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1 Meilensteine der Sprachentwicklung - Ernst Reinhardt Verlag

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1 <strong>Meilensteine</strong> <strong>der</strong> <strong>Sprachentwicklung</strong><br />

Die Fähigkeit, Sprache verstehen und als Kommunikationsmöglichkeit<br />

nutzen zu können, ist eine <strong>der</strong> faszinierendsten und komplexesten<br />

Leistungen in <strong>der</strong> Entwicklung von Kin<strong>der</strong>n. Die Kin<strong>der</strong> meistern<br />

sie mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit.<br />

In Kapitel 1.1 geben wir einen Überblick über einige Grundlagen<br />

des kindlichen Spracherwerbs sowie über dessen Voraussetzungen.<br />

Dann folgt in Kapitel 1.2 eine Fokussierung auf die frühkindliche<br />

<strong>Sprachentwicklung</strong> nach Zollinger.<br />

1.1 Grundlagen <strong>der</strong> <strong>Sprachentwicklung</strong><br />

Die kindliche <strong>Sprachentwicklung</strong> ist keine isoliert stattfindende Entwicklung.<br />

Sie vollzieht sich als Teil <strong>der</strong> kindlichen Gesamtentwicklung,<br />

die wie<strong>der</strong>um in den Sozialisationsprozess des Kindes eingebettet<br />

ist. Die sprachlichen Fähigkeiten entwickeln sich dabei „wie eine<br />

kleine Pflanze, die zum Baum wird. Zuerst müssen die Wurzeln<br />

wachsen und festen Halt im Boden finden, dann entwickelt sich <strong>der</strong><br />

Stamm, um später eine ausladende Krone entfalten zu können“<br />

(Wendlandt 1998, 9f).<br />

Stellen Sie sich einen solchen gut entwickelten „Sprachbaum“ vor.<br />

Er steht gut und sicher in <strong>der</strong> Erde verwurzelt, er hat einen kräftigen<br />

Stamm gebildet, aus dem heraus eine mächtige, weitverzweigte Krone<br />

aus Ästen, Zweigen und Blattwerk erwachsen ist. Seine Nahrung erhält<br />

unser Baum durch das Licht <strong>der</strong> Sonne und <strong>der</strong>en Wärme, durch<br />

das notwendige Wasser und aus <strong>der</strong> Erde, in <strong>der</strong> er wurzelt.<br />

Das Bild eines solchen Baumes kann helfen, die kindliche <strong>Sprachentwicklung</strong><br />

zu veranschaulichen. So stellt im Bild des Sprachbaumes<br />

(Wendlandt 1998) die Baumkrone die einzelnen sprachlichen Fähigkeiten<br />

des Kindes dar: seinen Wortschatz, seine Aussprache und seine<br />

grammatischen Fähigkeiten.<br />

Damit das Kind einen Wortschatz entwickeln kann, muss es begreifen,<br />

dass jedes Ding einen Namen hat. So erwirbt es zunächst<br />

Wörter für konkrete Dinge und später für Abstraktes. Es lernt Wör-<br />

12


ter für Gegenstände, dann aber auch Wörter für Tätigkeiten und Eigenschaften.<br />

Je mehr Erfahrungen ein Kind macht, desto mehr wird<br />

sich auch sein Wortschatz erweitern und differenzieren. Es lernt, dass<br />

es Wörter gibt, die zwei verschiedene Bedeutungen haben können,<br />

wie zum Beispiel das Wort „Bank“, dass es zwei verschiedene Wörter<br />

gibt, die aber dasselbe bedeuten können, wie beispielsweise die Wörter<br />

„Samstag“ und „Sonnabend“. Und es lernt seinen Wortschatz<br />

nach Ober- und Unterbegriffen zu ordnen. D. h., es lernt, dass unter<br />

den Oberbegriff „Obst“ so unterschiedliche Begriffe fallen wie Kirsche,<br />

Ananas, Kiwi, Melone etc.<br />

Im Bereich <strong>der</strong> Artikulation lernt das Kind, Wörter richtig auszusprechen.<br />

Mit <strong>der</strong> Zeit kann es dann auch komplizierte Wörter wie<br />

„Xylophon“ richtig aussprechen.<br />

Der Bereich <strong>der</strong> Grammatik startet mit so genannten Einwortäußerungen,<br />

die jedoch schon für einen ganzen Satz stehen: Ein Kind<br />

sagt beispielsweise: „Ball“ und kann damit meinen: „Guck mal, Mama,<br />

da ist ein Ball!“ o<strong>der</strong>: „Ich will den Ball jetzt haben“. Die grammatischen<br />

Fähigkeiten von Kin<strong>der</strong>n erweitern sich über Zweiwortäußerungen<br />

(„Ball haben“) hin zu Mehrwortäußerungen, in denen nach<br />

und nach auch die einzelnen Satzteile immer besser aneinan<strong>der</strong> angepasst<br />

werden. So können Kin<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Zeit die verschiedenen Endungen<br />

von Verben korrekt gebrauchen (ich male – du malst etc.), sie<br />

können Pluralformen bilden und verschiedene Zeitformen verwenden,<br />

sie können Fragesätze formulieren sowie Haupt- und Nebensätze<br />

miteinan<strong>der</strong> verbinden. Das Kind erwirbt also in erstaunlich kurzer<br />

Zeit das komplexe grammatische Regelsystem seiner Muttersprache.<br />

Der Stamm des Sprachbaumes steht für Voraussetzungen, die für<br />

einen gelingenden Spracherwerb notwendig sind: das Sprachverständnis<br />

sowie die Sprechfreude. Sprachverständnis bedeutet zu verstehen,<br />

was gesprochen wird. Es entwickelt sich zunächst aus <strong>der</strong><br />

Verknüpfung von Situationen mit Sprache. Ein Kind wird den Satz:<br />

„Gleich gibts was zu essen“ anfangs deshalb verstehen, weil die Mutter<br />

in <strong>der</strong> Küche gerade dabei ist, das Essen zuzubereiten. Erst später,<br />

wenn das entsprechende Wortverständnis und die Fähigkeit, grammatische<br />

Strukturen zu analysieren, hinzukommen, sind die Kin<strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> Lage, Sprache losgelöst von konkreten Situationen zu verstehen.<br />

Sprachproduktion und Sprachverständnis entwickeln sich parallel,<br />

wobei das Sprachverständnis in <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Sprachproduktion<br />

immer ein klein wenig voraus ist.<br />

Die Entwicklung <strong>der</strong> sprachlichen Fähigkeiten ist in grundlegenden<br />

an<strong>der</strong>en Entwicklungsbereichen fest und tief verwurzelt. Die für<br />

die <strong>Sprachentwicklung</strong> wesentlichen Wurzeln sind:<br />

13


y<br />

y<br />

y<br />

y<br />

y<br />

y<br />

die Wahrnehmungsbereiche des Sehens, Hörens und Spürens,<br />

die Entwicklung <strong>der</strong> motorischen Fähigkeiten, <strong>der</strong> Grobund<br />

Feinmotorik sowie <strong>der</strong> sprechmotorischen Fähigkeiten,<br />

die körperlichen Voraussetzungen und <strong>der</strong>en Entwicklung,<br />

beson<strong>der</strong>s im Hals-Nasen-Ohren-Bereich,<br />

die angeborene, spezifische Lernfähigkeit des Kindes,<br />

die kognitive Entwicklung des Kindes und<br />

seine soziale und emotionale Entwicklung.<br />

Sie alle liefern Voraussetzungen dafür, dass das Kind mit sich, seinem<br />

Körper und seiner Umgebung Erfahrungen machen kann, diese adäquat<br />

verarbeitet und speichert, um sie dann kommunizieren zu können.<br />

Damit es zum „Output“ Sprache kommen kann, ist aber auch<br />

„Input“ und „Feedback“ notwendig. Dies wird im Bild des Sprachbaumes<br />

auf <strong>der</strong> einen Seite durch die Sonne symbolisiert, die sich in<br />

Form einer stabilen, vertrauensvollen und verlässlichen Beziehung<br />

des Kindes zu seinen wichtigsten Bezugspersonen wi<strong>der</strong>spiegelt. Sie<br />

vermittelt dem Kind Wärme, Akzeptanz und Sicherheit sowie das<br />

Gefühl, auch Fehler machen zu dürfen. „Input“ wird aber auch durch<br />

die tägliche Kommunikation mit dem Kind mit all ihren sprachlichen<br />

Anregungen, ihren sprachlichen Vorbil<strong>der</strong>n und För<strong>der</strong>möglichkeiten<br />

angeboten. Diese Kommunikation stellt das lebensnotwendige<br />

Wasser für den Baum dar. Bezugspersonen nutzen dabei in Abhängigkeit<br />

vom Alter des Kindes verschiedene unterstützende Sprachlehrstrategien,<br />

die es dem Kind erleichtern, die komplexe Aufgabe des<br />

Spracherwerbs zu meistern: Im Säuglingsalter ist dies beispielsweise<br />

die so genannte „Ammensprache“ o<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Babytalk“. Er ist charakterisiert<br />

durch eine ausgeprägte Sprachmelodie, eine hohe Sprechstimme,<br />

einfache Sätze und einen kindgemäßen Wortschatz. Ab dem<br />

24. Lebensmonat ist es dann die so genannte „lehrende Sprache“, die<br />

dem Kind im Spracherwerb hilft. Sie ist charakterisiert durch vielfältige<br />

sprachliche Anregungen, durch Fragen und bestätigende und verbessernde<br />

Rückmeldungen. Bei dieser Form <strong>der</strong> Rückmeldung bekräftigt<br />

die Bezugsperson den Inhalt <strong>der</strong> kindlichen Äußerung und<br />

gibt gleichzeitig ein korrigiertes Modell, das sich auf den Wortschatz,<br />

die Grammatik und die Aussprache <strong>der</strong> kindlichen Äußerung beziehen<br />

kann. Trotz dieser vielfältigen Sprachlehrstrategien, die intuitiv<br />

verwendet werden, steht eindeutig die soziale und kommunikative<br />

Funktion <strong>der</strong> Sprache im Vor<strong>der</strong>grund.<br />

Im Wechselspiel all dieser Komponenten erwirbt das Kind seine<br />

Muttersprache und beherrscht sie innerhalb von drei bis vier Jahren<br />

in ihren Grundzügen.<br />

14


Auch wenn die Entwicklungsschritte im Spracherwerb für alle<br />

Kin<strong>der</strong> weitgehend identisch sind, ist das Entwicklungstempo <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> doch sehr unterschiedlich. Ein Zeitplan darüber, wann Kin<strong>der</strong><br />

welche sprachlichen Fähigkeiten besitzen, ist deshalb nur dann sinnvoll,<br />

wenn die Angaben als grobe Richtwerte verstanden werden.<br />

<strong>Meilensteine</strong> <strong>der</strong> <strong>Sprachentwicklung</strong> in Kürze<br />

y Die ersten Wörter werden in <strong>der</strong> Regel mit 10 bis 14 Monaten<br />

gesprochen.<br />

y Mit 18 Monaten wird die „magische“ 50-Wörter-Marke erreicht,<br />

danach „explodiert“ <strong>der</strong> Wortschatz, sodass 2-jährige Kin<strong>der</strong><br />

schon um die 200 Wörter beherrschen.<br />

y Mit ca. 2 Jahren beginnen Kin<strong>der</strong> einzelne Wörter zu 2- und 3-<br />

Wort-Äußerungen zu kombinieren.<br />

y Zwischen 4 und 5 Jahren beherrschen die Kin<strong>der</strong> die wichtigsten<br />

Satzmuster ihrer Muttersprache.<br />

y Am Ende <strong>der</strong> Vorschulzeit beherrschen sie die korrekte Aussprache<br />

<strong>der</strong> Laute.<br />

Aus dem Verständnis <strong>der</strong> kindlichen <strong>Sprachentwicklung</strong>, das durch<br />

den Sprachbaum nahe gelegt wird, lassen sich folgende Grundprinzipien<br />

für die Sprachför<strong>der</strong>ung ableiten:<br />

y<br />

y<br />

y<br />

Schaffung sprachanregen<strong>der</strong> Situationen und sprachanregenden<br />

Verhaltens: Stellen Sie viele gemeinsame Kommunikationssituationen,<br />

z. B. in Erzählkreisen, im Freispiel und beim Anschauen von<br />

Bil<strong>der</strong>büchern, her. Nutzen Sie Spiele, bei denen die Kin<strong>der</strong> zum<br />

Sprechen angeregt werden, wie beispielsweise Spiele mit Handpuppen,<br />

Rollenspiele, Lie<strong>der</strong>, Verse, Fingerspiele, Abzählverse<br />

und Ähnliches.<br />

Handlungsbegleitendes Sprechen und sprachbegleitendes Handeln:<br />

Begleiten Sie Ihre eigenen Handlungen und die des Kindes<br />

sprachlich, stellen Sie offene W-Fragen wie: „Ich sehe, dass du<br />

malst. Was wird das denn“ anstelle von Ja/Nein-Fragen wie:<br />

„Malst du einen Käfer“. Verbinden Sie sprachliche Inhalte mit<br />

entsprechenden Handlungen und Sinneseindrücken, indem Sie<br />

bspw. eine Geschichte anhand von Bil<strong>der</strong>n erzählen.<br />

Das eigene sprachliche Modell: Berücksichtigen Sie, dass Sie für<br />

die Kin<strong>der</strong> ein sprachliches Modell sind. Sprechen Sie deutlich, in<br />

15


y<br />

einem angemessenen Sprechtempo, verwenden Sie vollständige<br />

und korrekte Sätze, die möglichst an den Entwicklungsstand des<br />

Kindes angepasst sind, sodass sie das Kind we<strong>der</strong> über- noch unterfor<strong>der</strong>n.<br />

Holen Sie das Kind sprachlich dort ab, wo es steht.<br />

Umgang mit fehlerhaften kindlichen Äußerungen: Unterbrechen<br />

Sie den Sprechfluss des Kindes möglichst nicht. Reagieren Sie auf<br />

den Inhalt und nicht auf die fehlerhafte Form. Nutzen Sie die<br />

Möglichkeiten des korrektiven Feedbacks, indem Sie die Äußerung<br />

des Kindes aufgreifen, beiläufig korrekt wie<strong>der</strong>holen und<br />

gegebenenfalls erweitern, ohne dass das Kind direkt auf seinen<br />

Fehler aufmerksam gemacht wird. Dies ist auf allen sprachlichen<br />

Ebenen möglich: <strong>der</strong> Aussprache, <strong>der</strong> Grammatik und dem Wortschatz.<br />

Ein kurzer Dialog mit einem Kind, <strong>der</strong> das korrektive<br />

Feedback auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Aussprache nutzt, könnte folgen<strong>der</strong>maßen<br />

aussehen:<br />

Kind: „Morden tommt <strong>der</strong> Nitolaus.“<br />

Erzieherin: „Ja genau, morgen kommt <strong>der</strong> Nikolaus.“<br />

Auf <strong>der</strong> grammatischen Ebene könnte er so aussehen:<br />

Kind: „Anna heute krank ist.“<br />

Erzieherin: „Ja, Anna ist heute krank.“<br />

1.2 Frühkindliche <strong>Sprachentwicklung</strong><br />

Barbara Zollinger hat sich intensiv mit <strong>der</strong> frühkindlichen <strong>Sprachentwicklung</strong><br />

beschäftigt, insbeson<strong>der</strong>e mit dem Spracherwerb von Kin<strong>der</strong>n<br />

im Alter von ein bis drei Jahren. Der Spracherwerb beginnt nicht<br />

erst mit dem gesprochenen Wort eines Kindes, bereits im vorsprachlichen<br />

Bereich finden basale Entwicklungsprozesse statt. Hierbei ist<br />

nicht nur die kommunikative, son<strong>der</strong>n auch die allgemeine Entwicklung<br />

von Bedeutung.<br />

Zollinger hebt in diesem Zusammenhang insbeson<strong>der</strong>e kognitive,<br />

interaktive und emotionale Prozesse hervor. Deren Entwicklungen<br />

können beim kindlichen Spiel beobachtet und eingeschätzt werden.<br />

Hierbei bezieht sie sich für das theoretische Verständnis <strong>der</strong> Entwicklungsprozesse<br />

des Kindes auf das Modell <strong>der</strong> Entwicklung des Denkens<br />

nach Piaget (Denkprozesse, die für Sprache notwendig sind), sowie<br />

auf die Theorie von Bruner, <strong>der</strong> erforscht hat, wie Kin<strong>der</strong> bereits<br />

in <strong>der</strong> vorsprachlichen Kommunikation Dialogregeln erlernen.<br />

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