<br />

ist wichtig, weil die <strong>Krankheit</strong> des Angehörigen lange Zeit ständig im Kopf herum<br />

geht, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Da hilft es, sich nach einer Zeit <strong>der</strong><br />

Krise auf seine alltäglichen Aufgaben und Gewohnheiten besinnt. Oft sind Partner<br />

und gesunde Kin<strong>der</strong> ebenso die eigenen sozialen Kontakte zu Freunden und<br />

Bekannten zu kurz gekommen. Ähnliches gilt für Routinepflichten in Haus und Beruf,<br />

die Zeit und Konzentration verlangen.<br />

Sich Zeit nehmen heisst aber auch, sich eigene Zeit gönnen, seinen Gedanken<br />

nachhängen, aber nicht grübeln. Dabei kann es helfen, die freie Zeit aktiv zu<br />

gestalten, seinen Hobbys nachzugehen, Dinge zu unternehmen, wie früher auch;<br />

und, wenn man so weit ist, auch mal Urlaub zu machen. Allerdings sollte man nichts<br />

erzwingen. Wenn man es nicht schafft, ein wenig Abstand zu gewinnen, kann auch<br />

ein Urlaub am schönsten Ort <strong>der</strong> Welt zur Quälerei werden. Ähnliches gilt für die<br />

Zeit, die man <strong>mit</strong> Freunden verbringt. Diese ist nur hilfreich, wenn man nicht ständig<br />

<strong>mit</strong> Fragen nach dem kranken Angehörigen, <strong>mit</strong> unerbetenen Ratschlägen o<strong>der</strong> gar<br />

<strong>mit</strong> Vorurteilen und Schuldzuweisungen konfrontiert wird.<br />

Lei<strong>der</strong> machen viele Angehörige die bittere Erfahrung, dass sich ihr Bekanntenkreis<br />

drastisch reduziert.<br />

Hilfe suchen<br />

Deshalb sollten Angehörige da soziale Kontakte suchen, wo sie <strong>mit</strong> Verständnis und<br />

Unterstützung rechnen können. Wenn sie Glück haben, finden sie doch<br />

vorurteilsfreie und <strong>leben</strong>serfahrene Bekannte, bei denen sie sich aussprechen<br />

können. Wenn sie sich umhören o<strong>der</strong> aktiv danach suchen, finden sie manchmal<br />

139


überraschend in <strong>der</strong> Nachbarschaft o<strong>der</strong> in Vereinigungen o<strong>der</strong> Gruppierungen, in<br />

denen sie sich bewegen – nicht nur aber auch in karitativen. Ganz wichtig ist es,<br />

Kontakt zu an<strong>der</strong>en Menschen <strong>mit</strong> ähnlichen Erfahrungen zu suchen. Es gibt ,<br />

an<strong>der</strong>s als noch vor zehn Jahren heute fast überall in erreichbarer Nähe<br />

Angehörigenvereinigungen, die einerseits <strong>mit</strong> Rat und Tat helfen, an<strong>der</strong>erseits<br />

Selbsthilfegruppen für Angehörige psychisch Kranker anbieten. Dort ist ein<br />

Erfahrungsaustausch über jene Seite <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> und des <strong>Krankheit</strong>sverhaltens<br />

gewährleistet, die den meisten professionellen Helfern verschlossen ist.<br />

Das bedeutet allerdings nicht, dass diese keine Hilfe leisten können, nur eben<br />

an<strong>der</strong>s. Es ist wichtig, dass man sich bewusst ist, dass diese sich in erster Linie dem<br />

Kranken verpflichtet fühlen. Den Angehörigen gegenüber sehen sie sich vor allem<br />

als Auskunftspersonen, nicht als Helfer. Manche schlagen eine Familientherapie vor.<br />

Angehörige sind allerdings gut beraten, genau nachzufragen, was da passieren, wie<br />

das gehen und was das bringen soll – auch bei an<strong>der</strong>en Angehörigen. Und danach<br />

müssen sie zusammen <strong>mit</strong> dem kranken Familien<strong>mit</strong>glied beraten, ob sie das wollen.<br />

Auf jeden Fall ist es für beide sinnvoll, vorher an einem Kursprogramm zur<br />

Psychoinformation bzw. Psychoedukation teilzunehmen, das von vielen Kliniken und<br />

ambulanten Diensten angeboten wird.<br />

Wenn Angehörige selber Hilfe brauchen, ist <strong>der</strong> Hausarzt <strong>der</strong> erste Ansprechpartner.<br />

Wenn sie, das ist nicht ganz selten, Depressionen entwickeln, ist psychiatrische o<strong>der</strong><br />

fachpsychologische Hilfe sinnvoll. Allerdings kann es neue Verwicklungen bringen,<br />

wenn Angehörige selber zu Patienten werden. Davon sollten sie sich aber nicht<br />

schrecken lassen.<br />

Grenzen setzen<br />

Grenzen gelten in beide Richtungen. So ist es auch im Umgang zwischen<br />

Angehörigen und Kranken. Sie sollen nicht wirklich trennen. Sie sollen den<br />

langfristigen Umgang <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> möglich machen. Da<strong>mit</strong> sie das können, müssen<br />

sie respektiert werden. Zwischen dem Neugeborenen und <strong>der</strong> Mutter bestehen fast<br />

keine Grenzen. Je älter das Kind wird, desto mehr Eigenständigkeit entwickelt und<br />

140


aucht es. Je selbstständiger es wird, desto weniger Fürsorge durch die Eltern<br />

benötigen sie, desto weniger noch so liebevolle Einmischung von den Eltern<br />

akzeptierten sie. Am Ende steht <strong>der</strong> selbstständige erwachsene Mensch, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> den<br />

Eltern auf eine Ebene kommuniziert. Die gemeinsame Geschichte bedingt eine<br />

beson<strong>der</strong>e Beziehung. Aber für den jungen Erwachsenen tritt ggf. die Bindung an<br />

eine eigene Familie gegenüber jener an die Elternfamilie in Vor<strong>der</strong>grund.<br />

Das än<strong>der</strong>t sich bei schweren <strong>Krankheit</strong>en Heranwachsen<strong>der</strong> und junger<br />

Erwachsener, insbeson<strong>der</strong>e bei schweren psychischen Erkrankungen. Beson<strong>der</strong>s<br />

drastisch kann das sein, wenn <strong>der</strong> junge Erwachsene nicht in einer Partnerschaft lebt<br />

und keine eigenen Kin<strong>der</strong> hat. Die Psychose wirft die jungen Erkrankten meist in<br />

ihrer psychosozialen Entwicklung weit zurück. Am deutlichsten schlägt sich das darin<br />

nie<strong>der</strong>, dass viele von ihnen, die bereits ein selbstständiges Leben in eigener<br />

Wohnung begonnen haben, nach <strong>der</strong> Erkrankung ins Elternhaus zurückkommen. Für<br />

Außenstehende wirken sie oft fünf o<strong>der</strong> 10 Jahre jünger als sie sind.<br />

Überfürsorglichkeit vermeiden<br />

Eltern, insbeson<strong>der</strong>e Mütter, entwickeln dann eine neue Fürsorglichkeit, die<br />

eigentlich nicht altersgemäß ist, die aber dem psychischen Zustand des<br />

erwachsenen Kindes in <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> Erholung von <strong>der</strong> Psychose entspricht.<br />

Insofern ist das gut und richtig. Aber es birgt auch eine Gefahr: nämlich die, dass<br />

diese Fürsorge eine andauernde Regression begünstigt. Denn in dieser Situation ist<br />

eins an<strong>der</strong>s als beim gesunden Jugendlichen, <strong>der</strong> aktiv aus dem Haus strebt, um ein<br />

selbstständiges Leben zu beginnen. Die Psychose <strong>mit</strong> ihren Störungen des Wollens<br />

und des Handelns stört die Reifung <strong>der</strong> Persönlichkeit und die Rückkehr in die<br />

Eigenständigkeit. Da<strong>mit</strong> dies nicht geschieht, müssen die Eltern lernen, dass<br />

heimgekehrte Kind zu for<strong>der</strong>n und sich <strong>mit</strong> ihrer Fürsorge zurücknehmen, da<strong>mit</strong><br />

daraus keine Überfürsorglichkeit wird.<br />

Es ist sehr schwer, hier das richtige Maß zu finden. Aber im Interesse des<br />

genesenden Kindes wie <strong>der</strong> Eltern ist es unbedingt notwendig. Mit an<strong>der</strong>en Worten,<br />

die Eltern müssen lernen, ihre Fürsorglichkeit zu dosieren und zu begrenzen. Sie<br />

müssen beizeiten lernen, ihr Kind wie einen Erwachsenen zu behandeln, <strong>der</strong> er ja ist.<br />

141


Das bedeutet zum Beispiel, dass sie nicht bei je<strong>der</strong> Schwierigkeit einspringen dürfen,<br />

bevor ihr Kind eine Chance gehabt hat, zu zeigen, dass er sie selber bewältigen<br />

kann. Die Grundregel ist, dass man altersentsprechend »Normal <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong><br />

umgeht«.<br />

Regeln aushandeln<br />

Wenn das Kind in den Haushalt <strong>der</strong> Eltern zurückgekehrt ist, gehört dazu, dass man<br />

sobald dies möglich ist, Pläne für die Zukunft entwickelt. Ziel ist wenn immer möglich<br />

das eigenständige Leben nach <strong>der</strong> Überwindung <strong>der</strong> Psychose - auch wenn eine<br />

vollständige Ausheilung nicht erreicht wird. Auf diesem Wege sollen die Eltern ihr<br />

Kind unterstützen. Für die Zeit des Zusammen<strong>leben</strong>s in einer Wohnung, die<br />

meistens eigentlich zu klein für drei Personen ist, gilt es Regeln auszuhandeln, die<br />

gegenseitigen Ansprüche zu formulieren, die ein Geben und Nehmen beinhalten.<br />

Ganz wichtig ist es, dass Eltern und Kind jeweils ein eigenes örtliches und<br />

psychisches Territorium und haben: das eigene Zimmer für das erwachsene Kind,<br />

einen Teil <strong>der</strong> Wohnung, in <strong>der</strong> den Eltern vorbehalten ist Übereinkünfte darüber, zu<br />

welchen Zeiten und wie lange man in den gemeinsamen Räumen <strong>der</strong> Wohnung<br />

zusammen ist. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, dass die ausgehandelten<br />

Regeln zwanghaft eingehalten werden. Viel wichtiger ist es, dass alle Beteiligten sie<br />

anerkennen und dass klar ist, dass man es <strong>mit</strong> einer Ausnahme zu tun hat - o<strong>der</strong> <strong>mit</strong><br />

einem Regelverstoß - wenn sie nicht eingehalten werden.<br />

142


15 Psychoinformation o<strong>der</strong> Psychoedukation<br />

Eine Chance für Kranke und Angehörige<br />

Psychoedukation - ich spreche lieber von -information - ist neben <strong>der</strong> Selbsthilfe und<br />

<strong>der</strong> fundierten fortlaufenden Beratung durch die Behandelnden die wichtigste Hilfe für<br />

Angehörige von Menschen, die unter lange andauernden <strong>Krankheit</strong>en leiden. Ich<br />

habe in den einzelnen Kapiteln dieses Buches versucht, fortlaufend psychoedukative<br />

Informationen einzuflechten. Ich widme dem Thema ein eigenes Kapitel, weil es -<br />

gerade wenn es schwierig wird - von vielen Therapeuten wie ein Zauberwort in den<br />

Raum gestellt wird.<br />

Gewiss ist es wichtig, dass man sich über die <strong>Krankheit</strong> eines Angehörigen<br />

informiert, insbeson<strong>der</strong>e wenn die Aufklärung. durch die behandelnden Ärzte zu<br />

wünschen übrig lässt. Gewiss ist es auch richtig, dass Lesen zwar hilft, aber häufig<br />

nicht ausreicht. Deshalb ist die gezielte Information für Angehörige über die<br />

<strong>Krankheit</strong>, das <strong>Krankheit</strong>sverhalten <strong>der</strong> Betroffenen und die typischen zu<br />

erwartenden eigenen Schwierigkeiten eine gute Sache. Meist bringt sie<br />

Erleichterung. Aber man möge keine Wun<strong>der</strong> erwarten. Unter Psychoedukation<br />

versteht man Massnahmen, die helfen, "Patienten und ihre Angehörigen über die<br />

<strong>Krankheit</strong> und ihre Behandlung zu informieren, das <strong>Krankheit</strong>sverständnis und den<br />

selbstverantwortlichen Umgang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> zu för<strong>der</strong>n, und sie bei <strong>der</strong><br />

<strong>Krankheit</strong>sbewältigung zu unterstützen." Das ist die Definition von Joseph Bäuml<br />

und Gabiele Pitschel-Waltz, die im deutschen Sprachraum am meisten dafür getan<br />

haben.<br />

Bei Psychoeukation geht es um Informationsver<strong>mit</strong>tlung und emotionale Entlastung,<br />

wobei letztere vor allem durch erstere vorangetrieben werden soll. Psychoedukation<br />

ist an vielen Orten zu einer Säule <strong>der</strong> längerzeitigen Therapie geworden. Als solche<br />

wurde sie systematisiert und sowohl von psychiatrischen Institutionen wie von<br />

Selbsthilfevereinigungen angeboten - meist in Gruppen über 10-15 Sitzungen. Die<br />

einzelnen Anbieter setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Am besten gefällt mir die<br />

Gewichtung des <strong>Dr</strong>esdner Seminars von Frank Jakobi <strong>mit</strong> den Stichworten<br />

"Symptomatik, Diagnose, Ursachen (Vulnerabilitäts-Stress-Modell), Akuttherapie,<br />

143


Langzeittherapie (<strong>med</strong>ikamentöse, psychotherapeutische und soziotherapeutische<br />

Massnahmen), Selbsthilfestrategien (Gesundheitsverhalten, Früherkennung,<br />

Krisenmanagement) zum Thema Informationsver<strong>mit</strong>tlung und zur emotionalen<br />

Entlastung "Angstreduktion (Stigmatisierung, Chronifizierung), Trauerarbeit<br />

(Adaptation <strong>der</strong> Lebensperspektive), Entlastung von Schuld- und<br />

Versagensgefühlen, Relativierung <strong>der</strong> Einmaligkeit des Schicksals, Erfahrungen <strong>mit</strong><br />

an<strong>der</strong>en, Kontaktaufnahme <strong>mit</strong> Selbsthilfegruppen, Mut und Hoffnung geben," sowie<br />

speziell "Verbesserung <strong>der</strong> Fähigkeiten zur Bewältigung von Krisen und <strong>der</strong><br />

Verbesserung des innerfamiliären Umgangs im Hinblick auf die Erkrankung (EE-<br />

Konzept)." Mit letzterem will ich mich im Folgenden etwas ausführlicher<br />

auseinan<strong>der</strong>setzen.<br />

<strong>Schizophrenie</strong> und Familie. Die Bedeutung <strong>der</strong> Angehörigen<br />

Worin immer man den Ursprung <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> sieht, die Familie ist für die<br />

Ausgestaltung und den Verlauf schizophrener Psychosen von zentraler Bedeutung.<br />

Je nachdem, welche Vorstellungen man vom Ursprung <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> hat, stellt<br />

man unterschiedliche Fragen. Diejenigen, die in <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> eine „normale<br />

Folge ungünstiger Familienverhältnisse“ sehen, haben ein Interesse an <strong>der</strong> möglichst<br />

vollständigen Aufklärung <strong>der</strong> Vergangenheit <strong>der</strong> Kranken. Diejenigen, die die<br />

<strong>Krankheit</strong>sursache in einer individuellen Disposition <strong>der</strong> Kranken suchen, betrachten<br />

die Familie <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Augen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich deshalb auf<br />

Ereignisse, die in zeitlichem Zusammenhang <strong>mit</strong> dem Ausbruch <strong>der</strong> Erkrankung<br />

stehen, etwa auf o<strong>der</strong> auf Auswirkungen <strong>der</strong> Erkrankung auf das Verhalten <strong>der</strong><br />

Eltern. Bei dieser Betrachtungsweise ist die Zukunft <strong>der</strong> Kranken - und <strong>der</strong> Elternbedeutsamer<br />

als ihre Vergangenheit. Unter diesem Blickwinkel ist <strong>der</strong> künftige<br />

Verlauf wichtiger als die Frage nach den Ursachen <strong>der</strong> Störung, die ohnehin<br />

unbekannt ist. Der englische Medizinsoziologe George Brown sieht das so:<br />

„Schizophrene Verläufe sind gewöhnlich durch eine Fluktuation, eine<br />

wechselnde Ausprägung <strong>der</strong> klinischen Symptomatik gekennzeichnet.<br />

Während einige Patienten nach ihrem ersten Schub offensichtlich nahezu<br />

frei von Symptomen bleiben, kommt es bei an<strong>der</strong>en zu häufigen<br />

144


Rückfällen <strong>mit</strong> flori<strong>der</strong> Symptomatik. Wie<strong>der</strong>um an<strong>der</strong>e weisen chronische<br />

Symptome auf, die bei aller Dauerhaftigkeit oft allerdings auch deutliche<br />

Schwankungen in ihrem Schweregrad zeigen. In Anbetracht des Wandels,<br />

<strong>der</strong> sich in <strong>der</strong> Betreuung <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong>kranken angebahnt hat,<br />

gewinnt die Frage an Bedeutung, ob das Familienmilieu einen Einfluss auf<br />

den Verlauf <strong>der</strong> Störung haben kann.“<br />

Dabei ist zu beachten, dass wir es <strong>mit</strong> komplexen sozialen Prozessen zu tun haben,<br />

die sich wechselseitig beeinflussen:<br />

„So könnte eine Mutter als Reaktion auf die sich verän<strong>der</strong>nde Persönlichkeit<br />

ihres Kindes zunehmend ‘overprotective’ (überfürsorglich) werden, ohne<br />

dass dieses Verhalten ursächlich an <strong>der</strong> Störung beteiligt sein müsste.<br />

Gleichzeitig kann dieses mütterliche Verhalten, falls es zu Spannungen<br />

zwischen Mutter und Kranken führt, einen echten Einfluss auf den Verlauf<br />

<strong>der</strong> Störung haben.“<br />

Die Entdeckung <strong>der</strong> „Expressed-Emotions“<br />

Solche Überlegungen haben zu <strong>der</strong> Annahme geführt, dass emotionale Anspannung<br />

und emotionale Gelassenheit im Zusammen<strong>leben</strong> <strong>mit</strong> den Angehörigen den<br />

<strong>Krankheit</strong>sverlauf positiv o<strong>der</strong> negativ beeinflussen können. Danach kommt es vor<br />

allem auf fünf Gefühls- und Verhaltensqualitäten an:<br />

„1. Emotionen, die <strong>der</strong> wesentliche Angehörige dem Patienten gegenüber<br />

zeigte.<br />

2. Feindseligkeit des Angehörigen dem Patienten gegenüber.<br />

3. Dominierendes o<strong>der</strong> direktives Verhalten des Angehörigen dem<br />

Patienten gegenüber.<br />

4. Emotionen, die <strong>der</strong> Patient dem Angehörigen gegenüber zeigt und<br />

5. Feindseligkeit des Patienten dem Angehörigen gegenüber.“ (Leff<br />

1977)<br />

145


Die Englän<strong>der</strong> Chistine Vaughn und Julian Leff berichten über das Milieu <strong>mit</strong> grossen<br />

emotionalen Spannungen:<br />

„In dieser Gruppe von Angehörigen kamen nur kritische Bemerkungen<br />

über Persönlichkeitseigenschaften des Patienten vor, die schon vor <strong>der</strong><br />

gegenwärtigen <strong>Krankheit</strong> bestanden hatten. Diese kritischen<br />

Bemerkungen bezogen sich auf solche Aspekte <strong>der</strong> Beziehung zwischen<br />

Patienten und Angehörigen, <strong>mit</strong> denen <strong>der</strong> Angehörige beson<strong>der</strong>s<br />

unzufrieden war. Immer wie<strong>der</strong> wurden die gleichen Klagen vorgebracht,<br />

und zwar über die mangelhafte Kommunikation und über das zu geringe<br />

Ausmass an Zuneigung, Wärme und Interesse, das <strong>der</strong> Patient zeigte.<br />

‘Immer’ wie<strong>der</strong> sei <strong>der</strong> Patient ‘selbstsüchtig’, ‘verwöhnt’, ‘forsch und<br />

launisch’ gewesen, und es sei ‘immer unmöglich gewesen, zu ihm<br />

durchzukommen’. ‘Man konnte <strong>mit</strong> ihm nie etwas diskutieren, nie<br />

herausfinden, was wirklich los war’. ‘Man hätte auch genausogut zur<br />

Wand sprechen können’." Die Kritik dieser Angehörigen bezeichnen<strong>der</strong><br />

Weise nicht auf "die Symptome <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong>, son<strong>der</strong>n hauptsächlich auf<br />

das Verhalten des Patienten schon vor seiner Erkrankung.“<br />

Neuauflage <strong>der</strong> Schuldzuweisung<br />

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man argumentieren, kaum habe man die<br />

„schizophrenogene“ Mutter durch die Vor<strong>der</strong>tür aus dem Hause geschickt, komme<br />

<strong>der</strong> Schuldvorwurf gegen die Angehörigen in Form <strong>der</strong> Bewertung des emotionalen<br />

Familienmilieus durch die Hintertür wie<strong>der</strong> ins Haus. Das trifft aber nur scheinbar zu.<br />

Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass es hier nicht um Schuldzuweisung<br />

geht, son<strong>der</strong>n um die Chance, durch Wahrnehmung <strong>der</strong> Verantwortlichkeit für das<br />

eigene Verhalten positiv auf den Verlauf <strong>der</strong> schizophrenen Störung eines<br />

Angehörigen einzuwirken. Denn das hohe emotionale Engagement (EE = Expressed<br />

Emotions) ist kein Naturgesetz. Es ist - z.B. durch Psychoedukation - beeinflussbar<br />

o<strong>der</strong> manipulierbar - o<strong>der</strong> beides. Eine eindrucksvolle, häufig zitierte Graphik von<br />

Julian Leff unterstreicht das.<br />

146


___________________________________________________________________<br />

Abb. 3<br />

___________________________________________________________________<br />

Sie zeigt, dass die Rückfallrate <strong>Schizophrenie</strong>kranker <strong>mit</strong> niedrigem EE-Wert <strong>mit</strong><br />

o<strong>der</strong> ohne Dauer<strong>med</strong>ikation von Neuroleptika erstaunlich niedrig ist. Sie zeigt auch,<br />

dass die negative Entwicklung eines emotional angespannten, kritischen<br />

Familienmilieus zu überwinden ist, <strong>der</strong> Gesichtskontakt zwischen den Angehörigen<br />

und den kranken Familien<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>n (in englischem Pragmatismus) unter 35<br />

Stunden Gesichtskontakt pro Woche begrenzt und zusätzlich eine Dauer<strong>med</strong>ikation<br />

verabfolgt wird. Letztlich geht es nicht nur um Einstellungs- und<br />

Verhaltensän<strong>der</strong>ungen. Das ist manchmal sehr schwer o<strong>der</strong> gar unmöglich. Es geht<br />

vor allem darum, gangbare Wege zu finden - für alle Beteiligten.<br />

Bündnispartner zeitgemässer <strong>Schizophrenie</strong>therapie<br />

Die entscheidende Bedeutung dieser Befunde, die in Beiträgen von Leff und Vaughn<br />

in Heinz Katschnigs „An<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong>“ im einzelnen nachzulesen<br />

sind, liegt nun nicht allein in <strong>der</strong> Möglichkeit, <strong>mit</strong> sozialen Interventionsmethoden in<br />

den Verlauf <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> einzugreifen. Noch wichtiger ist die unausweichliche<br />

Schlussfolgerung, dass die Angehörigen wichtige Bündnispartner einer<br />

zeitgemässen <strong>Schizophrenie</strong>therapie sind. In <strong>der</strong> Tat haben die Ergebnisse <strong>der</strong><br />

Expressed-Emotions-Forschung dazu beigetragen, dass die Psychiatrie die<br />

Angehörigen entdeckt hat und dass die Angehörigen ihre Ansprüche an die<br />

Psychiatrie <strong>mit</strong> Erfolg geltend gemacht haben. Es ist kein Zufall, dass die rasche<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Angehörigenbewegung sich international parallel zur Ausbreitung<br />

<strong>der</strong> Ergebnisse <strong>der</strong> Expressed-Emotions-Forschung vollzogen hat. Am deutlichsten<br />

wird dies am österreichischen Beispiel, wo Heinz Katschnig beide Entwicklungen<br />

bewusst vorangetrieben hat. In expertenzentrierten Angehörigengruppen hat er<br />

versucht, Kenntnisse zu ver<strong>mit</strong>teln und Einstellungen zu än<strong>der</strong>n und die Mitglie<strong>der</strong><br />

seiner Gruppe zu motivieren, ihr Schicksal in Selbsthilfe- und Selbstorganisation in<br />

die eigene Hand zu nehmen.<br />

147


Noch etwas an<strong>der</strong>es fällt auf. Seit Beginn <strong>der</strong> Expressed-Emotions-Forschung ist<br />

verstärkt von Angehörigen die Rede und nicht mehr ausschliesslich von <strong>der</strong> Familie<br />

<strong>Schizophrenie</strong>kranker. Die einzelnen Angehörigen werden als autonome Personen<br />

wahrgenommen und respektiert. Sie sind nicht mehr nur Mitglie<strong>der</strong> eines gestörten<br />

Systems wie in <strong>der</strong> frühen Familienforschung. Da<strong>mit</strong> setzt sich die Angehörigenarbeit<br />

bewusst von <strong>der</strong> Familientherapie ab, insbeson<strong>der</strong>e von <strong>der</strong>en systemischer<br />

Verzweigung. Seit den siebziger Jahren sind nicht nur Hun<strong>der</strong>te von Untersuchungen<br />

zu <strong>der</strong> neuen Sichtweise <strong>der</strong> Beziehung zwischen gesunden und kranken<br />

Angehörigen erschienen. In ihrem Gefolge ist auch eine Vielzahl von<br />

Interventionsstrategien entwickelt worden, in <strong>der</strong>en Mittelpunkt die soziale und<br />

emotionale Befähigung <strong>der</strong> Kranken und ihren Angehörigen steht, <strong>der</strong><br />

Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kranken wirksam zu begegnen.<br />

Die Vorstellung, das Konzept <strong>der</strong> Expresssed-Emotions sei eine versteckte<br />

Wie<strong>der</strong>auflage <strong>der</strong> Schuldzuweisung an die Familie beruht auf einem<br />

Missverständnis. Zwischen Mitverantwortung für den Verlauf und Schuld an <strong>der</strong><br />

Entstehung besteht ein grundlegen<strong>der</strong> Unterschied. Schuld ist etwas, das sich auf<br />

die Vergangenheit bezieht. Verantwortlichkeit und Mitverantwortung weisen in die<br />

Zukunft. Schuld ist Geschehen. Sie ist allenfalls zu verarbeiten o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> gut zu<br />

machen. Verantwortung kann wahrgenommen werden. Sie enthält<br />

Gestaltungschancen.<br />

Da<strong>mit</strong> will ich folgendes sagen: Die gesunden Angehörigen eines <strong>Schizophrenie</strong>kranken<br />

haben, weil sie gesund sind, einen grösseren Freiheitsspielraum in <strong>der</strong><br />

Gestaltung ihrer Beziehungen zu ihrem kranken Familien<strong>mit</strong>glied als umgekehrt die<br />

Kranken in ihren Beziehungen zum Rest seiner Familie. Wenn es nun so ist, dass<br />

eine bestimmte Form des Verhaltens rückfallför<strong>der</strong>nd ist, eine an<strong>der</strong>e aber<br />

rückfallverhütend, so sind alle Beteiligten aufgerufen, die rückfallverhütende Form zu<br />

pflegen und zu <strong>leben</strong>. Das gilt natürlich auch für die Kranken. Wegen <strong>der</strong><br />

<strong>Krankheit</strong>smerkmale müssen wir aber davon ausgehen, dass sie dazu zumindest<br />

zeitweise nicht in <strong>der</strong> Lage sind.<br />

148


Umfassende Aufklärung und Information - das ist Psychoedukation - sollen die<br />

Kranken wie ihre Angehörigen dabei unterstützen, die schonendste Form des<br />

Umgangs <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> zu erkunden und zu bearbeiten. Für die Kranken geht es<br />

dabei vor allem um die Auslotung ihrer eigenen Verletzlichkeit, für die Angehörigen<br />

um Wege, aus <strong>der</strong> lähmenden Hilflosigkeit angesichts des Leidens ihres<br />

schizophreniekranken Familien<strong>mit</strong>gliedes herauszufinden. Zur Psychoinformation<br />

gehört heute selbstverständlich auch die Aufklärung über die Folgen <strong>der</strong><br />

Stigmatisierung und die Hilfe bei <strong>der</strong>en Bewältigung.<br />

149


16 Angehörigenselbsthilfe<br />

Es begann <strong>mit</strong> einem Leserbrief in <strong>der</strong> Londoner Times. Im Mai 1970 schrieb sich<br />

John Pringle, Vater eines schizophreniekranken Sohnes, die Probleme und das Leid<br />

von <strong>der</strong> Seele, das seine Familie und er während <strong>der</strong> zehn Jahre seit <strong>der</strong> Erkrankung<br />

ihres ältesten Kindes erlitten hatten. Sein Beitrag löste eine lebhafte<br />

Leserbriefdiskussion aus, in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Eltern ihre Erfahrungen und ihr Leid<br />

<strong>mit</strong>teilten: Die Konfrontation <strong>mit</strong> einer <strong>Krankheit</strong>, die ihnen fremd war; die<br />

mangelhafte Aufklärung und die Zurückweisung durch die Ärzte, die schlechte<br />

Kommunikation <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Klinik, die vergeblichen Versuche im undurchschaubaren<br />

Gewirr sozialer Institutionen Hilfe zu erlangen.<br />

Sie berichteten aber auch von ihren Ängsten, von <strong>der</strong> Kränkung, dass gerade ihnen<br />

dies geschehen war und vom Stigma, jemandem im Hause zu haben, <strong>der</strong> we<strong>der</strong><br />

arbeiten noch am normalen Alltags<strong>leben</strong> teilnehmen konnte. Und sie berichteten<br />

über die quälenden Auseinan<strong>der</strong>setzungen zwischen den Eltern um die geeignete<br />

Behandlung ihrer Kin<strong>der</strong>; schliesslich über die Auswirkungen <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> auf die<br />

Geschwister, die nicht selten selber völlig aus <strong>der</strong> Bahn geworfen wurden. Es zeigte<br />

sich, dass das Bedürfnis, die <strong>Krankheit</strong> vor Nachbarn und Freunden, ja selbst vor<br />

entfernteren Verwandten zu verheimlichen stärker war als die Hoffnung auf<br />

Unterstützung durch jene, die Hilfe hätten ver<strong>mit</strong>teln können.<br />

Die subjektiv erlebte "Schande" <strong>der</strong> Erkrankung trug dazu bei, dass die Bürde <strong>der</strong><br />

Familie durch die Versorgung chronisch schizophrener Angehöriger in <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit über lange Zeit verborgen blieb. Die Veröffentlichung des Beitrages von<br />

John Pringle in <strong>der</strong> Times bewirkte eine schlagartige Verän<strong>der</strong>ung. Die lebhafte<br />

Reaktion darauf führte innerhalb kurzer Zeit zur Gründung einer<br />

Selbsthilfeorganisation <strong>der</strong> Angehörigen <strong>Schizophrenie</strong>kranker, <strong>der</strong> National<br />

Schizophrenia Fellowship (NSF).<br />

Die National Schizophrenia Fellowship<br />

Die Vereinigung machte sich nicht nur zur Aufgabe, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.<br />

Sie hatte von Anfang an zugleich das Ziel, die wahre Situation <strong>der</strong> Familien <strong>mit</strong><br />

150


<strong>Schizophrenie</strong>kranken und ihre Probleme zu erkunden und öffentlich zu machen. Sie<br />

regte Forschungsprojekte an, die von <strong>Prof</strong>. John Wing vom Londoner Institut für<br />

Psychiatrie - selbst Vater einer psychisch behin<strong>der</strong>ten Tochter - aufgegriffen und von<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seines Instituts durchgeführt wurden. Deren<br />

wesentliche Ergebnisse sind in dem von Heinz Katschnig in deutscher Sprache<br />

herausgegebenen Buch "Die an<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> - Schizophrene zu<br />

Hause" nachzulesen. Sie führten seither zu einer Neuorientierung <strong>der</strong><br />

Familienforschung und zu einer neuen Bewertung <strong>der</strong> Beziehungen zwischen<br />

<strong>Schizophrenie</strong>kranken und ihren Familien.<br />

Ich hatte 1980, zehn Jahre nach John Pringles historischem Leserbrief Gelegenheit,<br />

an <strong>der</strong> Jahresversammlung <strong>der</strong> National Schizophrenia Fellowship teilzunehmen.<br />

Damals beeindruckten mich vor allem zwei Dinge, die mir vorher nicht in dem Mass<br />

bewusst waren:<br />

Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vereinigung, denen ich dort begegnete, waren überwiegend ältere<br />

Menschen - die jüngsten über 50, die ältesten Greisinnen und Greise. Das versteht<br />

sich an sich fast von selber. Schizophrene Erkrankungen beginnen frühestens in <strong>der</strong><br />

Pubertät, meist in den ersten zehn Jahren danach. Bis sich die <strong>mit</strong>betroffenen Eltern<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> konfrontiert und <strong>mit</strong> dem chronisch rezidivierenden Verlauf bei<br />

ihrem Kind abgefunden und den Weg in die Selbsthilfevereinigung gefunden haben,<br />

vergehen oft weitere lange Jahre. Aus dem Lebensalter ihrer Mitglie<strong>der</strong> folgt dann<br />

auch eine ihrer Hauptsorgen: Was wird aus unserem kranken erwachsenen Sohn,<br />

was wird aus unserer Tochter, wenn wir selber gebrechlich werden, wenn wir nicht<br />

mehr am Leben sind Daraus resultiert dann auch ein Hauptanliegen <strong>der</strong><br />

Vereinigung, ein vitales Interesse an beschützenden Lebensmöglichkeiten<br />

ausserhalb <strong>der</strong> psychiatrischen Kliniken, die die Würde ihrer psychisch behin<strong>der</strong>ten<br />

Kin<strong>der</strong> gewährleisten. Mir fiel auf, und das scheint ein allgemeines Merkmal solcher<br />

Angehörigenvereinigungen zu sein, wie wenige Partner und wie wenige Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Vereinigung vertreten waren. Die National Schizophrenia Fellowship war zumindest<br />

damals im wesentlichen eine Elternvereinigung.<br />

Die Angehörigen hatten eine völlig an<strong>der</strong>e Einstellung zur psychiatrischen<br />

Klinikbehandlung als die professionellen Therapeuten in jener Zeit und natürlich als<br />

151


die Psychiatriekritiker jener Jahre. Die Therapeuten waren auf Frühentlassung<br />

geeicht. Sie versuchten <strong>mit</strong> aller Macht, Wie<strong>der</strong>aufnahmen von entlassenen Kranken<br />

zu verhin<strong>der</strong>n. Sie verlangten von den Kranken möglichst grosse Selbständigkeit und<br />

von den Angehörigen möglichst grosse Unterstützung nach <strong>der</strong> Entlassung. Die<br />

Angehörigen machten geltend, die Klinikentlassung erfolge oft zu rasch (und zu<br />

unvorbereitet), die Wie<strong>der</strong>aufnahme bei einer Verschlimmerung des<br />

Gesundheitszustandes oft zu zögerlich und nicht selten zu spät. Die Konfrontation<br />

<strong>mit</strong> den Angehörigen liess erkennen, dass die Therapeuten ihnen manchmal Leiden<br />

und Belastungen aufbürden, denen sie nicht gewachsen sind. Die<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> ihnen macht weiterhin deutlich, dass die Therapeuten über<br />

jene an<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong> - die <strong>der</strong> Patienten zu Hause und jene <strong>der</strong><br />

Angehörigen, die <strong>mit</strong> ihnen <strong>leben</strong> - sehr wenig wissen.<br />

Das Zusammen<strong>leben</strong> verän<strong>der</strong>t alle Beteiligten<br />

Mir wurde damals deutlich, dass ein Spannungsfeld zwischen Psychiatrie-<br />

<strong>Prof</strong>essionellen und Angehörigen besteht, das fruchtbar genutzt werden kann, wenn<br />

alle Betroffenen - die Kranken, die Angehörigen und die Therapeuten dies<br />

wahrnehmen und sich <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung stellen. Ich habe damals in <strong>der</strong><br />

Frankfurter Allgemeinen Zeitung über meine Begegnung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> National<br />

Schizophrenia Fellowship berichtet. Die Redaktion wählte damals <strong>mit</strong> feinem Gespür<br />

die Titelzeile aus: "Das Zusammen<strong>leben</strong> verän<strong>der</strong>t alle Beteiligten." Die Leserbriefe,<br />

die ich damals erhielt, ver<strong>mit</strong>telten mir den Eindruck, dass auch bei uns ein Bedürfnis<br />

nach einem Zusammenschluss bestand. Aber es fehlte damals noch an<br />

Kristallisationsmöglichkeiten und an Personen, die bereit und in <strong>der</strong> Lage waren,<br />

diese Bedürfnisse in ähnlicher Weise zu kanalisieren wie John Pringle im Jahre<br />

1970.<br />

Auf örtlicher Ebene bestanden allerdings auch damals schon eine Reihe von<br />

Selbsthilfegruppen, etwa in Bremen o<strong>der</strong> in Baden-Württemberg, wo Elisabeth<br />

Harmsen, eine engagierte Sozialarbeiterin des Diakonischen Werkes, schon in den<br />

späten sechziger Jahren expertengeleitete Angehörigengruppen initiiert hatte. Im<br />

Juni 1982 versuchte die Akademie für Sozial<strong>med</strong>izin Hannover unter Leitung von<br />

152


Matthias Angermeyer im Rahmen einer Tagung den damaligen Stand <strong>der</strong><br />

Selbsthilfeinitiative von Angehörigen psychisch Kranker im deutschsprachigen und<br />

im internationalen Raum darzustellen. Im Vorwort zu dem Buch, das daraus<br />

hervorging, (Die Angehörigengruppe, M.C. Angermeyer und A. <strong>Finzen</strong> (Hg.), 1984)<br />

geben wir uns optimistisch:<br />

"Die Rücksinnung auf die Selbsthilfe scheint zur sozialpolitischen<br />

Entdeckung dieses Jahrzehnts zu werden. Die Entdeckung <strong>der</strong><br />

Angehörigen ist anscheinend von ähnlicher Bedeutung für die Psychiatrie<br />

<strong>der</strong> 80er Jahre. Angehörigenselbsthilfe und Angehörigengruppen<br />

ver<strong>mit</strong>teln heute schon merkbare neue Impulse für eine wirksamere<br />

Behandlung vor allem <strong>der</strong> Psychosen aus dem schizophrenen<br />

Formenkreis. Sie tragen dazu bei, das Leiden <strong>der</strong> Betroffenen - <strong>der</strong><br />

Patienten und ihren Familien - zumil<strong>der</strong>n und helfen ihnen, in erträglicher<br />

Weise <strong>mit</strong> den Auswirkungen <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> zu <strong>leben</strong>. Zugleich leisten sie<br />

einen Beitrag, die Familie vom Stigma <strong>der</strong> persönlichen Schuld an <strong>der</strong><br />

<strong>Krankheit</strong> zu befreien."<br />

Zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Tagung zeigte sich aber auch, dass die Zeit für den<br />

Zusammenschluss <strong>der</strong> lokalen Angehörigengruppen zu einer Dachorganisation noch<br />

nicht reif war. Einzelne <strong>der</strong> in Hannover vertretenen Angehörigen macht recht<br />

deutlich, dass ihnen damals die Kraft und zum Teil auch <strong>der</strong> Mut fehlte, sich als<br />

Angehörigenvertreter <strong>mit</strong> einer grösseren Öffentlichkeit zu konfrontieren. Dazu<br />

bedurfte es weiterer Anstösse. Einer <strong>der</strong> wichtigsten war ein Buch aus dem<br />

Psychiatrie-Verlag, <strong>der</strong> von Klaus Dörner, Albrecht Egetmeyer und Konstanze<br />

Könning herausgegebene "Freispruch <strong>der</strong> Familie" (1982).<br />

Freispruch <strong>der</strong> Familie<br />

In den darauffolgenden Jahren entstehen vielerorts Angehörigengruppen und<br />

Angehörigenselbsthilfegruppen. Bei <strong>der</strong> <strong>Dr</strong>ucklegung <strong>der</strong> Neuausgabe des<br />

"Freispruchs <strong>der</strong> Familie" im Jahre 1987 sind bereits 150 solcher Gruppen bekannt,<br />

zwei Jahre vorher, im Juni 1985 war <strong>der</strong> Bundesverband <strong>der</strong> Angehörigen psychisch<br />

Kranker im Rahmen des Dachverbandes psychosozialer Hilfsvereinigungen in Bonn<br />

153


gegründet worden. Seither ist es nicht übertrieben, von einer Angehörigenbewegung<br />

zu sprechen. Der "Freispruch <strong>der</strong> Familie" "war ein Meilenstein auf diesem Weg. Ein<br />

parteiisches und provozierendes Buch setzte Zeichen, hinterliess Wirkung," schreibt<br />

Heinz Deger-Erlenmeyer vom Vorstand des Bundesverbandes im Geleitwort zur<br />

Neuausgabe von 1987, in dem er auch zur Angehörigenbewegung Stellung nimmt.<br />

"Angehörige und Familien psychisch Kranker, die bis vor einigen Jahren,<br />

obwohl existentiell betroffen, hinter den Mauern ihrer Sprachlosigkeit als<br />

verschollen galten, o<strong>der</strong> als 'Ungehörige' von den psychiatrisch Tätigen<br />

dorthin verbannt wurden, melden sich zu Wort. Sie for<strong>der</strong>n Mitsprache und<br />

bringen ihre in langen Jahren erworbene Kompetenz im Umgang <strong>mit</strong> dem<br />

psychiatrischen Versorgungssystem in den Meinungsprozess ein. Eine<br />

bisher unbekannte Grösse gewinnt Kontur, ein unberechenbarer Faktor<br />

belebt die Psychiatrieszene, und diese hat davon Kenntnis genommen."<br />

Warum nun ist <strong>der</strong> Zusammenschluss <strong>der</strong> Angehörigen <strong>Schizophrenie</strong>kranker so<br />

wichtig. Warum ist er von so grosser Bedeutung für die Kranken, die Therapeuten<br />

und die Psychiatrie und die Angehörigen selber Die Antwort ergibt sich fast von<br />

selber, wenn wir einen Blick über den Zaun werfen. Selbsthilfegruppen von Kranken<br />

und ihren <strong>mit</strong>betroffenen Angehörigen sind in vielen Bereichen in <strong>der</strong> Medizin längst<br />

eine Selbstverständlichkeit:<br />

"Diabetiker, Rheumatiker, Herz-, Hochdruck - und Nierenkranke haben<br />

sich zusammengeschlossen, um einan<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Bewältigung ihrer<br />

Leiden zu helfen und um ihre Interessen besser zu vertreten. Die<br />

Elternvereinigung geistig behin<strong>der</strong>ter und autistischer Kin<strong>der</strong> haben im<br />

Grenzbereich <strong>der</strong> Psychiatrie eindrucksvolle Beispiele dafür geliefert, was<br />

Selbsthilfe für die Betroffenen erreichen kann. Vor allem die vielfältigen<br />

und teilstationären Hilfen von <strong>der</strong> Tagesför<strong>der</strong>stätte bis zu beschützenden<br />

Werkstätte sind ohne die Mitwirkung dieser Verbände nicht denkbar. Die<br />

Lebenshilfe für geistig Behin<strong>der</strong>te ist zu einem mächtigen<br />

Interessenverband geworden. Hier ist es gelungen, durch Selbsthilfe und<br />

politische Einflussnahme viel von <strong>der</strong> früheren Trostlosigkeit des<br />

Behin<strong>der</strong>tendaseins abzubauen."<br />

154


Hinter <strong>der</strong> wachsenden Bedeutung <strong>der</strong> Selbsthilfe und <strong>der</strong> Selbsthilfevereinigungen<br />

steht ein gewandeltes Verständnis von <strong>der</strong> Medizin. Ärztlicher Behandlung ist nach<br />

unserer heutigen Vorstellung keine passive Angelegenheit, die <strong>der</strong> Kranke nur über<br />

sich ergehen lassen muss. Aussichtsreiche Therapie ist immer auch Hilfe zur<br />

Selbsthilfe bei allen oben aufgezählten chronisch rezidivierenden Erkrankungen,<br />

aber auch bei den grossen Eingriffen <strong>der</strong> Transplantations<strong>med</strong>izin sind die<br />

Einstellung des Kranken selber und seine Bereitschaft zur Mitarbeit von <strong>der</strong><br />

Überwindung und Kontrolle <strong>der</strong> Erkrankung von grösster Bedeutung für das Gelingen<br />

des Unternehmens. Für diese Mitarbeit müssen die Kranken gewonnen werden.<br />

Da<strong>mit</strong> sie gewonnen werden können, benötigen sie Informationen, müssen sie<br />

wissen, wie ihre Interessenlage ist, müssen sie letzten Endes auch über die Chancen<br />

und die Unzulänglichkeiten des Behandlungs- und Versorgungssystems informiert<br />

sein. Darüber hinaus müssen sie imstande sein, ihren Interessen gegenüber <strong>der</strong><br />

Medizin und <strong>der</strong> Öffentlichkeit Achtung zu verleihen. Das gilt in beson<strong>der</strong>em Masse,<br />

wenn sie im Gegensatz o<strong>der</strong> auch im Spannungsverhältnis zu diesen stehen. Dazu<br />

bedarf es <strong>der</strong> Selbsthilfevereinigung als Interessenverband.<br />

Aber das ist nicht alles. Auf dem Wege über die Selbsthilfe können Angehörige sich<br />

selber helfen, können sie von einan<strong>der</strong> lernen. Sie können von den Erfahrungen <strong>der</strong><br />

Schicksalsgenossinnen und -genossen profitieren und sie können schliesslich <strong>der</strong><br />

professionellen Psychiatrie Erkenntnisse über die "an<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong>"<br />

ver<strong>mit</strong>teln, über die dieser nicht verfügt.<br />

Mit <strong>der</strong> <strong>Krankheit</strong> <strong>leben</strong><br />

In einer bereits1980 erschienenen kritischen Analyse neuerer Strömungen <strong>der</strong><br />

Soziapsychiatrie betont <strong>der</strong> damals weltbekannte Londoner Psychiater John Wing<br />

die grosse Bedeutung <strong>der</strong> Selbsthilfe von Schizophrenen und ihren Angehörigen für<br />

die künftige psychiatrische Ver<strong>mit</strong>tlung <strong>leben</strong>spraktischer Hilfen.<br />

Erscheinungsformen und Verlauf <strong>der</strong> Erkrankung aus dem schizophrenen<br />

Formenkreis sind vielfältig. Dennoch lassen sich regelhafte Verhaltensmuster bei<br />

ihrer Bewältigung durch den Kranken und seiner Angehörigen feststellen. In <strong>der</strong><br />

Anfangsphase fällt es allen Beteiligten schwer zu begreifen, dass sie es <strong>mit</strong> einem<br />

ernsten von Chronifizierung bedrohtem Leiden zu tun haben und nicht <strong>mit</strong> einer<br />

155


"normalen" Störung des Familienzusammenhangs o<strong>der</strong> einem mutwilligen sozialen<br />

Fehlverhalten. Solche Fehleinschätzung ist beson<strong>der</strong>s häufig, wenn die Erkrankung<br />

zum ersten Mal in <strong>der</strong> Spätpubertät auftritt, wo Ablösungskonflikte zwischen Kin<strong>der</strong>n<br />

und Eltern ohnehin an <strong>der</strong> Tagesordnung sind. Der Versuch, das krankhafte gestörte<br />

Verhalten in normalen Kategorien zu erklären und zu bewältigen, ist zum Scheitern<br />

verurteilt. Es führt zu heftigen, emotional aufgeladenen Auseinan<strong>der</strong>setzungen in <strong>der</strong><br />

Familie. Es endet nicht selten <strong>mit</strong> dem Ausschluss des später als schizophren<br />

diagnostizierten Familien<strong>mit</strong>gliedes. Oft folgt auf das Scheitern <strong>der</strong> normalen<br />

Bewältigungsversuche die Diagnose und die psychiatrische Behandlung.<br />

Wenn die unterbrochenen Kontakte danach wie<strong>der</strong> aufgenommen werden,<br />

entwickeln <strong>der</strong> Kranke und seine Angehörigen allmählich grösseres Verständnis für<br />

einan<strong>der</strong>. Voraussetzung dafür ist jedoch ein langwieriger Lernprozess, <strong>der</strong> durch<br />

emotionale Überfrachtung und <strong>der</strong> Suche nach den Ursachen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schuld<br />

gekennzeichnet ist. Tritt keine völlige Gesundung auf, ist die Entwicklung von<br />

Toleranz und Verständnis für den Behin<strong>der</strong>ten von <strong>leben</strong>sentscheiden<strong>der</strong><br />

Bedeutung. Für die Angehörigen bedeutet sie allerdings nicht selten die<br />

Einschränkung des eigenen Entfaltungsspielsraums. Das Zusammen<strong>leben</strong> verän<strong>der</strong>t<br />

alle Beteiligten. Typisches Beispiel ist die ältere, verwitwete Mutter, die in<br />

überfürsorglicher Weise für ihren erwachsenen behin<strong>der</strong>ten Sohn lebt. Diese<br />

Beziehung ist sicher eine unvollkommene Form <strong>der</strong> Problembewältigung. Sie führt<br />

dazu, dass das von <strong>Schizophrenie</strong> betroffene "Kind" mehr an Selbständigkeit aufgibt<br />

als die Behin<strong>der</strong>ung das verlangt. An<strong>der</strong>erseits isolieren sich viele Menschen, die<br />

von schizophrenen Symptomen betroffen sind, vollkommen. Nicht wenige<br />

Schizophrene driften so in ein Leben ohne Halt, ohne Wohnsitz, ohne Arbeit, ab. Sie<br />

suchen Zuflucht in Dauerwohnheimen und Obdachlosenasylen o<strong>der</strong> - immer noch -<br />

in den Langzeitbereichen psychiatrischer Krankenhäuser.<br />

Viel Not könnte gemil<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> ganz vermieden werden, wenn die Betroffenen<br />

rechtzeitig fachkundig beraten würden. Fachkundige Hilfe aber erfahren sie am<br />

ehesten bei an<strong>der</strong>en Angehörigen in einer ähnlichen Lage. Viele Angehörige lernen<br />

im Lauf <strong>der</strong> Zeit, <strong>mit</strong> den krankheitsbedingten zwischenmenschlichen Problemen<br />

fertig zu werden und den Kranken zu unterstützen. Aber bis heute lernen sie es<br />

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durch Versuch und Irrtum und den Preis ungemessenen Leids. Abhilfe schafft da am<br />

ehesten <strong>der</strong> Austausch in <strong>der</strong> Selbsthilfegruppe - o<strong>der</strong> die Psychoedukation.<br />

Das wechselnde Befinden des von schizophrenen Symptomen geplagten<br />

Behin<strong>der</strong>ten scheint für die Angehörigen eines <strong>der</strong> größten Probleme darzustellen.<br />

Die Eltern geistig Behin<strong>der</strong>ter wissen, wo sie stehen. Sie wissen, welche<br />

Entscheidungen sie ihnen abnehmen müssen und was sie selbständig bewältigen<br />

können. Die psychotisch Kranken dagegen mögen in <strong>der</strong> akuten Phase völlig unfähig<br />

sein, für sich selbst zu entscheiden, in <strong>der</strong> Erholungsphase können sie wie<strong>der</strong><br />

vollkommen selbständig werden. Nicht selten sind sie dann nicht bereit o<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Lage, zu akzeptieren, dass ihre Angehörigen zwischenzeitlich für sie handeln<br />

mussten. Hilflosigkeit ist das Ergebnis.<br />

Angehörige als Experten<br />

Angehörige klagen über die Unfähigkeit <strong>der</strong> Experten, ihre elementaren<br />

Schwierigkeiten zu begreifen. Wenn sie die Therapeuten um Rat fragen, müssen sie<br />

da<strong>mit</strong> rechnen, dass sie keine nützliche Antwort erhalten o<strong>der</strong> die Frage statt einer<br />

Antwort an sie zurückgespielt wird. Ihre eigenen amateurhaften Bemühungen werden<br />

dabei <strong>mit</strong> höflicher Verachtung zur Kenntnis genommen o<strong>der</strong> schlimmer, als Beweis<br />

ihrer eigenen Unnormalität interpretiert.<br />

Angehörigenvereinigungen schaffen hier Abhilfe, indem sie Selbsterfahrungs-,<br />

Selbsthilfe- und Diskussionsgruppen einrichten. Die Erfahrungen <strong>mit</strong> solchen<br />

Gruppen zeigen, dass auch scheinbar unerträgliche und unlösbare Schwierigkeiten<br />

und Konflikte aufgearbeitet werden können, die an<strong>der</strong>e Gruppen<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong> bereits<br />

erlebt haben. Solche Gruppen machen deutlich, dass die Patienten selbst viel zu<br />

ihrem Nutzen - o<strong>der</strong> zu ihrem Schaden - tun können. Sie können ausser in <strong>der</strong> ganz<br />

akuten Phase lernen, <strong>mit</strong> ihrer grossen sozialen Verwundbarkeit, ihren beson<strong>der</strong>en<br />

Bedürfnissen nach menschlicher Zuwendung bei gleichzeitiger Wahrung des<br />

Abstands und vielen an<strong>der</strong>en Problemen zu <strong>leben</strong>.<br />

Wenn die Psychose andauert, scheint die Bereitschaft <strong>der</strong> Betroffenen zur Mitarbeit<br />

<strong>der</strong> einzige Weg zu sein, in erträglicher Weise <strong>mit</strong> ihrer Familie zu <strong>leben</strong>. Das aber<br />

kann zur Falle werden. Manche Betroffene lernen erst nach langem Leiden, was<br />

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ihnen hilft und was ihnen schadet, welche Lebenssituationen sie suchen und welche<br />

sie meiden müssen. Aber <strong>der</strong> Weg dorthin steht bei entsprechen<strong>der</strong> Hilfe für alle<br />

offen. Ihre Angehörigen können viel dazu beitragen. Sie sammeln im Laufe <strong>der</strong><br />

Erkrankung ihres Familien<strong>mit</strong>gliedes umfassende Erfahrungen über das Leben <strong>mit</strong><br />

einem schizophreniekranken Menschen. Sie werden auf diese Weise gleichsam zu<br />

Experten für jene „an<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> <strong>Schizophrenie</strong>“, die den beruflich <strong>mit</strong> Psychiatrie<br />

Befassten allzu oft verborgen bleibt.<br />

Angehörige können und sollen ihr Expertenwissen auch als Interessenvertretung für<br />

die psychisch Kranken einsetzen. Sie bringen eine neue Perspektive in die<br />

gesundheitspolitische Auseinan<strong>der</strong>setzung um die weitere Entwicklung <strong>der</strong><br />

psychiatrischen Versorgung. Sie können und sollen auf Defizite aufmerksam<br />

machen, die den <strong>Prof</strong>is unter den Experten oft verborgen bleiben, auf das Leid, das<br />

Kranke und Angehörige jenseits <strong>der</strong> Psychiatrie in <strong>der</strong> Gemeinschaft <strong>der</strong> Gesunden<br />

erfahren, auf das Unrecht, das ihnen immer noch und immer wie<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>fährt, und<br />

das die Öffentlichkeit allzu oft nicht zur Kenntnis nehmen will.<br />

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