Download Referat (PDF, 532 KB) - Appenzeller Suchtsymposium
Download Referat (PDF, 532 KB) - Appenzeller Suchtsymposium
Download Referat (PDF, 532 KB) - Appenzeller Suchtsymposium
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Du<br />
nix<br />
verstehn<br />
Vom Sinn der<br />
Sinnhaftigkeit<br />
in Zeiten der<br />
Luis Falcato, Arud, Neurobiologie<br />
Zürich, Schweiz<br />
<strong>Appenzeller</strong> <strong>Suchtsymposium</strong> 15. Sept. 2011<br />
Arud<br />
www.arud.ch<br />
Gliederung<br />
Einleitung<br />
• Eine Annäherung an den Kulturbegriff<br />
• Zusammenhänge von Kultur, Drogen,<br />
Gesundheit und Krankheit<br />
•Die Berücksichtigung kultureller Aspekte<br />
in der suchtmedizinischen Praxis<br />
• Zusammenfassung<br />
• Fallbeispiele / Diskussion<br />
I. Was ist Kultur<br />
„Cultura agri“ Pflege des Ackers<br />
Cultura „animi“ Pflege des Geistes (der Seele) und der<br />
Tugenden<br />
(Macus T. Cicero 45 v. Chr)<br />
„Jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz,<br />
Sitte und alle übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche<br />
der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat“<br />
(Edward B. Tylor 1896)<br />
„‚Kultur' ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und<br />
Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen<br />
Unendlichkeit des Weltgeschehens.“ (Max Weber 1904)<br />
Menschliches Handeln, das gestaltend in die Natur<br />
eingreift, wodurch sich der Mensch selbst gestaltet.<br />
(Max Fuchs 2008)<br />
Mensch<br />
Subjekt<br />
•Einzelner<br />
• Gruppe<br />
•Alle<br />
Menschen<br />
• Gattung<br />
Mensch<br />
Kultur als Tätigkeit<br />
Produktive<br />
Tätigkeiten<br />
Pflege<br />
Handlungen<br />
Praxis<br />
Aktivitäten<br />
Veräusserung<br />
Verinnerlichung<br />
Aufmerksamkeit<br />
Wahrnehmen<br />
Denken<br />
Lernen<br />
Erinnern<br />
Kognitve<br />
Tätigkeiten<br />
Umwelt<br />
Objekt<br />
•Natur<br />
•Vorgefundene<br />
Gegebenheiten<br />
•Werke anderer<br />
•Symbolische Formen<br />
•Bewusst produziertes<br />
Werk<br />
Im Generellen<br />
•Orientierung<br />
•Kommunikation<br />
•Werte speichern<br />
•Werte diskutieren<br />
•Werte entwickeln<br />
•Integration<br />
•Selbstreflexion<br />
•Deutung / Zeitdiagnose<br />
•(De-)Legitimation<br />
•Menschen-<br />
/Weltbild/Kosmologie<br />
Was leistet Kultur<br />
Für Gemeinschaften<br />
•Sprache / Schrift<br />
•Familie<br />
•Stadt<br />
•Nation<br />
•Profession<br />
•Wirtschaft<br />
•Politik<br />
•Recht<br />
•Kunst<br />
•Wissenschaft<br />
•Technik<br />
Im Speziellen<br />
Für den Einzelnen<br />
•Werte<br />
•Bildung und<br />
Erziehung<br />
•Weltbild<br />
•Lebensformen<br />
•Vergesellschaftung<br />
Verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschen<br />
1
Was Kultur nicht ist…<br />
• Kein wertendes<br />
Prädikat für<br />
bestimmte Leistungen<br />
• Kein einheitliches<br />
Ganzes<br />
• Nicht gleichzusetzen<br />
mit Überlieferung<br />
Konsequenzen für das<br />
Verständnis von kultureller<br />
Identität:<br />
Aktive Identifikation mit bestimmten<br />
kulturellen Mustern und Werten,<br />
sinnhaftes Handeln in der Gegenwart;<br />
nicht passiv übernommene, starre<br />
Eigenschaft.<br />
Kultur ist keine einheitliche<br />
und eindeutige Ordnung,<br />
sondern<br />
Ein Geflecht von Möglichkeiten und<br />
Spielräumen, das aktiv angeeignet und<br />
ausgestaltet werden muss<br />
Die symbolische Konstruktion der<br />
Wirklichkeit<br />
• Menschen handeln gegenüber Dingen auf der Grundlage der<br />
Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen.<br />
• Die Bedeutung der Dinge entsteht durch soziale Interaktion.<br />
• Die Bedeutungen werden durch einen interpretativen Prozess<br />
verändert, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den<br />
ihr begegnenden Dingen benutzt.<br />
• Menschen erschaffen die Erfahrungswelt, in der sie leben.<br />
• Die Bedeutungen dieser Welten sind das Ergebnis von<br />
Interaktionen und werden durch situativ eingebrachte<br />
selbstreflexiven Momente mitgestaltet.<br />
• Die Interaktion der Personen mit sich selbst ist mit der sozialen<br />
Interaktion verwoben und beeinflusst sie ihrerseits.<br />
• Formierung und Auflösung, Konflikte und Verschmelzungen<br />
gemeinsamer Handlungen konstituieren das soziale Leben<br />
• Ein komplexer Interpretationsprozess erzeugt und prägt die<br />
Bedeutung der Dinge für die Menschen.<br />
(Herbert Blumer 1972)<br />
II. Zusammenhänge von Kultur,<br />
Drogen, Gesundheit und Krankheit<br />
Kulturgeschichte der Drogen<br />
Vergorene,<br />
gebraute<br />
Alkoholika<br />
Destilierte Alkoholika, Tabak, Opium,<br />
Cannabis, Coca, Peyote, Fliegenpilz,<br />
Nachtschattengewächse<br />
Kaffee, Tee, Tabak<br />
kommen nach Europa<br />
N2O<br />
Kokain, GHB,<br />
Heroin, Ephedrin<br />
Amphetamin<br />
MDMA,<br />
Methadon<br />
LSD, MPH<br />
Imipramin,<br />
Chlordiazepoxid,<br />
CP55940, JWH…<br />
…<br />
Drogen in der heutigen Gesellschaft<br />
Kulturelle Funktionen von Alkohol / Drogen<br />
zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit<br />
1. Drogen sind normal<br />
2. Drogen machen interessant<br />
3. Drogen sind schneller<br />
4. Drogen führen ins wahre<br />
Jenseits<br />
5. Drogen sind natürlich<br />
6. Drogen sind wie Urlaub<br />
7. Drogen kann man nicht<br />
besiegen<br />
8. Drogen sind modern<br />
9. Drogen gehört die Zukunft<br />
10. Drogen müssen nicht sein<br />
Niermann I, Sack A, 2007<br />
Symbolische Funktionen<br />
Marker einer soz. Situation: Champagner -> Feier<br />
Statussymbol: upper-, middle- working-class Getränk<br />
Zugehörigkeit: „Nationalgetränk“, Trinksitten<br />
Unterscheidungsmerkmal der Geschlechter:<br />
süss – weiblich, brennend – männlich<br />
Konsum-Orte<br />
abgegrenzt, öffentlich, eigene Regeln / Bräuche<br />
(Ausgleich) Soziale Integration<br />
(Serviceangestellte) Soziale Beziehungen<br />
Rituelle Funktionen<br />
(passage Übergangsrituale (rites de<br />
Gewohnheitsrituale (Interpunktion zwischen sozialen Kontexten<br />
(“hour (Arbeit – Freizeit: „Happy<br />
Festivitäten (regulierende Ausnahmesituationen): Sylvester<br />
Medizinische Funktionen<br />
Transzendierende Funktionen<br />
2
Gelernter Umgang und gelernte Effekte<br />
A society gets the drunks it deserves<br />
III. kulturelle Aspekte in der<br />
suchtmedizinischen Praxis<br />
„When a man lifts a cup, it is not<br />
only the kind of drink that is in<br />
it, the amount he is likely to<br />
take and the circumstances<br />
under which he will do the<br />
drinking that are specified in<br />
advance to him,<br />
but also whether the contents of<br />
the cup will cheer or stupefy;<br />
whether they will induce<br />
affection or aggression, quiet<br />
or unalloyed pleasure,<br />
these and many other cultural<br />
definitions attach to the drink<br />
even before it reaches his lips“<br />
Mandelbaum 1965<br />
Dr. Bullfink weiss,<br />
dass schon das<br />
Auftreten des Arztes<br />
therapeutische Wirkung<br />
haben kann.<br />
Bio-psycho-soziale<br />
Modelle<br />
Substanzstörung: ein kulturelles<br />
Konstrukt in der Medizin<br />
Natur, Rohstoffe,<br />
Erde, Universum<br />
SOZial<br />
Ahistorisches Expositions-Modell<br />
(Substanz-zentriert,<br />
naturwissenschaflich)<br />
Historisch-individuelles Modell<br />
(Personen-zentriert,<br />
kulturwissenschaftlich)<br />
Kulturelle Sphäre<br />
Organe und<br />
Gewebe,<br />
Hirnareeale<br />
Intrazelluläre<br />
Molekualre Sphäre<br />
BIO<br />
PSYcho<br />
Substanzstörungen sind<br />
Gehirnerkrankungen, ausgelöst durch<br />
bestimmte, von der Substanz bewirkte,<br />
neurobiologsche Veränderungen von<br />
Nervenzellen und Hirnarealen<br />
(Neuroplastizität)<br />
Ziele:<br />
- Verstehen der pharmakologischen und<br />
toxikologischen Wirkungen<br />
- Entegenwirken mit anderen<br />
pharmakologschen Mitteln<br />
- Kontrolle und Repression der Verfügbarkeit<br />
und des Gebrauchs<br />
Substanzstörungen sind<br />
Verhaltensauffälligkeiten, die bei<br />
anfälligen (vulnerablen) Individuen<br />
auftreten, deren vorbestehender<br />
innerlicher Zustand die<br />
Neuroplastizität bestimmt, die von<br />
einer Substanz ausgelöst wird.<br />
Ziele:<br />
- Verstehen der bio-psycho-sozialen<br />
Vulnerabilität<br />
- Vorhersage, Identifikation<br />
- Prävention, soziale und medizinische<br />
Betreuung<br />
Verstärker von Plazebo-Effekten:<br />
• Konsistenz der Intervention mit Weltbild des Patienten<br />
• Konsistenz der Erwartung des Patienten und der<br />
Intervention<br />
• Optimierung des therapeutischen Settings<br />
• Wiedererkennen von Informationen, Namen etc.<br />
• Suggerieren erwarteter Resultate<br />
• Verbinde die Handlung mit wieder erkennbaren<br />
Schlüsselreizen (Nadel, Aroma, etc.)<br />
• Empathisches Zuhören<br />
• Berührung<br />
• Häufigere Dosierung<br />
• Optimierung des Preises<br />
• etc.<br />
WB Jonas Phil. Trans. R. Soc. B 2011 366, 1896-1904<br />
Kritische (ketzerische) Perspektive auf<br />
kulturellen Umgang mit Substanzen<br />
Medizin:<br />
„Doctors put drugs of which they know little for desases of which they know less into patients of<br />
which they know nothing.“ (Molière)<br />
Psychotherapie:<br />
Es geht auch ohne: 75% Selbstheiler mit unterschiedlichen Typen von Remission<br />
Es nützt Alles und Nichts:Match-Studie -> „Anything goes“, kleine Effekte, kaum spezifischen<br />
Effekte, kein „Dosis-Wirkungszusammenhang<br />
Sozialarbeit:<br />
Hilfe zum Preis von Kontrolle<br />
Produktion von gesellschaftlicher Stigmatisierung<br />
Starfverfolgung:<br />
Generalprävention funktioniert nicht<br />
Kriminalisierung produziert Kriminelle, die die Rollenerwartung erfüllen<br />
Prohibition bewirkt Schaden und Todesfälle<br />
3
Individuelle Berücksichtigung der Symbolebene:<br />
Transkulturelle Kompetenz<br />
…ist die Fähigkeit,<br />
individuelle<br />
Lebenswelten in der<br />
besonderen Situation<br />
in unterschiedlichen<br />
Kontexten zu erfassen,<br />
zu verstehen und<br />
entsprechende<br />
Handlungsweisen<br />
daraus abzuleiten<br />
Domenig, D: Migration, Drogen, transkulturelle<br />
Kompetenz. Huber 2001.<br />
•Selbstreflexion<br />
•Perspektivenwechsel<br />
•Förderung einer respektvollen<br />
Haltung<br />
•Vermeidung von Kulturalisierung<br />
und Stereotypisierung<br />
•Hintergrundwissen<br />
•Transkulturelle Kommunikation<br />
•Flexibilität<br />
•Transkulturelle<br />
Organisationsentwicklung<br />
•Fach- bzw. Bereichsspezifische<br />
Themen<br />
Nicht-Rauchen wie ein Türke<br />
Kulturspezifische Angebote<br />
• Grundstruktur von VT orientierten Rauchstopp-Therapien<br />
• Systematische Anpassung der Inhalte und allgemeine Didaktik an das<br />
kommunikative und an das symbolische Referenzsystem der<br />
Zielgruppe<br />
• Therapieführung in Türkisch durch fachkompetenten<br />
türkeistämmigen Leiter<br />
• Partizipative Entwicklung von Informationsmaterial<br />
• Aufsuchende und beziehungsgeleitete Distribution des<br />
• Informationsmaterials<br />
• Zusammenarbeit mit offiziellen türkischen Stellen<br />
• Informelle und persönliche Kontaktaufnahme mit Schlüsselpersonen<br />
• Vorträge und Nutzung der türkischen und kurdischen Medien<br />
• Setting-Ansatz für die Durchführung der Therapien<br />
(C. Salis Gross: Suchtmagazin 4/2009<br />
6 kulturelle Unterschiede mit<br />
praktischer Bedeutung<br />
Zusammenfassung I<br />
Kultur<br />
Lebensstil<br />
Chef<br />
1011011<br />
1110010<br />
Pünktlichkeit<br />
Meinung<br />
Problemlösung<br />
•1. Kultur umfasst<br />
•Ideen, Werte, Zeichensysteme wie Sprache, Schrift und Bilder, Alltags-<br />
Technik- und Experten-Wissen, Weltbilder , Kosmologien usw.<br />
• selbst oder durch andere schon hergestellte Gestaltete Werke und deren<br />
achtsame Pflege<br />
•Sie ist<br />
•nicht statisch und wird nicht vererbt oder bewahrt, sondern ist stets auf<br />
Tradierung, Aneignung, Deutung, Umgestaltung und Kreativität angewiesen<br />
•keine einheitliche und eindeutige Ordnung, sondern ein Geflecht von<br />
Möglichkeiten und Spielräumen, das aktiv angeeignet und ausgestaltet werden<br />
muss<br />
•Sie leistet<br />
•(Des-)Orientierung, Integration und Ausgrenzung, (De-)Legitimation,<br />
Reflexion und Projektion (Werte speichern, diskutieren, entwickeln)<br />
Plakate der Berliner Künstlerin Yang Liu (www. Spiegel.de, fotostrecke-23136)<br />
Zusammenfassung II<br />
•2. Die Kulturgeschichte der psychoaktiven Substanzen und die<br />
Kulturgeschichte der Medizin sind<br />
• anthropologisch ubiquitär: „Drogen“ und Medizin sind zu allen<br />
Zeiten und in allen Kulturen vorhanden<br />
•eng miteinander verbunden - gleiche Substanzen als Heilmittel und<br />
als Droge<br />
•Seit der „chemischen Revolution“, beginnend vor ca. 150 Jahren<br />
beschleunigt sich die Entwicklung und der Gebrauch neuer<br />
psychoaktiver Substanzen sowohl im medizinischen wie im illegalen<br />
(subkulturellen) Bereich.<br />
• Eine globalisierte Drogenkultur, die weltweite, weitgehende<br />
Kriminalisierung von Substanzen und die Idee von Drogensucht als<br />
Krankheit und deren medizinischer Behandlung sind in den letzten<br />
100 Jahren entstanden<br />
Zusammenfassung III<br />
•3. Eine angemessene Berücksichtigung kultureller Aspekte in der suchtmedizinischen<br />
Praxis bedingt bzw. bedeutet:<br />
• Die Anerkennung des kulturellen Charakters grundsätzlich aller SMP und ihrer<br />
Konzepte , d. h. deren Kontingenz und Relativität (auch molekulargenetisches Wissen<br />
wird in einem kulturellen Zeichensystem codiert)<br />
• Die Anerkennung einer kulturellen „Überformung“ neurophsiologischer Prozesse des<br />
Substanzkonsums (Placebo, Bio-psycho-soziale Modelle, Drogenkonsum-Kultur)<br />
• Eine Bereitschaft zur (Selbst-)Reflexion und zum empatischen Perspektivenwechsel,<br />
eine respektvolle Haltung und Bereitschaft für das Verstehen und Erlernen<br />
entsprechender Handlungsweisen<br />
•wird am besten verwirklicht durch die Förderung<br />
• Interkultureller Kompetenz<br />
•Kulturspezifischer Angebote<br />
•und die Vermeidung einer „kulturalisierenden (kulturtypischen) Haltung, mit welcher<br />
Personen- und Situationsbeurteilungen Gefahr laufen, stereotypisch aufgrund genereller<br />
Kulturkonstruktionen und Vorurteilen vorgenommen zu werden.<br />
4
Vielen Dank für die<br />
Aufmerksamkeit<br />
Fallbeispiele<br />
Igor K. aus Usbekistan (Alkohol)<br />
Ahmed S. aus Afghanistan (Opium)<br />
Mohammed K. aus Somalia (Khat)<br />
Fragen:<br />
Welche kulturellen Aspekte zeigen sich im Beispiel und wie würden<br />
Sie diese in der Behandlungsstrategie berücksichtigen<br />
Wie beurteilen Sie den Substanzkonsum des Patienten<br />
Wie beurteilen Sie den Behandlungs-Auftrag<br />
5