Artikel Diagnostik von Blasenfunktionsstörungen
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POL Gynäkologie / Geburtshilfe - 2<br />
<strong>Diagnostik</strong> <strong>von</strong> Blasenfunktionsstörungen<br />
Simon Müggler<br />
Prinzipien<br />
Obwohl durch eine ausführliche Anamnese bereits viele Angaben die Inkontinenzform verdeutlichen,<br />
sollte man beachten, dass durch die alleinige Patientenbefragung bis zu einem Drittel Fehldiagnosen<br />
gestellt werden!<br />
Die gynäkologische Untersuchung deckt Senkungszustände auf; orientierende neurologische Untersuchungen<br />
liefern Hinweise auf Innervationsschäden.<br />
Die Urodynamik liefert durch Uroflowmessung, Zystometrie, Urethrozystotonometrie und Beckenbodenelektromyogramm<br />
wichtige Informationen über die funktionellen Abläufe im unteren Harntrakt. Sie<br />
ist vor operativen Eingriffen zur Behebung <strong>von</strong> Senkungszuständen und Inkontinenz unerlässlich.<br />
Juni 2006<br />
<strong>Diagnostik</strong> <strong>von</strong> Blasenfunktionsstörungen<br />
Simon Müggler<br />
simon.mueggler@gmx.net<br />
Version 1.2<br />
Anamnese<br />
Mit der Erhebung einer ausführlichen Anamnese lässt<br />
sich häufig bereits eine Verdachtsdiagnose stellen. Es<br />
darf jedoch nicht übersehen werden, dass durch die<br />
alleinige Anamneseerhebung bis zu einem Drittel<br />
Fehldiagnosen gestellt werden! In der urogynäkologischen<br />
Sprechstunde werden häufig standardisierte<br />
Fragebögen zur Anamneseerhebung verwendet.<br />
Zur Anamnese gehören:<br />
Trinkmenge, Trinkverhalten<br />
Miktionsfrequenz tags und nachts<br />
erschwerte Miktion, Nachträufeln<br />
Schmerzen bei der Miktion<br />
Menge (Bindenzahl) und Zeitpunkt des ungewollten<br />
Urinabgangs<br />
Harndranggefühl und dessen Beherrschbarkeit<br />
Inkontinenz bei körperlicher Anstrengung<br />
Einschränkung im Alltag, Leidensdruck<br />
Körpergewicht und -grösse<br />
schwere körperliche Arbeit<br />
Geburtenzahl und Geburtsgewicht der Kinder<br />
Menopausenstatus, Hormoneinnahme<br />
„Bindegewebsfaktoren“: Varikose, Hämorrhoiden,<br />
Schwangerschaftsstreifen<br />
neurologische (M. Parkinson, multiple Sklerose<br />
usw.), urologische (rezidivierende Zystiziden, Pyelonephritiden,<br />
angeborene Fehlbildungen), orthopädische<br />
(LWS), internistische (Herzinsuffizienz,<br />
Diabetes mellitus) und gynäkologische<br />
Vorerkrankungen (Senkungszustände, Voroperationen,<br />
Vorbestrahlungen)<br />
Medikamenteneinnahme: Eine Vielzahl <strong>von</strong> Medikamenten<br />
hat unerwünschte Nebenwirkungen<br />
auf den Harntrakt (z. B. Psychopharmaka)<br />
psychosomatische Faktoren (in welcher Situation<br />
tritt der unbezwingbare Harndrang auf, Lebensereignisse<br />
zu Symptombeginn, Sexualität und Sexualstörungen)<br />
Gynäkologische Untersuchung<br />
Bei der gynäkologischen Untersuchung lassen sich<br />
Senkungszustände in Ruhe und beim Pressen erkennen.<br />
Ein myomatös veränderter Uterus kann einen<br />
erheblichen Druck auf die Blase ausüben und damit<br />
die Ursache für einen dauernden Harndrang darstellen.<br />
Orientierende neurologische Untersuchung<br />
Das Auslösen des Bulbokavernosus-Reflexes (bei<br />
Berührung der Klitoris kommt es normalerweise zur<br />
Kontraktion des M. sphincter ani externus) dient der<br />
Orientierung über das Vorliegen einer Blasenneuropathie.<br />
Der Analreflex (Bestreichen der Perinealhaut<br />
führt zur Kontraktion des M. sphincter ani externus)<br />
testet unter anderem den N. pudendus. Des Weiteren<br />
können Sensibilitätsstörungen Hinweis auf ein neurologisches<br />
Leiden sein.<br />
Einfache klinische Tests<br />
Diese Tests können schnell und problemlos bei jeder<br />
Patientin durchgeführt werden:<br />
Restharnbestimmung: Man lässt die Patientin<br />
spontan miktionieren. Anschliessend kann ultra-<br />
POL Gynäkologie / Geburtshilfe 2 – 1<br />
<strong>Diagnostik</strong> <strong>von</strong> Blasenfunktionsstörungen
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sonographisch oder mittels Einmalkatheter die<br />
Restharnmenge bestimmt werden.<br />
Klinik: Quetschhahnphänomen<br />
Eine Restharnmenge <strong>von</strong> über 50 ml ist als pathologisch zu<br />
bewerten; es können vermehrt Harnwegsinfektionen auftreten;<br />
häufig liegt ein Descensus vaginae anterior vor. Durch<br />
das Absinken der vorderen Vaginalwand kommt es zum<br />
Abklemmen der Urethra und damit zur erschwerten Blasenentleerung<br />
(„Quetschhahnphänomen“). Vor Senkungsoperationen<br />
gilt es abzuklären, ob dieses Phänomen nicht etwa das<br />
Vorliegen einer Stressinkontinenz maskiert.<br />
Harnschnelluntersuchung mittels Teststreifen:<br />
Man erkennt das Vorliegen eines Harnwegsinfekts.<br />
Bonney- oder Pessartest: Man eleviert die<br />
Zystozele mit zwei Fingern oder legt ein handelsübliches<br />
Pessar ein; sodann fordert man die<br />
Patientin auf zu husten. Kommt es zu unfreiwilligem<br />
Harnabgang, so ist eine zusätzliche Blasenelevation<br />
zur Behebung der maskierten Stressinkontinenz<br />
indiziert.<br />
Pad-Test (Windeltest): Mit ihm kann man die<br />
Menge des unfreiwilligen Urinverlusts quantifizieren,<br />
da anamnestische Angaben je nach Leidensdruck<br />
sehr unterschiedlich ausfallen. Man<br />
wiegt das Gewicht einer trockenen Vorlage ab,<br />
lässt die Patientin die Binde vorlegen, 500 ml<br />
trinken und dann nach 1 Stunde verschiedene<br />
körperliche Aktivitäten ausführen. Man wiegt<br />
dann die nasse Binde erneut.<br />
Urodynamik<br />
Zur genauen Differenzierung und Erfassung des<br />
Schweregrades einer Harninkontinenz sollte heutzutage<br />
vor jedem geplanten operativen Eingriff eine urodynamische<br />
Messung erfolgen.<br />
Die Urodynamik untersucht und misst die funktionellen<br />
Abläufe im unteren Harntrakt (Messung der<br />
Druckverhältnisse in Blase, Urethra und Darm). Hierbei<br />
sind vor allem die Beurteilung der Harnentleerungs-<br />
und -speicherfunktion <strong>von</strong> Interesse. Sie dient<br />
der Differenzierung <strong>von</strong> Stress- und Urge-Inkontinenz<br />
bzw. deckt deren Mischformen auf. Sie ist zur differenzierten<br />
Indikationsstellung vor Operationen unerlässlich,<br />
da es eine Vielzahl <strong>von</strong> operativen Verfahren<br />
gibt, die sich in Zugangsweg (vaginal, abdominal),<br />
Erfolgschancen und auch Nebenwirkungen unterscheiden.<br />
Mittels eines speziellen Geräts werden eine Uroflowmessung<br />
(Harnflussmessung), eine Zystotonometrie<br />
und eine Urethrozystotonometrie durchgeführt. Gegebenfalls<br />
kann zusätzlich ein Beckenbodenelektromyogramm<br />
angefertigt werden.<br />
Uroflow<br />
Mit dieser Messung wird das Volumen des entleerten<br />
Urins pro Zeitenheit bestimmt. Die Patientin wird<br />
gebeten, mit gefüllter Blase auf einem speziell konstruierten<br />
Toilettensitz gegen einen Druckaufnehmer<br />
zu miktionieren. Der Harn wird zur Bestimmung des<br />
Volumens aufgefangen. Folgende Aussagen können<br />
getroffen werden: Miktionszeit, Miktionsvolumen,<br />
durchschnittliche Harnflussrate, kontinuierlicher oder<br />
„stotternder“ Harnfluss. Insgesamt können hier das<br />
Vorliegen eines infravesikalen Abflusshindernisses<br />
oder eine Detrusorschwäche aufgezeigt werden.<br />
Zystometrie<br />
Mittels eines sog. Mikrotipkatheters (ein mit zwei<br />
Druckaufnehmern ausgestatteter Katheter, dessen<br />
erster Druckaufnehmer in der Harnblase, der zweite in<br />
der Urethra positioniert wird) erfolgt die retrograde<br />
Auffüllung der Harnblase. Dabei werden die Compliance<br />
(Dehnbarkeit), der Zeitpunkt des ersten Harndrangs<br />
nach Angabe der Patientin (Detrusorsensorik),<br />
die Reaktion auf kontraktionsauslösende Stimuli wie<br />
Hustenstösse (Detrusoraktivität, -instabilität = autonome<br />
Kontraktionen) und die Blasenkapazität erfasst.<br />
Die Zystometrie dient der Abklärung einer Urge(inkontinenz)symptomatik.<br />
Des Weiteren erhält man<br />
aus der Befundkonstellation wertvolle Hinweise auf<br />
Blasenfunktionsstörungen unterschiedlicher Ursache<br />
(neurologisch, diabetisch).<br />
Urethrozystometrie<br />
Mittels des Mikrotipkatheters werden zunächst in<br />
Ruhe unter langsamem Rückziehen desselben das<br />
urethrale Druckprofil und die funktionelle Länge der<br />
Urethra bestimmt. Man erhält Informationen über die<br />
Verschlusskraft der Urethra in ihren einzelnen Abschnitten.<br />
Der urethrale Verschlussdruck ist altersabhängig.<br />
Beim Vorliegen einer hypotonen Urethra<br />
findet man klinisch häufig eine Stressinkontinenz.<br />
POL Gynäkologie / Geburtshilfe 2 – 2<br />
<strong>Diagnostik</strong> <strong>von</strong> Blasenfunktionsstörungen
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Dieser Vorgang wird anschliessend wiederholt, wobei<br />
man die Patientin mehrfach Husten lässt. Das abgenommene<br />
Profil lässt nun nach genauer Analyse eine<br />
Aussage über das Vorliegen und den Ausprägungsgrad<br />
einer Stressinkontinenz (Belastungsinkontinenz) zu.<br />
Urodynamik vor Senkungsoperationen<br />
Vor Senkungsoperationen wird die Urodynamik unter den<br />
vorliegenden anatomischen Bedingungen und dann nach<br />
Elevation der Zystozele durchgeführt. Man kann so das Vorliegen<br />
einer maskierten Stressinkontinenz objektivieren und<br />
quantifizieren.<br />
Beckenbodenelektromyogramm<br />
Mit der oberflächlichen Ableitung der Gruppenaktionspotentiale<br />
der Beckenbodenmuskulatur werden z.<br />
B. Detrusor-Sphinkter-Dyssynergien und neurologische<br />
Erkrankungen, die zur Fehlinnervation der Beckenbodenmuskulatur<br />
führen, erkannt.<br />
Bildgebende Verfahren<br />
Die Perineal- oder Introitussonographie hat das früher<br />
übliche laterale Urethrozystogramm abgelöst. Hierbei<br />
werden jeweils bei gefüllter Blase (Wasser, Kontrastmittel)<br />
die anatomischen Beziehungen zwischen Blase<br />
und Symphyse und damit der vesikourethrale Winkel β<br />
(Abbildung 1) in Ruhe und beim Pressen dargestellt.<br />
Hiermit werden auch Harnröhrendivertikel oder<br />
Harnröhrenstrikturen sichtbar. Insbesondere erkennt<br />
man das Vorliegen eines rotatorischen Deszensus.<br />
Abbildung 1: Urethrovesikaler Winkel<br />
Zystoskopie<br />
Durch die Möglichkeiten der Gewebeentnahme liefert<br />
die Blasenspiegelung wertvolle Hinweise auf das Vorliegen<br />
einer interstitiellen Zystitis und <strong>von</strong> Tumoren.<br />
Steine können lokalisiert und gegebenfalls entfernt<br />
und die anatomische Beschaffenheit der Uretermündungen<br />
kann dargestellt werden.<br />
Referenzen<br />
Bühling + Friedmann, Intensivkurs Gynäkologie<br />
und Geburtshilfe, Urban & Fischer, 1. Auflage<br />
2004<br />
POL Gynäkologie / Geburtshilfe 2 – 3<br />
<strong>Diagnostik</strong> <strong>von</strong> Blasenfunktionsstörungen