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Elek-Mantow: Zyklus 3 - André Wiesler

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Inhaltsverzeichnis<br />

Kein Vorwort!<br />

Was ist <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>?<br />

Über die Stadt<br />

Der Andere - Stephan Packard<br />

Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

Bergpredigt - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Diamantenring - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Das Bekenntnis - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Die Erinnerung der „Nacht“ - Christel Scheja<br />

Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

Schattenfuchs und Schleiertanz - Christel Scheja<br />

Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Ein Sehender unter Blinden - Marc Rösel<br />

Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Jenseits des Fensters - Oliver Nothers<br />

Stiefkinder der Schöpfung - Der Geschichte erster Teil<br />

Die Vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Neue Besen - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Schatten - Robert Symons<br />

Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

Der Ruf der Falken - Claudia Wamers; Jürgen Nilkens<br />

Oliver Nothers; Robert Symons<br />

Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

„Das Licht, das weh tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

Diener des Lichtmeß - Teil I: Brianne - Janina Enders<br />

Verkettungen - Oliver Nothers<br />

Brianne und Shamino - Janina Enders<br />

Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Das schwarze Liebesband des 25. Talu - Janina Enders<br />

Alte und neue Freunde - Janina Enders * <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

Impressum<br />

Idee und Konzept <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s: <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Titelbild und Innenillustrationen: Janina Enders<br />

Autoren dieser Ausgabe: Dietmar Cremers; Janina Enders; Peter Thomas Goergen; Jeanette Kaz;<br />

Vanessa Niederkinkhaus; Jürgen Nilkens; Oliver Nothers; Stephan Packard; Kai-Florian Richter;<br />

Marc Rösel; Christel Scheja; Robert Symons; Claudia Wamers; <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Alle Rechte zur Veröffentlichungen liegen bei dem <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> Projekt. Reproduktion<br />

jeglicher Art - auch teilweise- ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers sind unzulässig.<br />

Redaktionsadresse: <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong>; Viktorstr. 8; 42275 Wuppertal


Kein Vorwort/ Was ist <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>? - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Kein Vorwort!<br />

Es ist statistisch erwiesen, daß dieses Vorwort nur zwei Leute lesen, also ist es fast müßig eines zu<br />

schreiben. Das glauben Sie nicht? Lassen Sie mich deutlicher werden: Von 100 Personen befassen<br />

sich nur 40 überhaupt mit dem Vorwort. Der Rest blättert eifrig weiter vor bis zum ersten Kapitel. Zu<br />

meiner Schande (?) muß ich gestehen, daß ich auch zu diesen Leuten gehöre. Ich meine, mal ehrlich<br />

gesagt, wen interessiert es denn, weshalb der Autor das Buch geschrieben hat? Hauptsache es ist<br />

unterhaltsam! Wenn man sich erst durch 20 Seiten Einleitung arbeiten muß, bevor man die Geschichte<br />

begreifen kann, dann kann mir das Buch doch gestohlen bleiben! Lesen soll Spaß machen!<br />

Aber zurück zu unserer Statistik: Die Hälfte der 40 Personen, also 20, blättern nach den ersten paar<br />

Sätzen -also jetzt- entnervt weiter. Die übrigen 20 teilen sich in vier Gruppen: Zehn sind Überflieger.<br />

Sie lesen das Vorwort quer, suchen nach sensationellen Eröffnungen, nach Unerhörtem und finden<br />

natürlich... nichts! Gelesen im eigentlichen Sinne haben sie also das Vorwort nicht.<br />

Fünf sind Fanatiker, die alles in sich aufsaugen, von der ISBN-Nummer bis zu den Seitenzahlen alles<br />

aufmerksam lesen -also auch das Vorwort- dabei aber nur den maximalen Kosten/Nutzen-Faktor im<br />

Sinn haben...auch sie lesen es nicht aus Interesse.<br />

Die Versehentlichen -drei an der Zahl- haben sich verlaufen und verlassen so schnell wie sie<br />

gekommen sind das Vorwort, wenn sich ihnen die Frage stellt: „Was ist das für eine komische<br />

Geschichte?“<br />

Die übriggebliebenen zwei, eben jene, die das Vorwort um seiner selbst willen lesen und genießen,<br />

sind Wiedergänger. Sie haben bereits alle Geschichten gelesen und wollen nun, nach genoßener<br />

Kunst, auch noch hören, was der Autor dazu sagt. Ich hoffe Sie hatten Spaß an unseren Erzählungen...<br />

Zwei Leute... muß ich noch mehr sagen? Aus diesem Grund: diesmal kein Vorwort.<br />

<strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Was ist <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>?<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> ist zum ersten eine Stadt. Eigentlich aber ist es eine Idee, ein Konzept... eine Hoffnung.<br />

Die Fantasy-Literatur ist leider in den schlechten Ruf gekommen archetypisch und vorhersehbar zu<br />

sein. Um mit diesen Vorurteilen aufzuräumen -unter anderem- erfand ich <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Die Idee<br />

sprang mich an, nachdem ich einige Geschichten aus einer anderen sogenannten „shared world“<br />

(„geteilte Welt“) Serie gelesen hatte. 1<br />

Dort war zwar die Stadt allpräsent in den Erzählungen, aber jede Figur stand für sich alleine. Der Wirt<br />

der Schenke in der einen Geschichte traf keinen der Reisenden aus anderen Geschichten. Die Stadt<br />

wirkte bekannt, aber es war nicht die gleiche Stadt.<br />

Das alles wollte ich ändern. Deshalb erfand ich <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, die gespaltene Stadt. Die Autoren<br />

erhielten die Karte und einige Vorgaben zugesandt, sie beschrieben dann ihre Hauptfigur(en). All die<br />

Informationen über Völker, Helden, Häuser, Sprachen und vieles mehr wurden dann bei mir<br />

gesammelt und schließlich an alle Autoren geschickt, bevor sie ihre Geschichten schrieben. (Auszüge<br />

dieser Informationen finden Sie im Anschluß). Ich glaube und hoffe, daß die Geschichten diesen<br />

Aufwand entlohnen. Die Stadt sollte im Idealfall als eine Einheit wirken, bevölkert nicht von<br />

gesichtslosen Wesen, sondern von alten Bekannten. Wenn es uns, den Autoren des <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

Projektes, gelungen ist die Geschichten nicht wie eine eigene Einheit, sondern wie ein Fenster wirken<br />

zu lassen, durch das Sie einen Blick auf das Leben und Wirken in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> werfen können, dann<br />

und nur dann ist meine Idee verwirklicht. Wenn Sie also am Ende der Sammlung zurückblicken und<br />

auf einen Reigen alter Bekannten und vielleicht einige liebgewonnene Freunde schauen und nicht nur<br />

auf „noch so eine Fantasy-Anthologie“, dann machen uns das sehr stolz.<br />

<strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong> im Namen der <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> Autoren.<br />

Post Scriptum: Wenn auch Sie Lust haben einen Freund in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> einziehen zu lassen, d.h. eine<br />

Geschichte zu schreiben, dann wenden Sie sich an: <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong>, Viktorstr. 8, 42275 Wuppertal<br />

1 Es waren die Diesbesweltromane von Robert Asprin.


Über die Stadt<br />

Informationen zur Welt:<br />

Die Welt auf der <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> liegt heißt Koatlitek. Auf ihr gibt es sieben Kontinente. Der, auf dem<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> liegt, wird von seinen Bewohnern Nontariell genannt. Die auf Nontariell lebenden<br />

Völker wissen nichts von den anderen Kontinenten, da sie in der Seefahrt nicht besonders versiert<br />

sind, es gibt aber viele Sagen über diese „anderen Länder in der Ferne“ obwohl sich nur wenige Leute<br />

vorstellen können, wie diese aussehen sollen.<br />

Nontariell ist im Prinzip viergeteilt in das Hallakinische Imperium, die Ostländer, die Südländer und<br />

das Multorische Reich.<br />

-Das Hallakinische Imperium-<br />

Hier lebt das Volk der Hallakine. Sie werden von den anderen Völkern als Barbaren bezeichnet, da sie<br />

keinen besonderen Wert auf Wissen oder Wissenschaften legen. Hauptgrund dafür ist wohl, daß ihr<br />

Land stets von kaltem Klima dominiert wird. Im Norden des Imperiums liegt immer Schnee, der<br />

Boden ist das ganze Jahr über gefroren und bringt dementsprechend nur geringe landwirtschaftlichen<br />

Erträge.<br />

Gen Süden verringert sich die Zeit in welcher der Boden gefroren ist, an der Grenze zum<br />

Multorischen Reich ist er sogar ganzjährig nutzbar, obwohl auch hier die Winter sehr streng sind.<br />

Die anderen Völker nennen das Imperium auch „das kalte Nordreich“ und „die grausame Nordfaust“,<br />

vor allem weil sie einen recht darwinistischen Umgang miteinander pflegen.<br />

Das Gesellschaftssystem der Hallakine ist matriachalisch orientiert, d.h. die weiblichen Vertreter des<br />

Volkes haben das Sagen.<br />

Aussehen: Hallakine sind durchweg groß (zwischen 1,90 und 2,20m) und kräftig gebaut. Ihre<br />

Hautfarbe variiert von hell bis weiß. Bei ihnen sind alle Haar- und Augenfarben vertreten.<br />

Gesetze: Das Imperium greift hauptsächlich auf ein Bestrafungssystem der Verstümmelung,<br />

Brandmarkung und Todesstrafe zurück. Sklaven sind geduldet aber nicht besonders verbreitet, da<br />

Hallakine selten Gefangene machen.<br />

-Das Multorische Reich-<br />

In diesen weiten Gras- und Steppenlandschaften leben zwei Völker, die seit Jahrhunderten im Krieg<br />

miteinander liegen: Auf der einen Seite die früher reichen und dekadenten Multorier, auf der anderen<br />

die nomadischen Rekschat.<br />

Die Multorier haben in ihrer Glanzzeit prächtige Städte errichtet und eine hohe landwirtschaftliche<br />

Kultur entwickelt. Aus Langeweile und Prunksucht begannen sie dann jedoch eines Tages damit,<br />

Rekschat zu versklaven. Da es für die nomadischen Rekschat, die sich selbst die „Freiwilden“ nennen,<br />

aber nichts wertvolleres als ihre Freiheit gibt, entbrannte ein grausamer Krieg.<br />

Durch den immensen Kriegsapparat, den die Multorier im Laufe der Zeit ausgehoben haben, haben sie<br />

ihre Landwirtschaft fast vollständig ruiniert. Die Multorier haben deshalb immense<br />

Versorgungsprobleme.<br />

Dabei ist das Land in Multor sehr fruchtbar, auch wenn im südlichen Teil des Reiches streckenweise<br />

Halb- und Vollwüsten existieren.<br />

Aussehen: Multorier erwecken meistens den Eindruck, als wären sie unterernährt. Es gibt aber noch<br />

einige reiche Herrscherfamilien die genug Sklaven haben um ihre Ländereien ausreichend zu<br />

bewirtschaften, die einen sehr wohlgenährten Eindruck machen. Ihre Hautfarben sind durch die Bank<br />

dunkel, von hellbraun über mahagonifarben bis tiefschwarz. Es sind alle Haarfarben vertreten, die<br />

Augenfarbe variiert hingegen nur wenig: Entweder Blau oder grün, hiervon aber verschiedene<br />

Schattierungen. Im Schnitt werden sie zwischen drei Schritt und einer bis zwei Pfeilbreiten groß.<br />

Rekschat sind meist drahtig und wesentlich kleiner als Multorier, zwischen drei und dreieinhalb<br />

Schritt. Ihre Haut ist wettergegerbt und sonnengebräunt. Es gibt aber einen erstaunlich hohen<br />

Prozentsatz an Albinos in ihrem Volk, die sie als von den Göttern geschickte Boten erachten. Sie<br />

haben im Laufe der Jahrhunderte einige Arten von Reittieren in ihre Gemeinschaft integriert.<br />

Gesetze: Die Multorier verteilen beim eigenen Volk Gefängnis- und Prügelstrafen, in krassen Fällen<br />

wie Mord an Multoriern und Verbrechen begangen von Mitgliedern anderer Völker ist man aber<br />

schnell mit exemplarischen Todesstrafen zur Hand.


Über die Stadt<br />

Die Rekschat haben einen sehr engen Zusammenhalt in den einzelnen Sippen, so daß Verbrechen sehr<br />

selten vorkommen. Wenn, wird es jedoch meist in einem Zweikampf mit dem sogenannten „Richter“<br />

oder durch ein Gottesurteil entschieden, beides führt aber nur in seltenen Fällen zum Tod.<br />

Die Nuu-Giik<br />

Es haben schon viele Menschen wilde Gerüchte von den Nuu-Giik gehört, aber nur sehr belesene<br />

Personen mit Zugang zu einer guten Bibliothek wissen, wie sie überhaupt aussehen. Und nur<br />

hochqualifizierte Gelehrte kenne einige Aspekte ihrer Kultur kennen. Alle anderen halten sie für<br />

etwas ärmliche, stark behaarte Menschen mit einem seltsamen Hang zu Knochen, die sich dringend<br />

einmal waschen sollten.<br />

Die Nuu-Giik leben in den Bergen des multorischen Reiches. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, da<br />

sie von den Multor verfolgt und geopfert werden. Die Nuu-Giik verspeisen Gegner, die sie als würdig<br />

erachten, um ihre Stärke in sich aufzunehmen. Sie sind groß und überaus stark behaart.<br />

-Die Südländer-<br />

Der Süden Nontariells ist weitgehend von feuchten Regenwäldern und Sümpfen bedeckt. Wegen ihrer<br />

Unzugänglichkeit sind die Südländer größtenteils noch unerforscht. Es kommen immer wieder<br />

Gerüchte über seltsame Tiere und Völker auf, die dort in den tiefen Wäldern leben sollen. Sicher ist<br />

bis jetzt nur die Existenz von Zweien: Den Grantken, die im wesentlichen an den Cro-Magnon<br />

erinnern und der Echsenmenschen, im Schnitt über 2 Meter große, aufrecht gehende Echsen mit<br />

langem Schwanz und grüner Schuppenhaut.<br />

Die Panlîl<br />

Die Panlîl sind eine Rasse katzenartiger Humanoide aus dem Süden des Kontinents. Sie leben in ihrer<br />

Heimat größtenteils vom Fischfang und vom Ackerbau; letzterer wird allerdings mehr und mehr<br />

unprofitabel, so daß man nach neuen Siedlungsgründe sucht. Die Panlîl sind ein an und für sich<br />

friedfertiges Volk, das Gewalt nur im äußersten Notfall als Mittel zum Zweck akzeptiert. Sie sind<br />

matriarchalisch geführt, und die Priesterinnen der Ashkenobistar haben großen Einfluß in ihrer<br />

Gesellschaft. Die Religion ist für die Panlîl sehr wichtig, und sie sind froh, eine derartig freundliche<br />

Göttin zu haben, mit deren Weltanschauung sie sich auch sehr gut identifizieren können. Zum<br />

Äußerlichen: Panlîl werden im allgemeinen drei Tritt, eine Hand bis ein Sprung groß, können jede Art<br />

von Fellfarbe haben (wobei allerdings einfarbige sehr selten sind), und haben grüne Augen mit ovalen<br />

Pupillen.<br />

Kasralit<br />

Die Kasraliten sind ein Volk, das in den Südländern seine Heimat hat. Man kann das Königreich nicht<br />

in genaue Grenzen fassen, da die südliche Grenze ständig über die Landkarte geschoben wird, denn<br />

die Kasraliten befinden sich in einem schon ewig währenden Krieg mit ihrem südlichen Nachbarland<br />

Waslaran.<br />

Vernachlässigt man die Südgrenze, so ist Kasralit an der breitesten Stelle 100 Kilometer breit und 200<br />

Kilometer hoch. Mit allen anderen Nachbarn pflegen die Kasraliten lebhaften Handel und bringen<br />

ihnen herzliche Gastfreundschaft entgegen. Im Osten trennt das Land ein hohes Gebirge mit<br />

verwinkelten Pässen von seinen Nachbarn. Dieses Gebirge wird im allgemeinen einfach als „Der<br />

Berg“ bezeichnet und gilt als eine der gefährlichsten Orte, da er als Fluchtwinkel für Diebe und<br />

Räuber dient. In der Ebene findet man saftige Wiesen und dichte Wälder, unterbrochen von breiten<br />

Strömen und großen Seen. Das Land ist übersät von kleineren Dörfern und kleinen, befestigten<br />

Städten, die jedoch im Vergleich zu der Hauptstadt Kasra wie lächerliche Siedlungen aussehen.<br />

Kasra ist eine reiche Stadt, in der sich neben dem Palast des Herrschers und dem Auditorium, in dem<br />

der Ältestenrat tagt, auch die Bildungstätten für die Jungen befinden. Kasra verfügt über ein<br />

ausgereiftes Kanalsystem und Frischwasserzulauf durch Aquädukte, sowie über mindestens fünf<br />

Theater, in denen zeitgenössicher und alte Meister der Dramaturgie ihre Werke vorstellen.<br />

Mentalität und Aussehen:<br />

Kasraliten sind recht große Menschen, deren kleinste Vertreteer immerhin noch sehr nahe an einen<br />

Sprung herankommen und deren obere Schranke mit ein Sprung, zwei Pfeillängen noch nicht erreicht<br />

ist. Auch wenn sie auf den ersten Blick aussehen wie Bewohner der Mitte Nontariells, unterscheiden<br />

sie sich doch bei näherer Betrachtung durch die blaßblaue Hautfarbe und die in allen


Über die Stadt<br />

Regenbogenfarben schillernde Iris von ihnen. Der durchschnittliche Kasralit ist gut gebaut und<br />

durchtrainiert, da alle Jungen schon mit sechs Jahren der staatlichen Erziehung überantwortet werden.<br />

In den folgenden zehn Jahren werden sie in einer quasi-millitärischen Ausbildung sowohl in<br />

verschiedenen waffenlosen Techniken, im Kampf mit Schwert, Degen, Messer, Kampfstab und<br />

Zweiklinge unterrichtet, als auch in - für andere Völker unwichtigen - Fächern wie Philosophie,<br />

Rechnen, Schreiben oder Prosa und Gedichten, einem Handwerk wie Töpferei, Holzbearbeitung oder<br />

ähnlichem, Rhetorik und einer Fremdsprache. Von Jungen, die den Anforderungen der Ausbildung<br />

nicht genügen, hört man nicht besonders viel, angeblich gibt es sie nicht. Auf jeden Fall gibt es sie<br />

nach dieser Ausbildung nicht mehr - so oder so.<br />

Literaten und Philosophen werden in Kasralit hoch geschätzt, mindestens genauso hoch wie<br />

großartige Kämpfer an der Südfront. Manche von ihnen haben es sogar bis über Kasralits Grenzen<br />

hinaus zu Ruhm gebracht, so zum Beispiel der große Rondar, dessen Werk „Glaube und Irrglaube“<br />

von den einen als ketzerisches Manifest eines irrgeleiteten Idioten verbannt, von anderen als das<br />

revolutzionärste Werk der letzten hunder Jahre gefeiert wird.<br />

In anderen Ländern haben Kasraliten den Ruf, gute und faire Kämpfer zu sein, mit denen man auch<br />

bei einem guten Wein ein interessantes und hochwertiges Gespräch führen kann. Ehrliche<br />

Zeigenossen haben von diesen freundlichen Menschen nichts zu befürchten, hinterhältige Subjekte<br />

können sich jedoch genauso gut in ihr eigenes Schwert stürzen, wenn sie versuchen, einen Kasraliten<br />

zu hintergehen.<br />

-Die Ostländer-<br />

Im Osten des Landes erstreckt sich ein Teppich aus Klein- und Kleinstaaten, die in einem fort<br />

Bündnisse schließen, brechen und Kriege führen. Die Bewohner sind meist hellhäutig, Augen- und<br />

Haarfarben sind alle vertreten. Über die Länder ist bis jetzt noch nicht viel bekannt, außer ihren<br />

Namen (die Zahlen weisen auf die entsprechende Ziffer auf der Karte hin):<br />

1) Pergemitron<br />

Etwas höher im Gebirge gelegen, verfügt es über keine einzige größere Stadt, die Wirtschaft ist<br />

hüben wie drüben vor allem auf Erzförderung aufgebaut. Die Böden in Pergemitron sind wenig<br />

fruchtbar, die Bewohner fristen ein eher karges Leben und vermeiden Aufregungen. Die<br />

Regierungsgewalt, die ohnehin selten genug einschreiten muß, liegt de facto bei den höheren<br />

Mitgliedern des Ordens zu Pergemitron, einer jahrhundertealten Gruppierung von<br />

Theoretikern, die in der Akademia auf dem höchsten Gipfel residieren, einem uralten und<br />

gigantischen, klosterähnlichen Bau.<br />

Diese Wissenschaftler, unter denen sich auch einige der Magie Fähige und an ihren<br />

erscheinungsformen Interessierte befinden, nennen sich selbst Perger [Wahrscheinlich von einem<br />

alten östlichen Wortstamm der Form pirgid, der wohl ursprünglich nichts anderes bedeutet als<br />

'Mensch' oder möglicherweise 'denkendes Tier'. Es steht anzunehmen, daß diese Bezeichnung<br />

früher einmal für alle Bewohner Pergemitrons gebräuchlich war, und auch Verwandtschaften mit<br />

dem Staatsnamen Pergemitron sind offensichtlich. Vor mehr als zweitausend Jahren sprachen<br />

die hiesigen Bewohner das Pirman, was wohl 'fixierte Gedanken' bedeutet und von den Pergern als<br />

erste Schriftsprache der Welt gefeiert wird. In der Akademia werden wissenschaftliche Arbeiten<br />

noch immer in dieser Sprache verfaßt.]<br />

Die Magier unter ihnen verhindern ab und an größere Hungersnot durch Wetterveränderungen in<br />

schlechten Jahren. Ihr Ansatz an die Hohe Kunst der Magie ist ansonsten extrem akademisch;<br />

während sich in der Akademia gewiß eine der größten Sammlungen magischen und vor allem<br />

anderen Wissens in ganz Nantariell befindet, geht von ihr kaum eine größere politische Macht aus<br />

als von der nächsten Erzförderstätte.<br />

Das Sammeln von Wissen ist den Pergern letzte verbleibende Lebensaufgabe geworden. So haben<br />

sie über den ganzen Kontinent Informationssammler aus ihren eigenen Reihen verstreut, die mal<br />

offen, mal inkognito sämtliche Vorgänge in allen Teilen der Welt zu notieren und alles in der<br />

Akademia noch unbekannte Wissen festzuhalten suchen.<br />

Jede Form der praktizierten Religion ist bei den Pergern ebenso ausgestorben wie fast aller<br />

Aberglaube - wer soviel geheimes Wissen angehäuft hat, für den gehören Hufeisen und Kleeblätter<br />

nicht zu den großen Geheimnissen der Welt.<br />

2) Hale


Über die Stadt<br />

3) Donji Kalemat<br />

4) Das freie Reich Nidjut<br />

5) Der Höllenpfuhl, der allerdings bei seinen Bewohnern, zum größten Teil ehemaligen und noch<br />

aktiven Söldnern, die Güldene Ebene genannt wird.<br />

6)Adlerhorst<br />

7) Land der Güte<br />

8) Ferkalitz<br />

9) Wolfshöhle<br />

10) <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

11) Seelenruh ist ein Zufluchtsort für viele Rekschat die keine Lust mehr auf das Töten und Kämpfen<br />

haben. Sie leben mehr schlecht als recht von dem, was sie dem Boden abringen können.<br />

12) Pergaminon<br />

13)Das Tal der Stürme<br />

14) Atzressadon Kil Magnetep Alistrea<br />

15) Das Großimperische Reich von Helikot III. Dieser kleine Staat ist immer wieder Grund zum<br />

Schmunzeln in den übrigen Ostländern, wenn mal wieder ganz Nontariell zum Reich des<br />

Großimperischen Herrschers erklärt wird. Leider fängt der Imperator immer wieder Streit mit<br />

umliegenden Ländern an. An der Küste des Reiches liegt das kleine Fürstentum Ibrisco.<br />

Gesetze: Generell gibt es nur ein Gesetz, daß die meisten Ostländer gemeinsam haben: Um sich von<br />

den „Barbaren“ abzuheben, ist die Sklaverei offiziell verboten.<br />

-Regthil-<br />

Regthil ist ein kleines Königreich im äußersten Nordosten von Nontariell. Die Mehrzahl der<br />

Bewohner lebt in der einzigen Hafenstadt Jargas und natürlich in der Hauptstadt Xargos.<br />

Das Klima dieser Region ist rauh und vom Meer geprägt. Regen ist fast an der Tagesordnung und<br />

mehrmals hat in den letzten Jahrzehnten ein Sturm verheerende Schäden angerichtet. Leichtere<br />

Stürme sind fast ebenso häufig wie Regen. Dennoch gibt es auch hier herrliche Sonnentage und<br />

Reisende, die dieses abgelegene Gebiet einmal gesehen haben, behaupten, diese Tage gehören zu den<br />

schönsten, die man auf Nontariel erleben kann.<br />

Das Klima hat sich aber auch auf die Menschen der Region ausgewirkt. Bereits in jungen Jahren wirkt<br />

ihre Haut alt, da sie vom Wetter gegerbt ist, zudem hat sie eine seltsame Graufärbung. Die Menschen<br />

sind stämmig, aber relativ klein an Wuchs, nur wenige werden größer als drei Tritt, eine Pfeillänge.<br />

Ihre Haare sind zumeist blond oder rot, fast alle besitzen blaue Augen in verschiedenen<br />

Schattierungen.<br />

Regthil lebt vor allem vom Fischfang und Viehzucht, Anbau ist kaum möglich. Die Bauern halten<br />

Kirtes, eine sehr genügsame Rinderart ohne Horn uns sehr kurzem, harten Fell. Diese geben<br />

ausreichend Milch und ihr Fleisch ist zwar manchmal etwas zäh, aber sehr wohlschmeckend.<br />

Es geschieht immer mal wieder, daß an der Küste Regthils Gegenstände angeschwemmt werden,<br />

deren Herkunft den Menschen vollkommen unklar ist. Diese Gegenstände gelten als Zeichen Rautos<br />

und sind somit heilig. Sie werden von der Bevölkerung in die wenigen vorhandenen Tempel gebracht<br />

und dort aufgestellt. In Wahrheit handelt es sich aber um Dinge, die von fernen, fremdem Kontinenten<br />

stammen, von deren Existenz aber keiner auch nur etwas ahnt. Eine solche Möglichkeit gilt als völlig<br />

unmöglich, sie wird auch nicht diskutiert, denn es ist noch niemand auf diese Idee gekommen.<br />

Die Zeitrechnung richtet sich dann auch nach diesen Anschwemmungen. Es ist das Jahr 519 n. Rautos<br />

Zeichen, das bedeutet, vor 519 Jahren fand die erste dokumentierte Anschwemmung statt. Nebenher<br />

gelten auch noch die Regierungszeiten der Könige als Jahresangaben, so daß gleichzeitig 20 n.<br />

Tizulis ebenfalls gültig ist.<br />

Nur sehr selten gibt es Menschen, die dieses Land verlassen. Einige, weil sie ein Verbrechen<br />

begangen haben (etwas, was an sich schon ziemlich ungewöhnlich ist) andere um Abenteuer zu<br />

erleben oder reich zu werden. Diese Menschen gelten im allgemeinen als krank und von den Göttern<br />

verlassen.


Über die Stadt<br />

Die Nushq´qai<br />

Die Nushq´qai sind ein nichtseßhaftes Volk, die in verschiedenen Sippen durch die Lande zieht.<br />

Solche Züge bestehen normalerweise aus mehreren Planwagen, die von kleinen, stämmigen,<br />

zotteligen Pferden gezogen werden. Woher die Nushq´qai kommen, weiß man nicht genau, wohin sie<br />

gehen fragt keiner. Sie sind normalerweise recht klein (selten je über drei Tritt, eine Hand) und<br />

schlank, haben einen rötlichen Teint und schwarze Haare; ihre Augen können alle Farben des<br />

Regenbogens haben. Das Volk ist offensichtlich sehr anpassungsfähig, und wenn es ihnen irgendwo<br />

nicht sonderlich gefällt, reisen sie einfach weiter - sie leben von dem, was sie finden, was sie finden<br />

oder was sie ertauschen können, wobei die Tauschobjekte, welche die Nushq´qai anzubieten haben,<br />

sehr mannigfaltig sind, und teilweise sogar Dienstleistungen beinhalten. Oft sind Tauschobjekte<br />

selbstgemachte Dinge, wie beispielsweise geflochtene Körbe, Schnitzereien, Musikinstrumente oder<br />

auch kleine Teppiche (für welche die Nushq´qai berühmt sind!). Es heißt im Volksmund, daß die<br />

schönsten dieser Gegenstände magische Fähigkeiten hätten... Innerhalb der Sippen gibt es<br />

verschiedene ungeschriebene Gesetze, an die sich die Sippenmitglieder auch halten, so daß es selten<br />

zu Schwierigkeiten kommt. Sollte doch einmal ein Sippenmitglied ernsthaft gegen die Grundsätze<br />

seiner Sippe verstoßen, so könnte dies den Ausschluß aus der Gemeinschaft zu Folge haben - für<br />

einen Nushq´qai eine schlimmere Strafe als der Tod.<br />

Die Charach<br />

Die Charach sind ein Volk von nomadischen Jägern und Sammlern. Sie bewohnen keinen bestimmten<br />

Landstrich, man findet sie auf dem gesamten Kontinent Nontariell außer im eisigsten Norden und in<br />

den Regenwäldern des Südens. Die Charach sind Wolfsmenschen. Sie haben einen Wolfskopf und -<br />

schwanz und dichtes Fell. Ihr Körperbau und ihre Arme und Beine gleichen denen eines Menschen.<br />

Die Fellfärbung reicht von weiß über verschiedene Grau- und Brauntöne bis hin zu schwarz. Das Fell<br />

bildet an Kopf und Hals eine Art Mähne, in die schmale Zöpfe geflochten werden. Die Augenfarbe<br />

variiert zwischen Blau, Braun, Grau, Gelb und Grün. Kleidung ist bei den Charach wenig verbreitet,<br />

meist wird nur ein Lendenschurz, bestenfalls noch eine Lederweste getragen. Schmuck jedoch ist für<br />

die Charach sehr wichtig. Federn, Knochen, Zähne und Krallen von Beutetieren werden gern als<br />

Schmuck verwendet, ebenso wie Holz- und Steinperlen. Dazu werden auch oft eingetauschte oder<br />

erbeutetete Schmuckstücke anderer Rassen getragen, wobei Ohrringe und Halsketten besonders<br />

beliebt sind. Die Charach sind nie lange an einem Ort. Sie ziehen dem jagbaren Wild hinterher und<br />

schlagen nur für kurze Zeit Lager aus Lederzelten auf. Sie sind nicht aggressiv oder kriegerisch, wenn<br />

man sie in Ruhe läßt, lassen sie einen auch in Ruhe.<br />

Die Durchschnittsgröße eines Charach liegt bei einem Sprung. Die Charach leben mit ihren Brüdern,<br />

den Wölfen, in Harmonie, so daß es oft vorkommt, daß ein Stamm Charach von einem größeren<br />

Wolfsrudel begleitet wird. Die Charach leben von dem, was sie erjagen und finden, wollen sie etwas<br />

anderes bekommen, z.B. Waffen aus Stahl oder Schmuck, dann tauschen sie Felle oder<br />

Schmuckstücke ein, Geld ist ihnen fremd. Die Religion der Charach beruht auf der Verehrung der<br />

Geister der Natur, die allem innerwohnen. Das Leben in der freien Wildnis hat die Charach zu einem<br />

harten Volk gemacht. Mit zehn Jahren, wenn ein junger Charach ausgewachsen ist, muß er die<br />

Kriegerprüfung ablegen. Dazu muß er allein in die Wildnis ziehen und ein großes Raubtier nur mit<br />

einem Steindolch erlegen. Die, die nicht zurückkehren, waren nicht stark genug, um gegen die Natur<br />

zu bestehen. Genauso ziehen sich Charach, die zu alt oder zu krank zum jagen und herumziehen<br />

werden, in die Wildnis zurück um zu sterben. Krüppel und Greise werden im Stamm nicht geduldet.<br />

Einmal im Sonnenkreis wird der Häuptling des Stammes ermittelt. Das geschieht durch einen Kampf<br />

bis zum ersten Blut. Wenn, was selten geschieht, die Charach in den Krieg ziehen, bemalen sie ihr<br />

Fell mit farbigen Mustern. Einem Charach in Kriegsbemalung geht man besser aus dem Weg.<br />

Die Taominoi<br />

Die Taominoi sind ein Volk der Verbannten. Sie stammen von einer Insel vor der Küste Nontariells,<br />

von der sie fliehen mußten, weil sie einer unterlegenen Partei angehörten (näheres dazu: Atakuela de<br />

Kuansa). Nur etwas die Hälfte der Schiffe erreichte die Küste Nontariells und die einzelnen Gruppen<br />

leben weit verstreut.<br />

Über die komplizierten Ehrbegriffe, Verhaltensregelen, religiöse und philosophische Grundlagen,<br />

Sitten und Gebäruche ist Außenstehenden so gut wie nichts bekannt. Die Taominoi erzählen Fremden<br />

ungern über sich selbst und wenn, dann eher (Helden-)Geschichten als Wahrheiten. Sie tragen


Über die Stadt<br />

konservativ geschnittene schwarze Kleider, folgen stengen Lebensregeln und bleiben am liebsten<br />

unter sich selbst. Nur wenige Außenstehende wurde das Privileg zuteil, ihre Sprache lernen zu dürfen.<br />

Sie heiraten fast nur endogam (in der Gruppe). Melancholie und Ernst scheinen Volkstradition zu<br />

haben; untereinander singen sie traurige Lieder und erzählen sich schwermütige Geschichten. Oft<br />

treten sie Fremden gegenüber offen, fast herzlich auf, aber ohne eigene wahre Seele oder innere<br />

Gefühle preiszugeben, die sie nur ihresgleichen offenbaren. Ihr Mund und ihre Mimik lachen und<br />

scherzen, während ihre ernsten Augen unberührt bleiben.<br />

Die Verbannten trauern um Denim Atauasi de Jurosa und um ihre verlorene Heimat. Diese Trauer<br />

prägt alle ihr Sein und ihr ganzes Leben. Eines Tages wollen sie heimkehren, in einer goldenen<br />

Zukunft, wenn Atauasi von den Toten aufersteht und ein Ewiges Reich gründet. Dann werden sie ihre<br />

schwarzen Gewänder ablegen und ihre Herzen werden wieder lachen. So geht die Legende.<br />

Die Atamanai/atamanische Sammler<br />

Ihre Herkunft ist unbekannt, sie beherrschen eine Vielzahl von Sprachen. Es gibt wohl nicht allzuviele<br />

von ihnen, aber sie stellen ein eigenes, homogenes Volk dar. Aus Berichten aus ganz Nontariell läßt<br />

sich folgendes Profil erstellen: es sind hochgewachsene, bleichhäutige Fremde, mit faltenlosen,<br />

glatten Gesichtern selbst in hohem Alter (und sie werden dem Vernehmen nach sehr, sehr alt).<br />

Ihre Augenbrauen wachsen an einem von der Nasenwurzel aufsteigenden Delta bis zu den Schläfen in<br />

seidigen, buschigen Strähnen. Diese sind zumeist blond - da sie haarlos sind, allesamt mit fabelhaft<br />

kahlen Schädeln, darf man sie also als „blonde Rasse“ bezeichnen. Eigenartig sind auch ihre Augen:<br />

mit einer dreifachen, scharf ineinander abgegrenzten Iris, welche die schmalen Lider fast gänzlich<br />

ausfüllt - der äußere Ring schwarz, der zweite weiß, der dritte wieder schwarz, das Augeninnere selbst<br />

ist weiß (bei den poetisch veranlagten Kasraliten sagt man, die Augen der Atamanai seien gefährlicher<br />

als die der Nattern, die beinahe Nofra selbst verschlangen).<br />

Ihre Bewegungen sind, auch in Hinblick auf ihre langen Gliedmaßen, fließend und geschmeidig; sie<br />

sind zäh und flink, kräftig, wenn auch nie sehr muskulös und hünenhaft. Zu ihren besonderen<br />

Talenten gehören daher eine Vielzahl von waffenlosen Kampftechniken - sie sind beachtliche Gegner.<br />

Noch niemals wurde etwas wie eine Atamanai-Frau gesehen - allerdings wird für möglich gehalten,<br />

daß sie ihren Männern äußerlich gleichen, daß sie eine Fremder nicht auseinanderhalten kann. Da alle<br />

Atamanen nur eine Profession haben - die des Sammlers - wären Frauen auch nicht an der<br />

Verrichtung bestimmter Arbeiten zu erkennen. Überdies sind Attamanen Einzelgänger, sie treten<br />

äußerst selten auch nur zu zweit auf.<br />

Möglicherweise existiert eine Attamanai-Kolonie mit einer Art Regierung, einer Art Priesterrat (von<br />

der sie ihre Botschafter in die verschiedenen Teile des Kontinents senden würden); hier lebten dann<br />

auch andere Atamanai, die nicht als Sammler durch die Welt reisen - wenn eine solche Enklave<br />

exisitiert, wird ihr Geheimnis von den Sammler jedenfalls umsichtig gehütet. Vorzugsweise wird<br />

diese „Siedlung“ im äußersten Süden Nontarielles angenommen - schon allein deswegen, weil die<br />

ethnischen Lehrer mit dem Gedanken liebäugeln, die Atamanai seien Abstammlinge eines südlich<br />

gelegenen Kontinents, fern von Koatlitek.<br />

Religion<br />

Die Atamanai sind, der Begriff ist gut gewählt, religiöse Fanatiker. Sie glauben, daß nach der<br />

Erschaffung der Welt durch die Götter diese vor Entsetzen darüber, wie sie die ihnen vorgegebene<br />

Harmonie des Universums durch die jäh entfaltete Disharmonie der Sterblichen zerstört hätten, in<br />

abgrundtiefe, tränenreiche Verzweiflung gerieten, dabei in absoluter Erschöpfung all ihrer Kraft<br />

verlustig gingen. Sie vegetieren im Nichts dahin, paralysiert durch das sterbliche Chaos, unfähig dem<br />

Ganzen Einhalt zu gebieten - und, Unheil zugleich für die Sterblichen, die Essenz der Vergehenden<br />

verliert sich, da den Göttern zustrebend, nach dem Tode ebenfalls im Nichts.<br />

Um dies zu ändern, sammeln die Atamanai die Domomai, die auf die Erde vergossenen Tränen der<br />

Götter, sie den Verzweifelten zurückzugeben. Dann würden die Göttern ihre Kräfte wieder erlangen,<br />

könnten die Weltschöpfung rückgängig machen und einen ewigen Zustand der Harmonie<br />

wiedererrichten.<br />

Die Göttern selbst sind den Atamanai insofern gleichgültig. Sie haben noch jeden Gott, jeden Kult,<br />

dem sie begegnet sind, mit nahezu atheistischer Gleichgültigkeit toleriert. Die Differenzen zwischen<br />

Göttern, ihre unterschiedlichen „Zuständigkeiten“ (Feuer, Wasser, Wind etc.) wären in einem Zustand<br />

völliger Harmonie sowieso aufgehoben. Auf der Suche nach den Domomai haben die Sammler schon<br />

die ganze bekannte Welt - und vielleicht noch darüber hinaus - bereist.


Über die Stadt<br />

Sozialstatus<br />

Obwohl die Atamanai eine so positive Philosophie befolgen, sind sie ein Volk, das zu bestimmten<br />

Zeiten regelrechten Pogromen ausgesetzt war. Sie wurden und werden verfolgt und getötet - kaum ein<br />

Volk Nontariells, das nicht schon atamanisches Blut an den Händen seiner Väter und Großväter<br />

kleben hat (das hallakinische Imperium ist noch heute ein lebensgefährliches Pflaster für die<br />

Sammler).<br />

Der Grund: Atamanen sind, man glaubt es kaum, für Außenstehende nichts anderes als Räuber,<br />

Schwarzkünstler und auch Mörder. Denn die begehrten Domomai erblicken die Sammler einzig in den<br />

großen Schöpfungen der Sterblichen - hier sehen sie sich verdichtende Schöpferkraft der Götter. Und<br />

wenn sie etwas sammeln, dann nehmen sie es sich. Sie haben Werke der Kunst und Wissenschaft<br />

gestohlen, ob aus Tempeln oder weltlichen Verwahrungen. Ruhmreiche Waffen, Artefakte mit<br />

mystischer Legende - sogar die Zunge eines berühmten Barden schnitten sie aus dessen Kehle. Und<br />

unbekannt ist, wieviel verborgene Schätze und Gräber, welche Koatlitek verloren gegangene oder<br />

nicht bekannt gewordene Herrlichkeiten sie „gesammelt“ haben - die Atamanai sind ausgezeichnete<br />

Schatzsucher (was ihre sagenhaften finanziellen Mittel erklären mag). Das sind Tatsachen - mal zur<br />

Abwechslung - Attamanai sind schon des öfteren scheinbar skrupellos-brutale Killer gewesen. Also<br />

sind die Atamanai allgemein unbeliebt, wenn nicht verhaßt, und Mütter ziehen ihre Kinder beiseite,<br />

sehen sie einen der roten Röcke schon von weitem.<br />

Jeder Atamanai legt immer (und situationsbezogen) eine Vielzahl von Gerüchen auf, zeitweilig<br />

erscheinen sie wie wandelnde Parfümauslagen. Das trägt nur wenig zu ihrer Integration in eine fremde<br />

Gesellschaft bei...<br />

Sehr zum Verdruß von Generationen an Kopfgeldjägern sind Atamanai recht magieresistent - an sich<br />

starke Sprüche, die jede hallakinische Reiterfürstin halbtot in die nächste Ecke befördert hätten,<br />

bedeuten einem Atamanen regelmäßig bloß eine heftige Ohrfeige... Illusionen, Tarnzauber etc.<br />

beeindrucken einen scharfäugigen Sammler gemeinhin nicht sonderlich. Allerdings nicht nur<br />

böswillige, auch gutwillige, etwa Heilmagie fruchtet dementsprechend nichts...<br />

Arietiden und Priskaner<br />

Die Arietiden leben auf dem Kontinent südöstlich von Nontariell. Früher einmal waren sie friedliche<br />

Wesen, die nichts so liebten wie den Tanz und den Gesang. Alle Arietiden haben die Gabe zu heilen,<br />

vorrangig sich selbst, aber auf Wunsch auch andere. Das Ganze ist eine Art Regeneration. Außerdem<br />

besitzen viele von ihnen die Sehergabe, also die Fähigkeit mit dem Lichtmeß zusammenzuarbeiten.<br />

Die Körpergröße der Arietiden ist unterschiedlich, jedoch ist keiner kleiner als drei Tritt, eine Hand<br />

und keiner größer als ein Sprung. Die Hautfarbe ist von einer vornehmen Blässe, da arietidische Haut<br />

Sonnenstrahlen abblockt. Die Augenfarbe variiert von schwarz über violett und dunkelblau.<br />

Arietiden haben eine Lebenserwartung von ca. 300 Jahren, falls sie vorher nicht getötet werden! Die<br />

Jugend und das Erwachsenenalter zeigen sich jedoch nicht in der äußeren Erscheinung, sondern nur<br />

im Geiste und in der Haarfarbe. Ist der Geist noch unwissend und jung, variiert die Haarfarbe von rot<br />

bis roblond und blond und schwarzbraun. Wenn der Geist an Erfahrung gewonnen hat, durchziehen<br />

graue Strähnen das Haar, bei der entgültigen Reifung ist das Haar schlohweiß.<br />

Doch in Folge des Krieges gibt es kaum mehr noch jemanden, der mit weißen Haaren stirbt. Die<br />

sorglosen Zeiten sind schon lange, lange vorbei, denn die Arietiden führen Krieg mit den Priskanern,<br />

die den südlicheren Teil des Kontinents bewohnen. Die Priskaner sind ein mächtiges Volk, das die<br />

Arietiden bedingungslos unterwerfen will, um so an den kostbarsten Schatz der Heiler und Seher zu<br />

kommen: den Seherstein Lichtmeß.<br />

Er ist eine Art Orakel, der unabhängig von Fragen, Aussagen über die Zukunft macht. In<br />

unregelmäßigen Abständen wählt sich der Stein einen Träger oder Sprecher aus, um durch seinen<br />

Mund zu sprechen. Es ist eine große Ehre, Lichtmeß dienen zu dürfen! Die Arietiden verehren den<br />

Stein, aber es ist keine religiöse Verehrung. Lichtmeß ist Bestandteil des Lebens, so wie die linke und<br />

dir rechte Hand. Arietiden verehren außerdem noch die Natur und sie respektieren das Leben. Aber<br />

die letzte Tugend hat die neue Generation längst vergessen, denn es sind Krieger.<br />

Sie kämpfen gegen die Priskaner. Sie morden und werden ermordet, sie quälen und werden gequält.<br />

Und sie hintergehen- solange sie es mit priskanischem Blut zu tun haben.<br />

Innerhalb ihrer eigenen Art gehen sie unsagbar zärtlich miteinander um, und Bande der Liebe sind so<br />

stark, wie die Verbundenheit zwischen Lichtmeß und dem Träger, so fest wie die Eisen der Priskaner.


Über die Stadt<br />

Über die Priskaner ist wenig bekannt, aber man weiß, daß sie Eisenerz fördern und imstande sind<br />

tödliche Waffen damit herzustellen.<br />

Als der Krieg begann, wurden Waffen von den Priskanern entwendet, und mit ihnen und der<br />

Sehergabe von Lichtmeß und einigen anderen Arietiden konnte man sich behaupten. Im Kampf<br />

„Mann gegen Mann“ waren die Arietiden auch nicht benachteiligt, da Körperbau und Größe bei<br />

beiden Völkern relativ gleich sind. Der Fürst und somit das Oberhaupt von Priska ist der hünenhafte<br />

Agathon, ein Magier mit geringer Macht, mit einer seltsamen Vorliebe für Musik. Er hat einen Sohn,<br />

Kilian, der seinen Vater aufs schärfste kritisiert. Kilian hat ebenfalls die Sehergabe und man munkelt,<br />

daß seine Mutter eine Arietidin ist...<br />

-<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>- Die Stadt der zwei Gesichter-<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> ist durch eine mehrere hundert Meter tiefe Schlucht in zwei Hälften geschnitten, von<br />

denen die Nördliche die Heimat der elitären Bevölkerung ist, während sich im Süden die Armen und<br />

Kleinkriminellen herumtreiben. Die einzige (offizielle) direkte Verbindung zwischen den eigentlich<br />

zwei Städten besteht in einer Brücke über die Spalte, die unter strenger Bewachung steht.<br />

Das Umfeld der Stadt ist steinig und unfruchtbar. Die umliegenden Berge sind von Erzfördertunneln<br />

durchgraben, die zum Teil noch in Betrieb sind.<br />

Regiert wird die Stadt (zumindest der nördliche Teil) von einem Triumvirat. Gemeinsam mit diesem<br />

befehligen drei gewählte Richter, die wiederum 20 Unterrichter ernennen, die Stadtwache.<br />

Die drei Mitglieder des Triumvirats und die Richter werden nach einem Prinzip gewählt, daß bei den<br />

Bewohnern der Nordstadt nur „Geldwahl“ genannt wird: Jeder Wähler muß eine bestimmte, recht<br />

hohe Menge Geld in die Kasse der Stadt zahlen, sonst wird seine Stimme nicht gewertet. Die Wahl<br />

findet einmal im Jahr in der Nacht vom 22. auf den 23. Mittmond statt.<br />

Es gibt die verschiedensten Währungen in der Stadt, die wegen ihrer schlechten landwirtschaftlichen<br />

Lage viel Handel treibt. Die einheimischen Geldmittel, die in den Ostländern weit verbreitet sind,<br />

nennen sich Sonnen. Es gibt Goldsonnen, Bronzesonnen etc., die wie folgt umgerechnet werden: 1<br />

Goldsonne= 10 Silbersonnen= 100 Bronzesonnen= 10.000 Eisensonnen. Für größere Geldsummen<br />

werden Edelsteine oder Gold- bzw. Silberblöcke verwandt.<br />

Maßeinheiten:<br />

1 Pfeilbreite= 1 cm<br />

1 Ring= 3 cm<br />

1 Daumen= 5 cm<br />

1 Hand= 10 cm<br />

1 Pfeillänge= 20 cm<br />

1 Tritt= 50 cm<br />

1 Sprung= 2 m<br />

1 Pfeilweite= 100 m<br />

1 Lauf= 1 Kilometer<br />

1 Tagesmarsch= 20 Kilometer<br />

1 Tagesritt= 100 Kilometer<br />

1 Wochenreise= 1000 Km<br />

Ein Rad=200 kg<br />

Ein Stemm=50 kg<br />

Eine Hebe= 10 kg<br />

Ein Laib= 1,5 kg<br />

Ein Helm= 500 gr<br />

Ein Hut= 10 gr<br />

Eine Spitze= 2 gr<br />

Ein Hauch= 0,5 gr<br />

Ein Faß= 500 Liter<br />

Ein Zuber=200 Liter<br />

Ein Eimer=20 Liter<br />

Ein Krug= 2 Liter<br />

Ein Becher= 200 ml<br />

Ein Spritzer=20 ml<br />

Ein Tropfen= 2 ml<br />

Die Zeitrechnung ist schon etwas konfuser. In Multorien schreibt man zum Zeitpunkt dieser<br />

Sammlung das Jahr 1256 nach Multor (n.M.), dem ersten Kriegsherrn bzw. 16 nach Critschak (n.C.),<br />

dem vorhergehenden Krieger-Imperators. In <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> nennt man das Jahr 167 nach der Gründung<br />

(n.G.), obwohl diese Zahl von jedem namenhaften Historiker angezweifelt wird, der natürlich<br />

gleichzeitig seine eigene anzubieten hat.<br />

Es herrschen die verschiedensten Sprachen in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> vor. Die Heimatsprache nennt sich<br />

<strong>Mantow</strong>in und hat eine Unzahl von verschiedenen Dialekten entwickelt. Dann gibt es Hallaksch, die<br />

Sprache der Hallakine, Rekischar, die Sprache der Freiwilden, Multor, die Sprache der Multorianer.<br />

Seit der Atamane in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> ist, hört man auch I'Yat, die Sprache der Atamanai. Nushq´qai ist<br />

ebenso zu vernehmen wie viele der Ostländer Dialekte.<br />

Das Jahr in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> hat 9 Monate mit folgenden Namen:


Über die Stadt<br />

-Erststrahl<br />

-Verle<br />

-Bri<br />

-Hamilé<br />

-Mittmond<br />

-Oberring<br />

-Talu<br />

-Nirtsch<br />

-Nontariell<br />

Jeder Monat besitzt 44 Tage, eingeteilt in vier Viertel von jeweils 11 Tagen.<br />

Monde:Koatlitek besitzt zwei Monde: Einen weißen, der von einem kleineren Goldenen umkreist<br />

wird. In der jeweils ersten Nacht des Monats erscheint ein kleiner Roter, der seinerseits den Goldenen<br />

umkreist.<br />

Das Klima: <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> hat sehr extreme Sommer und Winter, bedingt durch die Kessellage, in der<br />

sich im Sommer die Hitze reflektiert und sammelt und der Höhenlage, die vor allem im Winter zu<br />

verdammt eisiger Kälte führen kann. Die ersten zwei Monate des Jahres sind kühl, dann steigt die<br />

Temperatur bis zum Mittmond, um in den folgenden drei Monaten wieder abzusinken. Der Tiefpunkt<br />

der Temperaturen sind im Nontariell oder im Erststrahl zu erwarten. Die Niederschläge sind im Bri<br />

und Oberring am höchsten, mit einer meist sehr trockenen Phase im Mittmond. Man hat schon von<br />

Jahren gehört, in denen die Regenfälle im Bri so stark gewesen sein sollen, daß der Boden der Spalte<br />

vollständig von Wasser bedeckt war.<br />

Der Boden: Die Felder um <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> werfen nicht viel ab. Sie müssen meistens bewässert<br />

werden, und selbst dann ist es noch harte Knochenarbeit dem staubigen, felsigen Boden irgendeine<br />

Feldfrucht abzuringen, die diesen Namen verdient.<br />

-In der Stadt-<br />

Die Brücke: Eine breite Straße aus Granit, an deren Seiten einfache Steinwände auf etwa drei Tritt<br />

Höhe aufgerichtet wurden. An einigen Ecken und Enden, vor allem auf der Seite, die der Oberstadt<br />

zugewandt ist, hat man mit der Zeit einige Steinfiguren und z.T. sogar vergoldete Statuen aufstellen<br />

lassen. Fast jeden Monat wird eine zerschlagen, gestohlen, neu aufgestellt oder ausgetauscht. Das<br />

Triumvirat hat damit begonnen Geld zu sammeln, um die Brücke mit einer Bronzeschicht überziehen<br />

zu können. Die Zugänge zur Brücke werden rund um die Uhr von der Stadtwache bewacht. Um über<br />

die Brücke zu kommen, muß man einen Passierschein besitzen, den man nur über einen Leumund in<br />

der Oberstadt und gegen eine hohe Gebühr erhält. Natürlich floriert in der Unterstadt der Handel mit<br />

gefälschten Passierscheinen. Von der Oberstadt in die Unterstadt kann man auch gegen einmalige<br />

Zahlung kommen, umgekehrt jedoch nicht!<br />

Die Brücke ist der einzige offizielle Weg über die Schlucht, aber die einfallsreichen Geister der<br />

Unterstadt haben schon einige andere gefunden. Unter anderem gibt es eine Armenbrücke, die sehr<br />

schmal und gefährlich ist und unter der eigentlichen Brücke verläuft. Hier finden immer wieder<br />

Menschen den Tod. Desweiteren gibt es einige unterirdische Gänge und die Möglichkeit sich an<br />

einem Seil, das aber immer wieder neu gespannt werden muß, in einem Korb zur anderen Seite<br />

ziehen zu lassen.<br />

Die Schlucht ist mehrere hundert Meter tief und am Boden mit dichtem Nebel bedeckt, der an<br />

feuchten Wintertagen oder extrem schwülen Sommertagen sogar bis an den Rand hinaufsteigen kann.<br />

Stadtwache: Es gibt neben der Stadtwache, die aus den Steuergeldern finanziert wird und bei weitem<br />

die größte Vereinigung bewaffneter Männer und Frauen sein dürfte, auch noch einige „private“<br />

Wachen, die von wohlhabenden Händlern angeheuert werden ganz speziell ihre Straße, ihren Block<br />

oder sogar ihr Haus zu bewachen. Neben der zusätzlichen Sicherheit soll diese Maßnahme meist der<br />

Gefahr vorbeugen, daß die „reguläre“ Stadtwache bestochen wird und woanders hinschaut.<br />

Dummerweise sind auch die meisten „Privatsoldaten“ sehr offen für finanzielle Zuwendungen...<br />

Die Uniform der offiziellen Stadtwache besteht aus Kettenhemd, Stahlhelm mit Federbusch in Farbe<br />

je nach Rang, schwere, braune Lederstiefel, blaue Leinenhose und einem blauen Umhang mit<br />

aufgesticktem Stadtwappen in weißem, Silber- oder Goldzwirn (je nach Rang).


Über die Stadt<br />

Das Stadtwappen: Das Wappen <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s wandelt sich praktisch mit jedem neuen Triumvirat,<br />

das gewählt wird... Im Moment ist es ein blauer Kreis auf weißem Grund, der von einem goldenen<br />

Blitz mit drei Zacken zweigeteilt wird. An seinem Ende ist er eingekerbt, seine Spitze ist herzförmig.<br />

Mit der Wahl des neuen Triumvirats, werden es zwei vorgestreckte Hände, die Handflächen nach<br />

oben gerichtet. Die rechte Hand trägt einen Ring, die linke ist schmucklos. Nur der Blitz bleibt und<br />

fährt zwischen den beiden Händen hindurch. Der Blitz steht für die Schlucht, die Hände für Ober- und<br />

Unterstadt und ihre offene Haltung soll Willkommen signalisieren.<br />

Götter<br />

Hesvite<br />

Der Gott der Träume und Visionen lebt, glaubt man den Aussagen der BOTSCHAFT und seiner<br />

Priester, jenseits der Mauer des Bewußtseins in den Traumlanden, seiner Domäne, die nur von den<br />

Träumenden und seinen heiligen Tieren, den nontariellschen Purpurfalken überschritten werden kann.<br />

So wird Hesvite -u.a. in Form von Statuen - oft als Purpurfalke dargestellt, auf Gemälden hingegen als<br />

kleiner Junge mit einem Falken auf der Schulter. Hesvites BOTSCHAFT ist milde und auf eine<br />

bessere Zukunft orientiert, genießt daher u.a. unter den ärmeren Leuten <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s einiges an<br />

Sympathie. Die Priesterschaft ist meist recht pompös gekleidet, aber unbewaffnet, die Missionare<br />

hingegen- geweihte Wanderprediger- bilden mit einer Vielzahl bewaffneter „Laienlektoren“ die<br />

schlagkräftige Schutztruppe der Tempel!<br />

Selefra<br />

Wo Macht und Heimlichkeit sich mischen, wo Meuchelmörder Auf- und Abstieg eines Herrschers<br />

bestimmen, da soll Selefra im Spiel sein, symbolisiert durch die schwarze Wolke mit den glühenden<br />

Augen. Selefras Gläubigen ist jedes Mittel recht, um zu persönlicher Macht zu gelangen -ob<br />

offensichtlich oder im Verborgenen- und so gehören zu ihnen neben Meuchlern und finsteren<br />

Gestalten auch viele Herrschende, angeblich gar Mitglieder des Triumvirats.<br />

Der Brenner<br />

Ein eher unbedeutender Gott der Rekschat. Er erleidet immerwährende Höllenqualen, die für ihn das<br />

Leben sind und er hofft fortwährend auf die Erlösung, auf den Einlaß in das Paradies. Er hat kaum<br />

Priester und wird meist im gleichen Atemzug mit einigen anderen der zahlreichen Götter der Rekschat<br />

erwähnt und verehrt. Man dankt ihm, daß er einem Hoffnung gibt, in Zeiten wo alles aussichtslos<br />

erscheint.<br />

Rautos<br />

Die Menschen in Regthil sind sehr religiös, sie verehren Rautos, den Gott des Meeres und des Lebens,<br />

kennen allerdings auch noch andere Gottheiten, die jedoch keine so große Rolle spielen. Eine<br />

Darstellung Rautos findet nicht statt, aber Möwe und Krähe gelten als seine Begleiter und<br />

Beobachter, so daß diese Vögel hoch geachtet sind.<br />

Es geschieht immer mal wieder, daß an der Küste Regthils Gegenstände angeschwemmt werden,<br />

deren Herkunft den Menschen vollkommen unklar ist. Diese Gegenstände gelten als Zeichen Rautos<br />

und sind somit heilig. Sie werden von der Bevölkerung in die wenigen vorhandenen Tempel gebracht<br />

und dort aufgestellt<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>in<br />

Er hat nichts anderes zu tun als die Stadt zu bewachen, gegen Bedrohung, Feinde und<br />

Naturkatastrophen. Dabei ist er nicht besonders erfolgreich. Die Spenden an ihn werden vom<br />

Triumvirat heimlich zu gleichen Teilen der Staatskasse und ihren privaten Kassen einverleibt. Es gibt<br />

nur einen Priester, und der wird in einer Blitzzeremonie vom Triumvirat ernannt. In <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

spenden fast nur die Reichen, denn es gehört zum guten Ton. Die meisten Armen glauben weder an<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>in, und wenn, dann sehen sie die Steuern als genug Spende<br />

Nofra, Radon, Kasru:<br />

Die Kasraliten verehren drei Gottheiten, Nofra, die Göttin des Kampfes, Radon, den Gott der Künste<br />

und Kasru, die Göttin der Fruchtbarkeit. Mit diesem Dreigestirn ist jeder Lebensbereich der<br />

Kasraliten abgedeckt - und sollte dies nicht so sein, wird einfach der passendste Gott genommen. Im<br />

allgemeinen halten sich die Kasraliten mit der Verehrung dieser Götter sehr zurück , das heißt, daß an


Über die Stadt<br />

ein paar Feiertagen im Jahr kleinere Opfer gebracht werden, eine kleine Zeremonie abgehalten wird<br />

und damit hat es sich auch schon. Scheinbar überwiegt die Philosophie.<br />

Ashkenobistar<br />

Ashkenobistar ist die einzig bekannte Göttin der Panlîl; Sie sorgt neben ihrem Volk für das<br />

Gleichgewicht der Natur und die generelle Harmonie. Sie steht dafür ein, daß alle Geschöpfe der Welt<br />

friedlich miteinander leben können, und unterstützt jegliche Vorhaben, die zum Friedensschluß<br />

zwischen vorher verfeindeten Gruppen führen sollen. Ihre heiligen Farben sind Grün, Gelb und Gold,<br />

und ihr heiliges Symbol ist eine Sonne mit einem (Katzen-)Auge darin. Die Priesterinnen der spielen<br />

in der Gesellschaft eine, wenn nicht DIE Führungsrolle; was die Hohepriesterin spricht, das ist<br />

Gesetz, und kann nur von Ashkenobistar selbst widerrufen werden. Die Priesterinnen gewanden sich<br />

in den heiligen Farben der Göttin und tragen für gewöhnlich keine Waffen. Zu ihren Pflichten gehört<br />

es, sich generell um das Wohl ihres Volkes zu kümmern, die Göttin bei Sonnenaufgang mit einem<br />

Gebet zu begrüßen und mindestens eine Stunde täglich in tiefer Meditation mit ihr zu kommunizieren.<br />

Petek<br />

Gott der Multorier. Er steht für die Boshaftigkeit und die Gnadenlosigkeit. Von den Soldaten der<br />

Multorischen Heere wird er oft angebetet, von den einfachen Leuten gefürchtet und durch Gaben<br />

besänftigt. Er wird oft als Mensch mit Adlerkopf und Adlerklauen dargestellt, der in seinen Händen<br />

die unterschiedlichsten Waffen hält.


Der Andere - Stephan Packard<br />

Der Andere<br />

Stephan Packard<br />

Manchmal, in der Nacht, beschleicht uns plötzlich das Gefühl, jemand stünde im Dunkel neben uns,<br />

jemand - oder etwas - sei in unser Zimmer eingedrungen und betrachte uns nun im Schlaf. Wenn<br />

das geschieht, liegen wir vielleicht eine Weile in der eigenen Halbdämmerung im Bett, teils darauf<br />

wartend, daß uns die Augen zufallen, teils darauf, daß der Andere etwas tut und sich bemerkbar<br />

macht; oder wir richten uns auf, machen mit ein paar ruckartigen Bewegungen Licht und wissen<br />

schon genau, daß wir nichts vorfinden werden, wenn wir nachschauen. Trotzdem machen wir Licht.<br />

Was geschieht, wenn der Andere im Aufblitzen der Lampe nicht verschwindet?<br />

���<br />

Es war eine kleine, unsichere Flamme, und die Kerze zitterte in Manyrs Hand. Er saß, halb<br />

aufgerichtet, in seinem Bett, um ihn der kleine helle Lichtkreis und die tiefere Finsternis dahinter.<br />

Kurz hatte er die dunklen Augen gesehen...<br />

Er schauderte. Seinem Gefühl nach mußten bereits die ersten<br />

frühen Morgenstunden angebrochen sein, wenn die halbherzige Herbstsonne stockend über den<br />

Horizont kriecht und eine erste Warnung vor dem folgenden Tag leuchtet.<br />

Aber er hatte sich geirrt: Es war draußen noch ebenso dunkel wie am Abend zuvor, als er sich, von<br />

langer Schreibtischarbeit aufgezehrt, auf die harte Matratze fallen lassen hatte und schnell in großem,<br />

hohlen Schlaf versunken war.<br />

Er drehte sich um und schlief weiter.<br />

���<br />

Jetzt stand die Kerze, immer noch unruhig in ihrer Halterung vibrierend, auf Manyrs Schreibtisch<br />

und beleuchtete ein zur Hälfte mit fahrigen Schriftzeichen bedecktes Stück Pergament. Manyr<br />

konnte nicht mehr schlafen, obwohl es noch mitten in der Nacht war. Was sollte er also tun?<br />

Es fröstelte ihn ein wenig zu der frühen Stunde, aber er war aufgestanden und hatte sich wieder an<br />

die Arbeit gemacht, wartete auf die ersten Strahlen der Sonne und schrieb seinen Bericht an die<br />

Akademia zu Ende.<br />

Der Text ging nur schleppend voran; er hatte sich noch immer nicht entschieden, ob er seinen<br />

kleinen Ausflug in die Welt der Magie seinen Oberen melden oder besser kein Wort darüber<br />

verlieren sollte. Daß er sich selbst in die Geschichte der Stadt verstrickt hatte, war wenig rühmlich<br />

und verdiente den Schleier des Vergessens durchaus; aber daß sich ein abtrünniger Perger in der<br />

Nähe angesiedelt hatte, der Macht über die Geister des Berges besaß, war beunruhigend.<br />

Er schluckte mehrmals, aber der bittere Geschmack in seinem Mund wollte nicht verschwinden.<br />

Seine Knie waren steif, als er von seinem Stuhl wieder aufstand, um hinüber zu gehen ins andere<br />

Zimmer und einen Schluck von dem abgestandenen Wasser zu nehmen, das er gestern erst mit<br />

einem Ächzen seiner alten Glieder hergeschleppt hatte.<br />

Ein paar kurze Schritte, er stolperte über eine Spalte im<br />

Holzboden. Ein kurzes Trippeln mit den nackten Füßen, dann stand er wieder fest. Der Boden war<br />

rauh an dieser Stelle. Etwas dröhnte in seinem Kopf; er war zu lange aufgeblieben.<br />

Als er den Schatten bemerkte, drehte er sich blitzschnell um, aber die dunkle Ecke neben dem<br />

Bücherregal war im Schein seiner Kerze vollkommen leer.<br />

���<br />

Er saß auf seinem Bett und fror in dem dünnen, faltigen Nachthemd. Sein Rücken war<br />

verspannt, die Arme hingen lang herunter. Sein Blick folgte ihnen starr bis zum Boden herab.<br />

Es war eine Gewissensentscheidung, die er fällen mußte, und entsprechend machte ihm sein<br />

Gewissen Schwierigkeiten. Der Hohe Orden zu Pergemitron... Der Alte Orden zu Pergemitron...<br />

Was waren das für Leute, die im Obersten Rat der Akademia saßen? Alte Greise, die sich mit<br />

langsamen, schleppenden Schritten zwischen ihren Zimmern, den Speisesälen und ihren Büros hin<br />

und her bewegten, langsam, unentschieden. Die unendlichen Reihen der in Jahrhunderten


Der Andere - Stephan Packard<br />

gesammelten Akten! Die vielen jüngeren Schreiber, deren einzige Aufgabe es war, die älteren<br />

Informationen von dem vergilbenden alten Pergament auf frischere Seiten hinüberzuretten.<br />

Vor wievielen Jahren war er zuletzt dort gewesen? Das wußten die Götter. Götter! In Pergemitron<br />

gab es keine Götter; Götter waren nur für die Lebenden da.<br />

Seine Pupillen verfolgten einen kleinen dunklen Schatten, der unruhig wabernd durch die Mitte des<br />

kleinen Lichtkreises wanderte. Bald war er verschwunden.<br />

Die Akademia war alt, und Manyr war es auch. Warum schienen die beiden nicht mehr zueinander zu<br />

passen? Seine guten Freunde in den großen Hallen dort oben, und jene, die gleich ihm über den<br />

ganzen Kontinent verstreut lebten, ohne am Leben teilzunehmen, die einfach nur da waren, da<br />

waren, um zuzusehen, wie die Geschichte rings um sie herum ablief...<br />

Den besten seiner Freunde aber hatte er schon vor vielen Jahren verloren. „Ich kann nicht im Stillen<br />

leben, Manyr.“ Wer konnte das schon? Niemand beschränkte sich gerne auf die unhörbaren Ecken der<br />

Welt, niemand zog sich gerne in die unsichtbaren Nischen der Realität zurück, um nimmermehr<br />

herauszukommen.<br />

Was war das für ein Schatten gewesen inmitten des Lichts?<br />

���<br />

Schnelle, trippelnde Schritte auf der engen Holztreppe. Die untere Tür verriegelt; drei Schlüssel<br />

in ihren Schlössern, quietschten. Türe knarzte. Der Kellerboden war kalt. Manyr ging schnell.<br />

Er war durch das Haus gelaufen mit seiner wackligen Kerze, hatte den Schatten gesucht. Jetzt<br />

ging er noch halbherzig von einer Kellerecke zur anderen, ließ sich schließlich auf den Stuhl vor<br />

dem kleinen Arbeitstisch fallen. Er setzte die Kerze auf die Holzplatte. Kopf in die Hände, Blick auf<br />

den Boden. Was tat er hier?<br />

Er seufzte tief auf; die kalte Luft tat ihm in der Brust weh. Er war von einem Alptraum gehetzt<br />

durch seine kleine Schreibstube gelaufen, hatte sich aufgeführt wie ein kleiner Junge in den<br />

Schlafsälen der Akademia-<br />

���<br />

„Mir ist kalt, Manyr. Dir auch?“<br />

„Ja.“<br />

„Meinst du, da sind Geister?“<br />

„Geister?“<br />

„Wir haben heute von den Geistern der Nacht gelernt. Die sind groß und lang und schrecklich.“<br />

„Die Geister, ja. Ich erinnere mich, ich hatte auch Angst, als wir die gerade durchgenommen hatten.“<br />

„Und jetzt ist es dunkel - da können die kommen.“<br />

„Aber doch nicht in die Akademia.“<br />

„Die großen dunklen Augen können einen Menschen in den Wahnsinn<br />

treiben, hat der alte Meister gesagt.“<br />

„Siehst du hier irgendwelche Geister?“<br />

„Sie zeigen sich den Menschen nie deutlich, hat er gesagt.“<br />

Der ältere Junge nahm die Hand seines Freundes. „Hier gibt es<br />

keine Geister. Ganz sicher nicht.“ sagte er.<br />

���<br />

Der hatte früher Angst gehabt vor den Geistern, und Manyr hatte ihn getröstet. Hatte der Jüngere<br />

damals beschlossen, er würde die Geister eines Tages beherrschen, um nie wieder Angst vor ihnen<br />

haben zu müssen?<br />

Vor ein paar Tagen, in der Mine, war es an Manyr gewesen, vor den Geistern zu zittern, vor den<br />

Wesen des Berges und den Seelen der Nacht.<br />

Und heute?<br />

���


Der Andere - Stephan Packard<br />

Die Feder kratzte über das rauhe Blatt, der Tisch wackelte. Die Buchstaben wurden übergroß und<br />

krakelig.<br />

„- Anfang Talu ereignete sich ein Phänomen durchaus magischer Art,“ schrieb er auf Pirman, „das<br />

von einer jungen Bewohnerin des Rattenlochs ausging und in einer aufgegebenen Erzförderstätte im<br />

Nordwesten des Staates sein vorläufiges Ende fand.<br />

Die junge, weibliche Person war im Besitz einiger nichtnontariellscher Artefakte (vgl. Akte<br />

345997/b6/Lyr/17). Es handelte sich um zwei alte und unscheinbare Ringe, zwei von fünf der von<br />

Isagard in Gesang III17a3-19 beschriebenen Schlüssel zum Öffnen eines Tores in die dunkle<br />

Halbwelt.<br />

Ein Magier dunkler Kunst, der sich später als abtrünniger Perger zeigen sollte, acquirierte eines<br />

der beiden Stücke - und ja, ich weiß ganz genau, daß du hinter mir stehst. Warum kommst du nicht<br />

vor?<br />

Ich weiß, daß du da bist. Ich weiß: Einer der Geister der Nacht steht hinter mir, eine dunkle Seele<br />

wartet auf mich. Wieso bist du hier? Ich habe dich nicht beschworen. Hat dich mein- mein früherer<br />

Freund hergeschickt, feig in seiner Höhle sitzend?<br />

Ich werde - ich weiß nicht, was ich tun werde. Aber daß du da bist, ist mir wohl bewußt. Du wirst<br />

mich nicht erschrecken.<br />

Ich kann sogar den Schatten sehen, der auf das Blatt fällt, weil du dich hinter mir vornüberbeugst,<br />

um zu lesen, was ich schreibe. Zeig’ dich mir doch. Ich werde ohnehin nicht erschrecken.“<br />

Sein Stuhl fiel um, als er ruckartig aufstand und herumwirbelte. Hinter ihm war nichts. Er<br />

keuchte.<br />

���<br />

Viele Kerzen, viele Lichter.<br />

Im ganzen Keller hatte er sie verstreut: Sie standen auf dem<br />

Schreibtisch, den freien Flecken in den Bücherregalen, auf dem Boden. Zwischen dicken Folianten<br />

und dünnwandigen Phiolen, unter Brocken seltener Metalle und großen bauchigen Gläsern bunten<br />

Inhalts.<br />

Der Raum war ein Meer von kleinen, hellen Kreisen, tanzenden Flämmchen, einzelnen Lichtern.<br />

Und eine der Kerzen fiel um.<br />

���<br />

Der Rauch hing noch immer in der Luft, beizte.<br />

Manyr lehnte, schwer atmend, gegen die Tür zur Treppe. Seine<br />

rechte Hand krallte sich noch immer in den Eimer, den er schnell von oben geholt hatte. Ein winzig<br />

kleiner verkohlter Halbrund im hölzernen Boden war das einzige, was von dem vermeintlichen<br />

Großbrand blieb.<br />

Der Schreiber rang um Luft. Er war in heller Panik die Treppe hinaufgerannt, war gestolpert: Sein<br />

Knie blutete, wie eine Schramme vom Spiel kleiner Jungen. Das Wasser geholt, in einem weiten<br />

Bogen durch die Luft geschleudert, es hatte geschwappt und geplatscht, tropfte weiterhin von den<br />

Brettern und Büchern an der gegenüberliegenden Wand.<br />

Eine Kurzschlußreaktion; ein Augenblick Panik. Er mußte sich unter Kontrolle halten. Es war<br />

Nacht; einfach Nacht; wie lange konnte es noch dauern, bis die Sonne aufging? Eine Stunde?<br />

Vielleicht zwei? Er war kein kleiner Junge mehr, die Angst vor den nichtvorhandenen Monstern im<br />

Dunkeln hatte er längst überwunden.<br />

Schritte auf der Treppe: Er schlug die Tür zu.<br />

���<br />

Neben der Tür hing im Keller von Manyrs Haus ein großer Spiegel an der Wand, eine kostbare<br />

Seltenheit in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>: Das Glas war fast völlig glatt und glänzte an einigen Stellen hell wie<br />

Silber. Nur ein geringer Teil der Oberfläche war vollkommen milchigweiß und undurchsichtig.


Der Andere - Stephan Packard<br />

Er schaute sich selbst an: Das schüttere graue Haar, die geröteten Augen. Der unordentliche Bart,<br />

der magere Körper, und in einer Ecke hinter ihm der alte, verschmutzte Zauberstab, den er vor<br />

vielen Jahren einmal immer mit sich getragen hatte.<br />

Aber jetzt war er kein Magier mehr: Er war ein harmloser, schüchterner alter Schreiber geworden.<br />

Die Rolle, die er spielte, hatte ihn und alles, was sein eigenes Selbst einmal ausgemacht haben<br />

mochte, überrannt. Er war ein Perger. Die neue Bedeutung des Wortes: In Selbstauflösung<br />

befindliche Person, die für den Hohen Rat ihre Nachbarn ausspioniert.<br />

Er würde in seinem Bericht kein Wort von den Ereignissen der letzten beiden Viertel schreiben.<br />

Weder würde er erwähnen, daß er selbst ausgezogen war, die Welt zu verändern, noch von Lyrs<br />

Abenteuer berichten. Auch den ehemaligen Perger würde er vor den sonst allsehenden Augen des<br />

Alten Rates verbergen. Die Greise in Pergemitron sollten nichts von dem wahren Leben erfahren, das<br />

hier unten, weit von ihren kalten Berggipfeln entfernt, ablief.<br />

Seine Hände zitterten. Ohne daß er es merkte, waren im ganzen Raum während der letzten Minuten<br />

die Kerzen ausgegangen, eine nach der anderen. Nur in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers,<br />

von ihm mindestens drei Sprünge entfernt, stand noch ein einzelnes verlorenes Licht.<br />

Er blickte in diese Richtung und schloß vor Schreck die Augen. Für einen Moment hatte er wieder in<br />

die tiefen, schwarzen Ellipsen gesehen, die ihn geweckt hatten. Als er sich zwang, von Neuem<br />

hinzuschauen, waren sie verschwunden.<br />

���<br />

Auf dem Schreibtisch lag ein großer Wälzer, aufgeschlagen. Die offene Seite war überschrieben<br />

mit: Die Wesen der Nacht. In minutiösem Detail waren die verschiedenen Arten von Gespenstern,<br />

Geistern, verlorenen Seelen und Nachtalben aufgeführt, wie sie Bruder Wesan vor etwa 350<br />

Jahren systematisiert und sauber geordnet hatte. Der Alte hatte keine Ahnung gehabt von dem<br />

eigentlichen Schrecken der Dunkelheit.<br />

Daneben stand ein seltsames Konstrukt auf der Holzplatte: Ein galgenähnlicher Rahmen, von dem<br />

eine schwarze, glänzende Kugel, etwa so groß wie eine Fingerkuppe, aber vollkommen rund, an<br />

einer Schnur herabbaumelte. Darunter lag ein Blatt Papier, auf dem jemand mit Sorgfalt die<br />

Richtungen des Pendelausschlags zu verschiedenen Zeiten skizziert hatte. Die einzelnen Striche<br />

trafen sich in einem Punkt direkt unter dem jetzigen Standpunkt der Kugel und bildeten<br />

gemeinsam einen unregelmäßigen, seitenlastigen Stern.<br />

In der rechten Ecke des Tisches lag ein Pergament, auf dem in fahriger, gehetzter Handschrift<br />

stand: „Beobachtungen an einem neuen Phänomen, 25. Talu 167 nG. Geistige Gesundheit des<br />

Experimentators nicht sicher gegeben. Ort der Experimente ist ein unterirdisches Laboratorium in<br />

der ostländischen Stadt <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, Unterstadt. Natur des Phänomens: Nacht dauert überlang<br />

fort, Kerzen verlöschen autoaktiv, möglicherweise Anwesenheit dem Codex Wesan unbekannter<br />

Kreatur. Pendikularprobe negativ.<br />

Restriktion auf magisches Abbild der Räumlichkeiten unbefriedigend. Kurvale<br />

Schwankungen im karmotischen Feld konnten nicht beobachtet werden. Kalar-Test negativ.“<br />

Schräg darüber lag eine halb ausgerollte Schriftrolle: „Von der Sichtbarwerdung magischer Auren,<br />

spontan und reaktiv.“ Daneben hatte jemand eine kleine Dose stehen lassen, neben ihr lag ein<br />

Mörser. Im Innern der Dose brannte eine bunte Pulvermischung aus feinzerstoßenen Mineralen und<br />

Pflanzenextrakten langsam, mit grüner Flamme. Unter der Dose lagen einige Bilder des Kellerraums<br />

in grüner Farbe, exakte Abbildungen der Regale und Bücherbretter, wie sie vom Tisch aus zu sehen<br />

waren.<br />

Die unteren Blätter enthielten neben den verschiedenen Behältern, Büchern und Schriftrollen<br />

keine weiteren Objekte. Weiter oben aber lag ein Bild, auf dem in der Mitte ein bläulicher Schatten<br />

zu sehen war; auf einer zweiten Darstellung waren deutlich zwei sehr dunkle blaue Flecken<br />

voneinander getrennt sichtbar, die in der Mitte des Raums zu schweben schienen; daneben eine kurze<br />

handschriftliche Notiz auf Pirman, unleserlich klein geschrieben, mit einem Pfeil, der auf die<br />

blauen Dinger zeigte. Das letzte Exemplar der Aufnahmen schließlich präsentierte in<br />

schrecklicher Klarheit die schwarzen, schräg aufeinander zulaufenden Augen, in Umrissen das<br />

runde, einer umgekehrten Birne ähnelnde Gesicht des Wesens mit der faltenlosen, gelblichen Haut<br />

und den in grausamem Unwillen nach unten verzerrten Mund der Kreatur.


Der Andere - Stephan Packard<br />

���<br />

Er hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest, legte den Kopf zur Seite. Wann immer er aufschaute,<br />

blitzen kurz die dunklen Augen auf, die ihn immerdar zu beobachten schienen, verschwanden dann<br />

wieder für einige Minuten, nur um kurz darauf größer und deutlicher zurückzukehren. Mit<br />

einem Ruck stellte er sich gerade hin, ging mit beinahe sicheren Schritten die Treppe hinauf,<br />

durchquerte den düsteren, aber bekannten Raum, suchte mit den Händen an der Wand tastend<br />

nach der Haustür. Er fand sie, seine Hände glitten hinunter zum Türgriff, drehten ihn.<br />

Die Türe ließ sich nicht öffnen.<br />

���<br />

Jeder Schritt, den er auf der Treppe tat, hallte hinter ihm dumpf nach, als folge ihm jemand in<br />

kaum einem Sprung Entfernung. Die untere Tür vibrierte, als er sie aufzog und schnell<br />

hindurchhuschte. Im unvollständig grün durchleuchteten Dunkel des Kellers meinte er kurz in<br />

Kniehöhe einen Schemen zu sehen, der lautlos an ihm vorbeihuschte.<br />

Schnell sprang er zurück zur Treppe, zog die Tür mit einem Knall zu. Dann drehte er sich langsam<br />

um, blickte nach oben: Die Tür am anderen Ende des Treppenhauses war geöffnet worden, in den<br />

oberen Räumen brannte ein Licht, das er nicht angezündet hatte.<br />

Er blickte rasch zu Boden, bevor sich der schreckliche Andere unter dem Türsturz zeigen konnte.<br />

Ein Rauschen hauchte an seinen Ohren vorbei, aufwärts. Er zuckte zusammen, kauerte sich auf den<br />

Boden. Seine Augen brannten, weil er es nicht mehr wagte, sie zu schließen. Er blinzelte schnell; die<br />

tiefdunklen Augen begleiteten den folgenden Lidaufschlag und verblichen wieder.<br />

Zweimal verfehlte er den Griff, als er die Türe am Fuß der Treppe wiederum öffnete. Hinter<br />

seinem eigenen Rücken griff er nach einem Bord, das seine unsichere Hand beinahe zu Boden<br />

gerissen hätte. Er fingerte nach einer Kerze, fand sie zunächst nicht, fing sie dann, als sie zu rollen<br />

begonnen hatte, gerade noch auf.<br />

Er hob sie in Augenhöhe, flüsterte eine Silbe: Zu leise. Mit rauher Stimme wiederholte er den<br />

Zauber, diesmal entflammte der Dorn. Mit dem winzigen Licht in der Hand drehte er sich zu seinem<br />

Keller: Da war niemand.<br />

Er ging durch die Türe, wieder hinüber zum Spiegel. Sah sich an. Er betrachtete sich lange zeit,<br />

starrte in seine eigenen Pupillen. Was, wenn jetzt hinter ihm jemand auftauchte? Wenn sich der<br />

Andere durch den Raum schlich, sich ihm unbemerkt nähern konnte?<br />

Er wirbelte herum: Da war nichts. Er wollte einatmen, mußte erst schlucken. Um ein Haar hätten<br />

seine Knie nachgegeben.<br />

Plötzlich kam es von hinten: Ein Windstoß, ein Sturm. Die Kerze wurde aus seiner Hand gerissen,<br />

wirbelte weg. Ein Mahlstrom aus Farben wälzte sich im Bruchteil einer Sekunde über ihn weg,<br />

klatschte gegen die Wand. Rot, blau, gelb, grün, braun, weiß glühte es dort, verglimmte.<br />

Er drehte sich langsam um. Der Spiegel. In das Glas gebrannt war nicht eines, sondern<br />

mindestens zehn Gesichter, hell, birnenförmig, mit langen dunklen Augen. Sie drängten sich<br />

gegen die Rückwand der Glasplatte, ein Kopf neben dem anderen, über und unter einander. Das<br />

verzückte Grinsen der Münder starrte ihm entgegen.<br />

Die Anderen sahen zu, wie er zu Boden fiel.


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

Der Anfang<br />

Thomas Peter Goergen<br />

Der Raum war fensterlos, in seinen Ausmaßen ein vier Sprung kantenlanger Quader und ganz aus<br />

glasglattem Stein, schwarz, inwendig grün durchschimmert, als gärten phosphoreszierende Gase in<br />

einem gefrorenen Gewässer. Dieser bleiche Eindruck rührte von den scharf eingeschnittenen,<br />

raumhohen Wandschächten, die durch eine spiegelnde Auskleidung die noch unter der Bodenleiste<br />

liegenden Lichterquellen als Beleuchtung sinnig in den Raum lenkten.<br />

Aus den vier Ecken stieg ein großes Tuch wie ein Zelt pyramidig empor; es war verschiedenfarbig<br />

bestickt, mit mattblauem, silberübersponnenem Grund, weiten braunen, grünen, grauen Feldern,<br />

davon acht, diese wieder besetzt mit blauen Borten und gewundenen, seidigen Streifen und überzogen<br />

mit einer willkürlich anmutenden Zahl und Ordnung glitzernder Edelsteine und Kristalle. Aus der<br />

Zeltspitze sank eine bronzene Kugel, aus der vier mächtige, acht kleinere, eine Vielzahl zarter,<br />

filigraner Zacken wuchsen. Einer der mächtigen Zacken war zudem mit einem schweren, kostbaren<br />

Rubin versehen - und auch, wenn das Zelt, durch aufsteigende Wärme oder Luftzufuhr, in einer<br />

ständigen wallenden Regung war, die zackenstarrende Kugel regte und drehte sich nicht.<br />

Unter dem Zelt stand, auf einer zweistufigen Erhebung, ein halbkreisförmiger Tisch aus dunkelweichem<br />

Holz; die feste Kugel schwebte über eben dem Punkt, wo bei einem Kreise die<br />

anzunehmende Mitte gewesen wäre. Der Tisch war bedeckt mit unterschiedlichsten Dokumenten, aus<br />

Papier, aus Leder, Wachs, bemeißeltem Stein. Umständliche Geräte lagen scheinbar achtlos verstreut<br />

umher. Ein Tintenfäßchen in Gestalt eines Kelches, gehalten von einer bleiernen Hand, war sogar<br />

umgestürzt, und die ausgeflossene Tinte war auf etlichen Pergamenten bereits schwarz geworden.<br />

In dem Halbkreis stand ein Stuhl mit gepolsterter Lehne. In dem Stuhl, seitwärts gegen den Tisch<br />

gesunken, saß reglos ein Mann in scharlachroten Gewändern. Der Kopf lag schlaff auf der Schulter,<br />

als schliefe er, und ein purpurnes Barett war in seinen Schoß geglitten. Die Hände waren in den Falten<br />

der Kleider verschwunden. Der Schlauch einer regenbogenfarbig schillernden Wasserpfeife<br />

schlängelte unter einem Ärmel hervor.<br />

Die Augen des Roten waren geschlossen.<br />

Der graue Riese mit den wulstigen Zügen stand, ohne sich zu bewegen, seit über einer Stunde,<br />

demutsvolle zwei Sprung abseits des Tischs. Er hielt - ohne daß nach der Anstrengung der<br />

regungslosen Wartezeit auch nur ein Muskel gezittert hätte - einen Teller in der angewinkelten<br />

Linken, darauf ein Stück Fisch, etwas Brot und ein abgedeckter Becher.<br />

Endlich regte sich die rote Gestalt - ein Zucken durchlief den Körper, ein unbewußtes Zucken der<br />

Glieder: „...ba...ahh...voc...tec...“ kam es aus dem trockenen Mund, ein Stammeln, das begleitet wurde<br />

von einem heftigen Atmen, einem Prusten, welches kleine Tropfen sprühte; da verkrampfte sich auch<br />

schon der Körper und wurde starr. Der alte Mann verharrte wie unbeteiligt. Jählings entrang sich dem<br />

anderen ein Schrei: „Ah'kaldach!“, der in ein Keuchen überging, und dann fuhr der Sammler hoch, die<br />

Stuhllehnen umklammert, als fürchtete er zu fallen.<br />

Er war schweißüberströhmt und, er gewahrte den Botschafter, fiel stöhnend in den Sessel zurück. „Ba<br />

daba...“ brachte er zuletzt hervor, er wischte sich die Augen, schließlich winkte er erschöpft. Der alte<br />

Mann setzte sich in Bewegung und erklomm die Stufen. Vorsichtig setzte er den Teller ab.<br />

Lanungo beobachtete ihn aus halbgeschlossenen Augen. Im Gesicht des Ortolans war keine innere<br />

Regung zu lesen, teilnahmslos richtete er die kleine Mahlzeit an, ohne einen Gedanken über das eben<br />

Gesehene preiszugeben; der Sammler stellte sich nicht die Frage, ob der Hüne zu einem<br />

diesbezüglichen Gedanken - zu irgendeinem Gedanken überhaupt fähig wäre.<br />

Die Zucht und Aufzucht, die Ausbildung, die geboten war, um sie sicher durch die Länder zu senden,<br />

nur um in der Fremde einen Stuhl in einer Schlangengrube einzunehmen... das alles kann weder ihnen<br />

noch uns erspart werden, dachte Lanungo und gestattete sich ein schwaches Lächeln. Langsam<br />

richtete er sich auf.<br />

Er betrachtete gelangweilt die Speisen, einen schlaffleibigen, silbrigen Fisch, feines Brot und heißes<br />

Wasser, er knurrte etwas vor sich hin, während er geistesabwesend mit seinen Augenbrauen spielte -<br />

sogar für einen Atamanai, fiel ihm eine süße, weitvergangene Werbung wieder ein und ein warmes<br />

Gefühl breitete sich aus, seien seine Cvagari wunderbar lang und seidig, wie der Schweif eines<br />

Nixekaters, und blond wie Strohfeuer...


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

Er seufzte, zupfte noch unentschlossen, zuguterletzt angelte er aus einer Wamstasche eine zierliche<br />

Silberbürste und begann die fast pfeillange Pracht liebevoll, bedächtig zu kämmen.<br />

Etwas später hatte er sich gestärkt.<br />

Er saß allein in seinem Raum und besah sich mit mürrischem Gesichtsausdruck die üppigen Dünste<br />

und Schlieren, die bläulich seiner Wasserpfeife entstiegen. Das Mundstück war der schlanke Kopf<br />

einer bernversteinerten Fatles-Natter. Der Biß einer Fatles bedeutete einen schleichenden, sich über<br />

Wochen hinziehenden Tod.<br />

Fatles. Mittmond war er angekommen in Elece-Mantáu. Mittmond. Mittlerweile hatte der Oberring<br />

mit seinen ewigen Regentagen die Mittmondsonne abgelöst. Und es ging schon auf Talu zu. Draußen<br />

regnete es seit Stunden. Seit Tagen. Der Sammler gähnte. Oberring.<br />

Vor ihm lag ein geschliffener Kristall, etwa münzgroß - er hatte ihn aus dem Baldachin des Zeltes<br />

gelöst, zuvor hatte er dort am Rande des fünften, großen Flecken geprangt, desjenigen, der fast der<br />

mittlere zu nennen war, der mit den Umrissen eines unsauberen Totenschädels.<br />

Nun war der Kristall in einer kupfernen Halterung fixiert, und eine Abblendlampe durchleuchtete ihn,<br />

so daß er auf ein weißes Papier die Schatten der unsagbar feinen Linien und Einsprengsel warf, die<br />

sein Inneres ausmachten - sorgsame, schnurgerade Felderchen, kleine Flächen, dann ein unförmiger<br />

Schlitz wie eine langgestreckte Schnecke, dann, nun ja, ein Wirrwarr vieler kleiner Punkte wie<br />

Sandkörner, zufällig verstreut.<br />

Lanungo summte leise vor sich hin. Seit einem Monat war der Sammler in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, er hatte sich<br />

in dieser Zeit kaum aus der Botschaft in die Stadt begeben. Vielmehr hatte er sich mit Berechnungen<br />

und Abmessung vieler Karten und Projektionen beschäftigt, hatte Bücher gewälzt und lederne Hülsen<br />

voller staubiger, verblichener Pergamente. Und er hatte sich so oft in Vun'basvreí versetzt, daß die<br />

Anspannung inzwischen merklich seine körperliche Gesundheit gefährdete; auch war er so<br />

ausgelaugt, er fühlte sich fast schon außerstande, im Nebel das Bewußtsein von Ah'kaldach zu<br />

beherrschen. Hinzu kamen die notwendigen Drogen.<br />

Aber das wirklich bedenkliche war ja, daß seine ganzen Bemühungen, alle Versuche ergebnislos<br />

geblieben waren.<br />

Dabei war der Ruf so stark gewesen. Fast schmerzlich, je näher er der Stadt gekommen war. Jedoch<br />

kaum daß er sich innerhalb ihrer Mauern befunden hatte, war es verschwunden. Fort. Als hätte man<br />

einen Topf darüber gestülpt. Lanungo war verwirrt gewesen, sicher - indes hatte er mehrere Tage<br />

jeglicher Ruhe entbehrt, er hatte gedacht, die Mühen der Reise hätten seine Empfindung getrübt.<br />

Doch jetzt - er spürte nichts! Was heißt 'spüren' - er war sich nichts bewußt. Die Stadt, die ihn so sehr<br />

gerufen hatte, war nun eigentlich nicht mehr für ihn vorhanden. Sie war weg.<br />

Lanungo war kein Neuling mehr auf den Pfaden der Atamanai. Wenn ihn etwas nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

gezogen hatte, und das über Tage und Wochen hinweg, mußte etwas in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> sein, es sei<br />

denn, es war plötzlich entfernt worden oder er litt bereits unter qalansuw. Letzteres war nun doch<br />

ausgeschlossen - nach gerade 172 Jahren sollte man nicht daran denken, einer Alterserscheinung zu<br />

unterliegen, deren Anfänge frühestens! sich bei Greisen im Jahr der Dracheneiche zeigten. Außerdem<br />

hätte er gemerkt, wenn seine Fähigkeiten derart vermindert worden wären...<br />

Lanungo bedachte sich selbst mit einem recht unfreundlich gefauchten Schmähwort. Denk´ nach,<br />

schalt er sich, kann es nun sein, daß ein Domomai in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> gewesen ist, bei deiner Ankunft<br />

blitzgeschwind - 'entfernt' worden ist? Deinem Zugriff zu entziehen?<br />

Antwort - er krauste die glatte Stirn - mit gewöhnlichen Mitteln, auf gewöhnlichen Wegen nicht! Und<br />

hätte wer die Kunst gebraucht, es wie einen Schatten im Sonnenlicht verschwinden zu lassen, nun, das<br />

wäre Lanungo doch nicht entgangen! Doch nicht Lanungo! Nein.<br />

Andererseits...<br />

Der Sammler erhob sich mit einer derartigen Wucht, daß der Stuhl mit einem schleifenden Geräusch<br />

davonglitt. Und mit wehenden Kleidern eilte Lanungo aus dem Raum.<br />

In der Südstadt hatte der Regen die Straßen in einen kiesigen Lehm aufgeweicht, mit bräunlichen<br />

Pfützen und glänzenden, vereinzelten Pflastersteinen wie verbeultes, buckliges Eisenblech. Überhaupt<br />

schien alles metallisch-bläulich unter den dunklen Wolkenmeeren, die bis in die Berge den Himmel<br />

bedeckten.


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

Der Regen hatte sich soweit abgeschwächt, daß ein Tritt vor die Türe oder aus einem Überdach<br />

hinaus nicht mehr gleich die Kleider bis auf die Haut durchnäßt hätte; ein zögerlicher Schlierenregen,<br />

dünner als die dicken Rinnsale, die von den Dächern und Firsten fielen, wehte durch die Gassen.<br />

Aus dem zweistöckige, geduckte Haus der Herberge, mit den abgebrochenen Speerschäften im Giebel<br />

und den rußigen Wänden, lärmte es gedämpft ins Freie; dann und wann trat einer heraus, fluchte über<br />

das Wasser, das von dem rostig-unbeweglichen Schild mit dem Zweischneiden-Schwerte troff, und<br />

machte sich dann hastig davon. Es war um die vierte Stunde nach Mittag.<br />

Im Schankraum waren die meisten Tische besetzt; einige hatten Schutz vor dem Regen gesucht, die<br />

anderen gehörten halt zum Bodensatz der Gäste - die Söldner, Beutelschneider, Würfelspieler, deren<br />

Leben sich nach dem Pulsschlag der Herberge richtete: hierhin kamen die Unterhändler, um sich die<br />

Männer und Frauen für Gold auszubedingen, dann die Opfer für die Falschspieler, die Betrunkenen<br />

und Tölpel; schließlich konnte man hier - für Geld - die Leute finden, die Neuigkeiten mit sich trugen<br />

oder fähig waren, solche zu verschaffen.<br />

In der einen Ecke scharten sich einige um zwei, drei Männer und eine massige Hallakine, die sich in<br />

verschiedenen Kräftespielen aneinander versuchten. An anderen Tischen wurde gewürfelt, in das<br />

rauhkelige Lärmgemisch klimperten die Münzen. Mehrere standen oder saßen, mit Bechern und<br />

Krügen versorgt, umher, warteten oder waren ins Gespräch vertieft.<br />

Hinter der Theke lehnte der einarmige Elmar, das griesgrämige Gesicht über einen Haufen<br />

Eisensonnen geneigt, schimpfte über die eigene Nachsicht einem - längst verschwundenen - alten<br />

Bekannten gegenüber; hin und wieder knurrte er mit einem rotsträhnigen Weib, der rostigen Magwa,<br />

die ihrerseits als ein bissiger, kleiner Köter zurückkläffte, sofern sie es für nötig hielt.<br />

Die Schanktüre öffnete sich. Der Wirt warf einen unfreundlichen Blick dorthin - doch erstarrte er, und<br />

während sich das Lärmen und Murmeln merklich dämpfte, während Elmar verblüfft, Magwa mit<br />

einem recht törichten Ausdruck in ihren teigigen Zügen Richtung Türe stierte, schritt der Sammler<br />

zügig, nicht hastig auf den Schanktisch zu, der Stab in weitausgreifenden, fließenden Bewegungen vor<br />

sich her, und am Tresen setzte er seinen Beutel ab, faltete die Hände, nickte grüßend und sagte: „Ich<br />

möchte ein Zimmer, ein Zimmer für die Nacht. Ich zahle sofort!“<br />

Der Wirt maß den Roten von oben bis unten, soweit das hinter dem Schanktisch möglich war: „Aam“,<br />

machte er dann und kratze sich geschickt das Kinn, was, beim Sack der Hölle, dachte er, soll das jetzt<br />

wieder. Ein Zimmer? Ein Zimmer? und er zog verdrießlich die Nase hoch. Da war Magwa schon<br />

heran: „Pak, Ataman, pak muroch“, zischte sie, das Kinn herausfordernd gereckt, „Scher Dich weg,<br />

Dieb, Dreck, da weg! Elmar“, fuhr sie auf den Einarmigen los, „Elmar...“<br />

„Pak, Magwa!“ knurrte der Wirt. Rasch warf er einen Blick umher. Die anderen schienen größtenteils<br />

ihre ursprüngliche Beschäftigung wieder aufgenommen zu haben, dennoch fühlte er das Glitzern<br />

zahlreicher Augenwinkel. Einige beobachteten ganz unverhohlen.<br />

Schwangere Verdammnis, dachte Elmar, aber was soll´s: „Ein Zimmer - Sammler“, sagte er dann<br />

langsam und bedächtig, den Roten nicht aus dem Auge lassend, „ein Zimmer kostet Dich - vier<br />

Bronzesonnen. Die Nacht!“, fügte er hinzu und richtete sich auf, als wollte er irgendwelche Arme<br />

über der Brust verschränken.<br />

Der Rote neigte kurz den Kopf, ließ seine Hand in seinen Gewändern verschwinden; als sie<br />

zurückkehrte, ließ sie vier Geldstücke auf die Theke fallen.<br />

Magwa´s Faust schnellte vor und hämmerte die Münzen auf die Platte: „Elmar“, fauchte sie, ihre<br />

wässrigen Augen weit aufgerissen, „das ist ein Powlik, ein Fetak! Ein Samm - ler!“, klopfte sie wild<br />

im Takt, „du kannst...“ „Henker, ich...!“<br />

Doch brach Elmar ab, als Magwa innehielt, mit offenem Maul und Auge in Auge mit dem Fremden -<br />

da sprangen etliche der Umsitzenden auf und heftige Rufe drangen herüber, Magwa blieb aber stumm<br />

und starrte ins Gesicht des Sammlers, und es schüttelte den Wirt, als er den so gänzlich verloren Blick<br />

der Frau gewahrte, dem aller Verstand zu entweichen schien; er gab dem Weib einen Stoß, der sie aus<br />

dem Blick des Roten beförderte und sie gegen die Fässer taumeln machte: „Elmar, Elmar“, kreischte<br />

sie, ihr unschönes Angesicht mahlte deutlich die Angst, „meine Seele, aah, vusla donne prado, er hat<br />

meine Seele getrunken, der Fetak“ und so in einem fort ein Sturzbach an Flüchen, bis der Einarmige<br />

sie andonnerte, sie solle Ruhe geben.<br />

Da verstummte sie, schlug die Schürze vors Gesicht und begann zu schluchzen.<br />

Elmar wirbelte herum. „Jetzt wirst Du mir gut zuhören, Atamane“, sagte er mit deutlich angespannter<br />

Stimme. „Daß Du die Seele dieser Vettel getrunken hast, das glaub´ ich nicht, wahrhaftig nicht, und<br />

wenn, so tätest Du schon Dir die Deine aus dem Leibe kotzen! Aber“, er reckte drohend die Schulter,


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

„es wird - in meinem Haus! - auch nichts gescheh´n, was auch nur so aussieht, als würde eine Seele -<br />

irgendeine Seele 'getrunken', weder von ihm“, er zielte wahllos auf einen verschreckt hochfahrenden<br />

Gast, „noch von mir, und ganz besonders nicht von Dir... Taplo?“<br />

Der Sammler lächelte plötzlich. „Tapla“, sagte er und der Wirt grunzte befriedigt. Verwundert war er<br />

nur, daß der Fremde ihm die Antwort in der Mundart gegeben hatte, die außer den Hiesigen wohl<br />

keiner zu sprechen verstand...<br />

Die Leute entspannten sich wieder, wenn auch nur zögerlich - mit einem Sammler verband jeder von<br />

ihnen, je nachdem, wie stark der Aberglaube verwurzelt war, die eine oder andere märchenhaftunheimliche<br />

Geschichte, und Lanungo begegnete keinem freundlichen Gesicht, als er, nachdem man<br />

ihm eine kleine Kammer zugewiesen hatte, später wieder die Herberge verließ.<br />

Ein schmutziger, kleiner Mann schlich sich aus dem Zweischneidigen Schwert. Den Saum seiner<br />

schmierigen Pellerine gelüftet wie ein Weib seine Röcke, hüpfte er durch die regennassen Gassen.<br />

Der Mann mit den rotgeäderten Mäuseäugen war ein Leichenfleddrer und sein häßlicher Name war<br />

dementsprechend: „Bastvochel-Burek“, nannten ihn alle.<br />

Er war der Hund unter den Tischen der Straßenräuber und Wegemörder. Nie hätte er sich an einen<br />

Vorbeigehenden selbst herangewagt - seine knotigen, steifen Finger, obwohl er so alt noch nicht war,<br />

hätten niemals einen Dolch mit der nötigen Flinkheit führen können, um selbst als Wegelagerer sich<br />

ernähren zu können.<br />

Nein, ihm war es beschieden, auf jene zu achten, die sich aufmachten, eine Kehle nebst dem<br />

zugehörigen Beutel zu schneiden, und dann das tote oder halbtoten Opfer noch um die Reste an Besitz<br />

zu bringen, die seine Vorgänger ihm übrig gelassen hatten - meist eine in der Eile übersehene<br />

Brosche, ein, zwei Münzen, im Gerangel heruntergefallen, oder auch nur ein paar neue Schuhe, eine<br />

Weste, etwas in der Art...<br />

Man konnte satt sein, halbsatt auf diese Weise - er hatte nichts übrig für Rauschkraut oder Schnaps,<br />

für Glücksspiele, Dirnen und ähnliches. Er schlich sich lieber nachts in die Häuser oder vor die<br />

Fenster und lugte atemlos herein: ein Liebespaar, das die so heimlich zerstörte Zweisamkeit<br />

ahnungslos genoß...<br />

Kleinliche Erpressereien hielten ihn in knappen Zeiten über Wasser.<br />

Nun kroch er auf der Fährte dreier Männer, deren Treiben ihn oft schon satt gemacht hatte - drei junge<br />

Kerle, die, eher nebenbei, sich das Geld für Hurenhäuser oder Würfelbecher durch einen schnellen<br />

Überfall verschafften, dabei recht nachlässig mit den Opfern umgingen. Gewissermaßen blieb bei<br />

denen stets recht viel Fleisch am Knochen.<br />

Der rote Fremde, der Sammler, der war ja ein Narr, sich auffällig wie ein Purpurhuhn unter<br />

Schwarzdohlen ins Rattenloch zu wagen, noch dazu, wo um den sicherlich kein Hahn krähen wird.<br />

Hatte Burek nicht ein Ringlein blitzen sehen am schmalen Finger dieses dummen, dummen Fremden?<br />

Atamanengold ist so gut wie jedes andere auch. Der Fleddrer schlürfte seinen Speichel, als er mit<br />

gepreßtem Keuchen um die Ecken huschte.<br />

Er würde bald aufgeschlossen haben, also verlangsamte er. Unruhig trippelte er hin und her.<br />

Kaum daß der Rote die Schenke verlassen hatte, hatte es nur eines vielsagenden Blickwechsels unter<br />

den dreien bedurft, kurze Zeit später waren sie, einer nach dem andren, aufgestanden und<br />

verschwunden - aah, meine jungen Freunde, Burek liebt euch, Burek weiß, was seine jungen Freunde<br />

werden tun: ein, zwei Schleichwege, dem dummen Fremden in den Rücken zu fallen, ein Stich, ein<br />

Schnitt, o ja, Burek liebt euch...<br />

Plötzlich duckte sich Burek, spähte an den Giebeln hinauf in den wettergrauen Himmel, fast schien es<br />

als witterte er; er lauschte. Ein Schrei verhallte in den Gassen - ohne daß einer der wenigen Leute, die<br />

mit leeren, feuchten Gesichtern vereinzelt entlangeilten, das bemerkt zu haben schien. Auch Burek<br />

wurde übersehen, und das war ihm nur recht.<br />

Er fuhr mit seiner blassen Zungen über die langgezogenen Lippen. Genug Zeit war ja inzwischen<br />

verstrichen. Er setzte sich wieder in Bewegung.<br />

Es war etwa in der Höhe von Kralliks Schmiede, das Hämmern und Klirren war weithin vernehmbar.<br />

Burek bog um ein Häuserwand. Und prallte erschrocken zurück.


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

Zwei von ihnen sah er sofort. Der Dritte war noch ein paar Sprung weiter gekrochen und aus einer<br />

abzweigenden Gasse ragten seine Beine wie zwei zerbrochene Stangen hervor. Keiner regte sich. Von<br />

dem Roten keine Spur.<br />

Der Fleddrer drückte sich schweratmend in eine Nische, neben ein schwarzfauliges Regenfaß. Einer<br />

gegen drei... Daß die beiden hier vorne tot waren, daran bestand kein Zweifel, kein Lebender hätte es<br />

in dieser gekrümmten Haltung, noch dazu das Gesicht im Schlammwasser der Straße, lange<br />

ausgehalten. Und noch ungeheuer schnell... Burek war so verwirrt, daß, wiewohl er nicht die erste<br />

Leiche seines Lebens sah, er sich nur mit zitternden Händen nähern konnte.<br />

Der Erste, den er auf den Rücken drehte, ein dunkelhäutiger Mann, war wirklich tot. An der Art, wie<br />

sein Mund voll Blut war und an der eigenartig verdrehten Lage der Gurgel erkannte der Fleddrer die<br />

zerschmetterte Kehle. Er hatte zehn Eisensonnen bei sich, nebst einem alten, mehrfach neu<br />

geschärften Messer.<br />

Der Zweite, ein Rekschat, hatte ein gebrochenes Genick, seine Nase war ein blaurotes, geschwollenes<br />

Bündel. Sein Dolch war neu, ebenso seine Schuhe. Sein Geld hatte er, wie Burek wußte, eben noch<br />

beim Würfeln verloren.<br />

Der Dritte, halb verborgen in einem schmalen Pfad, der letztlich an einer Ziegelwand endete,<br />

wimmerte leise vor sich hin, seine Beine zuckten sachte hin und her. Burek zögerte noch, als er sich<br />

über ihn beugte, zumal der Junge die Hände mit diesem hohen, verschleierten Winseln vor´s Gesicht<br />

preßte. Burek wollte die Hände wegziehen, ein seltsames Mitleid überkam ihm beim Anblick dieses<br />

still weinenden Mannes - plötzlich schrie er auf und riß seine Hände fort, entsetzt, wie sich Blasen,<br />

brennende, kleine Wunden wie von einer unbekannten Glut auf seinen Fingerkuppen schwärten!<br />

Das Gesicht des anderen war rohes Fleisch, die Handinnenflächen desgleichen. Es war klar, daß der<br />

Junge sein Augenlicht verloren hatte.<br />

Burek wich zurück. Sein Kehlkopf raste auf und ab. Rautos Gnade, dachte er, was für ein - Ungeheuer<br />

ist dieser Sammler.<br />

Gehetzt blickte er sich um. Es war nur eine Frage der Zeit, wann jemand hier vorbeikommen würde,<br />

Burek mit den Leichen fände... Das hier ging an Scheußlichkeit über die üblichen Straßenopfer weit<br />

hinaus...<br />

Der Fleddrer verlor keinen Augenblick mehr - mit einer ruhigen Bewegung bohrte er dem Dritten den<br />

Dolch in die Brust, tat, als dessen Leib mit einem schwachen Stöhnen erschlaffte, einen tiefen Griff in<br />

dessen Tasche, und, als er einiger Münzen habhaft wurde, die hart und kalt in seinen Hand lagen, fuhr<br />

er herum; mit einem einzigen Satz seiner krummen Glieder war der Leichenräuber zwischen den<br />

Häusern verschwunden.<br />

Lanungo befand sich derweil längst wieder in der Oberstadt, und zur Zeit beschäftigten ihn andere,<br />

weitaus vertracktere Umstände, als daß er noch einen Gedanken an den lästigen Zwischenfall<br />

verschwendet hätte.<br />

Der Ortswechsel war unerläßlich gewesen. Mehr als bedrückend fand er zuletzt, und seinen Gedanken<br />

abträglich, die versteinerte Ruhe und Umgebung der ersten Tage. Von der Ober- in die Unterstadt<br />

gezogen zu sein, schien ihm eingedenk dessen eine vernünftige Entscheidung.<br />

Da ihm die entsprechenden Mittel zur Verfügung standen, empfand er die Teilung der Stadt nicht als<br />

sonderliche Belastung; zudem schien ihm, als arbeitete sein Gehirn am förderlichsten, wenn der<br />

Körper in Bewegung war, insoweit waren die Wege von hier nach da sogar anregend, beflügelten den<br />

Geist.<br />

Sicher, überlegte er, wäre es klüger gewesen, in den ersten Tagen mehr unter die Leute zu gehen - es<br />

hätte die Stadt eher an ihn gewöhnt, und der Kauf eines Apfels auf dem Markte wäre womöglich dann<br />

weniger ein allgemeines Begaffen geworden...<br />

Als er, am Rande des großen Platzes, das hell verputzte Gebäude mit der schmalen, schlanken<br />

Vordertreppe erreichte, schoben sich bereits Nachfolger des verzogenen Regenwetters über die Berge,<br />

mit schwarzen, kauenden Backen und wetterleuchtenden Runzeln und Falten.<br />

Es war, man mochte das belächeln, das Nebenhaus der atamanischen Botschaft, es überragte diese<br />

schon allein durch das steile Schindeldacht, mit scharfen Spitzen über den ganzen First.<br />

Auf sein Klopfen ließ man ihn ein.<br />

Gegen Abend wurde Torador in das Zimmer des Großmeisters bestellt. Eher verlegen hatte der Heiler<br />

die Papiere betrachtet, die sich, engzeilig beschriftet, vor ihm ausbreiteten. Unschlüssig blätterte er


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

noch hier und da - allerdings wollte der Schreiber des Meisters dadurch nicht verschwinden; er<br />

verharrte vielmehr, in seiner Erwartungshaltung nahezu eine Belästigung, im Türrahmen, mit einem<br />

Blick in seinem schiefen Köpfchen wie ein Vogel, der sich anschickt, Körner zu picken.<br />

Mißmutig stemmte sich Torador in seinem Stuhle hoch, der Meinung, die verschiedensten<br />

Gedankenfäden, die er vor sich soeben ausgesponnen hatte, wie durch einen böswilligen Windstoß<br />

wieder zu verlieren. Fast trotzig kritzelte er noch etwas mit dem Gantenkiel auf ein leeres Pergament<br />

(irgend etwas, den Namen seiner Mutter): „Ja doch“, murrte er, „ja doch“, und er wiederholte sich, bis<br />

er, mit einem widerwilligen Seitenblick auf den Schreiber, an diesem vorbei durch die Türe ging und<br />

über mehrere Stiegen, weißgekalkte Gänge und Hallen, in denen artig nickende Pfleger warteten, erst<br />

ins Vorzimmer, dann in den Würderaum des Großmeisters der Lyzeum gelangte.<br />

Dieser, gerade mit einem Schürhaken in der kalten Asche eines Steinofens stochernd, wandte sich, als<br />

er die Türe hinter Torador ins Schloß fallen hörte, mit liebenswürdigem Lächeln dem Heiler zu. „Ah,<br />

Torador“, rief er mit seiner fast dröhnenden Herzlichkeit, „Meister Broschakal, ich darf doch bitten“,<br />

wies er auf einen freien Stuhl an seinem Tisch - er hat Besuch? dachte Torador überrascht - „das ist<br />

der Herr Buzecchia, ein - Reisender von weit her, ein großzügiger (versteht Ihr, Broschakal?), ein<br />

außerordentlich großzügiger Gönner unseres Hauses, das zu sehen er sich heute hierher bemüht hat!“<br />

Und in die erwartungsvolle Stille erhob sich, begleitet von scharlachrotem Rauschen, der Sammler<br />

und begrüßte den sprachlosen Heiler auf das höflichste.<br />

Eine Weile führte Torador den Besucher durch die Räume und Gänge der Lyzeum, den Blick starr<br />

nach vorne gerichtet, als erwartete er jeden Augenblick genau da vorne eine sich öffnende Tür;<br />

Fragen seines Begleiters beantwortete er aufmerksam, aber kühl.<br />

Der Sammler besah sich alles ausführlich, die dampfenden Moorbäder, die teils doch grausam<br />

anmutenden Gerätschaften der Behandlungszimmer, die medizinische Schriftensammlung und die<br />

Speise- und Ruheräume der Pflegschaft. Er machte den Eindruck, als könnte noch die kleinste<br />

Nebensächlichkeit seine Achtsamkeit nicht erlahmen, und äußerte sogar Lob über die Topfpflanzen<br />

des Vestibüls. Alles in allem fühlte sich Torador erschreckend fehl am Platze.<br />

Doch schließlich, der Heiler hatte sich beim Abschreiten einer längeren Wandzeile von anatomischen<br />

Kupferstichen sogar zu einer fast blumenreichen Schilderung durchgerungen, gewahrte er, als er einen<br />

kurzen Blick rückwärtig warf, wo der Atamane ihm bisher geduldig, ein Tritt Abstand gefolgt war,<br />

daß dieser verschwunden war.<br />

Torador wußte nicht, was zu tun war. Vorsichtig spähte er den Gang hinunter, den sie gekommen<br />

waren, wo er den Roten noch duldsam hinter sich herzugehen vermeint hatte. Nichts.<br />

Zu dieser Tageszeit waren nur wenige Pfleger unterwegs; der Gedanke, daß der 'Herr Buzecchia'<br />

unbeaufsichtigt durch die Lyzeum lief, mißfiel Torador so sehr, daß er, völlig ratlos und verwirrt, ein<br />

wenig verärgert, sich in Bewegung setzte, erst langsam, dann mit immer weitausgreifenderen<br />

Schritten den Flur hinuntereilte - nein, das ist nun seine Sorge nicht, nein, der Fremdenführer ist er<br />

nicht - schwungvoll um die nächste Biegung rannte...<br />

„Hier bin ich doch“, sagte der Sammler.<br />

Er saß auf einer kleinen Bank an einem kleinen Fenster und beobachtete den Regen, der von der<br />

Scheibe perlte, in seine roten Tücher gewickelt, als gedächte er ein Nickerchen zu machen, und das<br />

einzige von ihm, was nicht in scharlachfarbenem Stoff verschwand, war sein blasses, faltenloses<br />

Angesicht mit einem überaus unschuldigen Ausdruck darin.<br />

„Hier bin ich doch“, sagte er also und Torador verlangsamte, doch etwas knapp im Atem und kam bei<br />

seinem Gast zum Stehen.<br />

„Ich fürchte“, sagte er vorwurfsvoll, „Ihr wurdet mit den Obliegenheiten für unsere Besucher nicht<br />

hinreichend vertraut gemacht. Es ist (gestattet mir, daß ich sie Euch kurz zusammenfasse) zunächst<br />

nicht statthaft, alleine - sozusagen ohne Begleitung...“ er unterbrach sich, denn der Atamane gab ein<br />

glucksendes, kullerndes Geräusch von sich, gerade so, als überkäme ihn eine plötzliche Übelkeit.<br />

Indes, der Umstand, daß die Mundwinkel des Roten sich sonnig verbreiterten und zum ersten Male<br />

sich Fältchen in den Augenwinkeln zeigten, bedeutete Torador etwas anderes: sein Gegenüber hatte<br />

begonnen zu lachen. Er saß auf der Bank und wiegte sich in einem leisen, sonnigen Gelächter. Also<br />

was...<br />

„Nun“, Torador war doch leicht beleidigt, „wenn Ihr nicht wollt, daß ich...“<br />

Der andere hielt inne. „O bitte, bitte“, sagte er erstaunlich ernst. „Ich wollte Euch nicht kränken. Es ist<br />

nur so...“, er erhob sich gemächlich zu seiner eindrucksvollen Länge, musterte den kleinen Heiler, den


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

er um mehr als einen Kopf nun überragte, fast wohlwollend, „... Ihr ward so liebenswürdig, mir das<br />

Haus zu zeigen. Ich bin Euch gefolgt durch alle Räumlichkeiten, vom Keller bis zum Dach. Es war<br />

vollendetes - es gibt ein Wort dafür, 'Fadil Sefi', cusa, man kann es nicht gut übersetzen...“ Er lächelte<br />

kurz, als sich die Stirne seines Zuhörers krauste. „Was ich meine - deswegen bin ich nicht<br />

gekommen!“<br />

„Ach“, machte Torador und blinzelte mehrmals.<br />

„Ich will die Kranken sehen“, erklärte der Herr Buzecchia.<br />

„Die Kranken?“ Torador klang etwas schrill.<br />

Der Atamane nickte nur.<br />

Der Heiler fühlte die Enge seines Kragens.<br />

Natürlich wollte der Sammler die Kranken sehen; er hatte auch nicht angenommen, daß der Fremde<br />

bloß auf einen netten Rundgang durch das Irrenhaus gekommen war.<br />

Aber Torador schätzte keine Krankenbesuche von Fremden - zu häufig, schien es ihm, arteten diese<br />

Besuche in einen Gang durch eine Art Kuriositätensammlung aus, so, als böten die furchtbaren<br />

Qualen der Kranken in ihren bizarren Erscheinungsformen einen gewissen Reiz, eine gewisse<br />

besondere Schmackhaftigkeit. Er wehrte sich gewaltig gegen die neugierigen Oberstädter, die mit<br />

ihren Spenden nur einen unterhaltsamen Nachmittag verbringen wollten - wenn die Fallsüchtigen sich<br />

in ihren Riemen wie Tiere aufbäumten, die am Gfassa Leidenden von Heul- oder Lachkrämpfen<br />

geschüttelt wurden.<br />

Wenn diese Zurschaustellung schon abartig war, was dann - und dies ist eine rein wissenschaftliche<br />

Mutmaßung, sagte sich Torador - wenn jemand in Erscheinung tritt, dem der Volksmund schon in sich<br />

so überaus abartiges nachsagt, nun, was dann? Torador seufzte.<br />

„Warum wollt Ihr die Kranken sehen?“ fragte er niedergeschlagen.<br />

Da tat der Sammler einen raschen Schritt auf den Heiler zu, und mit dieser Bewegung entfaltete sich<br />

eine drückende Woge eines honigschweren, zähen Duftes - Torador spürte ein eigenartiges, milchiges<br />

Gefühl, wie seine Muskeln sich entspannten und glätteten, ein leichter, nicht unangenehmer<br />

Schwindel ihn überkam; die Worte des anderen drangen sehr dumpf und melodiös an ihn heran...<br />

„..., der an der 'heiligen Krankheit' leidet?“ fragte er schwach.<br />

Lanungo Buzecchia trat zurück, und die Spuren seines Duftes verflüchtigten sich allmählich. Torador<br />

blinzelte verunsichert, aber der Sammler senkte den Blick.<br />

„Er muß mir helfen“, sagte er schlicht.<br />

Derzeit befand sich in der Lyzeum ein Fall jener Krankheit, die weithin bekannt war als 'die Heilige'.<br />

Deren Opfer litten unter Krämpfen, Zuckungen und Bewußtseinsstörungen in so eindrucksvollem<br />

Maße, daß die abergläubische Bevölkerung darin eine Art göttliche Besessenheit erblickte, dadurch<br />

sich die Götter den Sterblichen mitteilen wollten. Die gellenden Schreie, die unverständlichen Worte,<br />

welche die Kranken während ihrer Anfälle aus weißschaumigen Mündern schleuderten, galten gar als<br />

weissagungsmächtig und wurden von selbsternannten Sehern aufgeschrieben und unters Volk<br />

gebracht.<br />

Einer der Pfleger war noch unlängst dabei ertappt worden, als er bei der Unglücklichen, die derzeit<br />

hier gepflegt wurde, versucht hatte, eine solche 'Heilig-Irren-Fibel' anzufertigen; der Mann war<br />

natürlich unverzüglich aus dem Haus gewiesen worden!<br />

Die Krankheit war bei den Gelehrten hochumstritten - allein ein gutes Dutzend Namen für diese<br />

Erscheinung war im Umlauf, noch wenig gemessen an der Zahl der Heiler, die für sich in Anspruch<br />

nahmen, 'die Heilige' als erste beschrieben zu haben. 'Die Heilige' galt als unheilbar; und auch Torador<br />

stand den Meldungen vereinzelter Erfolge eher mißtrauisch gegenüber - immerhin leugnete er ja nicht<br />

jegliche übernatürlichen Kunst, und einzelne ihrer Jünger mochten vielleicht sogar in der Lage sein,<br />

'die Heilige' zu bezwingen, doch die Schulmedizin stand dem ganzen doch noch machtlos gegenüber<br />

und mußte sich darauf beschränken, das Leiden zu lindern und einzudämmen.<br />

Der Fall der Gerichtsdienersfrau Dorla Weizbrück, erwähnt seit 163 n.G., war insoweit besonders<br />

ansehnlich, da die arme Frau schon früh in die Hände der Lyzeum gegeben worden war, ihr<br />

Hinüberdämmern, aus wissenschaftlicher Sicht musterhaft, zum einen nicht verhindert werden konnte,<br />

zum anderen aber viele Beobachtungen und Schlußfolgerungen gestattete.<br />

Torador Broschakal bedrückte der Fall nichtsdestotrotz schwer; seine Vorsätze, vielleicht keine<br />

Heilung, so doch aber einen greifbaren Fortschritt zu erzielen, waren ungestillt geblieben, und er


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

meinte eine stumme Anklage zu lesen in den Augen des Ehemannes (dieser besuchte seine Frau noch<br />

zwei Mal die Woche) und seiner Söhne, nämlich erwartungsgemäß versagt zu haben.<br />

Seit einer Stunde war der Sammler jetzt bei der Frau - die Pfleger waren fortgeschickt, der Heiler<br />

wartete vor der Zellentür. Hin und wieder gestattete er sich einen Blick durch ein verborgenes<br />

Löchlein im Rahmen der Tür; dann sah er den roten Mann auf einem Hocker und die Kranke, ihrer<br />

Riemen entledigt, der Sammler bisweilen die Hand an ihrer Stirne, ihrer Wange, ihrer Brust, sie, am<br />

ganzen Körper bebend, doch nicht in einem Anfall, sondern wie plötzlich erregt - und dabei war<br />

dieses Paar ein hochernster, fast zärtlicher Anblick, dem jeder Augenschein einer quälenden,<br />

geistlosen Krankheit fehlte.<br />

Torador hatte es aufgeben, sich weiter Notizen zu machen. Anscheinend würde die Sache da drinnen<br />

noch sehr lange gehen.<br />

Lanungo aber war tief in das Bewußtsein der Frau gedrungen, dorthin, wo sich die Krankheit selbst<br />

noch nicht gewagt hatte.<br />

Da war sie auch, die Frau, eine fröhliche, lebenslustige Frau, mit Freude am Tanz und an Geselligkeit,<br />

nun gefangen in einem Gefängnis, das sich für sie immer weiter verengte -<br />

Du hast es gesehen...<br />

Ich sah es, sah es kommen. Du hast den Ruf nicht verstanden...<br />

Erkläre es mir...<br />

Nichts war für Dich bereit. Du mußt es selbst bereiten. Was Du verlangst, ist jetzt nicht möglich...<br />

Nicht möglich... Schmerz.<br />

Was Du verlangst, naht noch aus vielen Richtungen herbei. Die Mutter muß geheilt werden und ganz<br />

gemacht werden auch von Dir. Die Splitter fügen sich zum Ganzen.<br />

Zeige mir sie!<br />

Und es dämmerten Bilder herauf...<br />

Nun muß ich gehen.<br />

O bitte, bleibe noch. Nicht allein, nicht wieder so allein... Sie zittert, wie sie zittert.<br />

Ich muß. Ich kann nicht bleiben.<br />

Schweigen. Dann - Ich weiß, ich weiß es... Du kommst nicht wieder...<br />

Pantuino, Cera val, mögen die Gebete fruchtbar sein.<br />

Lebe wohl, Atamane, Glück mit Dir...<br />

Als Torador just durch die Öffnung spähte, sah er den Sammler die Kranke, fest umfangen, sachte in<br />

seinen Armen wiegen; sie hing vollkommen weich und kraftlos und ohne die Härte ihrer Krämpfe<br />

darin.<br />

Schwach vernahm der Heiler zu seinem allergrößten Erstaunen, daß der Sammler tatsächlich sang:<br />

eine Weise, deren Worte für ihn keinen Sinn ergaben, fremdartig klangen, ebenso die Melodie, deren<br />

klarer, auf- und abschwellender Fluß, ähnlich einem schönen, stimmungsvollen Ort oder einem<br />

ewigvertrauten Gesicht, Erinnerungen wachrief, solche, die einem lieb waren, und, einprägsam, noch<br />

am Leben hielt, lange nachdem der Singende geendet hatte.<br />

Und es dämmerte dem Heiler im gleichen Augenblick, daß genau dies der Rote der Frau noch zuletzt<br />

hatte geben wollen.<br />

Wenig später begleitete der Heiler seinen Gast nach draußen.<br />

In diesen Tagen erhielt die Lyzeum von unbekannter Seite Zuwendungen in noch nie dagewesener<br />

Höhe und Großzügigkeit.<br />

Dem Gerichtsdiener Weizbrück wurde - ebenfalls von unbekannter Seite - ein verhältnismäßig nicht<br />

minder großzügiges Geldgeschenk gemacht, welches dem Hausstand des braven Mannes ein<br />

sorgenfreies Leben für die nächsten Jahre sicherte.<br />

Lanungo begab sich zurück in die Unterstadt. Er hatte von der Kranken erfahren, was zu erfahren<br />

gewesen war.<br />

Das Bewußtsein der Frau war durch das Siechtum in einem anders nie erreichbarem Maße verändert<br />

worden - alles bisher Bewußte war verlustig gegangen durch die Schrumpfung ihrer<br />

Wahrnehmungskraft, aber wie beim Auge, das zusammengekniffen nicht mehr viel, aber eine Sache<br />

umso schärfer zu sehen vermag, war ihr Restbewußtsein geschärft worden.<br />

Nicht umsonst nannten die Sammler diese Krankheit 'Seh Asvril', die Erkennende.


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

In <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> lebte ein Domomai, aber es lebte eher noch als ein Fötus im Mutterleib, noch vage<br />

und im Entstehen begriffen. Wenn er die Kranke richtig verstanden hatte, war es zerstört, zumindest<br />

beschädigt, und die einzelnen „Splitter“ waren im Begriff sich der Stadt zu nähern wie Falter dem<br />

Licht. Der Vergleich gefiel Lanungo, er barg nicht nur das manische Angezogensein, sondern auch<br />

das Selbstzerstörerische - denn der Sammler würde das Domomai holen, sobald es sozusagen das<br />

Licht der Welt erblickte, um in der wahren Sprache Gottes zu ihm zu sprechen, und es dieser Welt<br />

dadurch wieder nehmen!<br />

Dorla Weizbrück war nun verbraucht. Ihre letzte Kraft hatte sie auf ihn verwendet.<br />

Den Rest ihrer Tage würde sie mit den Erinnerungen und Sehnsüchten verbringen, die Lanungo ihr<br />

noch zum Dank zur Seite gestellt hatte - für die Außenwelt war sie vollkommen verloren. Wieder<br />

hatte sich ein Sammler als Dieb erwiesen, dachte Lanungo und der Gedanke schmerzte ihn.<br />

Doch es ließ sich nicht ändern. Die Fähigkeiten eines Sammlers sind begrenzt. Das Vun'basvreí kann<br />

nur nach der Gegenwart spüren; mit dem Wandern zwischen den verschwimmenden Grenzen der<br />

Zukunft und der Gegenwart war das Ritual heillos überfordert gewesen. Und Lanungo hatte noch<br />

Glück gehabt, überhaupt einen Fall von Seh Asvril in der Stadt angetroffen zu haben. Andernfalls<br />

wäre er mit seinem I'Yat am Ende gewesen...<br />

Seine Sorge war jetzt, so viel wie möglich über die einzelnen Elemente dieses seltsamen Domomai in<br />

Erfahrung zu bringen. Das würde sich recht schwierig gestalten in Ansehung der Tatsache, daß jene<br />

womöglich noch Tagesmärsche, noch Tagesritte von hier entfernt sein könnten. Und er mußte hier<br />

bleiben, hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, die Entwicklung zu überwachen und zu fördern - Lanungo<br />

schmunzelte, als er sich in der Rolle einer Alâ Shanza wiederfand. Na dann.<br />

Lanungo betrat die Herberge um die dritte Stunde vor Mitternacht.<br />

Schon als er die Brücke kurz hinter sich gelassen hatte, hatten ihm Grölen, Gelächter, das Scheppern<br />

und Klirren, das lustige Kreischen irgendeines fidelartigen Gerätes verraten, daß nicht nur gute<br />

Stimmung, auch eine schweißtreibende Enge in der Schankstube herrschen mußte - beim Öffnen der<br />

Türe schlug der laute Brodem wie eine schwere, sich bauschende Portiere ins kühle Freie und dem<br />

Sammler ins Gesicht, und er zwängte sich hinein.<br />

Viele Leute waren da, einige ihm schon bekannt, etwa die große Hallakine mit ihren kräftemäßig<br />

unterlegenen Verehrern oder der kleine Mann vom fahrenden Volk, den er bisweilen in den Hügeln<br />

der Bergwerke beobachtet hatte, der so schön die Violine spielte in einer Melodie und Art, die<br />

Lanungo lange nicht mehr vernommen hatte.<br />

Er erntete feindselige, abschätzige, vor allem aber beunruhigte Blicke; als ein Rückwärtstretender den<br />

Roten anrempelte, erstarb sein angesetztes, tiefbassiges Knurren, und der Sammler nahm, durchaus<br />

erheitert, eine hastige Entschuldigung des gut eineinviertel Sprung großen Kasraliten entgegen...<br />

Er hatte, bevor er sich auf in die Südstadt gemacht hatte, den warm-entspannenden, milde stimmenden<br />

Duft, der ihm bei Cer Broschakal noch gute Dienste geleistet hatte, nun vertauscht mit einem kalten,<br />

fast eisigen Aroma, eines, daß jedes Gegenüber schlucken machen würde mit einem frostigen Schauer<br />

im Rücken, sollte Lanungo ihm einen dementsprechenden Blick zuwerfen...<br />

Also wehte er wie ein rotschimmernder Winterwind durch den Raum, daß man beiseite wich und ihm<br />

den Weg zur Theke ohne weiteres gestattete; dort angelangt, winkte er den einarmigen Wirt heran.<br />

Dieser verschob eilig seinen derzeitigen Kunden, nahte sich dafür aber mit aufreizender<br />

Bedächtigkeit.<br />

Auf sein wenig einladendes Brummen hin reichte der Sammler wortlos ein ordentlich gefaltetes<br />

Papierchen herüber, nebst einiger Münzen; der Wirt nickte kurz und das Papier verschwand in den<br />

Taschen des Kittels. Erwartungsvoll, während die Sonnen mit feinem Klingeln in eine Lade unterhalb<br />

der Tresenplatten wanderten, blickte er noch den Sammler an - dieser lächelte freundlich und sagte<br />

nur: „Corwin Dery!“<br />

Drei Tage später fand sich Lanungo gegen Abend im 'Totenkopf' ein.<br />

Die Kaschemme war gut besucht, kein freier Tisch, kaum Platz am Tresen, schließlich gelang es dem<br />

Sammler einen vereinzelten Stuhl ergattern - soll heißen, der Stuhl wurde ihm einem schafsnasigen<br />

Würfelspieler noch hastig zugeschoben, weg vom Tisch, bevor der Rote sich an diesen hätte setzen<br />

können.<br />

Lanungo rückte den Stuhl etwas beiseite an die Wand, ließ sich nieder und seine Hände in die Ärmeln<br />

tauchen. Er rührte sich noch ein Weilchen auf dem ziemlich unbequemen Sitz, dann erstarrte er, mit<br />

teilnahmslosen Gesichtsausdruck, und betrachtete fortan seine Knie.


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

Da er jemanden erwartete, dessen Aussehen ihm persönlich nicht bekannt war, dem er aber, aufgrund<br />

seiner Erscheinung, eigentlich schon beim Eintreten ins Augen springen müßte, gedachte er solange<br />

hier zu sitzen und seine Knie zu betrachten, bis Nämlicher ihn endlich ansprechen würde.<br />

Indes wurde er schon bald gestört.<br />

Corwin betrat den 'Totenkopf' - recht aufgeregt, denn ihm war eine Nachricht zugespielt worden, die<br />

ihm im Verlaufe dieser Nacht eine gehörig ungewöhnliche Bekanntschaft wohl bescheren sollte - da<br />

sah er einen Teil der Gäste sich um ein Thekenende scharen, und das ohrenflüsternde Grinsen, die<br />

gereckten Hälse bedeuteten ihm irgendeine Unterhaltsamkeit, die sich dort abspielen mußte...<br />

Er blickte umher, zu guter letzt, von Neugier und einer Vorahnung getrieben, machte er sich auf zum<br />

Schanktisch, zwängte sich, nach allen Seiten grüßend, vorsichtig nach vorne und wurde so Zeuge<br />

eines wirklich drolligen Schauspiels: Fatmanek Hagelbär, ein Faß von einem Mann, ein Hallakine mit<br />

einem Specknacken wie ein Fleischerschinken, ein so gefürchteter Zecher, daß sie ihn Na Truomok,<br />

das Loch, nannten, bereits mächtig schwankend, ihm gegenüber ein bleicher Mann in<br />

scharlachfarbenem Gewand, die Hände auf dem Tresen gefaltet, gelassen und mit einem heiteren Zug<br />

um die langbuschigen Brauen, dazwischen Harl mit glänzendem Gesicht und einem übel riechenden<br />

Krug, aus dem er wechselweise vor den beiden stehende Tonbecher füllte.<br />

Truomok aber zwinkerte bereits glasig, stierte mit wackelndem Kopf auf den scheinbar niemals sich<br />

leerenden Krug, und ein Gutteil des vollen Mundes verlief regelmäßig über seinem Wams - der<br />

andere versäumte es nicht, vor jedem Zug aus seinem Becher höflich den Umstehenden zuzuprosten<br />

und sich nach getanem Schluck mit einem flammendrotem Tüchlein geziert den Mund zu tupfen: die<br />

Wucht des Schnapses, der Fatmanek derweil zu erliegen drohte, hatte ihm bisher nur die Wangen<br />

leicht gerötet.<br />

Die Gesichter der anderen war Baß erstaunt, jedoch hielten sich Verwunderung und Enttäuschung die<br />

Waage - nur ein, zwei Männer, die ihren Ruf als Buchmacher hatten, strahlten fast enthemmt über den<br />

Verlauf dieses seltsamen Wettstreits.<br />

Der Wirt schaute dagegen geradezu finster, warf dem einen oder anderen, der ihn aufmunternd<br />

anstieß, einen bösen Blick zu: er hatte seinen Aufwand schon erledigt, sich entlohnt gesehen durch<br />

einen völlig besoffenen, fremden Laffen - Fetmanek als glücklicher Gewinner, und er reicher um<br />

einige Sonnen, gegebenenfalls um den rotgoldenen Ring, der, ihm seit einiger Zeit lästig, weil<br />

unversehens in weite Ferne gerückt, an seiner Theke blinkte.<br />

Jedoch Fetmanek bestritt seine Saufgelage so gut wie ausschließlich durch leichtsinnige Fremde oder<br />

sonstige Übermütige, die nach einigen Runden vor ihm besinnungslos zusammengebrachen; er selbst<br />

war sicher außerstande, den jetzigen Schnapsverbrauch zu bezahlen...<br />

Mit einem Ruck zog Harl die Kanne beiseite: „Das reicht!“ grollte er. „Das Loch ist voll!“<br />

Dann gab er dem Fetten einen Stoß, daß dieser in den Knien einknickte, mit dem Kinn auf den<br />

Schanktisch sauste und von dort zu Boden glitt, wo er alle Viere von sich streckte.<br />

Harl wandte sich dem Sammler zu. „Und wer“, knurrte er mißlaunig, „bezahlt?“<br />

Lanungo warf ihm einen überraschten Blick zu. „Cusa val, Cer Harl“, erwiderte er und übersah<br />

geflissentlich das sich weiter vergrimmende Wirtsgesicht, „ich habe doch die Regeln des - Spiels, wie<br />

Ihr selbst das Ereignis noch bezeichnet habt, richtig verstanden..., nicht mich“, er wies mit einer<br />

fröhlichen Gebärde auf den dicken Mann, den seine Kumpane etwas betreten, ja ratlos umstanden,<br />

„sondern ihn müßt Ihr das fragen - ich bedaure.“<br />

Sein Blick fiel auf Corwin. Dieser hob kurz-grüßend die Hand, wandte sich ab und zu einem kleinen<br />

Tisch, der, durch das eben Vorgefallene schaulustig geräumt, noch nicht wieder belegt worden war.<br />

Er hatte kaum Platz genommen, da erschien vor ihm auch schon der rotgekleidete Mann, nickte ihm<br />

zu: „Ihr seid Cer Dery, Corwin Dery...?“ fragte er.<br />

Und Corwin, in geckenhafter Höflichkeit, erhob sich halb, mit einem gewinnenden Lächeln: „Alle<br />

nennen mich Sell, Meister Buzecchia...“, jedoch als er sah, daß der Rote keine Miene verzog, stutzte<br />

er einen Augenblick, „...aber ich bin der, den ihr sucht - Meister Buzecchia...“ Zögerlich senkte er die<br />

Stimme und sank auf den Stuhl zurück. Er schluckte unruhig, der Rote betrachtete ihn immer noch mit<br />

dem gleichen, ausdruckslosen Blick, dem gleichen... ja, dem gleichen... ausdrucklosen... Blick...<br />

Plötzlich schnippte etwas vor ihm, und er schreckte hoch.<br />

Langsam zog der Rote seine Finger zurück.<br />

Die Augen! Die Augen eines Atamanen!


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

„Gut“, sagte der Atamane. „Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Cer Dery...“ Da er<br />

bemerkte, daß sein Gegenüber ihn unverändert fassungslos anstarrte, lächelte er freundlich: „...Sell,<br />

wenn Ihr gestattet.“<br />

„Jaja, selbstredend“, murmelte Corwin, noch ganz benommen; endlich schüttelte er sich, als<br />

verscheuchte er einen unangenehmen Gedanken. „Also, Meister Buzeccia“, fing er an, „Ihr habt mir<br />

geschrieben, daß Ihr Neuigkeiten - Wissenswertes - Auskünfte...“<br />

„Eine Auskunft, so ist es!“ Der Rote machte ein zufriedenes Gesicht.<br />

Corwin atmete tief durch. „Nun“, sagte er mit selbstgefälligem Grinsen, „ich kann von mir behaupten,<br />

gerade auf diesem Gebiet schon lange, o sehr lange, sehr erfolgreich tätig zu sein... Sagt mir, wie ich<br />

Euch dienlich sein kann!“<br />

„Gut gesprochen“, lobte der Rote, beugte sich unversehens vor, daß Corwin das gleiche tat, wenn<br />

auch mit einem gekonnt verschwörerischen Gesichtsausdruck.<br />

Aber der Rote senkte nicht einmal sonderlich die Stimme. „Ich muß genaueres in Erfahrung bringen<br />

zunächst über eine Sache, deren Herkunft, Namen, Besitzer ich nicht kenne...“<br />

„Oh“, machte Corwin unwillkürlich, lächelte sogleich schuldbewußt, den anderen unterbrochen zu<br />

haben.<br />

„Auch unbekannt ist, wo es sich zur Zeit befindet... Ich kann Euch wirklich nicht viel bieten - als<br />

Ausgangspunkt Eurer Nachforschungen“, ergänzte er rasch, als er Corwins Miene sich versteinern<br />

sah, „demgegenüber wird der Lohn für dienliche Arbeit um so großzügiger ausfallen!“<br />

Corwin hob, nebst einer unausgesprochenen Frage, die Brauen...<br />

„Ich biete Euch jetzt zwanzig, bei erfolgreicher Verrichtung weitere zwanzig Goldsonnen!“<br />

Unversehens war ein kleiner Lederbeutel auf dem Tische aufgetaucht, ganz nah bei Corwins linker<br />

Hand. Corwin sagte nichts mehr. Und nahm den Beutel.<br />

„Dann sind wir uns einig“, eine Geste des Roten deutete an, daß der andere entlassen war. Corwin<br />

erhob sich, der Sammler ebenfalls. „Ihr sucht“, und bei diesen Worten fühlte der Nordländer, eine<br />

Hand, die schlangenschnell seinen Arm ergriff und ihn zurückzog, „ihr sucht“, flüsterte der Rote in<br />

sein Ohr, „eine kleine, schwarze, steinerne Kugel! Genügen Euch vier Tage? Ausgezeichnet. Oh, noch<br />

etwas, Sell“, und alle Freundlichkeit war aus der Stimme gewichen - eine kalte, fröstelnde Aura<br />

umgab die beiden jetzt wie der Geruch eines Grabgewölbes... „Ich bin ganz besonders auf eine<br />

gewisse - Zuverlässigkeit angewiesen, ich kann mir nicht leisten, nicht der reinen Wahrheit gemäß<br />

unterrichtet zu werden. Es wird in dieser Hinsicht keine Mißverständnisse geben zwischen uns -<br />

andernfalls bedeutete dies nicht nur das Ende unserer Geschäftsbeziehung. Cusa, aber es ist nötig,<br />

Euch darauf hinzuweisen, Cer Dery!“<br />

Die Hand verschwand wieder.<br />

Als Corwin sich ein letztes Mal umblickte, winkte ihm der Sammler herzlich nach.<br />

Corwin verließ, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, unmittelbar danach den 'Totenkopf'.<br />

Seltsam genug, daß ihn die bedrohliche Stimmung der letzten Worte verfolgte, als haftete es ihm an<br />

wie ein Schweißgeruch - er für seinen Teil, wiewohl nicht abergläubisch, glaubte nun immerhin so<br />

viel von der Gefährlichkeit eines atamanischen Sammlers, daß die ihm aufgegebene Sache keinen<br />

Aufschub duldete. Vier Tage waren solange nicht, aber er hatte zugestimmt, vier Tage...<br />

Zwanzig, nein, vierzig Sonnen, Goldsonnen - schon zwanzig allein, und das war nur die Vorauskasse -<br />

o nein, denk´ gar nicht daran, denk´ gar nicht erst daran, nicht nur das Ende unserer -<br />

Geschäftsbeziehung, was denkt der sich... Hangor könnte durchaus die Erde für den Roten auftun,<br />

durchaus, hörst Du, Hangor, gnadenvoller Gott? Ha? Ach, was soll´s.<br />

Ein kleiner, schwarzer Stein? Du sollst deinen kleinen, schwarzen Stein bekommen, Sammler! Ich<br />

will tot umfallen, wenn ich wüßte, was für ein kleiner, schwarzer Stein. Hölle, kalte Hölle! Aber ich<br />

werd´s wissen. Bald sogar. Schwarzer Stein. Auf dann, Sammler. In vier Tagen.<br />

Sobald sich die Bohlentüre des Wirtshauses hinter Corwin geschlossen hatte, bezahlte der Sammler -<br />

unter der Hand und heimlich, dafür einem um so erfreuteren Harl - den verbrauchten Schnaps und<br />

wandte sich zum Gehen.<br />

Schließlich, dachte er und fand es selbstverständlich, ist es nicht anständig, gleich bei welchem 'Spiel',<br />

geheimzuhalten, daß der Gegner nur verlieren kann - Rauschmittel waren zwar nicht ohne Wirkung<br />

auf Atamanen, wirklich nicht, indes, die Dicke ihres Blutes, die Eigenheiten des Stoffwechsels


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

gestatteten eine zeitliche Verzögerung dergestalt, daß sie ungefähr beherrschen können, wann ein<br />

beliebiges Gift wirksam wird - in einem Zeitraum von ein paar Stunden.<br />

Unter diesen Umständen zog Lanungo es vor, heute Nacht wieder in der Botschaft zu schlafen - die<br />

bald ausbrechende Trunkenheit entbehrte der Würde und vor allem der Sicherheit, die ein Atamane<br />

niemals in der Öffentlichkeit ablegen durfte. Zudem dürfte sein Befinden spätestens morgen der<br />

umsichtigen Pflege des Ortolans bedürfen... der Cer Hagelbär war ein überaus achtenswerter Mann -<br />

auf seinem hochgeistigen Gebiet!<br />

Beim Verlassen stieß er, noch im Türrahmen, auf einen kleinen, narbig-entstellten, häßlichen Mann,<br />

dessen linkes Auge schon bemerkenswert war, nämlich ein großer, dunkler Rubin.<br />

Sie maßen sich, der Assassine und der Atamane, und letzterem verengten sich dabei die Augen, sehr<br />

eigenartig, und nach einem langen Blick über den Körper des anderen, einem langen, nachdenklichen<br />

Blick auf dessen Unterleib, kehrte sich der Sammler ab, mit einem gemurmelten Wort in der alten<br />

Sprache des I'Yat.<br />

Hinter ihm verschwand der kleine Mann in der Schenke und die Pforte rasselte ins Schloß.<br />

Am frühen Morgen des vierten darauf folgenden Tags, des dritten im Talu, trafen sich Corwin Dery<br />

und der Sammler im südlichen Viertel des Rattenlochs, an einer Kreuzung hochaufgeschossener<br />

Gebäude, teils verfallen, und in einem stockigen Nebel verschwommen wie eine dunkle Höhle, aus<br />

der ein unheimliches Ungetier seine feuchten Dämpfe schnob.<br />

Es war doch kühl und Corwin scharrte unwohl mit den Füßen in einer kiesknirschenden Wasserlache,<br />

während der Sammler, regungslos, als rote Fahne in der Dämmerung stand, aufmerksam den Hehler<br />

beobachtete, der die Hände mürrisch unter den Achseln rieb.<br />

„Worauf warten wir?“<br />

„Wir warten auf nichts“, entgegnete Corwin, und klang trotz des flauen Gefühls im Magen<br />

vergleichsweise unwirsch, verdammt, dachte er, worauf habe ich mich da eingelassen.<br />

„Dann warte ich auf Eure Antwort - was habt Ihr in Erfahrung gebracht?“<br />

Corwin warf ihm einen schiefen Blick zu. Er würde es ihm schon verraten, sagte er sich, aber - nicht<br />

alles, nur soviel, daß der Atamane die Spur aufnehmen konnte, und ihn nicht wieder in dieser Sache<br />

belästigen würde!<br />

„Nun?“ Der andere trat einen Schritt heran, und der Nordländer wich leicht zurück: „Meister<br />

Buzecchia, ich...“ Warte, unterbrach er sich, das wäre noch besser, ich sage ihm gar nichts, sondern<br />

bringe ihn nur zu...<br />

Seine Geduld sei erschöpft, stellte in diesem Augenblick der Atamane ruhig fest, und da er überzeugt<br />

sei, daß Dery tatsächlich etwas herausgefunden habe, etwas ihm dienliches, würde er nun Maßnahmen<br />

ergreifen...<br />

„So wartet doch“, zischte Corwin, ergriff den Arm des Roten und zog ihn in eine Gasse zurück; dort<br />

drängte er den anderen in einen Seitenwinkel, ein unmutiger Laut des Atamanen machte ihn zaudern -<br />

doch dann beugte er sich vor: „Hört mir zu“, flüsterte er seinem Geldgeber ins Ohr (dieser seufzte<br />

schwach, was soll der ganze Hugeldubel), „ich habe jemanden ausfindig machen könne, der Euch<br />

anstelle meiner jetzt weiterhelfen kann!“ Er hielt kurz inne, als lauschte er. „Es ist abgesprochen, daß<br />

Ihr ihn heute abend am Haus des Schusters Regi treffen könnt, zwischen der ersten und zweiten<br />

Stunde nach Mitnacht...“<br />

„Verratet mir“, raunte Lanungo und unterdrückte es, das schmierige Gewisper seines Kameraden (wie<br />

aus der Verschwörerballade eines drittklassigen Barden) nachzuäffen, „wo sich diese treffliche<br />

Schusterei befindet, und wer sich mir heute nacht dort wie als wer zu erkennen geben wird?“<br />

„Das „ - kann ich Euch nicht sagen, hatte der Nordländer ziemlich hastig angesetzt, aber sogleich<br />

abgebrochen, es wäre doch zu fadenscheinig gewesen - „ahm, ist - nicht schwer zu finden, ja - nicht<br />

wahr - also, vom, von der Brücke geradeaus, rechter Hand sodann, sodann, dann vorneweg bis zu<br />

dem...“ und so weiter und so fort, stammelte sich Corwin, immer schneller werdend wie ein<br />

Gebirgsbächlein auf immer steiler werdendem Weg ins Tal, bis zum Hause des Schusters durch,<br />

erkennen - ja wie - ja genau, erkennen läßt sich der Mann - ja, ein Mann - er ist zwergwüchsig und<br />

verwachsen, eine Kutte oder einen Kapuzendings, ahäm, Kapuzenmantel, und er ist, er ist... „jemand,<br />

der sich Euch selbst vorstellen wird, sofern er das wünscht“, schloß Corwin gehetzt und duckte sich.<br />

Der Rote beäugte ihn, als wäre der Hehler ein seltsames Tier.<br />

Corwin bebte und schwitzte, konnte sich nicht dazu durchringen, nach dem Messer in seinem Stiefel<br />

zu greifen...


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

„Gut“, sagte da der Sammler, verbeugte sich höflich und hielt dem Hehler mit den Worten „Cadái,<br />

Cer Dery - Sell. Ich danke Euch“ einen klingenden Beutel entgegen.<br />

Dieser zögerte nicht und griff danach, riß ihn dem überrascht blickenden Sammler geradezu aus den<br />

Fingern, dienerte seinerseits und war auf dem Sprung um die nächste Ecke, als...<br />

„Pantuino, Cer Dery, unsere - Geschäftsbeziehung bleibt vorläufig bestehen!“<br />

Corwin zuckte zusammen: „Was?“<br />

Der Sammler schritt nun an ihm vorbei; er war ein paar Tritt gegangen, als er sich noch einmal<br />

umwandte, und diesmal war sein Lächeln voll von beißendem Spott: „Aber sicher, Sell. Atamanische<br />

Geschäftsbeziehungen sind eine Art Ehe - und Ihr wißt doch, wie eine Ehe einzig gottgefällig sich<br />

beenden läßt...“<br />

Er hob die Hand grüßend ans Barett, dann verschwammen seine Schritte im Nebel.<br />

Die Mitnacht war verstrichen.<br />

Vor Lanungo schälte sich das Schieferdach des Schusterhauses als mondbeleuchteter Strich aus dem<br />

schwarzen Hintergrund. Die Nacht war sternenlos, bedeckt, und immer wieder kräuselten sich graue<br />

Schlieren und Fetzen, sehr schnell im Zug nach Norden, vor dem schimmelnden Mond dieser<br />

Jahreszeit.<br />

Das Licht auf den Straßen fiel bisweilen aus morschen Fensterläden oder geräuschvoll aufgeworfenen<br />

Türen, durch die irgendwelche jaulenden Hunde nach draußen getrieben wurden. Das Sirren von<br />

Katzenstimmchen lag, unbestimmbar, über einigen Giebeln.<br />

Der Sammler näherte sich dem Haus, das sein Hehler ihm beschrieben hatte.<br />

Prüfend sog er die Luft ein. Das Haus stand offensichtlich leer, was man ihm von außen nicht ansah -<br />

aber es war unberührt seit einiger Zeit. Spähend umschlich er es.<br />

Corwin Dery - du hast vielleicht einen Fehler gemacht, mir Dinge vorzuenthalten, Dinge, die ich<br />

wissen wollte. Gib´ nur acht, mein guter Sell! Aber Verschweigen verstieß nicht gegen die<br />

Abmachung, und der mitternächtliche Fremde könnte so oder so eine Nachrichtenquelle sein, die ihm<br />

weiteren Ärger mit dem Schlitzohr ersparen kann. Sell. Lanungo schüttelte mit freudlosem Lächeln<br />

den Kopf.<br />

Plötzlich witterte er etwas. Nichts klares, bewußtes, vielmehr war, als hätte ihn der Hauch einer<br />

Ahnung gestreift, eine Wehe, die richtige Fährte gefaßt zu haben...<br />

In den schemenhaften Lichtverhältnissen gewahrte er eine Gestalt.<br />

Der Sammler stand still, in der gräulichen Finsternis eine ausdruckslose, schwarzrote Kontur.<br />

Der andere war fünf Sprung von ihm entfernt - auch er bewegte sich nicht mehr. Zeitweilig schien es,<br />

als höbe er eine Arm, als grüßte er.<br />

Lanungo bestätigte sich eine Übereinstimmung mit der Dery´s Beschreibung: klein, gebückt, in einer<br />

formlosen Kutte, die, ihm überfallend, ihn wie eine größere Glocke aussehen machte. Seine Hände,<br />

sobald die Wolken das Mondlicht freigaben, waren weißliches Fleisch, weich und haarlos wie Flossen<br />

eines Molchs. Auch schimmerte der Stoff der Kleidung in jedem Lichtstrahl blauseidig: ein<br />

Oberstädter, erkannte der Sammler, ein <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>-Oberstädter, gut gestellt und gut verweichlicht -<br />

aber er begab sich um diese Stunde, die alle Spuren gleich welchen Attentats verwischte, ins<br />

Rattenloch, um ihn zu treffen...<br />

Lanungo regte sich und trat kaum merklich auf den anderen zu - „Kommt nicht näher, noch nicht, ich<br />

bitte Euch...“<br />

Was für eine Fistelstimme. Befehlsgewohnt? Aber jetzt furchterfüllt.<br />

„Ich komme nicht näher“, entgegnte der Sammler leise.<br />

Noch auf die Entfernung war ein erleichtertes Aufatmen nicht zu überhören; die seidig-molchige<br />

Gestalt flüsterte einen Dankesgruß. Mit einer knappen Geste bedeutete sie dem Sammler, ihr in eine<br />

Nebengasse zu folgen.<br />

In dieser verbarg sie sich zunächst so gekonnt hinter einem Haufen Geröll aus einer schadhaften<br />

Mauer, daß Lanungo erst durch ein zaghaftes Winken wieder auf sie aufmerksam wurde. Doch, auf<br />

zwei Sprung heran, gebot der andere ihm, stehenzubleiben.<br />

Eine Zeitlang herrschte Schweigen.<br />

Schließlich: „Ihr seid also der Sammler, der die - Träne sucht...?“ Ein rasselndes Keuchen aus einer<br />

kranken Lunge folgte danach und ein krampfhaftes Bemühen, es zu unterdrücken.<br />

Lanungo zog verwundert die Brauen zusammen - „bleibt dort stehen, geht nicht dorthin, wo ich Euch<br />

nicht sehen kann, kommt nicht näher, oder ich...“


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

Er komme nicht näher, sagte der Sammler ruhig, er bleibe, wo er sei.<br />

„Gut!“ Wieder das Keuchen. Der andere schien zu überlegen, es raschelte von feinem Stoff wie<br />

Mäuse in einem Speiseschrank.<br />

Lanungo entschied, nichts zu unternehmen, keine Fragen zu stellen, nicht (was ein leichtes gewesen<br />

wäre) den Mann zu fangen und zu verhören. Wer konnte sagen, wieviel wertvoller der andere für ihn -<br />

freiwillig war.<br />

„Daß ich hier bin“, ließ dieser sich dann vernehmen, „ist vielleicht ein Ausbund an Torheit, daß es<br />

mich vernichten wird, steht zu befürchten...“<br />

Geduldig verharrte Lanungo.<br />

„Wenn ich Euch helfe - bei dem - bei Eurem Vorhaben“, brachte der Mann mühsam hervor, denn aufs<br />

neue lag ein Reizhusten schmerzhaft schwer auf seiner Brust, „müßt Ihr mir helfen...“<br />

Er solle seinen Preis nennen, entgegnete der Sammler.<br />

„Mein Preis, Atamane, ist, daß Du mich von hier fortbringst, fort aus <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, fern von hier...“,<br />

die Stimme verirrt den angsterfüllt umherschweifenden Blick.<br />

Lanungo verzog verwundert das Gesicht. Eine Bitte um Khazanat? Das hatte es so selten gegeben,<br />

daß diese Fälle schon fast poetisch waren - tatsächlich besagte das atamanische Gesetz, das Zuflucht<br />

dem zu gewähren sei, der einem Atamanen auf seinem Weg zum Gleichgewicht der Dinge behilflich<br />

war. Aber dieses Ersuchen war ungeheuerlich! Jetzt fehlte nur noch...<br />

„Beqwia val s'baw se khazanat - dama mederi nui“, flüsterte es.<br />

Lanungo spürte, wie seine Brauen sich sträubten. I'Yat! Die geheime Ebene des I'Yat! Die Sprache der<br />

Kinder des Herrn! Keiner sprach sie, keiner wagte es, sie zu verstehen, außer den Atamanai! Die<br />

rituellen Worte für das khazanat, die einzigen, die je ein Eot-hanubah im Mund geführt hatte<br />

(abgesehen allenfalls von leichten Worten der gewöhnlichen Ebene im Dienste eines alltäglichen<br />

Verkehrs)... Und es waren über sechshundert Jahre vergangen, über sechshundert Jahre, seit das letzte<br />

Mal ein Baldsterblicher sie ausgesprochen hatte - nirgends waren sie verzeichnet, nirgends waren sie<br />

beschrieben: auf natürlichem Wege waren sie nicht zu erlangen...<br />

„Welche Mittel“, und jetzt bewegte sich Lanungo tatsächlich drohend auf den Schutthaufen zu, hinter<br />

dem sich dieses - Ding da verbarg, „welche verbotenen Mittel haben Dich diese Worte gelehrt,<br />

Priester welchen Gottes, Jünger welcher Kunst? Du bist in Gefahr, Kreatur, und sehr sogar, denn...“<br />

Das kleine Geschöpf sprang aus ihrem Versteck hervor, ihre flirrenden Hände wie in entsetzter<br />

Abwehr vor sich gestreckt: „Warte, warte“, wimmerte es und das glatte Tuch glitt ihm vom Kopf, gab<br />

eine weißlich-fischähnliche, dünnsträhnige Fratze frei: „Du willst jetzt alles wissen, nicht wahr, so ist<br />

es doch - warte“, stolperte es beinahe, taumelte rückwärts, während mit dem Sammler ein<br />

scharlachfarbenes Gewitter aufzog, „die Träne, Selefra...“<br />

Da blitzte es auf und erstarb in einem gellenden Schrei.<br />

Lanungo machte einen Satz zurück.<br />

Vor ihm erhob sich, wie sein Spiegelbild in flammend roter Robe, aber umloht von schneeweißem,<br />

kalten Haar, eine hochgewachsene Gestalt, die Finger in das weiche Fleisch des Fischgesichts gekrallt<br />

- jäh eine lodernde Gebärde und der Sammler fühlte einen kräftigen Stoß auf die Brust...<br />

„Suspicio“, bellte die Gestalt enttäuscht.<br />

Lanungo erkannte sein Gegenüber. „Kopfgeldjäger“, sagte er nur.<br />

„Sammler“, entgegnete dieser.<br />

Lanungo beachtete den leichten Schmerz nicht, wohl Folge einer Prellung, der auf seiner Brust<br />

pulsierte - jeden anderen hätte dieser Treffer übelst versehrt einige Sprung weit geschleudert - er<br />

mußte schnell handeln.<br />

Allerdings, bevor er auf den Menschenfänger losgehen konnte, warnte ihn ein sich rasch von hinten<br />

näherndes Scharren; mit einem Satz brachte er sich in sichere Entfernung, fuhr zornesbebend herum -<br />

zwei schlanke Männer, mit tastenden Bewegungen wie Schlangentänzer, bewegten sich zügig auf ihn<br />

zu und in ihren Fäusten blitzte es gefährlich.<br />

Lanungo zögerte nicht, sein linkes Bein schoß mit blendender Schnelligkeit vor; das trockene Bersten<br />

des Brustbeins ging in dem klatschenden Geräusch unter, mit dem der eine gegen die nächste Mauer<br />

geschleudert wurde und wie eine verrenkte Puppe tot zu Boden fiel.<br />

Der zweite zuckte nach vorne, als ein Schlag ihm die Schulterbänder seines Schwertarms zerriß - er<br />

ging auch sofort stöhnend in die Knie, und sah noch, daß der Rote sich schon abgewandt hatte... Nach<br />

seinem Schwert grapschen, mit taubem Gefühl in den Gliedern und aufkeimender Übelkeit sich


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

aufrappeln, da hörte er noch eine unsagbar kalte Stimme, die sprach: „Ein guter Rat für Euch, dreht<br />

Euch um - und lauft!“<br />

Er ließ sein Schwert fahren, machte stolpernd, dem Erbrechen nahe, kehrt, und rannte davon.<br />

Lanungo blickte ihm nicht nach - der Kopfgeldjäger war verschwunden. Aber er hörte das Gurgeln<br />

und Umsichschlagen eines Menschen, den ein anderer mittels überstarker Gewalt mit sich zu<br />

schleppen versucht...<br />

Bald hatte er sie eingeholt.<br />

Zielstrebig schleifte der Rotrobenträger den Blauseidigen, dessen Regungen allmählich erstarben, als<br />

ob er ertränke, auf eine Kreuzung mehrerer Straßen zu.<br />

Lanungo griff eine zierliche Klinge aus seinem Ärmel heraus, faßte den schmalen, roten Rücken ins<br />

scharfe Auge und warf - ein erstickter Aufschlag, als hätte er ein Federkissen getroffen; mit einem<br />

Aufschrei griff der Kopfgeldjäger nach den Schulterblättern, fiel mit seinem Opfer vornüber durch die<br />

Grenze, welche die flankierenden Häuserecken an der Kreuzung zeichneten...<br />

Da tat es ein schrilles, rasend dumpfes Dröhnen, als saugte ein riesiger Hohlraum in sich alle<br />

umgebende Luft, dann blitzte der Raum zwischen den Hausecken auf - und als das Gleißen in einem<br />

Flimmern verebbte, noch bläuliche Funken von den Firsten sprühte, war von dem Robenmann - und<br />

seinem Gefangenen - nichts mehr zu sehen.<br />

Die Niederlage erzeugte in Lanungo einen Brechreiz.<br />

Wie betäubt nahte er sich dem schwehlenden Rahmen - da war der Kreis, ausgebrannt, das<br />

Pergamentpapier, das vor Nachtfeuchte schützen sollte, zu grauem Flaum zerfallen...<br />

Sie könnten überall sein.<br />

Der Atamane, unendlich müde, schlug seinen Mantel um sich, drehte auf dem Absatz um und eilte<br />

fort.<br />

In dem schwefligen Gewölbe sahen sich die beiden Männer an, und über ihre seidigen Mäntel zuckte<br />

das Funkeln der umherstehenden Kostbarkeiten wie Elmsfeuer; ein verschlagener Zug lag auf den<br />

Gesichter. Schließlich sagte er der eine: „Eine unschöne Verwicklung!“<br />

„Verrat, Verrat...“, murmelte der andere, ein älterer Mann mit einem in glänzenden Bänder<br />

geflochtenem Kinnbart. Seine Hand strich über den juwelenbesetzten Kopf eines großen,<br />

damaszierten Dolches. „Dieser feige Auswurf einer Schweinemetze! Das wird noch einige in der<br />

Versammlung das Herz kosten!“ „Gaya“, nickte der andere.<br />

Eine kleine Weile des Schweigens, dann wandte der Jüngere sein staubblasses Antlitz mit einem<br />

Seufzen dem mächtigen, goldbeschlagenen Standbilde zu, das aus seiner spitzbogigen,<br />

hieroglyphierten Höhle heraus das ganze rückwärtige Gewölbe beherrschte. Der Anblick ließ ihn<br />

innehalten, er schien zu überlegen; endlich, eine müde Geste, winkte er dem Älteren, ohne sich<br />

umzuwenden. Dieser zögerte noch: „Euer Abden...“<br />

„Geh´ jetzt, Bruder!“ entgegnete der andere scharf. „Ich muß alleine sein!“<br />

Der Ältere wollte wohl irgendetwas erwidern, dann aber verbeugte er sich und verließ den Raum. Das<br />

Gatter fiel mit kaltem Klirren ins Schloß, und der Luftzug des Davoneilenden zog die Fackeln für<br />

einen Moment davon, bis durch die Gänge der verhaltene Donner einer letzten sich schließenden<br />

Pforte klang.<br />

Der Blasse stand allein in dem großen Gewölbe. Er legte den Kopf schief, als horchte er<br />

geschlossenen Auges, ein Zeitlang spielten seine Fingerspitzen gegeneinander. Dann, in die Stille<br />

hinein, fragte er: „Was haltet Ihr davon?“<br />

„Was wollt Ihr hören?“ war die Antwort. Der Blasse blinzelte in die Richtung des Verstecks.<br />

„Ah, ich verstehe“, kam es nach einer Weile. „Nein, ich fürchte, nein!“<br />

„Und was ratet Ihr mir?“<br />

„Euer engster Vertrauter ist eine alte Ziege mit milchlosen Eutern. Sie muß weg!“ Danach habe er<br />

nicht gefragt, erwiderte der Blasse ungehalten.<br />

„Was dann?“ Der Verborgene klang erstaunt. „Ihr könnt Euch selbst denken, daß jetzt beim ihm alle<br />

Vermutung zur Gewißheit sich gereift haben! Diesen Esel Rebur loszuschicken...“<br />

„Spart Euch das Gezänk! Was wird er als nächstes tun??“<br />

„Weitere Erkundigungen einziehen, was sonst. Ihr habt noch solange einen Vorsprung, bis die Träne<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> erreicht, dann wird sie dem sehenden Auge des erkennenden Traums nackend<br />

ausgesetzt sein! Es bleibt beim alten - eben was ich Euch gesagt habe. Nur, daß er jetzt vorgewarnt<br />

ist...“


Der Anfang - Peter Thomas Goergen<br />

„Dann weiß ich, was zu tun ist!“ Jäh und herrisch wandte sich der Blasse ab und schritt zum Gittertor.<br />

Dort verlangsamte er, als fiele ihm etwas ein. „Noch etwas!“ sagte er und seine Stimme schwang<br />

bedrohlich. „Hütet Euch mir gegenüber vor Eurem unverschämt vertraulichen Ton! Denn bei dem, auf<br />

dessen Geheiß Ihr Leib und Leben verwirkt, ist er ganz und gänzlich verfehlt! Und niemals wieder -<br />

niemals wieder bedenkt meine Untergebenen mit Eurem dreisten Spott! Habt Ihr das verstanden??“<br />

Einen kurzen Moment war es, als hielten selbst die Fackeln den knisternden Atem an, so kalt-gespannt<br />

war es geworden. Doch dann vernahm der Blasse, leise und gepreßt: „Ich bitte um Verzeihung, Euer<br />

Abden. Es wird niemals wieder geschehen, Erleuchteter - cusa val!“<br />

Ein freudloses Lächeln umspielte die echsenschmalen Lippen des Abden.<br />

Mit einem Ruck trat er durch das Gatter und eilte durch den Gang davon.<br />

Der Botschafter wartete vergebens mit dem Nachtmahl, daß sein Meister ihm die Türe des Gemaches<br />

öffnete.<br />

Diese und die folgende Nacht verbrachte der Sammler nämlich allein und in bösen Gedanken, im<br />

Lichte einer fahlgrünen Lampe, in einem Thronstuhl am Rande des großen Schachts. Und immer<br />

wieder sandte er Henkersschlingen, wundervolle Ringe aus silbrigem Rauch, aus seiner prächtigen<br />

Wasserpfeife, in die warmaufsteigende Luft des Schachts.<br />

Wer hatte ihm dies angetan? Und gab die Order? Wer stellte sich in den Weg des dinglichen<br />

Gleichgewichts?<br />

O wie hatte er versagt...<br />

Nun gut, es ist wie es ist: du hast nicht nur keine Freunde, du hast sogar Feinde, wieder einmal,<br />

urplötzlich und erbittert.<br />

Doch ihr entkommt mir nicht!<br />

Das <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>- Domomai darf nicht verloren gehen. Er hatte noch nicht verloren.<br />

Sein Denken war klar und unbeirrt. Sein Zorn hatte dem nur eine neue Fassung verliehen. Seine<br />

Fährte war noch frisch, die Fäden nur verwirrt und nicht zerrissen.<br />

Er würde sehr schnell aufs neue in Erscheinung treten.<br />

Sehr bald...<br />

Mit diesen und ähnlichen Gedanken verhüllte sich Lanungo am Rande des Schachts, aus dem nun<br />

eigentümliche Töne drangen, hoch und klagend, aber von unverhüllter Kraft - wie eines riesigen<br />

gefangenen Tieres - wie sie noch nie ein Eot-hanubah jemals vernommen hat.


Bergpredigt - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Bergpredigt<br />

<strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Es war aber zu der Zeit des fünfundzwanzigsten Tages des siebten Monats des einhundertsiebenundsechzigsten<br />

Jahres nach der Gründung der Stadt der zwei Gesichter, daß der Bergmeister<br />

über sein Reich schaute und ER sah, es war gut. ER war der Berg und ER war das Wasser in dem<br />

Berg und ER war das Wasser an dem Berg und ER war das Feuer in dem Berg und ER war das Getier<br />

in dem Berg und ER war die Erde in dem Berg und ER war das Gestrüpp an dem Berg und ER war<br />

die Kraft.<br />

Und ER schaute sein Land erneut und es ward nacht. Und es ward der nächste Tag, doch es blieb<br />

Nacht. Und ER sah, daß es Nacht blieb und hob sich und schritt in die Schlucht. Die Nacht war Leben<br />

und Tod, war Dunkel und Verderben. Und ER ging dahin, die Quelle zu suchen, die da der Grund<br />

war, für das Dunkel über das Dunkel hinaus, die Nacht des Tages. Und ER fand sie, gebettet in ein<br />

Schloß aus Stein am Grunde der Schlucht und ER trat ein und schaute sie und sprach: „Wir sind von<br />

gleichem Wesen. Wir sind die Erde und wir sind von der Erde.“<br />

Und sie sprach: „Wir sind gleich, und doch sind wir verschieden wie der Tag scheidet die Nacht!“<br />

Und ihr Leib war Flamme und ihr Geist war Flamme und sie drohte den Wesen der gespaltenen<br />

Stadt. Doch da hob ER an und Donner war seine Stimme, Beben sein Laut und Feuer war seine<br />

Zunge. Und siehe, ER sprach: „Was da Nacht ist über die Dunkelheit, soll scheiden von der geteilten<br />

Stadt.“<br />

Und siehe, es ward wie ER gesprochen. Es ward wie vier Tage und ward doch nichts und da fuhr die<br />

Seele der Nacht dahin und die Dunkelheit blieb. Und ER sah und ER wußte, es war gut, denn war das<br />

Böse geflohen, so blieb das Dunkel den Menschen zur Demut. Und ER kehrte sich und ward zum Berg<br />

und in ihm war Feuer doch ist ER Güte.<br />

- Die Sage wie der Bergmeister das rote Fräulein besiegte, geschrieben in den Rollen der tausend<br />

Geschichten zu Multor, heute in tausend Jahren.<br />

Der Bergmeister beobachtete die Stadt nun seit einigen Tagen. Irgend etwas drohte sich zu ereignen.<br />

Diejenigen in der Stadt, die sensibler waren als die anderen, waren aufgeregt. Ob sie wohl auch das<br />

Kribbeln der Verheißung -oder besser der Vorahnung- spürten?<br />

Der Bergmeister kratzte sich den menschlichen Leib, den zu tragen er gewählt hatte. Nein, wenn sein<br />

Besuch der Stadt kein Aufsehen erregen wollte, mußte er anders denken. Er würde dieser Leib -nein-<br />

dieser Mensch sein. Trotzdem juckte ihn etwas, tief unten am Rücken, wo man mit der Hand nicht<br />

hinkam. Seltsames Gefühl dieses Jucken... Er rieb seinen Rücken an der Wand der kleinen Höhle,<br />

durch die er an die Außenseite des Berges gelangen würde.<br />

Er spürte, wie irgend etwas die Kraft der Erde veränderte. Es fehlte nichts, es war nicht so, wie es<br />

immer war, wenn die Menschen ein Stück aus dem Berg nahmen. Die Kraft war noch da, aber...<br />

Anders. Es war als schmecke man Wasser, und bemerke einen feinen Beigeschmack von Ton. Nicht<br />

genug um das Wasser zu färben, aber genug um dem Wasser diesen feinsandigen, mahlenden<br />

Geschmack zu geben. Der Bergmeister lächelte. Es war schon seltsam, in was für Bildern man zu<br />

denken begann, wenn man ein Mensch war.<br />

Er wandte sich der unter ihm liegenden Stadt zu, die im Dunkel der Nacht, von der scharfgezackten<br />

Spalte zertrennt wie ein Baum vom Blitz, träumend dalag, unschuldig wie ein Hase und doch grausam<br />

wie ein Wolf. Wie lange war diese Spalte nun schon da. Der Bergmeister dachte kurz nach und zuckte<br />

mit den Schultern. Eine weitere Eigenschaft der Menschen, die er langsam ergründete: Sorglosigkeit.<br />

Die Menschen waren so leichtlebige Wesen. Sie dachten in putzigen Wegen. Wenn sich ein Mensch<br />

fragte: „Wie lange ist die Spalte da?“, dann sagte alles in ihm: „Das ist egal, sie war da, bevor Du da<br />

warst, und sie wird da sein, nachdem Du da warst. Paß nur auf, daß Du nicht hineinfällst und alles ist<br />

gut!“.<br />

Was könnte er dabei ergründen, wenn er sich die Zeit der Spalte vor Augen führte... Wie deutlich<br />

sprach das Gestein von vergangenen Tagen, in denen die Erde hier noch wild und ungezähmt war, wo<br />

Wesen und Geschöpfe durch diese Gipfel zogen, die nur lachen würden, sähen sie die Stadt vor sich,<br />

teils aus Unwissen, teils aus Verachtung.<br />

Der Bergmeister hatte die ersten Häuser erreicht. Er betrat die Stadt von dieser Seite aus, weil man für<br />

die andere etwas brauchte, das die Menschen einen Passierschein nannten. Also würde er sich einen<br />

besorgen, sie wurden hier überall gegen Gold und Diamanten getauscht. Der Bergmeister bückte sich,


Bergpredigt - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

nahm eine Hand voll Steine auf und drückte. Er holt tief Luft und blies seinen heißen Atem in seine<br />

geschlossenen Hände. Als er sie wieder öffnete, lagen ein Haufen kleiner, durchscheinender<br />

Diamanten auf der alten, braunen Haut seines jetzigen Körpers. Er lächelte zufrieden und machte sich<br />

auf um sich ein weiteres Mal von den Eigenheiten der Menschen amüsieren und verblüffen zu lassen.<br />

Corwin blickte auf und schüttelte gleich noch einmal den Kopf. Oh man, einer seiner Weine mußte<br />

schlecht gewesen sein. Die ganze Straße drohte in sich zusammenzubrechen, wenn sie sich weiter so<br />

drehte. Was war es noch gleich gewesen, was er machen wollte? Naja, egal, erstmal würde er sich<br />

hinsetzen, ja das war eine gute Idee!<br />

Der Bergmeister blickte schmunzelnd zu der schlaksigen Gestalt des Corwin Dery, auch Sell oder<br />

Bucha genannt hinüber. Er war betrunken. Das war etwas, daß er auch bald versuchen mußte. Sich<br />

betrinken, bis die Sinne schwinden... Wie das wohl wäre. Aber jetzt erst mal etwas anderes: „Hier<br />

Corwin, ich gebe Euch ein paar Diamanten, dafür nehme ich mit aus Eurer Innentasche einen der<br />

falschen Passierscheine!“<br />

Corwin blickte erstaunt auf: „Woher wußtscht Du dasch mit´n Scheinen, Alterschen?“<br />

Der Bergmeister lächelte noch ein wenig breiter. Natürlich, für den guten Sell mußte das ja wie ihre<br />

erste Begegnung wirken, diesen Leib hatte er ja noch nie gesehen...<br />

„Wir hatten schon miteinander zu tun!“, nickte er beruhigend.<br />

„Oh, ham wir dasch?“ die Stimme des jungen Mannes war schwer vom Alkohol und trotzdem konnte<br />

der Bergmeister ein starkes Mißtrauen heraushören.<br />

Corwin rülpste noch einmal leise, dann sank sein Kopf auf seine Brust. Er holte tief Luft, setzte zu<br />

einem lauten Schnarchen an... und war verschwunden!<br />

Der Bergmeister blinzelte überrascht und blickte sich um. Sofort bemerkte er, daß etwas nicht<br />

stimmte. Er sollte das warme Kribbeln spüren, daß den Aufgang der Sonne ankündigte. Statt dessen<br />

war ihm kalt, seine Haut wurde rauh und seine Härchen richteten sich auf. Da war etwas... lebendiges<br />

in der Luft. Die Dunkelheit war nicht länger nur die Abwesenheit von Licht. Lange, dunkle Fasern<br />

schienen sich in der Schwärze zu bewegen, zuckend wie Würmer, immer ganz knapp außerhalb der<br />

Sicht des Beobachters, aber trotzdem unverkennbar da und wartend, daß sich ein Leichtfertiger in ihre<br />

Nähe begab. Ein fauler Wind schien aufgekommen zu sein und trieb einen Geruch wie von<br />

Verwesung und Tod in die Nase des erstaunten Bergmeisters. Er hatte keine Angst, so konnte man das<br />

nicht nennen. Er war eher- Bestätigung. Was gerade passierte deckte sich genau mit dem was er<br />

unbewußt erwartet hatte. Diese Nacht war nicht wie die anderen und eine innere Sicherheit überfiel<br />

ihn: Sie würde niemals enden.<br />

Der Bergmeister horchte in sich hinein. Die Stimme der Kraft hatte ihren Ton verändert. Sie sang nun<br />

laut und angestrengt, als würde sie alles geben müssen und gleichzeitig wurde sie nicht verbraucht,<br />

nur... geändert.<br />

Es gab nur ein Wesen, daß dazu in der Lage war. Der Bergmeister schob sein Kinn nach vorne, neigte<br />

den Oberkörper nach vorne und stapfte zielstrebig auf die Spalte zu. Entschlossenheit- auch so ein<br />

Gefühl, daß sehr viel Spaß machte.<br />

Der Boden der Spalte war wie immer mit Nebel bedeckt. Es schien, als wollte sich der Boden der<br />

Spalte, beschämt über den Unrat und die Leichen, die sich im Laufe der Zeit hier angesammelt hatten,<br />

in ein reines Laken aus weißem Nebel kleiden. Es wurde Zeit, daß ein ordentlicher Regenguß die<br />

Abfälle und Abwässer aus der Spalte herausschwemmte.<br />

Der Bergmeister lief am Rand der Spalte entlang und fand wenig später, was er gesucht hatte: Eine<br />

dichte Nebelwand, durch die man nur ungefähr ein Gebäude erkennen konnte, wenn man mußte, auf<br />

was man zu achten hatte. Unter dieser dichten Wolke befand sich ein Schloß von erlesener Schönheit,<br />

so wie seine Bewohnerin und ebenso ungesehen wie sie für die meisten Menschen unerreichbar<br />

verborgen. Und das war gut so, denn die Herrin des Schlosses war ebenso falsch wie anmutig.<br />

Der Bergmeister verharrte nur kurz, um den Kopf ein wenig schief zu legen und auf die Geräusche der<br />

Nacht zu lauschen. Doch es waren nicht die Nachtvögel, die Ratten und die Fledermäuse, die er hörte.<br />

Es war ein seltsamer Singsang ohne Wort, aber von unheimlicher Melodie. Der Bergmeister schüttelte<br />

sich. Ob Marianette wußte, was sie da gerufen hatte?<br />

Der lange Saal hatte sich verändert, seit der Bergmeister das letzte Mal hier gewesen war. Wie lang<br />

war das jetzt nur schon her? Wenn er doch nur endlich so etwas wie Zeit erfahren könnte. Natürlich<br />

war alles eine Folge von Dingen, aber wie legte man dafür Einheiten fest? Mal brauchte doch ein


Bergpredigt - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Stein sehr lange, dann wieder schien er fast sofort am Grund der Höhle angekommen zu sein, je<br />

nachdem, ob man darauf achtete oder nicht. Wie können diese Menschen da behaupten, beides wäre<br />

die gleiche ´Zeitspanne´? Aber das war ein Problem, daß später seine Aufmerksamkeit verlangen<br />

würde. Wieviel später nur?<br />

„Bergmeister! Wie lange ist es her!“, die Stimme erscholl direkt hinter ihm. Betont langsam drehte er<br />

sich um und lächelte das rote Fräulein an. Wie immer war sie atemberaubend schön. Zwar war sie<br />

noch kleiner als er in seiner momentanen Gestalt und von fast eiskristallfeiner Gestalt, aber ihre<br />

Augen, von einem bleichen Gelb, strahlten die Macht aus, die er bei ihr gewohnt war. Ihr schwarzes<br />

Haar war mit Silbernadeln hochgesteckt, verziert mit den roten Steinen, die er ihr beim letzten Besuch<br />

geschenkt hatte. Ihr Kleid leuchtete in dem tiefsten Rot, daß der Bergmeister jemals gesehen hatte und<br />

betonte so die fast leichenfahle Blässe ihres unmenschlich schönen Gesichtes.<br />

„Ich weiß es nicht, Marianette, ich habe die Zeit noch immer nicht begriffen!“, antwortete der<br />

Bergmeister ernsthaft.<br />

Das rote Fräulein lachte leise auf und es klang wie silberne Glocken, die von einer milden Brise im<br />

Wind geschüttelt wurden: „Das war eine dieser Fragen, auf die man keine Antwort erwartet,<br />

Bergmeister. Du hast dich wenig verändert, seit dem letzten Mal.“<br />

Der Bergmeister nickte und erklärte mit einer wegwerfenden Geste diesen Teil des Gespräches für<br />

beendet.<br />

„Was hast Du vor, Marianette?“, fragte er dann und blickte ihr tief in die Augen. Nur wenig<br />

verborgen konnte er hinter den gelben Kreisen ihrer Iris das Feuer flackern sehen, daß Feuer, mit dem<br />

sie den Frosthexer verbrannte und mit dem sie wohl auch ihn in ein Häufchen Kohle verwandeln<br />

konnte, wenn sie es lange genug versuchte.<br />

Sie schaute überrascht, doch dann zeichnete sich Verständnis in ihre bezaubernden Züge: „Ich dachte<br />

mir, daß Du kommen würdest, aber schon so rasch?! Ich hatte gehofft etwas mehr Zeit zu haben.“<br />

Der Bergmeister schaute ihr weiter in die Augen, auch wenn es ihm schwerfiel ihrem Blick<br />

standzuhalten. Einige Augenblicke standen sie schweigend dort, dann wurde sich der Bergmeister<br />

bewußt, daß das ganze zu einem Kräftmessen zu werden drohte, und senkte den Blick. Die Dame in<br />

Rot schnipste mit dem Finger und wie von Geisterhand schob sich ein prunkvoller Stuhl aus dem<br />

hinteren Teil des Raumes hervor und verharrte vor dem Bergmeister. Er nahm Platz und schaute<br />

erwartungsvoll zu Marianette auf. Sie blickte kurz zur Seite, nachdenklich, dann wandte sie ihren<br />

Blick wieder ihm zu und begann mit sanfter, aber vor versteckter Aufregung leicht bebender Stimme<br />

zu berichten: „Es ist mir gelungen die Nacht über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> hereinzurufen. Aber wie Du bemerkt<br />

haben wirst, ist dies nicht nur einfach Dunkelheit, es ist die Essenz der Nacht, ein Teil des ewigen<br />

Seins, eine Facette der Wesenheiten an sich.“<br />

Sie machte ein bedeutsame Pause und wartete auf die Reaktion des Bergmeisters. Er blickte in ihr<br />

erwartungsvolles Gesicht und sah die bittere Enttäuschung aufblitzen, als er sagte: „Aha! Aber diese<br />

Nacht ist nicht gut für die Menschen. Sie verschwinden, und die, die nicht verschwinden, haben<br />

Angst. Und außerdem ist irgendwas mit dem Verstreichen der Augenblicke nicht in Ordnung, sie...<br />

verstreichen nicht mehr...“<br />

Er hob die Hände in einer hilflosen Geste nach oben und zuckte mit den Schultern. Es stand ihm alles<br />

vor Augen, aber er konnte es nicht in Sprache fassen. „Also mußt Du diese Nacht wieder dahin<br />

schicken, wo sie herkam.“<br />

Marianettes Züge blieben sanft, aber ihre Augen glimmten auf: „Was interessieren mich die<br />

Menschen? Ich habe die Möglichkeit in das zu schauen, was die Welt im Innersten zusammenhält und<br />

Du sagst mir, daß ich diese Gelegenheit fallen lassen soll, damit es diesen Wichten in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

wieder besser geht?“<br />

Sie wandte sich ruckartig um und drehte dem Bergmeister den Rücken zu. Er erhob sich und legte ihr<br />

unbeholfen die Hände auf die Schultern. „Ich weiß nicht, warum, aber das scheint sehr wichtig für<br />

Dich zu sein. Trotzdem kannst Du die Menschen nicht in dieser Nacht ohne Zeit verharren lassen...<br />

Du mußt sie erlösen, Marianette. Mit der Macht kommt auch die Pflicht!“<br />

Das rote Fräulein wirbelte herum: „Oh Bergmeister, verschone mich mit deinen Weisheiten. Wir<br />

besprechen das seit Jahrhunderten und noch immer sind unsere Meinungen unvereinbar! Aber wenn<br />

es Dich beruhigt, ich werde versuchen die Nacht zu einem einzelnen Wesen zu verdichten. Wenn mir<br />

dies gelingt, wird die Zeit wieder fließen und die verschwundenen Leute werden zurückkehren.“<br />

Der Bergmeister nickte: „Aber sei vorsichtig Marianette, die Wesen, mit denen Du spielst, können<br />

schrecklich sein!“


Bergpredigt - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Dann wandte er sich um und schritt auf die große Holztüre zu, die sich ohne das geringste Geräusch<br />

vor ihm öffnete. Als er schon fast hindurchgeschritten war, schaute er noch einmal zurück und sah<br />

Marianette vor sich stehen, den kleinen Kopf leicht schräg gehalten, ein Bild der Schönheit und<br />

Unschuld. „Ich freue mich, daß wir nicht kämpfen müssen, Marianette Flambertin, denn ich möchte<br />

nicht sterben.“<br />

Als sich die Tür hinter ihm schloß, hörte er noch ganz leise ihre Stimme, ob sie wollte, daß er es<br />

hörte, wußte er nicht: „Und ich könnte Dich nicht töten, Bergmeister.“<br />

Der Bergmeister trat in die Schlucht hinaus. Noch immer lag tiefe Dunkelheit über der Stadt und<br />

seltsame Geräusche tönten verzerrt von den Wänden der Schlucht wieder. Der Nebel schien nicht<br />

länger nur schwebendes Wasser zu sein, sondern fester und irgendwie -lebendig.<br />

Er schritt auf eine schmale Felsspalte zu und in sie hinein, wobei sein menschlicher Körper<br />

verschwand. Die nächste Zeit würde schwer für die Menschen werden. Aber sie würden leben-<br />

zumindest die meisten von ihnen. Die klebrige Dunkelheit der falschen Nacht wurde durch die kühle<br />

Abwesenheit von Licht im Inneren des Berges abgelöst. Und der Bergmeister wartete. Wie lange er<br />

wartete, wußte er nicht... Das würde er wohl nie lernen...


Diamantenring - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Diamantenring<br />

Vanessa Niederkinkhaus<br />

Es war dunkel in den Straßen des Rattenlochs und nur selten sah man vereinzelte vermummte<br />

Gestalten durch die Gassen schleichen. Die meisten Bürger der Unterstadt hatten sich in die Kneipen<br />

und Herbergen zurückgezogen, oder sich zur Nachtruhe begeben. Langsam löste sich ein Schatten von<br />

einer Häuserwand und schlich sich, jede Deckung nutzend, die Straße hinunter zu einer alten,<br />

heruntergekommenen Hütte. Drinnen brannte noch Licht. Der junge Besitzer erhob nur kurz sein<br />

Gesicht, um zu sehen wer angekommen war und sah unter einer dunklen, schwarzen Kapuze zwei<br />

pechschwarze Augen, die ihn herausfordernd ansahen. „Und“, fragte der Mann nur beiläufig, doch<br />

die ihm gegenüberstehende Gestalt erkannte die Erregung und nur schwer unterdrückte Neugier in<br />

seiner Stimme.<br />

„Alles glatt gelaufen, doch noch einmal sollte ich mich nicht mehr bei diesem Fettwanst blicken<br />

lassen, denn er wird sich morgen noch genau an mich erinnern können. Weiß der Teufel warum der<br />

keinen Wein trinkt“, entgegnete die schwarze Person mit heller Stimme, „Auf jeden Fall hab ich jetzt<br />

den Klunker, doch ich weiß noch immer nicht warum der Südländer ihn unbedingt haben will.“ Bei<br />

diesen Worten holte sie einen kleinen Diamantenring heraus, der bestimmt seine tausend Sonnen Wert<br />

war, doch bis auf den Diamanten, sah der Ring aus wie jeder andere auch.<br />

���<br />

Einige Zeit zuvor:<br />

In einem der Häuser der Oberstadt, wo der Kaufmann Lomjes wohnte, wurde die Verlobung seines<br />

Sohnes gefeiert. Doch nicht seine schöne, junge Braut erregte die Aufmerksamkeit der Gäste, sondern<br />

ein anderes Mädchen. Sie trug einen langen blauen Rock, etwas zerknittert doch sonst ganz passabel<br />

und eine schwarze Bluse mit einer dunkelroten Weste darüber, die nur wenig ihren nicht gerade als<br />

klein zu bezeichnenden Vorbau verhüllten. Eine lange feuerrote Mähne reichte ihr bis zu den Hüften<br />

und ließ ihr weißes Gesicht gespenstisch aber nicht abschreckend erscheinen. Doch was die meisten<br />

Männer, und sogar ein paar Frauen, am meisten anzog, waren ihre großen, schwarzen Augen. Nur mit<br />

viel Mühe konnte man seinen Blick von ihnen lösen. Trotz der unglaublichen Schönheit der jungen<br />

Frau, sah man ihr sogleich an, daß sie nicht einer der reichsten und vornehmsten Familien der<br />

Oberstadt entstammen konnte. Dafür war ihre Kleidung viel zu abgetragen und fadenscheinig.<br />

Doch das Mädchen achtete nicht auf die gierigen Blicke der reichen Männer, sondern beschäftigte<br />

sich nur mit dem Witwer Lomjes, der aber statt der Trauer um seine erst kürzlich verstorbene Frau,<br />

nur die Freude empfand, die ihm diese Feier bereitete, nicht nur hervorgerufen durch die baldige<br />

Hochzeit seines Sohnes. Er amüsierte sich hervorragend mit der jungen Frau, die völlig unerwartet auf<br />

seinem Fest erschienen war, ohne daß irgendwer sie kannte. Sie war aber nicht weggeschickt worden,<br />

da der Hausherr sofort Gefallen an ihr gefunden hatte. Das Mädchen hatte sich als Shalyn Omegas<br />

ausgegeben und flirtete gehörig mit Lomjes. „Wünscht der Herr noch etwas zu trinken, oder zu<br />

essen?“, fragte sie immer wieder mit einem süßen Lächeln auf den Lippen, „Habt ihr irgendeinen<br />

anderen Wunsch, bei dem ich euch behilflich sein kann?“ Nachdem sie ihm das ein oder andere<br />

bereitwillig gebracht hatte, versuchte er schließlich Shalyn in seine Arme zu schließen, doch so<br />

schnell konnte man sie nicht gewinnen. Sie befreite sich mit sanfter Gewalt, drückte ihm einen<br />

flüchtigen Kuß auf die Wangen und war schon wieder verschwunden, um dem Hausherren ein Glas<br />

Wein zu holen, das dieser jedoch nicht anrührte, da er aus geschäftlichen Gründen sich abgewöhnt<br />

hatte Wein zu trinken, doch dieses konnte die junge Frau natürlich nicht wissen. Sie setzte sich auf<br />

seinen Schoß und zwinkerte ihn schelmisch zu. Was der Hausherr nicht merkte war, daß ihre kleinen<br />

Hände nie ruhig auf einer Stelle verharrten, sondern unentwegt durch die Gegend schwirrten, meist in<br />

den Taschen des Kaufmann, um ihn um ein- zwei Sonnen zu erleichtern. Der Hauptmerk des<br />

Mädchens galt jedoch dem kleinen Diamantenring, der den rechten Ringfinger des Hausherren<br />

schmückte. Nachdem sie ihm nach unzähligen versuchen wieder einmal versucht hatte, ihm ein Glas<br />

Wein anzubieten, das er wieder einmal bedauernd aber bestimmt ablehnte, ergriff sie kurz<br />

entschlossen seine beiden Händen und während sie ihn mit ihrem wundervollsten Blick beglückte,<br />

streiften ihre geschickten Hände den Ring von seinen dicken Fingern. Von ihr angespornt versuchte<br />

Lomjes nun endlich zur Sache zu kommen, indem er Shalyn unbemerkt von seinen Gästen<br />

aufforderte, doch in sein Nebenzimmer mitzukommen. Die junge Frau wußte nun das es soweit war


Diamantenring - Vanessa Niederkinkhaus<br />

zu verschwinden. „Ich bedauere sehr mein Herr, doch ich muß nun unbedingt gehen, schließlich ist es<br />

schon spät und ich habe noch einen weiten Weg vor mir.“ Der Kaufmann versuchte sie umzustimmen,<br />

doch sie ließ nicht locker und als er kurzweilig von einem anderen Gast aufgehalten wurde,<br />

verschwand sie unbemerkt durch die Tür.<br />

Auf der dunklen Straße angekommen holte die junge Frau ihren Mantel aus einem Versteck heraus,<br />

kramte eine schwarze Lederhose aus einer seiner Taschen und wechselte diese gegen ihren Rock aus.<br />

Nachdem sie sich umgekleidet hatte machte sich Kimber Loor auf den Heimweg. Verdammter Mist,<br />

jetzt muß ich mich auch noch vor diesem aufgedunsenen Dummkopf in Acht nehmen, denn er wird<br />

sich bestimmt an die „Schönheit“ vom vergangenen Abend erinnern können. Wahrscheinlich wird er<br />

diese verdammte Stadtwache auf mich hetzen, na ja so schnell findet keiner eine Kimber Loor...<br />

Langsam ging sie auf die Brücke zu, zeigte einen ihrer Passierscheine und machte sich nun schnell auf<br />

den Weg zu ihrem derzeitigen Domizil.<br />

���<br />

Kimber zog die Tür hinter sich zu, legte ihren Mantel ab und setzte sich in einen Sessel gegenüber<br />

von Mek Liones.<br />

„Jetzt erzähl’ schon“, drängte er sie, nachdem er das Buch zugeschlagen hatte, in dem er gelesen<br />

hatte, „du bist ja richtig lang weggeblieben.“ Kimber erzählte ihm in kurzen Worten was passiert war,<br />

dann holte sie den Ring heraus und betrachtete ihn ersteinmal.<br />

„Komisch schon, der bringt zwar ´ne Menge Geld ein, doch man hätte einen ähnlichen auch viel<br />

leichter irgendwo anders besorgen könne“ sagte Mek, nachdem er ihn eingehend betrachtet hatte.<br />

Der Ring war aus Gold gefertigt und ein kleiner aber lupenreiner Diamant war an ihm befestigt. Fast<br />

beiläufig betrachtete er den Innenrand des Ringes und dabei sah er, daß kleine Schriftzeichen dort<br />

eingraviert worden waren. Leider waren ihm die Zeichen völlig unbekannt und auch Kimber wußte<br />

nichts mit ihm anzufangen.<br />

„Übrigens, Kareç hat nach dir gefragt“, erzählte Mek Kimber beim schlichten Abendessen der<br />

Beiden, daß sie sich einmal ausnahmsweise zu Hause gönnten, „Er will dich so schnell wie möglich<br />

treffen, möglichst schon heute oder morgen Nacht im Totenkopf.“<br />

„Geht klar, schließlich muß ich auch noch den Südländer aufsuchen.“ Nach ein paar Minuten<br />

beendeten die beiden ihr kleines Mahl. Kimber zog ihren Mantel an und Mek, der auch noch etwas zu<br />

erledigen hatte, seine kurze Lederjacke. Beide verließen sie gleichzeitig das Haus. Nach einem<br />

flüchtigen Abschiedskuß ging die eine Richtung Totenkopf der Andere entfernte sich in<br />

entgegengesetzter Richtung.<br />

���<br />

Es hatte zu Regnen angefangen und ihr Mantel war völlig durchnäßt, als Kimber im Totenkopf eintrat.<br />

Es herrschte ein diffuses Licht und nur wenige bemerkten das Eintreten der schwarzen Gestalt.<br />

Kimber setzte sich in eine stille, dunkle Ecke und versuchte unter den Menschenmassen den<br />

Fahrenden zu entdecken. Doch schon bald brach sie ihre Suche ab, da sie ein paar Gesprächsfetzen<br />

aufgefangen hatte, die von zwei Männern ganz in ihrer Nähe stammten. Die Beiden schienen sie nicht<br />

bemerkt zu haben, da sie zwar leise, aber nicht zu leise für Kimbers geübte Ohren miteinander<br />

Sprachen. Doch durch den Lärm der Anderen konnte sie nicht alles verstehen und näher an sie<br />

heranzukommen war nicht möglich. Sie hörte folgendes:<br />

„Immer....keine Spur......dem....wie vom ...verschwunden, kostbare....nur an Zeichen zu<br />

erkennen,....der verdammte Süd... wer weiß schon....sich aufhält....Ring hat Kaufmann namens.....<br />

doch keine Möglich... heranzukommen....wenden an .....Jona Menna....vielleicht....wo?“. Aufgrund<br />

dieser Worte konnte Kimber sich gut denken, daß die beiden „ihren“ Ring meinen könnten. Der Name<br />

Jona Menna war ihr sehr gut bekannt. Schließlich war er einer der gefährlichsten Mörder im<br />

Rattenloch und Kimber war ihm schon einige Male begegnet. Sie versuchte sich die Gesichter der<br />

beiden einzuprägen, um sie später wiedererkennen zu können, dann machte sie sich unauffällig, damit<br />

die Beiden sie nicht bemerken konnten, in Richtung Kareç, der gerade in der Tür der Wirtschaft<br />

erschienen war.<br />

���


Diamantenring - Vanessa Niederkinkhaus<br />

„Du wolltest mich sprechen?“ fragte Kimber ihn. „Mensch, Kim-Lo, mußt du mich immer so<br />

erschrecken?“, sagte Kareç sichtlich erschrocken, „Doch komm jetzt, ich habe Dringendes mit dir zu<br />

besprechen.“ Die Beiden setzten sich an einen kleinen Tisch etwas entfernt von den anderen Gästen<br />

und genehmigten sich erstmal ein kräftiges Bier. „Es geht um folgendes“, flüsterte Kareç, „Mein<br />

Freund Sell, ich weiß nicht ob du ihn kennst...“<br />

„Schon von ihm gehört, „ unterbrach ihn Kimber.<br />

„Also Sell hat erfahren, daß Jona Menna den Südländer sucht, von dem wir kürzlich gesprochen<br />

haben, und zwar wegen irgendeinem Schmuckstück. Weißt du etwas darüber?“<br />

„Ja, aber ich will nicht darüber reden.“<br />

„Ich kapier´ schon. Jeder hat seine Geheimnisse. Ach, übrigens, wußtest du schon, daß der Kaufmann<br />

Lomjes unter die Toten gegangen ist? Hab’s grad erfahren. Angeblich soll es eine besonders hübsche<br />

Frau gewesen sein, namens Shalyn Omegas, schon von ihr gehört, ich noch nie. Sell stellt schon<br />

Nachforschungen an. Hat ihn ganz schön getroffen, daß es eine junge, besonders hübsche Frau gibt,<br />

die er nicht kennt...“ Wäre Kimbers Gesicht jetzt nicht durch ihre Kapuze verdeckt gewesen, dann<br />

hätte Kareç einen amüsanten Gesichtsausdruck gesehen. Ganz nett mein Ruf, aber wer hat Lomjes<br />

auf dem Gewissen? Als ich ging, sah er noch ganz lebendig aus.<br />

Kareç jedoch sagte sie, daß sie nicht wüßte wer den Kaufmann getötet hatte, aber versuchen würde es<br />

herauszufinden.<br />

Nach einiger Zeit verabschiedete Kimber sich von ihm und verließ den Totenkopf.<br />

���<br />

So wertlos kann der Ring also doch nicht sein, wie wir dachten, wenn man sogar Jona Menna auf ihn<br />

angesetzt hat.<br />

Unbemerkt war Kimber an der Hütte angekommen, doch nirgends war Licht zu sehen und<br />

abgeschlossen war auch, was hieß, daß Mek noch nicht zurückgekehrt war. Kimber hatte noch keine<br />

Lust, jetzt schon schlafen zu gehen, und so entschloß sie sich noch etwas durch die Stadt zu<br />

schlendern. Vielleicht läßt sich noch was erfahren Ihre Schritte führten sie zu einem<br />

heruntergekommenen Haus, das völlig unbewohnt zu seien schien. Kimber ließ sich davon nicht<br />

beirren, sondern klopfte an die Tür. Ein Kopf erschien in einem Loch in der Tür und fragte wer Einlaß<br />

erwünsche.<br />

„Mach schon auf, „ wisperte Kimber, „ ich bin’s Kimber.“ „Komm schnell!“, entgegnete die Stimme<br />

und öffnete die Tür nur so lange, damit sie schnell hineinhuschen konnte. Kimber hatte auf den Weg<br />

hierhin ihre Sachen vertauscht, da man sie dort nur als Frau kannte. „Ist Leonardo da?“, fragte sie den<br />

gorillaähnlichen Mann, der vor ihr stand.<br />

„Ja, und er ist allein, also komm.“<br />

Sie gingen eine verrottete Treppe hinauf, wobei sie einige Löcher und morsche Stellen umgehen<br />

mußten, dann öffnete der Gorilla eine Tür, und sie durchquerten einen mit Gerümpel vollgestellten<br />

Raum, auch wieder auf einem kleinen schmalen Weg.<br />

Nun entfernte der große Mann einen Teil der Rückwand, und eine Lücke, breit wie eine Tür, kam zum<br />

Vorschein, die Uneingeweihten so gut wie nie auffallen konnte und traten in einen mit einigen<br />

Kerzen beleuchteten Raum. „Warte hier ich werde Lee Bescheid sagen, „ erklärte er und stampfte mit<br />

kraftvollen Schritten durch eine weitere Tür.<br />

Kimber wartete geduldig, wobei sie an jeder Seite des Raumes lauschte, um festzustellen, ob der<br />

Gorilla die Wahrheit gesagt hatte. Sie konnte jedoch keine anderen Stimmen hören, bis auf die von<br />

Leonardo und seinem Leibwächter.<br />

Kurze Zeit später erschien der Herr des Hauses selbst in der Tür. Er schenkte Kimber ein kurzes<br />

Lächeln, nahm sie bei der Hand und führte sie in einen anderen Raum, um sich dort auf einem Bett<br />

niederzulassen. „Du warst lange schon nicht mehr hier, Kleines, hab schon gedacht sie hätten dich<br />

erwischt, wobei auch immer.“<br />

„Deine Sorge war unbegründet. Doch bevor wir weiter reden; wo ist Nir Rimger, dein etwas zu groß<br />

geratenen Babysitter?“ „Du vertraust ihm wohl immer noch nicht, was? „<br />

„Ich traue keinem von euch rivalisierenden, mit eueren Muskeln denkenden, Egoisten, sprich:<br />

Männern. Sogar dir vertraue ich nicht vollkommen.“<br />

„Ist ja gut, ich habe ihn weggeschickt.“


Diamantenring - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Leonardo wußte einfach nicht warum er diese Frau mochte, schließlich beleidigte sie ihn am<br />

laufendem Band.<br />

„Ich werde dir einmal glauben“, erklärte Kimber mit noch immer mißtrauischen Stimme, „ und dir<br />

erklären warum ich hergekommen bin. Hast du in letzter Zeit mit Jona Menna gesprochen?“<br />

„Mit ihm selber nicht“, antwortete Leonardo, „aber ich hab’ heut’ abend noch mit seinem Diener<br />

Orbis gesprochen , und der hat mir ein paar interessante Dinge erzählt.“<br />

„Erzähl!“<br />

„Nicht so schnell meine Kleine, du kennst meinen Preis...“ „Halsabschneider, doch ich bin<br />

einverstanden, ich werd’ heut nacht hierbleiben.“ Daß Kimber auch so dageblieben wäre, erzählte sie<br />

ihm natürlich nicht, schließlich war Leonardo trotz seines fortgeschrittenen Alters von vielleicht 45<br />

Jahren ein sehr gutaussehender Mann, und es war nicht das erste Mal, daß sie eine stürmische Nacht<br />

mit ihm verbrachte. „Also, Orbis hat mir erzählt, daß sein Herr und Meister einen Südländer suche,<br />

der hier vor kurzem angekommen sein soll. Ach ja, Orbis hat so Andeutungen gemacht, daß Menna<br />

von, wie er sich ausgedrückt hat, ´zwei fürchterlich stinkenden, dreckigen Typen, die doch gar nicht<br />

zu Menna passen würden’, aufgesucht worden ist, die ihm ziemlich viel Geld angeboten haben, damit<br />

er beim Kaufmann Lomjes irgend etwas stehlen solle.“<br />

„Das scheint ihm gelungen zu sein. Hab’ erfahren, daß er Tod aufgefunden worden ist“, sagte Kimber<br />

wütend. Also dieser Mistkerl hab’ ich es zu verdanken, daß sie mich auch noch als Mörderin suchen.<br />

Jetzt sollte ich mich ersteinmal nicht mehr als Frau in die Oberstadt sehen lassen - jedenfalls für die<br />

nächsten ein-zwei Tage, danach interessiert das keinen mehr.<br />

„Interessant, doch mir egal“, erwiderte Leonardo, „laß uns jetzt aber Schluß machen, es ist spät und<br />

ich muß morgen früh weg.“ „Das heißt, daß du nichts mehr weißt?“, fragte sie ihn.<br />

„Nein.“<br />

Damit beendeten sie ihr kurzes Gespräch und erst jetzt ließ Kimber ihn näher an in heran, damit er sie<br />

umarmen konnte. Er küßte sie zärtlich und drückte sie dann mit sanfter Gewalt auf’s Bett nieder....<br />

���<br />

Am nächsten Morgen war Leonardo schon fort und sein Leibwächter schien auch nicht in der Nähe zu<br />

sein, da sie keinen Laut hören konnte. Sie stand auf, zog sich an und verließ nun ebenfalls das Haus.<br />

Mek Liones schien die Nacht auch nicht zu Hause verbracht zu haben, da Kimber das Bett so vor<br />

fand, wie sie es am vergangenen Morgen verlassen hatten. Er kam, kurz nachdem sie mit dem<br />

Frühstück fertig geworden war, doch erzählte er nicht, wo er gewesen war, es interessierte Kimber<br />

auch gar nicht. Sie lächelte ihn an und bot ihm eine Tasse warmes Bier an, welches er auch dankend<br />

annahm.<br />

„Hast du mit Kareç gesprochen?“, fragte er.<br />

„Ja“, antwortete Kimber nur kurz, sie hatte keine Lust ihm alles zu erzählen, und er schien das auch<br />

zu verstehen, denn er hackte nicht weiter nach...<br />

���<br />

Mittags begab sich Kimber, wieder als Kim-Lo getarnt, in Nasir Remmens Kneipe, um sich dort mit<br />

dem Südländer zu treffen. Es herrschte wenig Betrieb in der Kneipe und so viel es ihr leicht den<br />

geheimnisvollen Fremden aus dem ihr unbekannten Süden zu finden. Sie versuchte sich ins<br />

Gedächtnis zurückzurufen, was sich vor einer Woche hier ereignet hatte...<br />

���<br />

Kimber war mal wieder in der Oberstadt „geschäftlich“ unterwegs gewesen, und ging gerade die<br />

Gasse zur Brücke hinunter, als sie von einem Paar starker Hände in die nächst kleinere Gasse gezogen<br />

wurde, und jemand sie dort an die Wand drückte.<br />

„Gut, daß ich dich gefunden habe Kim-Lo, jemand sucht dich, „ sagte eine gehetzte Stimme, die<br />

Kimber nur zu bekannt war. „Salis was soll das? Du weißt ganz genau, daß ich es nicht mag, wenn<br />

man mich so erschreckt“, bei diesen Worten griff sie nach ihrem Dolch und hatte ihn blitzschnell an<br />

die Halsschlagader Salis gesetzt. Sie haßte es eben, wenn man sie aus heiterem Himmel plötzlich in


Diamantenring - Vanessa Niederkinkhaus<br />

dunkle Gassen zog, wobei womöglich noch ihre Kapuze verrutschen könnte, und dann hätte sie den<br />

Schlamassel.<br />

„Hör auf mit dem Mist! Du weißt, daß ich mich nicht vor der Stadtwache blicken lassen sollte“,<br />

flüsterte Salis verärgert.<br />

„Das war das letzte mal, verstanden?“, drohte Kimber und ließ im gleichen Moment das Messer<br />

wieder an seinen Platz verschwinden, „Du hast gesagt, daß man mich sucht?“<br />

„Ganz richtig, irgendso ein Südländer, bist wahrscheinlich von wem empfohlen worden, hat nach dir<br />

gefragt. Er braucht wen, der sich gut in der Stadt auskennt und zwar in der Oberstadt. Mehr hat er mir<br />

nicht erzählt. „<br />

„Sag ihm, daß ich ihn im Totenkopf - nein lieber in Nasir Remmens Kneipe aufsuchen werde, heute<br />

Abend, im Totenkopf sind mir viel zu viele neugierige Ohren. Vergiß das nicht!“<br />

„Ich werd’s ihm ausrichten“ ,versicherte Salis und war schon verschwunden.<br />

Kimber ordnete ihre Kleidung und führte ihren Weg fort. Abends in der Kneipe setzte sie sich in eine<br />

dunkle Ecke und wartete auf das Erscheinen des Südländers.<br />

Wenige Minuten später erschien er, blickte sich kurz um und setzte sich dann an einen leeren Tisch.<br />

Er hatte schwarze, kurzgeschnittene Haare und eine wettergegerbte Haut. Neben einer ziemlich<br />

mitgenommener Lederjacke trug er eine braune Lederhose, sowie stark abgetragene Stiefel. Kimber<br />

erkannte, daß sie nicht viel mehr über diesen Mann erfahren würde, erhob sich und setzte sich<br />

gegenüber des Südländers. Dieser schien sehr erschrocken über die plötzliche Gesellschaft und wollte<br />

schon zu seinem Messer greifen, das er in seinem Gürtel trug, doch Kimber befahl ihm leise zu sein.<br />

„Gestatten, Kim-Lo“, sagte sie, „Ich habe gehört, daß Sie mich sprechen wollen?“<br />

„Ganz genau“, antwortete der Mann, „Ich habe wichtige Geschäfte in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> zu erledigen und<br />

benötige dabei Ihre Hilfe, da ich mit den hiesigen Begebenheiten nicht vertraut bin.“<br />

„Erzählen Sie, um was es geht!“<br />

„Es geht um ein Schmuckstück, genauer gesagt um einen Diamantenring, der mir vor langer Zeit<br />

abhanden gekommen ist und den ich nun dringend brauche. Längere Nachforschungen haben mich<br />

hierhin geführt und habe nun erfahren, daß ein gewisser Lomjes, ein Kaufmann, im Besitz dieses<br />

Ringes ist. Ich bitte Sie nun darum, daß Sie mir diesen Ring besorgen, indem Sie ihm dem Kaufmann<br />

entwenden und mir überreichen. Ich werde Sie natürlich ausreichen bezahlen.“<br />

Während er Kimber dies erzählte, trommelte er unruhig mit den Fingern auf dem Tisch herum und<br />

schaute sich immer wieder um, gerade so, als habe er Angst, daß jemand ihn belauschen könnte, oder<br />

daß jemand ihn verfolgte. An seiner Sprechweise erkannte sie, daß sie es nicht mit einem<br />

gewöhnlichen Dieb zu tun hatte, auch als sie seine Hände betrachtet, sah sie, daß dies Hände waren,<br />

die anscheinend noch nie richtig gearbeitet hatten.<br />

Kimber erklärte sich bereit, ihm zu helfen, machte mit ihm einen fairen Preis, fair natürlich für sie,<br />

denn der Südländer versuchte gar nicht, den übertrieben hohen Preis herabzuhandeln und<br />

verabredeten sich für die nächste Woche.<br />

���<br />

Kimber setzte sich ohne lange zu zögern zu dem Südländer, dessen Name sie nicht erfahren hatte.<br />

„Ich habe Ihren verdammten Ring“, fing sie das Gespräch an, „Wissen Sie eigentlich wie viele<br />

Schwierigkeiten der mir eingebracht hat?“ „Ich bedauere sehr, daß Sie gezwungen worden sind den<br />

Kaufmann zu töten, ich hätte nie gedacht, das es soweit kommen würde.“ „Mir tut es auch leid, vor<br />

allem, da ich den Kaufmann gar nicht getötet hab’.“ - „Wer ist es dann gewesen?“, fragte der<br />

Südländer erstaunt. „Das würde ich gerne von ihnen erfahren. Es scheint, daß es noch mehr<br />

Interessenten für Ihre Kostbarkeit gibt. Diese scheinen einen Herrn namens Jona Menna angeheuert<br />

zu haben und dieser .....“, Kimber unterbrach sich mitten im Satz, da zwei Männer ihre<br />

Aufmerksamkeit erregten die just die Kneipe betreten hatten. Neben Orbis, dem Diener Jona Mennas<br />

stand einer der Männer, dessen Gespräch sie am vergangenen Abend belauscht hatte. Orbis schien sie<br />

nicht zu erkennen, schließlich war sie ja auch nicht der Einzige, der mit einem schwarzen Mantel<br />

herumlief, da er keinerlei Reaktion zeigte. Mit einer unauffälligen Geste, die Kimber jedoch zu<br />

denken gab, zeigte der Begleiter Orbis auf den Südländer, was der Diener des Meuchelmörders mit<br />

einem kaum erkennbaren Kopfnicken beantwortete. Danach verließen die beiden wieder das Haus.<br />

Die haben bestimmt vor, meinem Kunden den Ring abzunehmen. Na ja, kann mir egal sein, sobald ich


Diamantenring - Vanessa Niederkinkhaus<br />

mein Geld habe geht der mich nichts mehr an. Der Südländer hatte die beiden Männer nicht gesehen,<br />

da er mit dem Rücken zur Tür saß. Deshalb wunderte er sich nur, daß Kimber sich unterbrochen hatte.<br />

„Was hat dieser Jona Menna getan?“, fragte er.<br />

„Wie bitte? Ach so, es scheint Jona Menna hat Lomjes auf dem Gewissen.<br />

Doch nun kommen wir zu der Bezahlung. Haben Sie das Geld dabei?“ „Nein, ich hätte nicht gedacht,<br />

daß Sie den Ring schon haben. Ich dachte mir, daß etwas dazwischen gekommen sein muß, Sie wissen<br />

schon - wegen der Leiche.“<br />

„Wenn ich meine Arbeit mache, dann mache ich sie auch richtig. Doch da Sie hier neu sind, will ich<br />

einmal über ihre Beleidigung hinwegsehen. Sie holen jetzt ihr Geld und wir treffen uns in einer<br />

Stunde hier wieder. Verstanden?“<br />

Der Südländer stimmte zu und verließ das Gasthaus. Kimber folgte ihm nach einem Moment,<br />

schließlich wollte sie ihren Kunden nicht allein durch die Gassen des Rattenlochs gehen lassen,<br />

womöglich bekam da wer Anderes ihr Geld, oder auch Orbis und sein Begleiter könnten auf die Idee<br />

kommen, den Südländer für immer zu verschwinden lassen, bevor er bezahlt hatte. Na wenigstens<br />

hatte sie noch den Ring, obwohl die beiden anderen Südländer bestimmt nicht soviel bezahlen<br />

würden, wie ihr „Freund“.<br />

���<br />

Langsam schlich sie hinter dem Mann aus dem Süden her, jede Deckung nutzend, um sich vor den<br />

neugierigen Blicken Anderer zu schützen. Es dämmerte bereits, was ihr die Verfolgung erleichterte,<br />

da sie sich so näher an ihn heranwagen konnte. Als sie um eine Straßenecke bog, hinter der ihr Kunde<br />

gerade verschwunden war, sah sie, wie sich eine dunkle Gestalt aus dem Schutz einer Tür schälte und<br />

ebenfalls die Verfolgung hinter dem Südländer aufnahm. Nun hieß es vorsichtig sein! Hier sind<br />

bestimmt noch mehr Leute, die es auf ihn abgesehen haben. Überlegte sich Kimber. Es heißt<br />

abzuwarten bis der Halunke ein Zeichen gegeben hat, dann werde ich ihn mir schnappen, um ihm<br />

mein Messer vorzustellen. Die Verfolgung setzte sich noch ein paar Minuten fort, dann sah Kimber,<br />

wie der andere Verfolger die Hand erhob, und darauf drei weitere Gestalten dem Südländer von vorne<br />

und von der Seite einkreisten. Da es inzwischen dunkel geworden war, konnte Kimber sich, ohne von<br />

den von vorne Kommenden entdeckt zu werden, ganz nah an den Mann heranschleichen. Dann stand<br />

sie direkt hinter ihm. Sie nahm ihr Messer in die Rechte, packte den Mann mit der Linken so an der<br />

Kehle, daß er nicht schreien konnte und zog ihn in eine kleine Nebengasse.<br />

Der Mann, immer noch geschockt von dem völlig unerwarteten Angriff, versuchte nun ebenfalls sein<br />

Messer zu erreichen, doch Kimber packte ihn am Handgelenk und entriß es ihm. „Keine falschen<br />

Tricks, Orbis, wenn dir dein Leben lieb ist.“, drohte Kimber ihm, wobei sie ihm das Messer an die<br />

Kehle hielt, „Sag schnell was ihr von dem Südländer wollt!’“ „Kim-Lo, ich hätts mir denken können.“<br />

„Red nicht lange, meinen Namen kenne ich selber schon. Erzähl - schnell“ Orbis schien es jetzt doch<br />

mit der Angst zu bekommen. Er kannte Kim-Lo und sie schien nicht in bester Laune zu sein.<br />

„Es geht um eine Erbschaft, mehr weiß ich auch nicht.“<br />

„Ich glaub’s dir mal für den Anfang. Ach hast du zufällig Riemen dabei?<br />

Ich muß dich fesseln und selbst habe ich keine.“<br />

Orbis war nicht der Klügste. Er dachte sich, daß er mit einer Verneinung frei kommen konnte. „Nein“,<br />

sagte er entschuldigend, „du mußt mich also frei lassen, mein Meister wird kurzen Proßes mit dem<br />

Südländer machen.“ „Oh, nein“, entfuhr es Kimber, „ mein schönes Geld! Nimm´s mir nicht übel<br />

Orbis, ist nicht persönlich gemeint.“ Sagte sie und schnitt ihm kurzerhand die Kehle durch, sie durfte<br />

keine Zeit verlieren. Ihre Investition war in Gefahr.<br />

���<br />

Als Kimber die Nebengasse verließ, sah sie nur noch wie drei Gestalten eine vierte in einen<br />

Hauseingang zerrten. Kimber kannte die Bewohner dieses Hauses nicht, doch konnte sie sich denken,<br />

daß es einer von Mennas Schlupfwinkeln war. Es ist zu gefährlich allein darein zu gehen. Doch<br />

irgendwie muß ich mein Geld bekommen.<br />

Kimber entschloß sich im Totenkopf, der nur wenige Sprünge entfernt war, Verstärkung zu holen.<br />

Wenn sie ihn nicht gleich umgebracht haben, werden sie es auch nicht in den nächsten paar Minuten<br />

tun. Wahrscheinlich wollen sie ersteinmal erfahren, wer den Ring hat.


Diamantenring - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Kimber drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Totenkopf.<br />

���<br />

Es herrschte ziemlich viel Betrieb im Totenkopf.<br />

Kimber kannte zwar viele der Anwesenden, doch waren sie für ihren Plan nicht zu gebrauchen. An<br />

einem Tisch entdeckte sie Kam Tak, er war gut geeignet, doch viel zu teuer. In einer anderen Ecke<br />

entdeckte sie Kareç, der auf jemanden zu warten schien und dabei gelangweilt an einem Bier nippte.<br />

Kimber eilte auf ihn zu, und setzte sich neben ihn. „Wie laufen die Geschäfte, Kim-Lo?“, fragte er,<br />

nachdem er es aufgegeben hatte nach der Tür zu schauen.<br />

„Wie man´s nimmt. Hast du kurz Zeit? Ich brauche deine Hilfe.“ „Eigentlich nicht, doch für einen<br />

guten Bekannten, sind immer ein paar Minuten reserviert. Erzähl um was es geht. Mein Freund Sell<br />

wollte zwar kommen, doch scheint ihm ein weitaus attraktiveres Wesen als ich über den Weg<br />

gelaufen zu sein.“<br />

Kimber faßte sich kurz, da sie sich denken konnte, daß der Südländer dem Verhör Mennas nicht lange<br />

standhalten konnte. Sobald er jedoch erfahren würde, daß Kim-Lo ihre Hand im Spiel hatte, war der<br />

Moment der Überraschung vorbei.<br />

Kareç versprach ihr zu helfen, mit der Bedingung, daß er 10% des Gewinns bekam. Natürlich<br />

beanspruchte die Verhandlung um das Geld weitere kostbare Minuten.<br />

���<br />

Vor dem Haus angekommen, indem ihr Kunde verschwunden war, besprachen die Beiden noch kurz<br />

ihren Plan, dann machte sich Kimber am Schloß der Tür zu schaffen.<br />

Als sie eintraten, schlug ihnen eine rauschkrautgeschwängerte Luft entgegen.<br />

Sie gingen eine teilweise schon verrottete Treppe hinunter zu einer Kellertür hinter der man Stimmen<br />

hören konnte. Kimber und Kareç waren sich darüber einig gewesen, daß Menna den Südländer nur im<br />

Keller gefangenhalten konnte - dort hört man die Schreie am wenigsten. Kurz entschlossen rannte<br />

Kareç die Tür ein. Beide sprangen sie in den dahinterliegenden Raum, wo drei Gestalten regungslos<br />

vor einer Vierten standen, die an einen Stuhl gefesselt war. Doch die Erstarrung der Entführer war nur<br />

von kurzer Dauer. Sofort stürzten sich die beiden Südländer auf Kareç, der nach ihrer Ansicht, der<br />

weitaus gefährlichere Gegner war. Jona Menna erkannte Kim-Lo und stürzte sich mit wütenden<br />

Schrei auf sie. Ein hitziges Gefecht entstand.<br />

Kimber hatte ihr Messer gezogen und parierte die ziellos geführten Attacken Mennas. Nach ein paar<br />

mißglückten Angriffen von Kimber setzte Jona zu einem gefährlichen Stich von unten an, der<br />

Kimbers Bauch von unten nach oben aufschlitzen würde. Im letzten Moment drehte sich Kimber<br />

einmal um ihre eigene Achse, wobei sie sich noch im Drehen duckte und nun ebenfalls zu diesem<br />

tückischen Stich ansetzen konnte. Mit dem Unterschied, daß ihr dieser gelang. Vom Bauchnabel bis<br />

hoch zu Hals schlitze sie ihren Gegner auf. Menna sah sie entsetzt an, doch Kimber schaute ihn nur<br />

aus kalten, schwarzen Augen an, die er zum ersten und letzten Mal zu sehen bekam.<br />

Unterdessen hatte auch Kareç einen seiner Gegner ausschalten können. Kimber kümmerte sich um<br />

den Zweiten. Dieser schien weitaus geschickter im Kampf mit dem Messer um gehen zu können, als<br />

der Mörder Menna. Er parierte mühelos jeden Stoß von Kimber. Als Kimber bei einer Attacke ihres<br />

Gegners zur Seite weichen wollte, stolperte sie über einen Gegenstand und kam zu Fall. Dabei<br />

erwischte sie das Messer des Anderen am Oberarm, und Kimber viel mit einem unterdrückten<br />

Schmerzenslaut um. Nun stand ihr Gegner genau über ihr und holte zum entscheidenden Schlag aus.<br />

Doch sein Arm hielt plötzlich inne, Blut quoll aus seinen Lippen und er fiel, steif wie ein<br />

Baumstamm, genau auf Kimber Loor. Hinter der Stelle wo der Südländer zum entscheidenden Schlag<br />

ausgeholt hatte, stand Kareç mit bluttriefendem Messer in der Hand. Er schien ein bißchen<br />

erschrocken über das Blut, doch faßte er sich schnell und half der verletzten Kimber die Leiche von<br />

ihr zu rollen. Währen des Gefechtes war ihr Kunde in Ohnmacht gefallen.<br />

Erst jetzt bemerkte Kimber, daß Kareç sie entsetzt anschaute. Sie bemerkte, daß ihre Kapuze nach<br />

hinten gerutscht war und man ihr weibliches Gesicht mit der roten Haarmähne sehen konnte.<br />

„Eigentlich müßtest du sterben, Mann. Niemand darf mein Geheimnis wissen. Doch da ich denke,<br />

daß man dir vertrauen kann, hoffe ich, daß du niemanden, und wenn ich es sage meine ich es auch so,<br />

niemanden davon erzählst. Auch nicht deinem Freund Sell. Verstanden!“,Kimber war noch weißer im


Diamantenring - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Gesicht geworden, als sie sonst schon war. „Ich glaub du hast mir eine Menge zu erklären, Kim-Lo.<br />

Doch laß mich erst einmal nach deiner Wunde schauen. Beeil dich, der Südländer kann jeden Moment<br />

aufwachen und dann wissen schon zwei Leute, daß der berühmte Kim-Lo eigentlich eine Frau ist.“<br />

Schnell legte Kimber ihren Mantel ab. Kareç riß einen Stoffstreifen aus dem Hemd einer der Leichen<br />

und verband damit ihre Wunde. Danach beeilte sich Kimber ihren Mantel wieder anzuziehen, da der<br />

Südländer sich zu rühren begann.<br />

„Jetzt schwör mir, daß du niemanden von meiner wahren Existenz erzählen wirst. Wenn nicht wird<br />

hier bald noch eine zusätzliche Leiche liegen und es wäre schade wenn unsere Bekanntschaft damit zu<br />

Ende währe.“ „Auch ich habe meine Geheimnisse und darum respektiere ich auch die deinen. Ich<br />

schwöre hiermit, daß ich niemanden davon erzählen werde. Sag mir nur deinen richtigen Namen,<br />

obwohl ich glaube, daß ich ihn schon kenne.“<br />

„Das stimmt, ich nenne mich Shalyn Omegas“, antwortete sie ihm. Ihm die volle Wahrheit zu sagen<br />

war ihr doch etwas zu riskant.“<br />

���<br />

Sie befreiten den Südländer, der überglücklich war, daß man ihn gerettet hatte. Er hörte gar nicht auf<br />

sich bei seinen beiden Rettern zu bedanken, und die Bezahlung für den Ring viel noch etwas höher<br />

aus als ursprünglich erwartet. Er erzählte den Beiden, daß der Ring die Bedingung dafür war, daß er<br />

die Reiche Erbschaft seines Vaters bekam. Vor geraumer Zeit, bevor er davon wußte hatte er diesen<br />

Ring für viel Geld verkauft und hatte ihn nun endlich wieder.<br />

Kimber und Kareç verabschiedeten sich von dem Südländer und trennten sich dann schnell<br />

voneinander.<br />

Kimber ging nach Hause, wo Mek Liones sie schon erwartete. „Und wie ist dein Tag verlaufen?“,<br />

fragte er sie, nachdem sie sich zu ihm ins Bett gesellt hatte. „Ich hab mehr Geld als erwartet<br />

bekommen, „antwortete sie gelangweilt, den Schmerz in ihrem verletzen Oberarm nicht beachtend.<br />

���<br />

Als Kareç im Totenkopf ankam, wurde er schon von seinem Freund Sell erwartet. „Mensch, Freund,<br />

wo bist du solange gewesen?“ Auf Kareç Lippen erschien ein flüchtiges Lächeln. „Du wirst es nicht<br />

glauben, doch ich habe ein paar schöne Stunden mit eine hübschen Rothaarigen verbracht, ich glaube<br />

du hast schon von ihr gehört, sie nennt sie Shalyn Omegas...“<br />

Den verdutzten Blick seines Freundes mißachtend, bestellte sich Kareç ein kühles Bier. Kimbers<br />

Geheimnis verriet er ihm nicht.


Das Bekenntnis - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Das Bekenntnis<br />

<strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

25. Talu im Jahre 167:<br />

Es bleibt wenig Zeit. Schon spüre ich, wie das Gift brennend in meine Adern strömt, schon zittern<br />

meine Hände, schon werden die Buchstaben undeutlich. Ich weiß ich nicht zu sagen, ob es die<br />

Schwäche ist, die an meinen Gliedern rüttelt, oder ob die Furcht meine Hand unruhig werden läßt.<br />

Noch immer flüstert der Wind vor den Fenstern seine Kakophonie der Schuld, stöhnt in der<br />

Stimmlage meiner Geliebten. Die Nebel wabern drohend, ich kann sie durch die Schlitze der<br />

Schlagladen sehen, aber das Licht der Kerze schreckt sie ab.<br />

Ich muß diese Worte in mein Geschäftsbuch schreiben, denn es ist kein anderes Pergament im Haus<br />

und nichts und niemand wird mich jemals wieder hinaus in die Nacht bringen.<br />

Doch ich schweife ab, plappere, während der Sud der Pflanze damit beginnt meine Innereien<br />

aufzulösen. Schon spüre ich den Schmerz leise in meinem Bauch pochen. Ist es Angst, die mich jetzt,<br />

sogar im Angesicht des Todes, meine Schuld verleugnen läßt? Doch genug, ich weiß die Götter<br />

werden meine geliebte Frau und Kinder niemals aus ihren Klauen entlassen, wenn ich meine Schuld<br />

nicht eingestehe.<br />

Alle begann vor zwei Monaten im Taumel der Wahl. Die Stadt tanzte zu Ehren des neuen<br />

Triumvirats, drehte sich im Licht der tausend Fackeln und genoß den Wechsel des halben Jahres. Ich<br />

war mit meiner geliebten Familie auf dem Marktplatz, als ich sie sah. Sie war so sanft, zart,<br />

wunderhübsch. Ihre junger Leib, geschmeidig und wohlgeformt, fiel mir sofort ins Auge. Ihr Haar<br />

strahlte im flackernden Licht der Ölbecken. Sie war in die einfachen Roben einer den Göttern<br />

Geweihten gehüllt. Welchem Gott vermochte ich an jenem Abend nicht zu erkennen, doch sofort stahl<br />

sich eine tiefe Liebe in mein Herz. Das Unglück nahm seinen Lauf. Ich besuchte sie, wann immer ich<br />

konnte, fand heraus, daß sie seit kurzem im Tempel von Hesvite diente. Ich beobachtete sie und war’s<br />

zufrieden. Erst als sie, es muß am Ende des Mittmond gewesen sein, meinem Blick begegnete und mir<br />

ein Lächeln schenkte, ein Lächeln, welches mein Herz ergriff und meine Seele taumeln ließ vor<br />

Freude, erst da näherte ich mich ihr. Ich sprach Belangloses, gab vor von dem Glaube an Hesvite<br />

getrieben zum Tempel gepilgert zu sein. Sie sprach freundlich mit mir, berührte meinen Arm. Alles an<br />

ihr zeigte mir, daß sie im gleichen Feuer entbrannt war wie ich, es jedoch aus Keuschheit nicht zeigen<br />

durfte. Ich hielt es drei weitere Viertel aus, in denen ich sie täglich besuchte, bis ich ihr mein Herz<br />

ausschüttete, ihr meine tiefen Liebe gestand und sie bat, sich mir hinzugeben, mir zu beweisen, daß<br />

auch sie mich liebte, denn davon war und bin ich überzeugt. Doch Schande über Hesvite und alle<br />

anderen Götter und Schande über ihre Eltern, sie war zu scheu erzogen, zu angefüllt mit falscher<br />

Keuschheit und trügerischer Zurückhaltung. Sie wies mich ab, aber ich sah in ihren Augen ihr Flehen<br />

sie doch aus dem Zirkel der bürgerlichen Verpflichtungen zu befreien.<br />

Ihr dürft nun nicht glauben meine Liebe wäre ohne Gewissen und ohne Skrupel gewesen. Auch ich<br />

war hin- und hergerissen zwischen den Gefühlen, die in meiner Brust rangen. Ich liebe meine Frau,<br />

liebe sie aufrichtig und auch meine Töchter und mein Sohn füllen mein Herz mit Freude, wann immer<br />

ich sie sehe... gesehen habe... Doch die Liebe zu ihr, der Frau, war anders, war rein. Es war die wahre<br />

Liebe, die Liebe, die von den Göttern vorgesehen war für genau einen Mann und genau eine Frau, für<br />

uns!<br />

War es da nicht recht und billig niedrigere Gesetze der Götter wie Ehe oder Keuschheit zu verletzen,<br />

um das einzige wahre Recht zu pflegen, das Recht der wahren Liebe?! Und um so mehr, da doch auch<br />

sie mich als den Ihren erkannte?!<br />

So entschloß ich mich sie trotz meiner Zweifel aus den unfaßbaren Fesseln ihrer Position zu befreien,<br />

sie mit meiner Liebe offen und ehrlich zu beglücken um auch ihre unstillbare Qual nach Liebe etwas<br />

zu kühlen. Als ich sie also anging, an jenem schicksalsschweren Abend, da sie den Tempel verließ um<br />

Wasser zu holen, da erschreckte sie, scheute zurück wie ein wildes Roß. Doch ihre Ablehnung war<br />

nur Spiel, war nicht sie selbst, war nicht ihre Liebe. Noch immer konnte sie sich nicht frei machen<br />

von den Zwängen ihres Standes. Also nahm ich ihr die Entscheidung ab, bewegte den zarten Zeiger<br />

der Waage ihrer Seele in Richtung des einzig richtigen Weges, zur wahren Liebe.<br />

Als ich sie in die Arme schloß, sträubte sie sich, schlug zuerst. Dann jedoch schmiegte sie sich an<br />

mich, erwiderte meinen Kuß, so heftig und leidenschaftlich sogar, daß ich fast glaubte sie würde mich<br />

beißen. Meine Hände glitten über ihren Körper, fühlten ihr weiches Fleisch, liebkosten ihren Leib. Ich<br />

bedeckte ihren Körper mit zärtlichen Küssen. Als sie sich mir hingab, war es zärtlicher und


Das Bekenntnis - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

vorsichtiger als jemals zuvor in meinem Leben und zu dem körperlichen Hochgenuß gesellte sich die<br />

Gewißheit, ein junges Leben seinem wahren, vorbestimmten Schicksal zugeführt zu haben. Es war so<br />

voller Liebe, wahrer und uneigennütziger Liebe, wie niemals eine Vereinigung vorher.<br />

Doch grausames Spiel der Sinne. Meine Liebe hatte mich Bilder sehen lassen, die nicht der Wahrheit<br />

entsprachen. Welch ein Schrecken, als mein Blick sich klärte und ich sie vor mir sah. Die Augen<br />

hervorgetreten, der Blick gebrochen. Die Zunge ein Stück herausgeschoben in verzweifelten Versuch<br />

Luft zu schnappen, und ihre Hände, kalt und kraftlos nun, aber noch immer meine Hände<br />

umklammernd, meine Hände, die Krallen gleich um ihren Hals lagen. In meiner spirituellen, von den<br />

Göttern inspirierten Ekstase hatte ich meiner Geliebten das Leben genommen. Voller Entsetzen ließ<br />

ich ihren Körper zu Boden gleiten. Sie hatte sich niemals mir hingegeben, hatte mich erneut von sich<br />

gewiesen. Sie hatte mich sogar gebissen, Blut lief von meinen Lippen. War es da nicht nur<br />

verständlich, daß die Götter durch mich, ihr Leben beendeten? War es keine gerechte Strafe für ihre<br />

Verfehlung die wahre Liebe, das größte Gebot der Götter anzuerkennen?<br />

Nein! Nein! Ihr grausamen Stimmen des Windes. Wie um mich an meine Schuld zu erinnern braust<br />

ihr auf, heult grausamer denn je. Ihr singt von dem Mord meiner Hände. Wenn auch begangen um<br />

das Gesetz der Götter zu ehren, ist es doch eine Sünde ohne gleichen.<br />

Doch auch die grausigen Stimmen dieser niemals endenden Nacht werden mich nicht daran hindern<br />

meine Geschichte zu vollenden, bevor das Gift mein Lebenslicht auslöschen wird.<br />

Als ob mein Leid nicht schon groß genug war, hatten die Götter sich entschlossen mir noch mehr Pein<br />

aufzuladen. Der Tag des 25. Talu war vergangen, die Nacht brach herein und sollte nicht mehr enden.<br />

Ich war spät zu Bett gegangen und schlief tief und fest. Als ich ausgeruht erwachte, nach meinem<br />

Gefühl mußte es schon später Morgen sein, empfing mich ein weiterer Schrecken. Es war noch tiefste<br />

Nacht, durch keinen der Schlitze unseres Hauses drang Licht, und doch waren die Lager meiner<br />

Familie verlassen. Erschreckt richtete ich mich auf, durchsuchte das Haus, doch es gab keine Spur von<br />

ihnen. Alles war wie am Abend, da ich spät das Licht gelöscht hatte und nur eine Kerze brennen ließ.<br />

Die Spuren ihres Wachses hingen einem gefrorenen See gleich auf meinem kleinen Nachttisch. Ich<br />

wähnte mich entdeckt, befürchtete, daß meine Frau von meiner anderen Liebe wüßte. War sie auch<br />

eine treue, liebenswerte und gottgefällige Frau, so hätte sie meine heilige Aufgabe doch nie<br />

verstanden. Ich befürchtete, sie hätte mich verlassen, aber all ihre Sachen waren noch, sogar ihre<br />

Kleider lagen noch über den Stuhl geordnet. Wenn sie gegangen waren, so mußten sie es im<br />

Nachtgewandt getan haben.<br />

Ich entzündete eine neue Kerze und sann nach. Ich wollte auf den Anbruch des Tages warten, um<br />

dann nach ihnen Ausschau zu halten. Vielleicht war eines der Kinder krank geworden und man war zu<br />

Sarjana geeilt? Aber nein, dann hätte man mich geweckt. Ich dachte nach, grübelte. Während ich dort<br />

saß und überlegte, erlosch das Licht. Erstaunt blickte ich auf. Es war kein Luftzug gewesen, der die<br />

Kerze ausgeblasen hatte, sie war heruntergebrannt. Ich war erstaunt, denn Kerzen dieser Länge<br />

brannten normalerweise im Mindesten eine halbe Nacht. Es mußte also bereits diese Spanne Zeit<br />

vergangen sein, und doch zeigte sich noch immer kein Lichtstreif. Der Tag sollte längst angebrochen<br />

sein, die Sonne ihr sattes, wenn auch schwächer werdendes Licht über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> ergießen und<br />

beide Stadtteile ohne Unterschied beleuchten. Doch statt dessen herrschte undurchdringliche<br />

Dunkelheit am Firmament. Erst jetzt wurden mir die klagenden Stimmen bewußt, die draußen heulten,<br />

und bis zu diesem Augenblick nicht damit aufhören. Sie klingen wie die Schreie, die man aus der<br />

Lyzeum des verwirrten Geistes manchmal vernimmt, langgezogener, doch nicht weniger irr. Sie<br />

lassen kalte Schauer über die Haut laufen.<br />

Von unnatürlicher Unruhe gepackt lief ich zum Fenster und blickte hinaus. Nebel wallte an mir<br />

vorbei, getrieben in eine Richtung obwohl es völlig windstill war. Die unmenschlichen,<br />

gotteslästerlichen Stimmen rissen nicht ab. Sie schienen aus dem Nebel zu klingen, obwohl man keine<br />

Richtung ausmachen konnte. Die Kehlen, die solche Laute auszustoßen in der Lage sind, müssen Teil<br />

mißgestalteter Wesenheiten sein, die nicht auf Nontariell wandern sollten.<br />

Ich faßte einen Entschluß: Meine Familie war irgendwo dort draußen und ich würde sie finden, möge<br />

es kosten, was es wolle. Ich verließ das Haus, nahm im zweiten Gedanken ein großes Messer aus der<br />

Küche mit und wandte mich nach Westen. Der Nebel verschluckte mich sofort, kaum konnte ich die<br />

Häuser zu meinen Seiten erkennen. Immer wieder hatte ich das sichere Gefühl verfolgt zu werden,<br />

immer wieder blickte ich mich unruhig, voll Angst über die Schulter um. Plötzlich, als ich die<br />

Dunkelheit hinter mir zu durchdringen suchte, stieß ich gegen etwas, das bei diesem Zusammenstoß<br />

leicht nachgab. Ich wirbelte herum und da stand er, mein Richter, der Gesandte der Götter. Seine Haut


Das Bekenntnis - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

war schrumpelig und von einem schmutzigen Rot, wo man sie unter der Rüstung sehen konnte, unter<br />

dieser ledernen Rüstung, an der verbrannte Fetzen herunterhingen. Die Verkrüppelung seines Körpers<br />

wäre zu ertragen gewesen, doch sein Gesicht, dieses schreckliche, grauenvolle Gesicht! Ich sehe es<br />

noch jetzt vor mir, jedesmal wenn ich die Augen schließe. Rot und verknittert wie der Rest seiner<br />

Haut waren die Lippen zu einem grotesken Grinsen versehrt. Wie ein Totenkopf grinste er mich an,<br />

die Zähne schwarz. Seine Nasenspitze fehlte, hatte wohl schon vor dem schrecklichen Inferno gefehlt,<br />

das ihn so zugerichtet haben mußte. Der große Diamant in seinem Auge, der von innen heraus zu<br />

leuchten schien, war verbunden mit dem verbannten Fleisch, war in die Klumpen eingesunken, die<br />

früher einmal seine Braue waren. Fast glaubte ich, sein Fleisch würde noch schwelen, wie er da stand,<br />

von den klebrigen Nebeln umspielt. Das schwarze Schwert mit der gesplitterten Spitze hielt er mir<br />

entgegengestreckt, wies mit ihm auf mich wie mit einem göttlichen Finger. Es war Kam Tak, der<br />

bezahlte Mörder. Aber Kam Tak ist tot, niedergestreckt von d´Ibrisco und seinen Gefährten, verbrannt<br />

in einer der dämonischen Feuerfallen, zu der die Holzhütten der Unterstadt werden können. Er ward<br />

zurückgesandt um mich zu richten. Welch sinniger Scherz der Götter. Der eine Mörder wird aus dem<br />

Reich des Todes gerissen um den anderen Mörder zu richten.<br />

Er sprach, und seine Stimme war rauh und dunkel. Seine Lippen weigerten sich die Worte zu formen,<br />

zerrissen und Blut und Wasser traten aus den Schlitzen um zäh auf sein Kinn und seine Brust zu<br />

tropfen: „Was hast Du getan? Du wirst büßen, wenn Du dies getan hast!“.<br />

Und büßen werde ich. Es macht mir nun mühe, die Feder aufrecht zu halten. Krämpfe schütteln mich,<br />

schon spüre ich meine Beine nicht. Eine weitere Kerze ist verloschen. Glücklicherweise habe ich<br />

vorgesorgt und einige auf den Tisch gelegt, bevor ich die Ampulle leerte. Eine weitere Kerze. Das<br />

muß bedeuten, daß mittlerweile mindestens drei Tage vergangen sind, seit ich das letzte mal schlief<br />

und derer vier, seit ich das letzte mal die Sonne sah. Noch immer zeigt sich kein Lichtstrahl am<br />

Himmel, noch immer wabert der eklige Nebel durch die Luft und noch immer schreien die Stimmen<br />

der Verdammten.<br />

Ich lief nach Hause, sperrte die Tür und wartete bis meine unbändige Angst es zuließ etwas zu tun.<br />

Dann bereitete ich alles vor, was ich brauchte um mein Schicksal zu erfüllen. Der Wille der Götter<br />

war klar und ist heute um so klarer. Sie nahmen mir meine Familie und hüllten <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> in eine<br />

immerwährende Nacht. Dann schickten sie mir den Toten, um mich zu mahnen. Der Ausweg ist so<br />

leicht und doch so schwer zugleich. Nur durch meinen Tot kann meine Schuld gerächt werden, kann<br />

die Nacht verbannt werden.<br />

Meine Schrift wird fast unleserlich. Die Krämpfe, die meinen Körper schütteln, lassen die Feder in<br />

wilden Strichen über das Pergament tanzen. Nun ist die Feder gebrochen. Die Buchstaben sind grob<br />

und zerrissen doch ich bringe die Kraft nicht auf, eine neue zu holen. Ihre Spitze ist dreigeteilt. Wie<br />

Kam Taks Schwert.<br />

Schmerzen werden schlimmer. Kann Feder kaum halten. Bald endet es. Blut aus meinem Mund.<br />

Ersetzt Tinte. Pein. Zittere. Nur wenig Zeit.<br />

Freude! Mit der letzten Kraft schreibe ich diese Zeilen. Obwohl mein ganzer Körper bis auf meinen<br />

Arm erschlafft ist, gibt mir die Freude Durchhaltevermögen. Meine Frau und Kinder liegen wieder in<br />

ihren Betten. Die Götter haben mir vergeben. Mein Freitod hat mich von meiner Schuld erlöst. Ich<br />

hatte recht, mit meinem Tod stirbt auch meine Schuld. Wird bald wieder Tag?! Kann nicht...<br />

bald Tag...<br />

Gnade...<br />

Pein...<br />

Hil...


Die Erinnerung der „Nacht“ - Christel Scheja<br />

Die Erinnerungen der „Nacht“<br />

Christel Scheja<br />

Prolog<br />

„Du willst keinen Wunschteppich kaufen, mein Kind, das weiß ich“, sagte Mutter Camilla und blickte<br />

auf eine schlanke junge Frau, sie sich unter einem schwingenden, türkisfarbenen Mantel und einer<br />

weit fallenden Kapuze verbarg. Sie legte eine ihrer runzligen, von Altersflecken übersäten Hände auf<br />

die weißen Finger, die noch immer auf dem Knüpfwerk ruhten. „Denn du brauchst sie ja nicht.“<br />

„Woher wißt ihr das?“<br />

„Ich weiß vieles, denn ich bin alt, und habe viel gesehen und erlebt, junges Ding“, brummelte die<br />

Alte. Ihre goldenen Augen musterten die Gestalt vor ihr, die sich noch immer leicht vorgebeugt hatte.<br />

„Komm und habe keine Angst. Ich möchte dein Gesicht sehen.“<br />

„Das ist doch bestimmt nicht nötig.“ Die Fremde zog ihre Hand zurück und ließ sie wieder unter dem<br />

Mantel verschwinden. Die Bronzesonne blieb auf dem Stoff liegen und blitzte im matten Sonnenlicht.<br />

Mutter Camilla legte den Kopf schlief und lächelte wissend. „Hmh, um dir einen Rat zu geben, mein<br />

Kind, muß ich in deine Augen sehen. Und du willst doch Wissen von mir, nicht wahr.“<br />

Die Gestalt vor ihr zögerte einen Moment und streifte dann die Kapuze langsam zurück. Die alte<br />

Nushq'qai ließ ihren Blick über sie schweifen. Die Haare waren von einem hellen Rot, durchzogen<br />

von goldenen Strähnen, die ihn feine Zöpfe geflochten, die Mähne wie in einem Netz hielten. Sie<br />

umgaben ein schmales dreieckiges Gesicht mit großen blaugrünen Augen, über denen ein<br />

Silberschimmer lag.<br />

„Ich bin Leuten deines Volkes schon einmal begegnet“, sagte Mutter Camilla langsam. „Ihr sitzt gerne<br />

an unseren Feuern und lernt von uns, aber eure Fähigkeiten und Meisterschaft liegt auf anderen<br />

Gebieten.“ Die alten Frau ächzte und stützte sich auf ihren Stock. Sie schmunzelte leise vor sich hin,<br />

denn sie hatte das „Füchslein“ schon erkannt, das so offensichtlich in seinen Bau zurückkehrte. In den<br />

Augen jedoch stand etwas anderes. Zorn und Wut, Haß ... aber auch Angst, Traurigkeit und<br />

Verzweiflung. Mutter Camilla nickte. „Du kannst deine Fragen nur beantwortet bekommen, wenn du<br />

zu der gehst, zu der dich dein Weg ohnehin führen wird“, sagte sie leise. „Daran ist nichts zu ändern,<br />

und mehr kann ich auch nicht für dich tun.“<br />

Die junge Frau streifte wieder die Kapuze über und eilte davon, so als wollte sie kein weiteres Wort<br />

mehr hören.<br />

Mutter Camilla schaute ihr noch eine Weile nach. „Nur so bezahlst du deine Schuld...“ murmelte sie,<br />

ehe sie von ihrer Tochter abgelenkt wurde, die eine Frage an sie stellte.<br />

���<br />

Feingliedrige Hände bargen das zitternde und jämmerlich schreiende Federbündel und hielten den<br />

Vogel wie in einem Käfig gefangen. Stolz blickte das achtjährige Mädchen auf seinen Besitz, der ihr<br />

kostbarer erschien als Geld oder Schmuck. Ein gieriger Triumph leuchtete in den Augen, die die<br />

Farbe und den Glanz geschliffener Smaragde zu besitzen schienen - Freude darüber, ein Leben in den<br />

Händen zu halten und darüber bestimmen zu können.<br />

„Rhysian! Sieh doch, wie er sich ängstigt! Laß ihn frei!“ sagte eine Stimme aus dem Hintergrund, und<br />

eine weißhaarige Frau trat auf die Dachterrasse.<br />

„Nein Mutter! Ich mache mit ihm, was ich will, denn ich habe ihn selbst gefangen!“ Das Mädchen<br />

schloß ihre Finger noch fester um das Tier und spürte mit glänzenden Augen, wie er zappelte.<br />

„Rhysian, das ist ein Leben wie deines!“ sagte Ailanth leise aber bestimmt. „Und wenn du ihm weh<br />

tust, wird das dreifach auf dich zurückfallen!“<br />

Ein Zögern, dann eine wütende Geste. Das Mädchen öffnete trotzig die Hände. Der Vogel breitete<br />

seine arg zerfledderten Schwingen aus und schwirrte davon, erst taumelnd, dann immer sicherer<br />

werdend, und verschwand im Blattwerk der Bäume.<br />

„Bist du jetzt zufrieden?“ Lohfarbenes Haar umgab das kindliche Gesicht mit den auffallend<br />

schmalen blaugoldenen Augen, floß die schmalen Schultern hinab bis auf die Mitte des Rückens.<br />

Ailanth blickte beiseite. „Ja, das hast du gut gemacht!“ lobte sie das Mädchen schwach, auch wenn sie<br />

wußte, daß sie die Kleine hätte schelten müssen. „Bitte spiele innen“, murmelte sie gequält.


Die Erinnerung der „Nacht“ - Christel Scheja<br />

Erst als die Schritte ihrer Tochter verklungen war, sah sie wieder auf. Ihre Hände zuckten. Warum<br />

gleich Rhysian von ihrem Äußeren nur so sehr der, die sie am meisten haßte, und dem, den sie<br />

vermißte?<br />

Seit ihrem Schwächeanfall im Mittmond träumte sie immer wieder von Aziareya, der Tochter, die sie<br />

verstoßen hatte, oder sah am Tag deren Gesicht vor ihrem inneren Auge. Und sie war nicht nur dies<br />

eine Mal zusammengebrochen.<br />

„Mirtanh!“ flüsterte die Mechanica. Sie setzte sich auf die Bank, die ihr zur Sternbeobachtung diente<br />

und lehnte sich zurück. Der Stein war jetzt, gegen Ende des Talu schon empfindlich kalt, aber das<br />

machte ihr nichts aus. Sie genoß die Kälte, die ihr den Rücken hinaufkroch.<br />

Langsam beruhigte sie sich wieder, denn sie hatte in den letzten Nächten schlecht geschlafen, wenn<br />

überhaupt. Woran das lag, wußte sie nicht zu sagen - aber auch in ihrer Arbeit fand sie nicht den<br />

Frieden und die Erfüllung wie sonst. Glücklicherweise hatte sie zur Zeit nicht viele Kunden und<br />

Aufträge, so daß es aufgefallen wäre.<br />

„Aziareya, was auch immer du tust, es ist nicht richtig! Du spielst mit Mächten, die du nicht<br />

begreifst!“ murmelte sie und kratzte so heftig mit den Fingernägeln über den Stein, daß zwei<br />

absplitterten.<br />

Dann setzte sie sich wieder auf und blickte auf die belebten Gassen der Stadt. Ein Mädchen mit roten<br />

Haaren drängte sich gerade an zwei korbtragenden Frauen vorbei, deutlich zu erkennen durch die<br />

leuchtenden, flatternden Gewänder. „Rhysian?“ Besorgt wollte Ailanth die Dachterrasse verlassen -<br />

aber dann sah sie, wie zwei ihrer Mägde der Tochter folgten.<br />

Ailanth schloß die Augen. Es gab eine andere, würdigere Möglichkeit, das Kind aufzuhalten -<br />

„Warum tust du das, Kind? Warum läufst du weg, wenn ich dich schelte? BLEIB AUF DER STELLE<br />

STEHEN!“ - Vor ihrem innere Auge sah sie, wie Rhysian mit einem Quietschen stehenblieb und<br />

blicklos in die Gegend starrte, so sehr ein anderes Kind, das sich ihr wohl angeschlossen hatte, auch<br />

an der Hand zerrte. Die Menschen scharrten sich um die beiden Mädchen, stauten und spotteten -<br />

Gestalt im bläulichen Mantel streckte sogar zitternd die Hand aus. Erst als Mikari, eine der<br />

Dienerinnen heran war, löste sich Ailanth aus der Trance und seufzte. Sie wandte die „Gabe“ nicht<br />

gerne an, weil sie nicht wußte, wer dafür leiden mußte - aber diesmal war es nötig gewesen. Dann<br />

schüttelte sie den Kopf und strich die Haare aus der Stirn.<br />

Unten in ihrem Labor wartete ein mechanisches Kunstwerk auf sie, das seiner Fertigstellung harrte.<br />

Es würde sie auch davon ablenken, über ihre Töchter nachzudenken; gerade Rhysian hatte sich<br />

verändert und zeigte trotz ihres lieben Wesens plötzlich grausame Züge. Warum nur? Waren die<br />

Straßenkinder, mit denen sie sich seit einiger Zeit herumtrieb vielleicht daran schuld, diese<br />

mißratenen Gören?<br />

���<br />

„Ich muß wohl kurz eingenickt sein!“ Ailanth fröstelte und wischte sich schlaftrunken die Haare aus<br />

dem Gesicht. Sie fühlten sich feucht und klamm an, wie auch ihre Gewänder. Die Mechanica<br />

schreckte hoch. Ihre Hände waren trocken - aber das Gefühl blieb. Und nun war sie hellwach, blickte<br />

sich verwirrt um. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Da war etwas, was sie nicht<br />

einordnen konnte, und doch die Tiefen ihrer Seele berührte. Sie umklammert hielt und Furcht<br />

erweckte.<br />

Gleichmäßig funkelte der Sternenhimmel über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> und Ruhe, wie so oft in den späten<br />

Nachtstunden war in den Gassen eingekehrt. Ailanth eilte an den Rand der Dachterrasse und sah sich<br />

um. Die Fackeln, die die größere Straße in der Nacht erhellten flackerten leicht. Selbst die an der<br />

Brücke bewegten sich nicht sonderlich stark.<br />

Sie ging einmal an der Begrenzung ihrer Terrasse entlang und sah sich um. Es war nichts verdächtiges<br />

zu sehen, kein Dieb, der sich über die Mauer geschlichen hatte, kein Betrunkener taumelte durch die<br />

Gassen. Nicht einmal die Soldaten patrouillierten dort, wo sie sollten. Es schien so, als sei das<br />

Rattenloch menschenleer ...<br />

Das durfte aber nicht sein - wo waren die vertrauten Geräusche: Das Klappern von Türen und<br />

Fensterläden, Schreie von Tieren und Rufe?<br />

Nein, das stimmte nicht ganz: die Luft war voller Laute - Raunen, Knurren, Zischen, Schaben und<br />

Brummen. Jemand schrie in der Ferne, als würde er entzweigerissen. Ailanth hielt die Luft an. Wie<br />

eine kühle, feuchte Zunge streichelte sie der Wind, ohne Spuren zu hinterlassen, kroch unter ihre<br />

Gewänder und ...


Die Erinnerung der „Nacht“ - Christel Scheja<br />

„Hör auf!“ sagte sie zitternd, beherrscht genug, um nicht zu schreien. Ein Wispern erklang dicht<br />

neben ihrem Ohr, ein Lachen an ihrer Seite. Der heftige Windstoß, der dem folgte riß die Nadeln aus<br />

ihrem Haar, so daß sie klirrend zu Boden fielen.<br />

Ailanth wirbelte herum, aber da war nichts - außer der Stille der Nacht. Ihre Rechte verkrampfte sich.<br />

Noch einmal versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen, das Gehörte und Gespürte zu verstehen. Für<br />

einem Moment sank sie in Trance.<br />

Dann schleuderte sie eine weitere Bö gegen die Bank. Ailanth blieb einen Augenblick auf der Seite<br />

liegen und starrte in den Himmel. Es war fast so, als würden die Sternbilder lebendig, und aus dem<br />

Himmel herabsteigen. Sie wandte ihren Blick wieder ab und rappelte sich auf, als sich ein Schemen<br />

an der Brüstung abzeichnete, ein Schaben von dort sie irritierte.<br />

„Rhysian!“ stieß die Mechanica besorgt aus. Sie hetzte die Treppen hinunter, ohne darauf zu achten,<br />

was hinter ihr geschah. Nur einmal hielt sie inne und betrachtete voller Schmerz ihren Arm, auf dem<br />

sich blutige Striemen abzeichneten. Oben klatschte und polterte es, aber sie hatte eine größere Sorge.<br />

Unsanft stieß sie die Tür zum Schlafraum ihrer Tochter auf. Nur schwach fiel das Licht durch einen<br />

Spalt zwischen den Vorhängen in das Zimmer. „Rhysian?“ Ailanth verstummte, um auf jeden Laut zu<br />

lauschen, doch außer einem ängstlichen Fauchen vernahm sie nichts. Langsam bewegte sie sich zum<br />

Fenster und zog die Vorhänge mit einer heftigen Bewegung zurück.<br />

Das Licht einer Feuerschale, die im Garten brannte fiel nun voll auf das Bett ihrer Tochter.<br />

Kreischend und fauchend richtete sich das Kätzchen, daß ihrer Tochter von einer der Dienerinnen<br />

geschenkt worden war auf, mit gesträubtem Fell buckelnd verbarg es seine Angst.<br />

Doch von Rhysian fehlte jede Spur. Die Decken waren zerwühlt, doch nicht so, als habe sie das Bett<br />

verlassen.<br />

„Jamiriel! Ashline! Mikari! Wo ist Rhysian - Helft mir, sie zu suchen!“ rief Ailanth, ohne sich von der<br />

Stelle zu rühren. Das Kätzchen fauchte noch einmal heftig. Im nächsten Augenblick sprang es hoch -<br />

doch es erreichte niemals sein Ziel. Mitten in der Luft wurde es aufgehalten.<br />

Sie atmete nur noch flach und verfolgte mit den Augen den Schatten, der sich schlangengleich über<br />

die weißen Decken bewegte, ausbreiteten und hob. Eine Gestalt formte sich aus, die das sträubende<br />

und zappelnde Kätzchen in ihren Händen hielt. Ailanth wich an die Wand zurück. An ihr Ohr drangen<br />

seltsame Geräusche, Wispern und Stöhnen, Rascheln und Knirschen. Ein Glockenspiel klingelte in<br />

der Ferne, und spielte eine altvertraute, aber schon lange nicht mehr vernommene Melodie. Der Duft<br />

von Jimere-Kuchen drang in ihre Nase, einer Süßigkeit, die sie in vergangenen Tagen eigenhändig für<br />

...<br />

Ailanth schüttelte den Kopf und kreuzte die Arme vor der Brust, formte das Sonnenrad mit den<br />

Fingern, um sich zu schützen und zu beruhigen - aber sie wußte nicht, ob es überhaupt half. Plötzlich<br />

spürte sie mit jeder Faser den Hauch einer Wesenheit, die ihr Verständnis überstieg. Ein Sturm, der<br />

nicht wirklich war umtoste sie und drohte sie von den Füßen zu reißen, heißer Atem trocknete ihre<br />

Haut, Eisnadeln zerstachen sie, Winde zerrten an ihren Verstand, ihrem Geist. Nur einmal spürte sie<br />

eine vertraute Aura in ihrer Nähe, streckte eine unsichtbare Hand aus und hielt diese fest, ehe sie<br />

davon gerissen werden konnte.<br />

Dann durchpulste sie heftiger Schmerz. Eisige Krallen fuhren über ihren Rücken. Ailanth schrie auf<br />

und sank in die Knie. Ihre Hände krallten sich in das Holz des Fußbodens - und entkrampften sich<br />

wieder, als die Bedrohung so schnell wich, wie sie gekommen war.<br />

Sie hörte jetzt nur noch ihren eigenen, stoßweisen Atem, dann ein Knacken und ein Platschen.<br />

Im nächsten Augenblick stützten sie kräftige Hände. Die Gelehrte wollte sich zuerst wehren, doch<br />

dann schaute sie sie erstaunt auf und rang nach Luft. Ein junger Mann mit rötlich-silbernem Haar hielt<br />

sie. „Mirtanh?“ wisperte sie ungläubig. „Mirthanh!“<br />

Er half ihr auf die Beine. Kaum hatte Ailanth wieder festen Halt, löste sie sich aus seinem Griff und<br />

wich an die Wand zurück. „Du kannst es nicht sein - du bist tot!“ wehrte sie schwach ab und starrte<br />

ihn an.<br />

Widersprüchliche Gefühle kämpften in ihrem Inneren um die Oberhand. Ihr Verstand riet ihr, so<br />

schnell wie möglich zu verschwinden, als ihr Blick wie zufällig auf das Kätzchen fiel, daß seltsam<br />

verkrümmt und mit zuckenden Vorderläufen auf dem Boden lag. Einen Moment erinnerte sie sich an<br />

zarte Finger, die einen Vogel umklammerten. Doch ihr Herz freute sich, den verlorenen Gefährten<br />

wiedergefunden zu haben.<br />

Er blickte sie traurig an. Seine blaugoldenen Augen schimmerten im schwachen Licht der Feuerschale<br />

fragend, als er seine Hand ausstreckte. „Ich bin Mirtanh. Dies ist eine Nacht, die Cherindrasta uns


Die Erinnerung der „Nacht“ - Christel Scheja<br />

schenkt. Eine, in der ich nicht nur Erinnerung bin. Ailanth, ich möchte dich in meinen Armen halten<br />

... dich spüren, um zu glauben, das alles wahr ist!“<br />

Ailanth schüttelte den Kopf. „Rhysian, unsere Tochter. Wir müssen unsere Tochter suchen“, sagte sie<br />

langsam und wich seiner Hand aus.<br />

„Rhysian...“ lächelte Mirtanh, oder wer er auch immer war, verträumt. „Du hast unseren Traum wahr<br />

gemacht und uns eine süße kleine Tochter geboren.“ Er deutete auf die Tür. „Sie ist in Sicherheit - ich<br />

habe sie unten spielen gesehen.“<br />

Kinderlachen drang an Ailanths Ohr. Sie drehte verwirrt den Kopf und stöhnte leise, als sie ein<br />

Schwindel erfaßte. Ja, so lachte Rhysian, sie war in ... Mirthan fing sie auf und drückte sie an sich. Er<br />

duftete nach Misis. „Ich kann es kaum glauben“ - murmelte sie benebelt, während er ihre Wange<br />

streichelte.<br />

„Mmmmaauuuw!“<br />

Ein klagender Laut erschreckte sie. Ailanth, die sich an den verlorengelaubten Geliebten schmiegte,<br />

schreckte auf. In den Augenwinkeln sah sie das Kätzchen im Todeskampf zucken. „Ailanth, ich liebe<br />

dich“, wisperte Mirthanh in ihr Ohr, um sie abzulenken. „Komm, laß uns einen Neubeginn machen<br />

und alles vergessen, was geschah. Das Leid, das dir deine unselige Tochter zufügte, werde ich<br />

hinwegwischen und...“<br />

Langsam hob die Gelehrte ihren Kopf und blickte in die Augen des Mannes. Sie wollte selber sehen,<br />

was sie innerlich zu begreifen begann. Gieriger Triumph glitzerte in Mirthans Augen, sein Lächeln<br />

gefror zu einer grausamen Maske, während sich eine Hand in ihr Haar klammerte.<br />

Sie war in die Falle gegangen!<br />

„Nein!“ Ailanth stemmte ihre Hände gegen den Körper - und griff durch den Körper hindurch. Ihr<br />

Kopf wurde in den Nacken gerissen, während sie auch mit den Füßen den Halt verlor. Mirthans<br />

schönes Gesicht verfärbte sich dunkel, verzerrte sich zu einer Fratze während sie um sich trat und<br />

schlug, die düsteren Nebelschwaden wegzuwehen versuchte, die an ihr zogen und rissen, während sie<br />

nichts bewirkte. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen. Ailanth schrie, als sich nadelfeine<br />

Stacheln in sie bohrten und zu lähmen begannen. Sie streckte die Hände hilfesuchend nach einem<br />

Schatten aus, der sich in der Nähe der Tür befand, so als könne er ihr helfen.<br />

Der Nebel riß sie in die Höhe. Ailanth stieß sich mit den Füßen von der Decke ab, während sich der<br />

düstere Nebel plötzlich zusammenzog und enge Schnüre um sie bildete. Dumpfes Lachen erfüllte den<br />

Raum...<br />

Bunte Lichter tanzen vor den Augen der Gelehrten, die keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte,<br />

weil ihr die Luft aus den Lungen gepreßt wurde. Es war vorbei. Bei all ihrem Wissen, ihrer Erfahrung<br />

... Sie hatte mehr als nur versagt. Und so geschah es ihr recht, zu sterben, ohne zu wissen, warum...<br />

Dann schlossen sich schmale, aber kräftige Finger um das Handgelenk ihres ausgestreckten Armes.<br />

Ailanth drehte den Kopf. Viel konnte sie nicht mehr erkennen, weil alles vor ihrem Blick<br />

verschwamm, aber sie spürte, wie sie heruntergezogen und die Schnüre von einer blitzenden Klinge<br />

durchtrennt wurden. Dann prallte sie heftig auf dem Boden auf. Das letzte was sie hörte war ein<br />

durchdringendes, grelles Heulen, dann wurde es dunkel um sie.<br />

���<br />

Als Ailanth erwachte, schmerzte jeder Knochen in ihrem Leib. Sie stöhnte, als sie sich bewegte und<br />

die Augen öffnete. Die weiße Decke der Eingangshalle, vom gelben Licht der Stundenkerzen<br />

erleuchtet, schimmerte ihr entgegen. An den Schatten, die sie warfen, erkannte sie, daß sie nicht<br />

alleine war.<br />

Vorsichtig hob Ailanth ihren Kopf, während ihr Herz heftiger zu schlagen begann. Die Gestalt neben<br />

ihr sah ziemlich mitgenommen aus. Das grobleinerne Gewand hing in Fetzen von dem<br />

zerschrammten, blutigen Leib, und die Haare waren eine wirre, verdreckte Masse. Jenseits der Türen<br />

wisperte und raunte es, klapperte Holz, klirrte Metall, raschelte Papier und Stoff, schabte Stein über<br />

Stein.<br />

„So geht das schon die ganze Zeit. Du hättest nicht so viele Dinge ansammeln sollen, die ihnen<br />

gefallen. Wenigstens schreckt sie die Macht der vier Bilder ab ...“, murmelte die Gestalt stockend und<br />

hob den Kopf.<br />

Ailanth schluckte. „Aziareya!“ stieß sie entsetzt hervor.<br />

„Ja, Mutter, ganz recht. Und was ist nun, willst du mich töten?“


Die Erinnerung der „Nacht“ - Christel Scheja<br />

Die Gelehrte setzte sich ganz auf und ballte die Hände zu Fäusten. Einen Augenblick wallte Wut in<br />

ihr hoch - der ganze Haß auf die mißratene Tochter, die Mörderin, aber dann erlosch die Flamme<br />

dieser Gefühle mit einem Mal und hinterließ nur Leere. Sie schüttelte müde den Kopf. Später - jetzt<br />

bereiteten ihr andere Dinge Sorgen. „Was ist geschehen?“ fragte sie, wieder ganz Gelehrte.<br />

Aziareya rieb über eine verschorfte Wunde an ihrem Handgelenk und gab bereitwillig Antwort: „Ich<br />

weiß es auch nicht. Draußen ist noch immer Nacht, obgleich es schon längst hätte Tag sein müssen.<br />

Ich weiß nur, daß ich ... für Augenblicke so benommen war, daß mein Geliebter aus meinem Armen<br />

verschwand, ohne sich aus der Verschlungenheit unserer Körper zu lösen ... Ich bin durch die Straßen<br />

geirrt, als ich keinen mehr in der Stube fand ... Viele der Häuser waren leer, aber hier sind noch Menschen.<br />

Ich habe einen fliehen sehen - vor einer wabernden Masse. Wir sind nicht allein ... da sind<br />

Schatten, die lebendig werden und sich von ihren Besitzern lösen ... glühende Augen, die mich<br />

ansahen, Krallen aus dem Nichts, die sich in meine Haut gruben ... Es ist besser wegzulaufen ...<br />

kletterte auf Dachterrasse, aber da schlug mir etwas in den Rücken ... Kraft floß in mich, schlug nach<br />

dem Maul ... Dann zu dir. Ich glaube zu ersticken, und sah dann auch, warum. Du ... „ Ailanth sah,<br />

wie Aziareya sich krümmte und streckte zögernd die Hand aus. Ihre Tochter sah sie nur an und rührte<br />

sich nicht. So schob sie das Haar beiseite. „Die Wunden sehen übel aus. Wir werden sie verarzten<br />

müssen!“ Dann lächelte sie traurig. „Unter anderen Umständen hätte ich über deine Wunden gelacht,<br />

jetzt ...“<br />

„Schhht!“ unterbrach sie ihre Tochter heftig, als wolle sie von diesem ungeliebten Thema ablenken.<br />

„Hörst du das. Es ist still geworden“, stieß sie hervor.<br />

Ailanth horchte auf. Aziareya hatte recht. Von jenseits der Türen war kein Laut zu hören. Was auch<br />

immer das zu bedeuten hatte ... gutes oder schlechtes - hier konnten sie auf Dauer nicht bleiben, auf<br />

dem kalten Steinboden.<br />

Die Gelehrte schloß die Augen. Langsam beruhigte sie ihren Geist und tat das, weswegen man sie in<br />

ihrer Heimat auch Seherin genannt hatte: Sie spürte die Umgebung um sich herum und stöhnte, als sie<br />

glaubte, in brennendes Feuer gehüllt zu werden. Aber das, wonach sie suchte, war nicht mehr in der<br />

Nähe, hatte sich längst anderen Orten zugewandt. Rasch löste sie sich aus ihrer Meditation und blickte<br />

erstaunt auf Aziareya, die kalkweiß geworden war. „Tu das nie wieder - Mutter! Du bringst mich<br />

damit um!“<br />

���<br />

Schließlich waren alle Türen, Fenster, Öffnungen so fest verschlossen oder gesichert, daß kein<br />

fremdartiges Wesen mehr in das Untergeschoß eindringen konnte. Ailanth zog nun auch den letzten<br />

Vorhang zurück, weil sie eine mögliche Gefahr lieber sehen wollte und starrte durch das<br />

Kristallfenster, das sie ein Vermögen gekostet hatte in den Garten. Noch immer war es Nacht,<br />

obgleich sie Stunden gebraucht hatte, um Aziareyas Wunden zu verarzten und die unteren Räume zu<br />

schützen. Nun lag das Mädchen auf dem Divan und schlief. Auch Ailanth fühlte sich müde, aber sie<br />

konnte und wollte nicht ausruhen. Immer wieder konnte so etwas geschehen, wie in Rhysians Zimmer.<br />

Ein Frösteln überkam sie, als sie daran dachte. „Mirtanh!“ murmelte sie und schloß die Augen, dachte<br />

voller Grauen an das Wesen, daß ihn so täuschend dargestellt hatte, um sie zu verführen - und ihr die<br />

Lebenskraft zu rauben.<br />

Er war so täuschend echt gewesen. Seine Augen - sein Blick, alles an ihm war der Geliebte gewesen<br />

... Konnte es nicht sein, daß dieses Geschöpf, so tief in ihre Erinnerungen gegriffen hatte, daß sie ein<br />

wahres Abbild vor sich gesehen hatte.<br />

Ailanth zuckte plötzlich zusammen, als sie an das seltsame Glitzern in seinen Augen dachte und<br />

blickte unwillkürlich auf ihre Tochter - die aus welchen Gründen auch immer gekommen war, um ihr<br />

zu helfen. Zwar hatte sie im Halbschlaf etwas von „Verbindung“ gemurmelt, und daß sie „hatte mit<br />

ihr reden wollen“, aber genaueres würde sie erst erfahren, wenn es Aziareya besser ging.<br />

Ailanth seufzte. Vielleicht hatte das Schicksal es gerade so gefügt, daß sie in dieser unerklärlich<br />

langen Nacht zueinandergefunden hatten: Wenn sie 'reya auch noch immer nicht verzeihen konnte,<br />

mittlerweile war sie wenigstens bereit, ihre Tochter anzuhören, ohne den Dolch bereitzuhalten.<br />

„Es wäre auch mein Tod gewesen“, murmelte sie in den Raum.<br />

Sie stand auf und trat näher an das Kristallfenster heran. Von hier unten aus konnte sie nur wenig<br />

Himmel sehen, aber sie sah Sterne blitzen, nur dann und wann verschwammen sie hinter schwarzem


Die Erinnerung der „Nacht“ - Christel Scheja<br />

Dunst. Drückend lastete diese Nacht über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> und sie spürte auch, wie jede geschlagene<br />

Wunde heftiger schmerzte als üblich.<br />

„Was ist das nur“, fragte sie sich selber und schüttelte den Kopf. Hier war selbst sie ratlos, denn die<br />

Qual während der Trance hatte ihr gereicht, Noch einmal wollte sie sich diesen Schmerzen nicht<br />

aussetzen. Ihr blieb nur, zu warten, sich um Aziareya zu kümmern - und zu hoffen, daß diese<br />

grauenhafte „Nacht“ endlich ein Ende fand...


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten<br />

Dietmar Cremers<br />

Die Unterstadt <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s stank erbärmlich. Die Hitze des späten Hamilé trug einen wesentlichen<br />

Teil dazu bei. Die Kleider der Bettler schimmelten, totes Fleisch faulte auf den Straßen vor sich hin,<br />

die ganze Stadt schien zu verwesen. Der Geruch im Zweischneidigen Schwert, einer der größten<br />

Kneipen der Unterstadt, war an diesem Abend nur wenig erträglicher. Das übliche Pack stand dicht an<br />

dicht und schwitzte, grölte oder erbrach Bier.<br />

In der Mitte des Raumes saß ein kleiner, unscheinbarer Mann an einem runden Tisch. Seine Runzeln<br />

und sein graues, eingefallenes Gesicht ließen ihn so alt wie die Berge erscheinen. Was wohl daran lag,<br />

daß dies tatsächlich sein ungefähres Alter war. Vor ihm stand unberührt ein Krug klaren Wassers. Das<br />

Zweischneidige Schwert war hoffnungslos überfüllt, doch um den grauen Mann herum war der Platz<br />

frei, wie eine Lichtung in einem dichten Tannenwald. Die nächsten Menschen standen mit dem<br />

Rücken zu ihm, die anderen blickten über ihn hinweg. Es schien keine böse Absicht zu sein, es war<br />

eher ein blinder Fleck mitten in der Menge, in dem das menschliche Auge erst gar nicht ein Objekt<br />

vermutete.<br />

Der Alte hingegen beobachtete seine Umgebung sehr genau und so entging ihm auch nicht, daß sich<br />

soeben ein großes, zotteliges Etwas durch die Menge schob. Dieser Mann kam mit Sicherheit nicht<br />

aus der Stadt. Allein sein Äußeres verriet eine fremdländische Herkunft: Seine rostbraunen Barthaare<br />

wuchsen ihm bis dicht unter die Augen und schienen mit einem gleichfarbigen Bärenfell zu<br />

verschmelzen, das er als Mantel trug. Seine Hände und Füße waren nackt und dicht behaart. Das<br />

Auffallendste an ihm war jedoch ein schwerer, langer Knochen, der in seinem wallenden Haar zu<br />

schweben schien, was den Gesetzen der Natur doch ganz außerordentlich widersprach und deshalb<br />

magisch sein mußte. Ebensowenig mußte Mutter Natur damit einverstanden sein, daß das eine Ende<br />

des Knochens fest mit einer Hülle aus Granit verschmolzen war.<br />

Dem Behaarten war die Enge in dem Raum offensichtlich unangenehm. Er schien augenscheinlich<br />

nicht vertraut zu sein mit der rüpelhaften Ellbogentaktik, die man benötigte um in einer vollen Kneipe<br />

von Punkt A nach Punkt B zu kommen. Statt dessen schob er sich seitwärts an den Leuten vorbei in<br />

dem sinnlosen Unterfangen niemandem wirklich nahe zu kommen. Naturgemäß wurde seine Route<br />

immer wieder versperrt und ähnelte mehr einem planlosen Irrweg durch ein absurdes Labyrinth. Sein<br />

Beobachter am runden Tisch warf die Stirn in Falten. Ein Gast? Oh ja, ein Gast. Der Alte nickte<br />

nachdenklich. Sieh da, ein Sohn der Berge. Es ist lange her, oh ja. Ein verwandtes Kind. Wie schön,<br />

wie schön... Ein leichter Windhauch zog durch den Raum. Innerhalb von Sekundenbruchteilen waren<br />

der Tisch, der Krug und der Alte verschwunden. Niemand schien sich darum zu kümmern, der leere<br />

Platz in der Mitte wurde einfach von den nachrückenden Menschen aufgefüllt. Keinem der<br />

Betrunkenen fiel der kleine Kieselstein auf, der jetzt achtlos von schweren Stiefeln über den Boden<br />

getreten wurde. Der Bergmeister schmunzelte in seiner eisigen Höhle....<br />

Unterdessen hatte der Mann in dem Bärenfell einen Weg durch die Kneipe gefunden. Zwischen ihm<br />

und dem Tresen befand sich nur noch ein letztes Hindernis: Ein junger Bursche in schwarzer<br />

Lederkleidung stand dort mit dem Rücken zu ihm und strich sich über einen dünnen Oberlippenbart.<br />

Dann rümpfte er plötzlich die Nase, drehte sich in einer geschmeidigen Bewegung um und blickte<br />

dem neuen Gast scharf in die Augen. Dieser senkte seinen Blick etwas, stand jedoch ruhig da und<br />

wartete anscheinend darauf, daß sich sein Gegenüber schon irgendwann in Luft auflösen würde. Der<br />

Junge beugte sich leicht vor und schnupperte kurz an dem Fell des Anderen. Angewidert verzog er das<br />

Gesicht. Seine Augen verengten sich und seine Hand tastete unmerklich zu einem kurzen Rapier an<br />

seiner Seite. Dann schien er es sich anders zu überlegen: Mit einer halb einladenden, halb abfälligen<br />

Bewegung machte er seinen Platz an der Theke frei und verschwand in der Menge.<br />

Der Neue schob sich an den Tresen und augenblicklich stand ihm ein älterer Mann gegenüber. Man<br />

sah diesem an, daß er nicht sein ganzes Leben lang nur Wirt gewesen war. Sein Gesicht war von<br />

mehreren Narben durchschnitten und ein Armstumpf zeugte von einem mißlichen Gefecht. „Was<br />

trinken, Fremder?“ Weder das seltsame Aussehen noch der strenge Geruch seines Gastes schienen<br />

den Wirt zu stören. „Den Aloumenn-Vioù.“ - „Bin ja schon weit gekommen, Fremder, aber das<br />

Gesöff kenn´ ich nicht.“, antwortete der Einarmige gutgelaunt. „Mein Name.“, brummelte der<br />

Behaarte mit etwas gequälter Stimme „Das is’ mein Name. Ich brauch’ Informationen.“ Der Wirt


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

stemmte die Hand in seine Hüfte. „So so, mein Starker. Und der meine ist Elmar Einarm. Und in<br />

erster Linie bin ich Schankwart. Trinken, du verstehst? Zechen, saufen, bechern, kippen, picheln,<br />

klar? Vorher nix Infos.“ Den blickte unschlüssig auf dem Tresen umher. Die umstehenden Besucher<br />

waren bereits durch die laute Stimme Elmars aufmerksam geworden. Sie starrten den Zotteligen mit<br />

unverhohlener Neugierde an, was diesem äußerst unangenehm war. Er schrumpfte etwas in sich<br />

hinein und wollte anscheinend im Erdboden versinken, was jedoch bei seiner Größe von über einem<br />

Sprung eher lächerlich wirkte. Schließlich verlangte er mit leiser Stimme: „Ein Eimer Bier.“ Die<br />

Zuhörer schoben sich noch etwas näher heran. Hier schien ein interessantes Schauspiel vor sich zu<br />

gehen. Mal sehen, wie der Wirt mit diesem haarigen Trottel fertig wurde. Aber Elmar Einarm hatte<br />

sich durch langjährige Erfahrung eine gehörige Portion Geduld antrainiert. Und schließlich wußte er,<br />

daß ein erfolgreicher Wirt auch immer ein Alleinunterhalter seiner Gäste sein muß. Also tätschelte er<br />

mit einer theatralischen, beruhigenden Geste die behaarte Hand Dens und säuselte mit zuckersüßer<br />

Stimme: „Mein lieber, armer Freund. Die Maßeinheit dieses Etablissements sind halbe und ganze<br />

Krüge. Meinst du nicht, daß das für den Anfang genügen sollte?“ Die Umstehenden lachten leise. Den<br />

schaute von ihnen zu der Hand Elmars. Dann drehte er seine Hand um und packte die des Wirtes in<br />

einem festen Griff. Mit immer noch ruhiger, aber stupide beharrlicher Stimme sagte er: „‘Nen Eimer.<br />

Und Informationen.“ - „Oh ho!“, rief der Wirt. „Wir haben hier aber einen entschlossenen<br />

Zeitgenossen! Nun gut, du sollst deine Informationen und deinen Eimer Bier erhalten. Und zwar<br />

umsonst.“ Dann wechselte er den Griff, so daß sich die beiden in der Haltung zweier Armdrücker<br />

gegenüberstanden. „Aber erst, mein Lieber, mußt du mich darin besiegen.“ Und er begann zu drücken.<br />

Den war davon so überrascht, daß seine Hand schon fast auf dem Tresen lag, bevor er überhaupt<br />

begann ernsthaften Widerstand zu leisten. Er sah auf seine und Elmars ineinander verkrampften<br />

Hände, als ob er nicht ganz verstehen würde, was hier eigentlich vor sich ging. In dieser Position<br />

verharrten sie. Elmar mit einem angestrengten, aber siegessicheren Grinsen, Den mit einem<br />

verwunderten Blick. Die Menge um sie herum johlte begeistert. Elmar war für seine alten<br />

Söldnerspäßchen bekannt und hatte bisher nur selten verloren. Eine ganze Menge Wetten wurden<br />

bereits zu seinen Gunsten ausgehandelt, als ein Schimmer der Erkenntnis über Dens Gesicht zog. Er<br />

legte den Kopf in den Nacken ohne die Kontrolle über seinen Arm zu verlieren und lachte dröhnend.<br />

Dann legte er den Arm des Wirtes um. Einfach so, in einer einzigen flüssigen Bewegung. Als ob er<br />

nur einen Hebel umgelegt hätte.<br />

Für einen kurzen Augenblick war es still um sie herum. Dann brach ein wahrer Orkan an Gelächter<br />

los. „Du hast verloren, Elmar!“ - „Mann, der hat`s dir aber gezeigt, Elmar!“ - „Ein Eimer Bier, `mal<br />

sehen, ob er genauso gut saufen kann!“ Das Gelächter verstummte jedoch schnell, als sich der Mann,<br />

der die Wetten gegen Den angenommen hatte, gerade klammheimlich aus dem Staub machen wollte.<br />

Es entstand ein größerer Tumult und während die meisten Anwesenden auf die Straße eilten um eine<br />

wilde Verfolgungsjagd aufzunehmen, zog Elmar seinen Bezwinger in eine ruhige Ecke neben der<br />

Theke. „Nun,“, er kratzte sich mit einem gutmütigen Lächeln am Kopf „du hast mich besiegt, Den<br />

Aludingsda. Und ich halte mein Versprechen.“ Er nickte einem jungen Schankburschen zu, der kurz<br />

darauf ein Holzfaß anrollte und es mit sichtlicher Mühe auf den Tresen hob. Elmar schenkte zwei<br />

Krüge voll ein und schob einen vor Den. Dann erhob er seinen und sagte: „Möge deine Kraft nie<br />

versiegen, mein Freund.“ Den grinste, packte statt dem Krug das Faß, erhob es und stieß damit an.<br />

„Möge dein Bier nie versiegen ... mein Freund.“ Lächelnd trank er in großen Zügen, daß ihm das Bier<br />

durch die Haare in seinem Gesicht floß. Schließlich setzte er das Faß ab, wischte sich durch den Bart<br />

und machte ein ernstes Gesicht. „Ich brauche jemanden, der sich in dieser Stadt auskennt. Der mir<br />

hilft etwas zu finden. Ich suche einen Gegenstand.“ Elmar legte zwei Finger an das Kinn. „Ich nehme<br />

nicht an, daß du mir sagen willst, worum es sich handelt. Aber da du nicht einfach zum nächsten<br />

Händler gegangen bist, wird es sich wohl um etwas einmaliges handeln. Womöglich in fremdem<br />

Besitz also?“ Den brummte nur und nahm einen weiteren, tiefen Schluck. „Nun, ich könnte dir einen<br />

geschickten Dieb empfehlen oder gar einen Meuchler. Aber du weißt ja nicht, wo du suchen sollst,<br />

hm?“ Ein weiteres Brummen, ein weiterer Schluck. „Also brauchst du erst einmal jemanden, der<br />

wiederum viele Leute kennt. Und bessere Beziehungen hat als ich. Zur Ober- und zur Unterstadt. Tja,<br />

du suchst eindeutig nach Corwin Dery.“ - „Corwin Dery?“ - „Ja, er weiß mehr über den<br />

Aufenthaltsort von, hm, Gegenständen als jeder hier. Aber ich warne dich. Wenn es sich um sehr<br />

wertvolle Sachen handelt, Schmuckstücke oder so, oder gar um magische Artefakte, dann ist es<br />

höchstwahrscheinlich, daß er dich übers Ohr haut.“ - „Nichts wertvolles. Nichts magisches. Ich suche<br />

einen einfachen ... Totenschädel.“


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

„Netter Versuch, Kleine!“ Tin von Erzfeld hielt die widerliche Göre am ausgestreckten Arm fest.<br />

Diese Frechheit war ja kaum zu glauben: Einer seiner ersten Ausflüge in die Unterstadt, nachdem er<br />

von diesen Katzenviechern beinahe in den Tod getrieben wurde, sein unzuverlässiger Diener Baran<br />

hatte sich gerade für ein kurzes Geschäft in die Schenke entfernt und prompt hatte dieser ekelhafte<br />

Fratz versucht ihm die Geldbörse zu stehlen! Nun ja, Frechheit siegt nicht immer. Vielleicht sollte er<br />

ihr die Finger brechen. Oder doch besser gleich den ganzen Arm? He, warum eigentlich nur einen?<br />

Aber, verflucht, noch während er sich seinen herrlich sadistischen Gedanken hingab, hatte sich die<br />

Diebin losgerissen und jagte die offene Straße hinunter. Gut, dann eben eine schnelle Strafe! Mit<br />

einem hastigen Ruck griff sich Tin die schußbereite Armbrust.<br />

In diesem Augenblick kam der Mann mit dem Bärenfell aus dem Zweischneidigen Schwert ... und<br />

verkannte die Situation völlig. Ein junges Mädchen floh vor einem bösartigen Knaben mit einer<br />

Armbrust. Die Kleine wirkte unschuldig mit ihrem braunen Haar und den braunen Augen. Nein, eine<br />

solche Sachlage mußte geradezu eine Herausforderung für jeden wahren Sohn der Berge sein. Daß der<br />

Angreifer an einen beweglichen Stuhl gefesselt war, machte es nicht besser: Er hatte die Waffe, also<br />

war er der Jäger und die Kleine das Reh! Ein paar schnelle Schritte und ein kurzer Hieb auf die<br />

gespannte Armbrust waren eins für Den. Die Waffe zerbarst in der Hand, der Pfeil fiel nutzlos zu<br />

Boden. Mit einem Blick vergewisserte er sich, daß das fliehende Mädchen außer Reichweite war. Als<br />

er sich wieder umwandte um dem Jäger ein paar wütende Ermahnungen über den echten Sinn einer<br />

Jagd zukommen zu lassen, bekam er mit voller Wucht einen Stein von der Seite ins Gesicht<br />

geschleudert. Der ihn geworfen hatte, war ebenfalls aus dem Wirtshaus gekommen: ein größerer<br />

Mann mit einem entschlossenen Gesicht, der nun auf Den zujagte. „Schnapp’ ihn dir, Baran“, schrie<br />

das Scheusal im Rollstuhl. Allem Anschein nach waren genau das die Worte, die Baran nicht nur<br />

täglich hörte, sondern denen er auch gewohnheitsmäßig Folge leistete, denn noch im Laufen<br />

krempelte er sich die Hemdsärmel mit der mechanischen Geste eines geübten Schlägers auf. Keine<br />

Zeit für lange Reden: Den stieß den anstürmenden Klotz beiseite, sprang über den geifernden Tin<br />

hinweg und gab Fersengeld. Im Rennen noch hörte er die Worte, die er aus seiner Heimat nur allzu<br />

gut kannte: „Du verdammtes Vieh! Dich kriege ich, wart’s nur ab!“<br />

Erst einige Hausecken weiter, in einer unbekannten Umgebung, erkannte Den, daß er nicht mehr<br />

verfolgt wurde. In der Dunkelheit der Nacht fand er einen Heuhaufen, kroch hinein und schlief wenig<br />

später erschöpft und leicht angetrunken ein. Er hatte eine gute Tat getan!<br />

„Ein Nuu-Giik ist in der Stadt, Meister!“ Bröbbel küßte mit wahrem Feuereifer den Saum der<br />

flammend roten Robe seines Herrn. Artin Rebur, seines Zeichens Kopfgeldjäger von bedeutendem<br />

Ruf, verzog angewidert das Gesicht. „Steh’ auf, Bröbbel, und wische gefälligst deinen schleimigen<br />

Sabber von meinem Umhang! Ein Nuu-Giik, sagst du? Niemand in den Ostländern hat je einen zu<br />

Gesicht bekommen. Ich selbst las vor einigen Jahren, sie seien ausgestorben. Also, lügnerische Kröte,<br />

was hast du wirklich gesehen?“ - „Mit Verlaub, oh Beherrscher der magischen Fessel, laßt mich Euch<br />

korrigieren.“ Bröbbel wimmerte und wand sich. „ Meine Wenigkeit dürfte tatsächlich der einzige<br />

Mensch in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> sein, dem je eine dieser abscheulichen Kreaturen begegnet ist. Als ich ein<br />

kleiner Junge war, verdiente ich ein paar kümmerliche Bronzesonnen mit Fingerübungen in anderer<br />

Leute Taschen. Nicht ohne ganz außerordentlichen Erfolg, wie ich Euch untertänigst berichten kann.<br />

So gelangte ich einst auf den Markt von Agranon, einem dreckigen Kaff in der Wolfshöhle. Eine<br />

Gruppe fahrender Gaukler vollführte dort ihre armseligen Kunststückchen. Einer von ihnen hatte<br />

einen abgemagerten Nuu-Giik an einer langen Kette. Er ließ ihn für die Menge tanzen und gegen eine<br />

kleine Münze durfte man den Pelz in seinem Gesicht anfassen. Er war so ... flauschig. Wenig später<br />

wurden die Gaukler verhaftet. Der Nuu-Giik starb kurz darauf und wurde auf irgendeinem Acker<br />

verscharrt.“ - „Na und? Was kümmert mich deine schäbige Jugend?“ Artin Rebur trommelte<br />

ungeduldig mit den Fingern. „Aber, oh Meister aller Schatten, drüben im Imperium zahlen sie für<br />

einen erwachsenen Nuu-Giik bis zu 30 Goldsonnen! Und dieser hier ist kräftig gebaut. Wir würden<br />

vielleicht sogar etwas mehr bekommen. Ihr müßtet ihn Euch nur einfangen.“ Bröbbel’s gierige Augen<br />

leuchteten. „Armer kleiner Bröbbel.“ Die kalte Stimme des Kopfgeldjägers wurde beinahe mitleidig.<br />

„Wenn die alten Schriften stimmen, dann wollen sie zu Hause den ganzen Körper eines lebenden<br />

Exemplars. Sie opfern ihn dort irgendeiner komischen Gottheit, nicht wahr? Und jetzt, mein<br />

zurückgebliebener Freund, rechne nur einmal nach. Wenn dieser hier so stark ist, wie du sagst, dann<br />

ist er das bestimmt nicht nur äußerlich. Die Nuu-Giik sollen auch eine erstaunliche Willensstärke,


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

einen massiven Drang nach Freiheit haben. Selbst wenn wir ihn in einen Käfig sperren und ihm<br />

täglich eine Portion Hesvitegras verabreichen: Du bräuchtest zwei Ochsen um den Käfig zu ziehen,<br />

weiterhin zwei Personen zu seiner Bewachung. Soll ich etwa meinen beiden besten Handlangern ein<br />

halbes Jahr bezahlten Urlaub geben für eine Reise ins Nordreich und zurück? Nein, Bröbbel, schlag’<br />

dir das aus dem Kopf. Dazu ist der Kerl einfach zu billig. Und außerdem ... laß´ uns doch einmal<br />

abwarten. Wenn er wirklich ein Nuu-Giik ist, dann wird er bald Leben in unsere Stadt bringen. Er<br />

wird schon durch sein Aussehen die eitlen Patrizier provozieren. Aber das beste von allem: Er wird<br />

bald töten müssen, denn dieses Volk braucht Blut zum Überleben. Bei Selefra, in dieser Hinsicht<br />

fühle ich mich ihm nahezu verwandt.“ Artin Rebur lächelte in sich hinein, während Bröbbel einen<br />

enttäuschten Schmollmund zog. „Dennoch, Meister, wenn ich einen Vorschlag machen darf: Ihr<br />

solltet ein Auge auf ihn haben. Ich habe gehört, wie er sich bei Elmar Einarm nach Corwin Dery<br />

erkundigt hat. Ich verwette eine meiner drei Zehen, daß er nach irgend etwas sucht, was<br />

möglicherweise wertvoller sein könnte als er selbst.“ Rebur warf einen kurzen Blick auf Bröbbel’s<br />

verstümmelten Fuß, an dem zwei frische Stümpfe bewiesen, daß der Kopfgeldjäger solche<br />

dahingesagten Sätze sehr, sehr ernst nahm. „Dery also, hm? Nun, wenn ein Pelzkopf von den<br />

Steinhöhen herabsteigt, so wird das seinen Grund haben. Du wirst ihn beschatten.“ Bröbbel, dem der<br />

Blick seines Herren auf seinen Fuß nicht entgangen war, wandte sich eingeschüchtert zur schwarzen<br />

Tür. - „Bröbbel? Sei dir nicht zu sicher. Nuu-Giik haben eventuell Fähigkeiten, die wir nicht kennen.<br />

Halte Abstand von ihm, verstanden?“<br />

Bröbbel verzerrte die wulstigen Lippen zu einer spöttischen Grimasse und machte eine wegwerfende<br />

Handbewegung. Die Tür fiel ins Schloß.<br />

Geräusche.<br />

Dunkelheit.<br />

Den entschied sich dafür, daß er unmöglich wach sein konnte. Er beschloß diesen unangemeldeten<br />

Traum wenigstens mit Spannung zu verfolgen, wenn er schon einmal da war. Was geschah jetzt? Oh,<br />

irgend etwas polterte da. Den Schmerzen zufolge mußte das sein Kopf sein, der über irgendeine<br />

Treppe aufwärts geschleift wurde. Konnte man im Traum Schmerz empfinden? Und da zerrte doch<br />

etwas an seinen Beinen? Bei allen Göttern: Das Denken fiel ihm so schwer, daß er wirklich träumen<br />

mußte! Hm, ‘mal sehen, also wenn da meine Beine sind und hier mein Kopf ... Dann muß hier<br />

irgendwo mein Arm sein... Er versuchte, seine Finger zu finden. Da, eine Berührung! Etwas Nasses<br />

zog an seiner Hand vorbei. Oder zog seine Hand vielmehr selbst hindurch? Nun, er könnte ja<br />

spaßeshalber ausprobieren, ob sie sich bewegen ließ ... Nein. Keine Hoffnung. Seine Muskeln<br />

schienen zwar zu gehorchen, aber sein Unterarm schien an seinen Körper geklemmt zu sein. Leichte<br />

Panik färbte Den’s vernebelten Geist zartrosa. Fesseln? Bin ich etwa gefesselt? Ist es das, was ich<br />

denken sollte? Aber ich bewege mich doch, wie kann ich dann...<br />

Andere Geräusche, sie klangen nach Stimmen. „Bringt ihn hier ‘rüber.“ - „Bei Petek, ist der schwer.“<br />

- „Und schau’ dir diese Zotteln an.“ - „Wenn ich das vorher gewußt hätte, hätt’ ich ‘ne Sonne mehr<br />

verlangt.“ - „Und ich hätt’ dem Schnösel gesagt, er soll ihn doch selbst wegschaffen.“ - „Hä, hä,<br />

konnt’ ja nich’ in seinem Rollstuhl.“ Den’s letze Gedanken waren: „Die Trapper! Sie haben mein<br />

Volk so lange gejagt. Jetzt haben sie mich gekriegt. Mich! Oh, Ihr Geister...“<br />

Den schreckte aus einem Alptraum hoch. Er war wie üblich nach dem Mittagessen eingenickt. Das lag<br />

an dem Rauschmittel, das seine Wärter in die dünne Wassersuppe mischten. Er hatte es schon<br />

gerochen, als ihm der Teller das erste Mal durch eine Luke in der stabilen Tür zugeschoben wurde.<br />

Drei Tage lang hatte er deshalb die Nahrung verweigert, hatte in dem kleinen Raum herumgetobt, sich<br />

die Fingernägel an den Mauern blutig gekratzt und wieder und wieder an den Gitterstäben des<br />

schmalen Fensters gerüttelt. Schließlich war er so ausgezehrt, daß er aufgab. Jetzt aß er seine<br />

täglichen Mahlzeiten mit der Resignation eines Todgeweihten, was jedoch eine ständige Ermattung<br />

zur Folge hatte. Seine Aufpasser hatten inzwischen jeglichen Respekt vor ihm verloren: Sie kamen<br />

hin und wieder zu ihm, begrapschten seinen Bart, machten Witze über tote Bären oder nannten ihn ein<br />

„braves Tier“. Sogar die Zellentür ließen sie offenstehen. Dies bedeutete für Den nur eine weitere<br />

Demütigung, denn er war zu schwach um mehr als fünf Schritte zu tun und zu willenlos um sich für<br />

einen Ausweg zu interessieren. Den Aloumenn-Vioù war gebrochen. Hier würde er sterben. Und<br />

alles, was er hoffte war, daß es schnell gehen würde und er bis dahin seine Ruhe hätte. Ja, die Trapper<br />

hatten ihn wirklich gekriegt! Doch hier, in diesem fremden Land, waren sie anders als zuhause. Sie


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

hatten ihn nicht betäubt, um ihn an die Priester zu verkaufen, die ihn ihrem Gott opfern würden. Oder<br />

doch? Wollten sie nur zuerst seinen Willen brechen um ihn dann schließlich doch noch dem Feuer zu<br />

übergeben? Nun, was das anging: Sie hatten es geschafft. Aber so langsam mußten sie sich mit dem<br />

Verbrennen beeilen, denn sonst würde er noch vorher eingehen aus Mangel an ... Da, war da nicht ein<br />

Geräusch? Irgendwas hatte seine Ruhe gestört. Den dachte seinen letzten Gedanken zu Ende: „Aus<br />

Mangel an Freiheit.“ Dann erhob er sich ein wenig von dem großen Strohballen, auf dem er lag und<br />

strengte seine müden Augen an. Aus dem Halbdunkel seiner Kammer formte sich eine kleine Gestalt.<br />

Eine sehr kleinwüchsige Person offenbar, mit einem ganz undamenhaften roten Bart. Sie trug eine<br />

zerfetzte grüne Robe, auf der einige goldene Symbole aufgestickt waren. Sie waren teils verblaßt, teils<br />

abgerissen und ergaben für Den keinen Sinn. Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber sie schien noch in<br />

recht jungen Jahren zu sein, wenn man von ihren vorzeitig ergrauten Haaren absah. Das<br />

merkwürdigste für Den war jedoch ein verbeulter, sehr spitz zulaufender Hut aus dem gleichen<br />

Material ihres Gewandes, den sie etwas schief auf dem Kopf trug. „‘N schöner Hut“, brummelte Den<br />

matt. Die Kleine trat an ihn heran, so daß er aus seiner Position ein wenig zu ihr aufsehen mußte. Sie<br />

stemmte die Hände in die Seiten. „Allerdings“, verkündete sie mit lauter Stimme. „Das ist ein<br />

Zauberhut. Ich bin nämlich eine große Zauberin. Klar? Und meine Name ist Aljuscha.“ - „So so, ‘ne<br />

Zauberin bist du. Hab’ noch nicht viele gesehen.“ Den setzte sich zurück und lehnte sich an die<br />

feuchte Mauer. Aljuscha, die es anscheinend nicht leiden mochte, daß Den jetzt wieder größer war als<br />

sie, kletterte auf den Strohballen und baute sich über seinen ausgestreckten Beinen auf. „Das glaubst<br />

du wohl nicht, was?“ - „Was meinst du?“, fragte Den, ehrlich erstaunt. „Na, daß ich eine Zauberin<br />

bin!“, schnaubte Aljuscha. „Doch klar“, meinte Den. „Das sieht man doch schon auf den ersten Blick.<br />

Willst du mich jetzt verzaubern? Denn genau gesagt hätt’ ich davor ziemliche Angst.“ Das stimmte<br />

tatsächlich. Den hatte bis jetzt mit Magie aller Art nur sehr wenig anfangen können. Und Zauberer<br />

waren für ihn unberechenbare, suspekte Persönlichkeiten. Aljuscha legte den Kopf so schief, daß ihr<br />

Hut beinahe herunterfiel und sah ihn aus kleinen Augen nachdenklich an. „Das glaubt mir hier<br />

eigentlich niemand. Und das, obwohl ich bei einem Ball des alten Erzfeld gleich drei Menschen<br />

Froschköpfe angezaubert habe.“ Ihre Stimme wurde etwas leiser. „Das war, kurz bevor sie mich<br />

hierhergebracht haben. Hm, naja, aber dich werde ich wohl nicht verzaubern.“ - „Das ist aber nett von<br />

dir“, meinte Den freundlich. Doch Aljuscha ließ die Arme hängen und machte ein trauriges Gesicht.<br />

„Tatsache ist, daß ich’s gar nicht könnte. Sie haben mich aller Fähigkeiten beraubt. Ich mache zuviel<br />

Unfug, haben sie gesagt. Stell’ dir das ‘mal vor, nur wegen ein paar Froschköpfen!“ Den machte ein<br />

bedauerndes Gesicht. „Und du wirst nie wieder zaubern können?“ Die Miene des Persönchens hellte<br />

sich etwas auf. „Doch, bestimmt. Und dann werde ich es ihnen allen schon noch zeigen. Es gibt da<br />

dieses Wort, das Wort der Macht. Ich brauche es nur zu sagen und ich kann wieder alles wie vorher.“<br />

- „Na prima“, strahlte Den. „Warum sagst du’s dann nicht einfach, damit ... hm ... du’s ihnen allen<br />

zeigen kannst?“ Aljuscha drehte den Kopf zur Seite und gab kleinlaut zu: „Naja, weil ... äh ... weil ich<br />

es eben vergessen habe.“<br />

An das Ende seines Gespräches mit Aljuscha konnte sich Den nicht mehr erinnern, er mußte<br />

eingeschlafen sein. Als er wieder erwachte, fiel ein dünner Streifen Sonnenlicht in seine karge Zelle.<br />

Also mußte es wohl stimmen, was ihm die ehemalige Magierin noch erzählt hatte: Er lag nicht in<br />

irgendeinem düsteren Kerker, sondern im ersten Stock eines Turmes, der wiederum ein Teil eines<br />

größeren Gebäudekomplexes war. Den wußte nicht, daß er sich im Nachtturm der Anstalt für geistig<br />

Kranke befand. Aljuscha hatte es „Lyzeum“ genannt, doch dieses Wort bedeutete ihm nichts. Dem<br />

Klang nach bestärkte es eher Den’s schlimmste Befürchtungen: Es mußte eine Art Tempel sein und<br />

gleich würden die Priester kommen um ihn ihrem gräßlichen Dämon zu opfern. Und richtig: Wie auf<br />

einen stummen Befehl hin öffnete sich die schwere Tür und ein dicklicher Mann in einer<br />

dunkelblauen Robe betrat den Raum, gefolgt von drei grimmig dreinschauenden Spießgesellen. Die<br />

seltsamen Runenstickereien auf der Robe und die Größe ihres Trägers vervollkommneten das diffuse,<br />

von Angst gezeichnete Bild Den’s: Kein Zweifel, dies mußte ein hallakinischer Priester sein, auch<br />

wenn seine Hautfarbe eher untypisch dunkel war. Jetzt galt es nur noch Haltung zu bewahren. Den<br />

richtete sich mit viel Mühe in eine gerade Sitzposition auf und starrte dem Priester offen ins Gesicht.<br />

Er hatte beabsichtigt, seine Worte tapfer herauszuschleudern, doch sie gerieten eher zu einem<br />

schwächlichen Nuscheln: „Hast mich gekriegt ... klerikaler Abschaum. Doch nur ... Körper ... nich’<br />

meine Kraft ... wann sterb’ ich ... sag’s mir ...“ Der Blaurock schien erstaunt zu sein, möglicherweise<br />

verstellte er sich aber auch nur um Den weiter zu demütigen. „Du wirst sterben, du Tier. Aber nicht so


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

bald. Hier werden wir dich erst einmal aufbewahren. Denn, wie man mir sagte, bist du eine Gefahr für<br />

die Gesellschaft.“ - „Schwafel nich’ ... sag’ mir den Zeitpunkt meiner Opferung ...“ Der Priester zog<br />

eine Augenbraue hoch, während einer seiner Diener in ein breites Grinsen verfiel: „He, Großmeister,<br />

habt Ihr gehört? Er will, daß wir’n opfern. Soll’n ‘wa nich’...? Der is’ doch sowieso schon nix mehr.“<br />

Doch der so Angesprochene - und jetzt war wirklich der letzte Zweifel Den’s darüber beseitigt, daß er<br />

es mit einem Priester zu tun hatte - hob abwehrend eine Hand. Nahezu mitleidig betrachtete er die<br />

kraftlose Gestalt auf dem Strohballen. „Bei <strong>Mantow</strong>in, zuerst hatte ich ja Bedenken bei diesem<br />

Freundschaftsdienst. Aber allmählich glaube ich, dieser Wilde ist völlig zurecht bei uns. Nun ja, das<br />

bedeutet wieder einmal einen mehr ... Wenigstens wird für seine Verwahrung bezahlt. Gut, beenden<br />

wir unseren Krankenbesuch und wenden wir uns wichtigeren Dingen zu.“ Die Vier entfernten sich<br />

eilig aus dem Raum und ließen einen leicht verwirrten Den zurück.<br />

Vier Tage später machten sie einen kleinen Spaziergang durch ihr Stockwerk der Lyzeum.<br />

„Spaziergang“ war eigentlich nicht das richtige Wort dafür, Aljuscha hatte es nur so genannt. Weil<br />

Den durch seine täglichen Portionen Beruhigungsmittel zu schwach zum Gehen war, saß er in einem<br />

kleinen Holzkarren. Die Aufpasser hatten nichts dagegen gehabt, sie hatten sogar den Wagen zur<br />

Verfügung gestellt um sich über den Anblick des schwachen Muskelberges weiter zu belustigen.<br />

Gezogen wurde der Karren von dem Dritten im Bunde, dem Barden Nurin. Dieser Freund von<br />

Aljuscha war ein schlanker, hochgewachsener Mensch mit einem türkisfarbenen Hemd, das über und<br />

über mit farbigen Handabdrücken bemalt war. Er war schon seit mehreren Monaten in der Lyzeum<br />

und ein sehr komischer Kauz. Denn er weigerte sich steif und fest zu singen. Den hatte nur sehr wenig<br />

über Nurin herausgefunden, der Barde sprach selten ein Wort. Er war wohl einst ein gefeierter Sänger<br />

gewesen, der sogar weit über die Grenzen des Stadtstaates bekannt geworden war. Schließlich sollte<br />

er anläßlich eines Stadtjubiläums vor dem Triumvirat auftreten, was seinen Ruhm wohl für alle Zeiten<br />

gefestigt hätte. Doch nur wenige Minuten vor seiner Darbietung, dem Höhepunkt des Festes, schien<br />

etwas passiert zu sein. Etwas, über das Nurin nicht redete und das so schrecklich gewesen war, daß es<br />

ihm - im wahrsten Sinne des Wortes - die Stimme verschlagen hatte. Das Triumvirat war über seinen<br />

stummen Auftritt sehr erbost. Um ihr Gesicht vor der buhrufenden Menge nicht zu verlieren, erklärten<br />

sie Nurin kurzerhand für einen „verwirrten Geist“ und schoben ihn in die Lyzeum ab. (Wohl als<br />

kleine Aufmerksamkeit an die Götter, dachte Den.) Der Barde jedoch schien sich inzwischen an sein<br />

Gefängnis gewöhnt zu haben, zumindest beklagte er sich nie. Den konnte nicht verstehen, warum. Er<br />

wußte aber, daß sowohl Aljuscha als auch Nurin keine Drogen bekamen. Ihr Freiheitswille schien von<br />

selbst erloschen zu sein.<br />

Die Zauberin plapperte nachdenklich vor sich hin, während Nurin und Den schweigend den „Ausflug“<br />

genossen: „Es war irgendwas mit ‘pe’ ... pe-ta-hau-erat? Nein, pe ... pe ... oder doch mit ‘-goth’ am<br />

Ende? Iä, Rhan-Tegoth!!! ... Yuggoth? ... Yog-Sothoth??? ... Oh, verdammt.“ Während der letzten<br />

Worte Aljuschas waren sie an einer offenen Zellentür angekommen. Den warf einen flüchtigen Blick<br />

hinein und gab ein empörtes Grunzen von sich. Der Karren hielt an. Den quälte sich in eine aufrechte<br />

Position und schleppte sich dann die wenigen Tritt in den winzigen Raum. In einem soliden Bett lag<br />

dort auf einer Strohmatratze eine alte Frau. Eine übelriechende Wolldecke bedeckte ihren nackten<br />

Körper. Sie hatte schlohweißes, langes Haar, das in verfilzten Strähnen von ihrem runzligen Schädel<br />

abstand. Zusammen mit ihren kleinen Augen und einer aristokratisch hervorspringenden Nase ergab<br />

der Kopf ein Bild, das Den unwillkürlich an einen hilflosen Igel denken ließ. Sie schien zu schlafen<br />

oder gar ohnmächtig zu sein. Daß sie dabei lächelte, war Den völlig unverständlich, denn sie war mit<br />

dicken Stricken fest an das Bettgestell gefesselt. Intuitiv begann er die schweren Knoten zu lösen, als<br />

die Frau erwachte und einen entsetzten Schrei losließ: „He! Was macht er da mit ihr?“ Den war<br />

erstaunt, gab ein unverständliches Brummeln zu hören, fuhr aber in seiner Beschäftigung fort. Die<br />

Frau schlug mit einer nun freien Faust auf seine Schulter ein: „Aufhören, sagte sie! Lasse er das<br />

gefälligst! Wärter! Helft ihr!“ Bei dem Ruf nach Wärtern drehten sich Aljuscha und Nurin, die vom<br />

Flur aus zugesehen hatten, gleichzeitig auf der Stelle um und flohen in ihre Zellen. Die Aufseher<br />

waren jedoch an Schreie gewöhnt, keine eiligen Schritte waren zu hören. Schwer schnaufend brachte<br />

Den sein Vorhaben zu Ende und warf die Taue mit einer letzten Anstrengung gegen die Wand. Dann<br />

knickten seine Beine ein. Stöhnend lehnte er sich an das Bett. Die Alte schob sich so weit wie<br />

möglich von ihm weg, zog die Beine an und hüllte sich bis zum Kinn in ihre Decke. Ihre Augen<br />

funkelten Den wütend an. „Kein Recht hatte er!“, kreischte sie und dann noch einmal leiser und fast<br />

weinerlich: „Kein Recht.“ - „Gefesselt ... kann Fesseln ... und Zwang ... nicht ausstehen ...“, schnaufte


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

Den. Die Frau blickte ihn so erstaunt an, als ob er gerade behauptet hätte, <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> sei im Meer<br />

versunken. Dann redete sie mit beschwichtigenden Gesten auf Den ein. Wie ein Heiler, der es mit<br />

einem tollgewordenen Patienten zu tun hat, kurz bevor er die Zwangsjacke hervorholt: „Ruuuhig.<br />

Gaaanz ruhig. Er ist krank. Seeehr krank.“ Jetzt war Den an der Reihe, erstaunt zu sein. „Aber du ...<br />

ich ... ich habe dich befreit. Man hat dir wehgetan. Hab’ dir geholfen.“ Die Alte blickte immer noch<br />

überrascht, hielt Den aber wohl allmählich für etwas harmloser. Sie schob ihr Kinn vor, kratzte sich<br />

am Kopf und grübelte ein wenig nach. „Befreit, sagt er? Warum? Geschlafen hat sie nur, nur<br />

geschlafen. Was kann er meinen?“ Den warf einen überdeutlichen Blick auf die Stricke, die wie<br />

bösartige Schlangen auf dem Boden lagen. „Und das da?“ Die Frau schaute kurz hin und dann<br />

schweifte ihr Blick weiter durch den Raum, gerade so, als hätte sie nichts bemerkt. „Es tut ihr leid,<br />

wenn es hier etwas dreckig ist“, sagte sie „,aber ihre Sklaven scheinen in letzter Zeit etwas nachlässig<br />

zu sein. Elendiges Pack, diese multorischen ...“ Den, der wußte, daß die Sklaverei bereits seit einem<br />

halben Menschenalter in den Ostländern abgeschafft war, unterbrach sie schnaubend: „Nein, die Taue<br />

meint er, äh, ich!“ Doch das schien die Frau nur wieder zu verwundern. Den gab es auf, rappelte sich<br />

mühselig hoch. Er schnappte sich eines der Seile, drückte es der Alten in die Hand und schloß ihre<br />

magere Faust fest darum. „Dies hier!“ Sie zuckte etwas zusammen und betrachtete intensiv und<br />

offensichtlich mit größtem Interesse jede einzelne Faser. Endlich schien ihr etwas zu dämmern. Sie<br />

lächelte ein geheucheltes, zahnloses Lächeln. Ihre Stimme wurde brüchig: „Sie erinnert sich nun. Er<br />

kann dieses ... dieses Ding entfernen.“ Mit einem Ausdruck der Erleichterung entwand Den ihr das<br />

Seil aus der Hand und beförderte es wieder auf den Boden. „Sie erinnert sich. Oh ja. Sie mußte<br />

gefesselt werden. Aber, mein lieber Junge, dies ist doch nichts besonderes in unserer Gesellschaft.<br />

Wir alle unterliegen doch täglich Tausendern von Fesseln, von Zwängen. Wir sind Abhängige. Von<br />

den Sklaven, die uns das Haar kämmen. Dem Koch, der uns das Fleisch zubereitet. Den Wachen, die<br />

aufpassen, daß kein Bettlerpack den Haussegen stört. Noch gestern sagte ein hohes Mitglied des<br />

Quattrumvirats, ja sogar das ranghöchste, zu ihr: Liebste Cathjana de Sjenda, wir müssen Euch<br />

binden, solange Ihr noch nicht erwachsen seid. Wenn Ihr gefesselt seid, so könnt Ihr nicht<br />

hinausgehen und seid nicht den Gefahren dort draußen ausgeliefert. Dies hier, mein Lieber,“, sie<br />

deutete mit einer verächtlichen Geste auf die Seile „dies ist nichts weiter als ein reiner Selbstschutz.<br />

Und somit dient es der Erhaltung der Gesellschaft.“ Den fing allmählich an sich zu wundern: Diese<br />

Cathjana sollte nicht hier sein, nicht in diesem ... Tempel. Sie schien vielmehr in ein Heim für geistig<br />

Kranke zu gehören, denn ihre Argumentation war doch sehr merkwürdig. „Aber was ist mit Freiheit?<br />

Hast du kein Bedürfnis nach Freiheit?“ Die Alte lächelte überlegen und schüttelte den Kopf:<br />

„Freiheit! Schnickschnack! Was sollte ich denn damit anfangen?“ - „Nun, alles. Du könntest tun und<br />

lassen, was du willst.“ - „Quatsch!“ - „Aber hast du kein Bedürfnisse?“ - „Fischweibergeschwätz!<br />

Bedürfnisse haben nur die Armen.“ - „Und Natur? Reisen? Abenteuer?“ - „Höre er zu, junger Mann,<br />

die Natur ist lebensfeindlich. Was sollte sie dort? Nein. Nein! Nur die Stadt mit ihren Mauern kann<br />

uns Sicherheit geben. Nur innerhalb der eigenen vier Wände kann der Mensch überleben. Wozu ein<br />

Risiko eingehen, wenn man es auch so ganz angenehm haben kann?“ - „Aber bist du denn nie aus<br />

diesem Zimmer herausgekommen?“ Cathjana überlegte einen langen Moment. „Es gab einmal eine<br />

Zeit, da sie in einem anderen Haus war. Sie hatte dort ein schönes Kleid. Ja, und Kräuter. Viele<br />

Kräuter.“ Sie lachte leise in sich hinein. „Manchmal hat sie damit kleine Tränke gemischt. Es war nett<br />

zu sehen, wenn sich die Hühner auf dem Boden wanden oder ein Sklave auf einmal ganz gelb im<br />

Gesicht wurde. Aber das ist lange her. Hier geht es ihr besser. Niemand stört sie. Hier hat sie ihre<br />

Ruhe.“ Den konnte diese Behauptungen nicht auf sich sitzen lassen. Er begann zu erzählen. Von<br />

seinem Volk, den Nuu-Giik, die als freie Menschen die Berge durchstreiften. Von den Nuu-Giik-<br />

Trappern, denen seine Sippe seit Urzeiten immer wieder ein Schnippchen schlug. Von den Tieren, die<br />

niemands Knecht und niemands Herr waren. Die Zeit verrann, während er von der Außenwelt, seiner<br />

Welt berichtete und Cathjanas Gesicht wurde immer weißer. Schließlich preßte sie sich die Fäuste auf<br />

die Ohren und schrie wie ein kleines Mädchen: „Sie hört nicht mehr zu! Hat er verstanden? Sie hört<br />

nicht mehr zu!“ Den brach seine Geschichte ab und dachte eine Zeit lang nach. Beide schwiegen.<br />

Dann erhob er sich und schlurfte zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich um. „Vielleicht, ehrenwerte<br />

Cathjana, ist es wahr, was du sagst. Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall hast du ein Recht auf deine<br />

eigene Meinung. Ich werde es nicht mehr anzweifeln und bedauere, daß ich dich gestört habe. Lebe<br />

weiter in Frieden.“


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

Ein weiterer Tag in der trägen Zeitlosigkeit der Lyzeum. Den hatte sich mühsam mit Nurin’s Hilfe ins<br />

Erdgeschoß geschleppt. Für die Treppe zurück nach oben würde er wohl dreimal so lange brauchen,<br />

aber das war es ihm wert. Denn hier, in der untersten Etage, befand sich außer einem fest<br />

verschlossenen Zugang zu dem „offiziellen“ Teil der Lyzeum und ein paar leeren Zellen auch eine<br />

große, grüne Glasscheibe in der Außenwand des Turmes. Sie wußten beide, daß es nur hauchdünnes<br />

Glas war, jedoch durch Magie gegen jede Art von Tritten oder Hieben gesichert. Die Scheibe war<br />

außer einem Fenster auch gleichzeitig ein Seiteneingang der Lyzeum. Das Personal ging durch sie<br />

hindurch wie durch einen Wasserfall. Für alle anderen war das grüne Glas so solide wie eine Wand.<br />

Dort draußen lag das faulige <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, das von seinen Bewohnern oft genug als Gefängnis<br />

angesehen wurde. Doch für die beiden lag dort draußen die Freiheit. Jetzt saßen sie auf dem Boden<br />

vor dem Glas und betrachteten still und jeder für sich die Welt in Grün. „Liebst du die Menschen?“,<br />

brach Nurin das Schweigen. Die Frage war schwierig für Den und er zögerte lange mit einer Antwort.<br />

„Die meisten, glaube ich. Kann ja nicht alle lieben. Nicht die, die mein Volk jagen. Nicht die, die<br />

mich einsperrten. Aber ich liebe das Gute im Menschen. Was ihn dazu bewegt, sich an der Natur zu<br />

freuen. Sich zu paaren. Kinder großzuziehen. Und ...“, Den warf einen lächelnden Seitenblick auf den<br />

Barden „ ... und Freundschaften zu schließen.“ - „Eine lange Rede für dich.“, meinte Nurin. „Aber<br />

welchen Sinn macht das alles, wenn jeder Mensch, dem du begegnest, dich nur ausnutzt, dich betrügt<br />

und hintergeht? Wo sind denn die ach so guten Menschen, von denen du redest? Hier vielleicht? In<br />

dieser Stadt der reichen Schweine und ausgehungerten Ratten? Ich weiß nicht, ich kann nicht mehr<br />

lieben, nur noch bedauern. Ich blicke umher und sehe überall gescheiterte Existenzen. Menschen, die<br />

ehemals glücklich waren. Von mir aus auch liebenswert. Aber dann packt sie das Schicksal, reißt sie<br />

heraus aus ihrer Sicherheit und schleudert sie in den Abgrund. Sei es ein lang anhaltender Regen, der<br />

dem Bauern die einzige Ernte verdirbt, so daß er gezwungen ist, all seine Kinder als Sklaven nach<br />

Multorien zu schicken. Sei es die Ermordung des geliebten Vaters durch einen gedungenen Mörder,<br />

die den Sohn zu einem hungrigen Dieb macht und ihn schließlich einen schnellen Tod auf der Straße<br />

finden läßt. Oder die Mitteilung, kurz vor dem größten Moment deines Lebens, daß ...“, Nurin brach<br />

ab und starrte ins Leere. Dann fuhr er mit wiedererstarkter Stimme fort: „Was passiert mit diesen<br />

Menschen? Sie verlieren alle Hoffnungen. Und all ihre Würde. Sie werden selbst zu Mördern, Dieben,<br />

haßerfüllten Rächern, die ihr eigenes Schicksal wiederum an Andere weitergeben. Und deren Opfer<br />

wieder an die Nächsten. Nennst du das eine gerechte Welt? Oder sie resignieren. Werden zu Bettlern,<br />

Süchtigen, leichten Opfern, an denen die Starken dieser Welt im Vorbeigehen ein neues Schwert<br />

testen. Nennst du das liebenswert? Wo, mein Freund, sind denn die Helden des alltäglichen Lebens,<br />

die du so herbeibeschwörst?“ - „Weiß nicht.“, sagte Den leise. „Vielleicht genau hier. Du, du hast<br />

schließlich deine Würde nicht verloren.“ - „Ich versuche es, Den, mit aller Macht versuche ich sie zu<br />

bewahren. Aber ich glaube, das kann ich nur tun, weil ich hier bin. Ich hätte Angst vor einem Nurin,<br />

der da draußen, hinter dieser Scheibe um sein Leben kämpfen müßte. Was wäre ich geworden: Nurin,<br />

der schreckliche Barde? Der einsame Rächer mit einem tödlichen Lied auf den Lippen? Oder Nurin<br />

der Traurige, der für eine zugeworfene Eisensonne mit inzwischen brüchiger Stimme eine Arie aus<br />

alten Zeiten darbietet? Hier: ein melancholische Lied für euch Huren! Und nun: ein Spottvers für die<br />

Straßenkinder! Oh, der Herr Wachhabende! Für Euch ein Heldenlied? Nein danke!“<br />

Den wußte nicht, was er darauf antworten sollte.<br />

Nach zwei Wochen der Gefangenschaft hatte es sich Den zur Gewohnheit gemacht, täglich eine<br />

Runde durch sein Stockwerk zu absolvieren und dabei seine Freunde zu besuchen. Den Aufsehern<br />

war das egal. Sie schienen inzwischen alles Interesse verloren zu haben, nur selten ließen sie sich<br />

blicken. Einer, der zu schwach war mehr als hundert Schritt zu tun, eine zufriedene Gefesselte, ein<br />

Melancholiker mit Phobie vor der Außenwelt und eine Spinnerin: Wohin hätten die Vier schon gehen<br />

können? An diesem Nachmittag war Den bei Cathjana „zu Gast“. Seit ihrem ersten Gespräch wußte<br />

Den nicht viel mit ihr anzufangen, aber er hoffte, daß allein seine Anwesenheit ihr möglicherweise<br />

etwas Trost spendete. Zumeist setzte er sich auf den Boden, blickte von ihr weg um die Fesseln nicht<br />

sehen zu müssen und redete vor sich hin, sinnierte über die Welt. In der Regel starrte die<br />

ausgemergelte Frau dabei nur an die Decke und schien ihn kaum zu bemerken.<br />

Doch heute war ein schlimmer Tag und Den redete nicht über die Welt an sich: „Ich werde sterben,<br />

Cathjana. Bald. Kann’s fühlen, ich bin am Ende. Gefangenschaft, das ist das Übelste. Keine Ehre,<br />

verstehst du? Kein ruhmreicher Tod im Kampf. Nicht ‘mal opfern woll’n sie mich. Ich werd’ mich<br />

heut abend ganz einfach hinlegen und zur Neige gehen wie ein Faß. Das war’s. Nie wieder Berge oder


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

Wälder. Tja, ich wollt’ mich eigentlich nur verabschieden. Mach’s gut, Cathjana.“ Doch Cathjana<br />

antwortete ihm nicht. Ihr Atem ging leicht wie eine Feder, der Raum war still. Schließlich stand Den<br />

mit einiger Mühe auf und schlurfte zur Tür, als er eine klare Stimme aus dem Bett vernahm: „Staub.<br />

Sie braucht Staub als Basis.“ Den drehte sich verblüfft um. „Hmpf?“ - „Ist er schwerhörig? Besorge er<br />

Staub! Und dann entreiße er ihr drei Haare! Schließlich braucht sie noch Stroh aus ihrer Bettstatt! Es<br />

sind zwar keine guten Kräuter, doch sie werden für sein Ansinnen genügen.“ Den überlegte kurz, ob<br />

er nicht auch ohne Stroh, Haare und Staub sterben konnte, beschloß aber dann Cathjana diesen letzten<br />

Wunsch zu erfüllen. Mit wenigen Griffen hatte er die Komponenten zusammen und hielt sie Cathjana<br />

in der hohlen Hand hin. Die Alte hob leicht ihren Kopf und spuckte auf die Mischung. „Jetzt noch ein<br />

Tropfen seines Blutes, so er noch welches hat. Denn Recht hat er: Blut ist Lebenskraft. Erinnere er<br />

sich an seine Kraft, seine eigene Potenz! Blute er, blute er für sich selbst! Und er wird leben.“ Den<br />

blickte auf das Gemisch in seiner Hand. Schließlich verstand er: Mit einem leichten Ruck seiner<br />

Zähne riß er eine kleine Wunde in seinen Unterarm und ließ ein paar Tropfen in seine Hand fallen.<br />

Dann verrieb er die Zutaten zu einer kleinen Kugel und schluckte sie. Blut! Wie lange schon hatte er<br />

darauf verzichten müssen! Und was er trotz all des Rauschgiftes, das er in sich hatte, noch schmeckte:<br />

Dieses Blut lebte. Das war nicht das Blut eines Toten, oh nein. Es war frisch und warm. Es waren<br />

seine eigenen Körperkräfte, die er schmeckte. Dieses Blut redete mit ihm, während es durch ihn<br />

hindurchfloß. Es wollte ihm sagen, daß es noch da war, daß es in ihm und für ihn war und daß nichts<br />

und niemand verhindern konnte, daß er ein gestandener Nuu-Giik war. Ein kraftvoller Nuu-Giik! Ein<br />

wütender Nuu-Giik!!! Er fühlte sich besser. Sehr viel besser. Er würde jetzt da ‘raus gehen und keine<br />

dieser mickrigen Tempelwachen würde ihn daran hindern! Ein Nuu-Giik ist für die Freiheit geboren!<br />

Er war schon halb an der Tür, als ihm etwas einfiel: „Cathjana, warum tust du das?“ Doch seine<br />

Retterin schien zu schlafen. Und vielleicht träumte sie von einem großen Palast mit vielen Dienern.<br />

„Ich breche aus, Aljuscha. Kommst du?“ - „Oh, schick!“ Die kleine Zauberin klatscht in die Hände.<br />

Sie springt von ihrem Strohlager auf, doch Den ist schon weitergestürmt. „Naja, das könnte<br />

wenigstens Spaß machen“, sagt Aljuscha zu sich selbst und trippelt hinterdrein.<br />

„Ich breche aus, Nurin. Was is’ mit dir?“ Der Barde sieht auf: „Nein, danke.“ Den tritt an ihn heran,<br />

packt ihn an den Armen und schüttelt ihn. „Hör’ ‘mal. Ich weiß, daß dir Freiheit nichts bedeutet. Und<br />

wenn du wirklich nich’ mehr an das Gute glaubst, dann bleib’ hier und verrecke. Aber wenn du auch<br />

nur ‘n bißchen glaubst, daß die Welt anders sein kann, anders sein sollte oder wenn du nur ‘n kleines<br />

Gefühl der Freundschaft für mich hast, dann beweg deinen Arsch, ich brauche deine Hilfe!“ Den sieht<br />

dem Barden fest in die Augen. Nurins Mundwinkel zucken. Dann seufzt er.<br />

Ein großer Bär poltert die Treppe des Nachtturmes der Lyzeum hinunter. Hinterdrein schleichen eine<br />

bunte Figur und eine kleine Dame mit Hut. Zwei Gestalten versperren ihnen den Weg und werden<br />

augenblicklich von zwei starken Armen durch die Luft und zu Boden geschleudert. Sie werden erst<br />

nach Stunden wieder aufstehen.<br />

„Sag’ ‘mal, du willst doch nicht wirklich ausbrechen, oder?“ Aljuscha zweifelt, während Den auf die<br />

Tür zum restlichen Teil der Lyzeum eindrischt. „Klar ... werd’ ... ich ... das.“ - „Oh, naja, ich dachte,<br />

du machst vielleicht nur Spaß. Aber ... wenn ihr beide ausbrecht, äh, was soll ich dann noch alleine<br />

hier?“ Den hält inne und schaut sie intensiv an. - „Oh, gut. Ich denke, dann werd’ ich einfach ‘mal<br />

mitkommen. Nicht wahr?“ Sie lächelt.<br />

Die Tür ist massiv. Zu massiv, selbst für jemanden wie Den. Doch er gibt nicht auf. Mittlerweile<br />

werden Rufe auf der anderen Seite laut. Und auch Nurin ruft. Er hat eine weitere verschlossene Tür<br />

gefunden. Eine, die zu den sonst leeren Zellen des Erdgeschosses führt. Den läßt von der Außentür ab<br />

und rammt mit seinem ganzen Körpergewicht die Zellentür ein.<br />

Ein Echsenwesen hat Den noch nie gesehen. Schon gar nicht eines, das mit einer langen Kette an<br />

seinem Schwanz an der Decke aufgehängt wurde. „Was tust du hier?“, fragt Den. „Wenn’sss Euch<br />

nichtsss ausssmacht: Ich hänge hier.“, antwortet das Wesen. „Willst du das?“, fragt Den. „Na, würdet<br />

Ihr esss wollen, wenn man Euch am Schwanzzz aufhängt?“ Den verzieht sein Gesicht und grunzt.


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

„Ich brauche noch meine Sssachen“, sagt das Echsenwesen Srrszzir im Vorraum und öffnet eine Luke<br />

im Boden, die die Anderen noch nicht bemerkt haben. „Diessse Trottel sssind sssich ihrer Sssache<br />

ssso sssicher, dasss sssie sssich noch nicht einmal Mühe gaben ihr Versssteck zzzu verbergen.“ Die<br />

Luke ist groß genug, das er in den Raum darunter gelangen kann. Sichtlich erfreut greift sich Srrszzir<br />

einen großen Kriegshammer aus einem Regal. „Was ist da noch?“, ruft Nurin hinunter. „Ein<br />

grössserer Sssack und eine Truhe. Sssie issst mit Eisssenbändern umwickelt. Darin poltert etwasss<br />

von innen gegen den Deckel. Esss will herausss.“ - „Mein Knochen!“, schreit Den. „Brich’ die Truhe<br />

auf!“ - „Hab’ nicht bemerkt, dasss Euch einer fehlt.“ Mit der Kraft eines Berserkers beginnt der Echs<br />

auf die Bänder einzuschlagen.<br />

Mit gewaltigem Knirschen und Quietschen wird eine Tür geöffnet. Eine Anzahl Leute strömt aus dem<br />

Haupttrakt der Lyzeum herein. Eine Handvoll Männer und Frauen, mit Schleudern bewaffnet. Ein<br />

paar gelehrt aussehende Burschen, ängstlich im Hintergrund. Doch allen voran: der, den sie<br />

„Großmeister“ nennen. Der Hohepriester! Und er sieht keineswegs ängstlich aus, oh nein! Er wirkt<br />

vielmehr ... müde. Er stellt eine so aufreizende Gelassenheit zur Schau, daß Den unwillkürlich einiges<br />

von seiner Selbstsicherheit verliert. Zusammen mit Aljuscha und Nurin zieht er sich knurrend vor dem<br />

Pulk der Gegner zurück. Bis er in seinem Rücken etwas Festes fühlt: die Glasscheibe, dieser verhaßte<br />

Ausgang, und doch kein Ausweg.<br />

Nur ein Blick und der Großmeister Dot Ikam Matulek hat die Situation erfaßt. Nicht umsonst ist er der<br />

Leiter der Lyzeum, der Mann ist seine Macht und seine Verantwortung gewohnt. Und schnelle<br />

Entscheidungen: Mit einem leichten Kopfnicken befiehlt er einem seiner Helfer, die Klappe zum<br />

Lagerraum zu schließen und sich darauf zu stellen. Srrszzir sitzt in der Falle! Die anderen<br />

Bewaffneten verteilen sich im Raum und bilden eine geschlossene Linie mit dem Großmeister im<br />

Mittelpunkt. In ihren Schleudern, die sie drohend erheben, stecken unscheinbare, eiserne Pfeilspitzen<br />

- tödliche Geschosse. Eine Flucht ist unmöglich: Die Linie der Widersacher zieht sich enger um die<br />

Drei herum. Dahinter hört man den Echs unter der Luke poltern.<br />

Der Priester spricht. Aus seinem behäbigen Gesicht tropfen die Worte wie süßes Gift: „Sieh einer an,<br />

das Tier zappelt noch. Und Ihr, Herr Barde? Seid Ihr sicher, daß Ihr in der Welt dort draußen<br />

zurechtkommt? Und, oh, meine liebe Aljuscha! Wollt Ihr nicht lieber zurück in Euer Bettchen. Ihr<br />

habt doch jetzt Euren Spaß geha...“<br />

Der Priester spricht nicht mehr. Statt dessen macht er ein erstauntes Gesicht und fällt dann langsam<br />

und sehr steif vornüber.<br />

Die Luke ist aufgesprungen. Der Mann, der auf ihr stand, wird gegen eine Wand geschleudert und<br />

bleibt ohnmächtig liegen. Etwas zischt durch die Luft und trifft direkt auf den Hinterkopf des<br />

Großmeisters. Das scheint keine böse Absicht zu sein: Der Kopf befindet sich einfach nur direkt im<br />

Weg des Knochens zu seinem rechtmäßigen Platz in Den’s Haar. Hinterdrein kommt ein wild um sich<br />

schlagendes Echsenwesen.<br />

Die Linie der Bewaffneten hat sich aufgelöst. Dennoch gelingt es Zweien ihre Schleudern<br />

einigermaßen gezielt abzufeuern. Eine Pfeilspitze prallt an Srrszzir’s dicken Schuppen ab, die andere<br />

schwirrt dicht an seinem Kopf vorbei. Doch ist der Kampf noch längst nicht entschieden: Die Feinde<br />

beginnen sich wieder zu formieren, sie ziehen bedrohliche Schwerter. Den zieht seinen geliebten<br />

Knochen aus dem Haar und stößt Aljuscha mit dem Ellbogen an: „Wär’ verdammt gut, wenn du jetzt<br />

das Wort sagen könntest.“ Aljuscha schaut verängstigt: „Du weißt doch ...“ Aber Den läßt das nicht<br />

gelten und schreit sie an: „Verflucht Aljuscha! Wahre Macht, echte Stärke hängt nicht von einem<br />

einzelnen Wort ab. Macht kann dir niemand geben oder nehmen. Sie kommt aus dir selbst. Aus<br />

deinem Bewußtsein, daß du jemand bist. Du mußt an dich glauben, Aljuscha! Und jetzt ... sag’ ‘was!“<br />

Und Aljuscha sagt ‘was. Doch noch im selben Augenblick wird ihr Wort übertönt von den Schreien<br />

und quiekenden Geräuschen ihrer Gegner. Sie greifen sich an den Hals, doch da ist kein Hals mehr.<br />

Sie lassen die Schwerter fallen und gehen auf allen Vieren zu Boden. Ihre Kleider werden ihnen zu<br />

groß und sie springen auf ihren kleinen Haxen heraus. Ihre winzigen Schweinsäuglein werden zu<br />

riesigen Scheiben, als sie entsetzt auf ihre Ringelschwänzchen blicken. Dann wirbelt der ganze<br />

Haufen auf dem Absatz, nein, dem Huf herum und rennt in Panik zur Tür hinaus.


Ein Eimer Bier und andere Verrücktheiten - Dietmar Cremers<br />

„Sieg!“, schreit Srrszzir und reckt mit beiden Armen den Hammer hoch. „Sieg!“, lacht Den und<br />

„Sieg!“ piepst auch Aljuscha. Doch Nurin bleibt stumm. Er preßt seine Hand an die Brust. Blut quillt<br />

hervor, dort wo ihn die zweite herumfliegende Pfeilspitze getroffen hat. In den Armen Den’s sinkt er<br />

zu Boden.<br />

Der Barde röchelt. Ein dünner roter Faden läuft aus seinem Mundwinkel. Mit schimmernden Augen<br />

blickt er hinauf zu dem Mann, der ihn hält. „Weine nicht, mein Freund. Ich weiß nicht, ob du Recht<br />

hattest. Ob die Welt wirklich so gut ist, wie du sagst. Aber ich weiß, daß ich durch dich wieder etwas<br />

gefunden habe. Freundschaft.“ Mit einem Blubbern ergießt sich ein Blutstrahl aus seinem Mund. „Ich<br />

werde hierbleiben. Ich bin sowieso schon tot. Du aber, du hast noch den Willen zur Freiheit. Du mußt<br />

hier weg.“ Er hustet und spuckt. Und dann, mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung packt er den<br />

Pelzmantel Den’s an den Schultern und zieht sich daran hoch. Seine Beine sind wacklig, doch Den<br />

und Srrszzir stützen ihn. Nurin seufzt und blickt, fast lächelnd, auf Aljuscha. Dann erhebt der Barde<br />

seinen Kopf und singt. Keine Worte, nur ein einziger, glasklarer Ton. Als tiefer Basston fängt er an,<br />

doch schwingt er sich höher und höher hinauf. Schließlich muß sich die Zauberin die Ohren zuhalten,<br />

so schrill wird der Abgesang des Barden. Und mit einem letzten, stahlharten Kreischen zerbirst das<br />

grüne Glas, das Symbol ihrer Gefangenschaft. Nurin fällt zu Boden...<br />

Auf jede dunkle Nacht folgt ein neuer Morgen. Auf jeden Sturm eine Zeit der Ruhe. Die drei stehen in<br />

der frühen Sonne auf einer Bergspitze außerhalb der Stadt. Über dem einfachen Steingrab erhebt sich<br />

ein orangefarbener Himmel. Darunter liegt das stinkende <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, das unerbittliche <strong>Elek</strong>-<br />

<strong>Mantow</strong>, dessen Bewohner täglich neu den Kampf gegen das erbarmungslose Leben aufnehmen.<br />

„Wasss werdet Ihr jetzzzt tun, Knochenmann?“, fragt Srrszzir. Den schweigt lange. Dann blickt er<br />

hinüber auf die schwarzen Morgennebel, die sich aus der Spalte der geteilten Stadt erheben. „Hab’<br />

noch ‘was zu erledigen.“, sagt er leise. „Ich werd’ wohl zurückgehen. Und du, Aljuscha?“ Die<br />

wiedererstarkte Zauberin nimmt ihren verbeulten Hut ab: „Oh, ehrlich gesagt, ich habe da noch eine<br />

kleine Rechnung offen. Vielleicht sieht man sich ja da unten noch mal wieder.“ Sie blinzelt und macht<br />

vor dem Echs und dem Nuu-Giik einen formvollendeten höfischen Knicks. „Auf bald, meine Herren.<br />

Und paßt auf, wenn Ihr noch einmal in die Unterstadt kommt. Die Wirkung meines Wortes wird nicht<br />

lange anhalten. Möglicherweise könnte Euch der eine oder andere Wächter noch mal begegnen.“<br />

Dann hüpft sie mit einem kleinen Lachen zur Stadt hinunter.<br />

„Möcht’ wissen, was sie da eigentlich gesagt hat.“, brummt Den. „Nun, für einen der Schschschurken<br />

wird die Wirkung zumindessst lange anhalten.“, sagt Srrszzir und grinst breit. „Da gab esss einen der<br />

Gutangezzzogenen, der meinen Schschschädel öffnen wollte. Er wollte wissssen, welche Drüssse im<br />

Hirn für meine Schschschuppen verantwortlich issst.“ Dann lacht er laut, drückt Den die Hand und<br />

stapft breitbeinig den Berg herab. Nach ein paar Schritten wirft er etwas über seine Schulter. Den<br />

fängt es auf. Es ist ein kleines Schweinsöhrchen.


Schattenfuchs und Schleiertanz - Christel Scheja<br />

Schattenfuchs und Schleiertanz<br />

Christel Scheja<br />

„Drei saftige Meringor-Früchte aus Donji Kalemat! Gerade erst frisch eingetroffen! Ich sage euch,<br />

vier Eisensonnen sind nicht zuviel dafür verlangt!“ - „Pergemitronischer Balusch! Nur vier<br />

Bronzesonnen!“ - „Wollt ihr euer Mädchen anschmiegsam und sanftmütig machen? Dann kommt<br />

näher...“<br />

Das Geschrei der Händler hallte über den kleinen Markt im Süden von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, auf dem sich<br />

Stand um Stand, die meisten nur primitiv überdacht, aneinanderdrängten. In den schmalen Gängen<br />

dazwischen war die stickige Hitze und Schwüle des Mittmond-tages noch schlimmer. Wenn sich auch<br />

manch einer den Schweiß aus dem Gesicht wischte, so zog er sich doch nicht aus dem Gewühl zurück.<br />

Immer wieder standen drei oder vier Menschen bei den Buden zusammen und debattierten heftig über<br />

das bevorstehende Ereignis. In drei Tagen würde die Triumviratswahl stattfinden - und was das für<br />

die Unterstadt, nein, für ganz <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> bedeuten mochte, wußte keiner richtig zu deuten.<br />

Viele andere beschäftigte das nicht. Kreischend verfolgte ein Halbwüchsiger eine Herde Gänse, die<br />

ihm zu entwischen suchte um einige primitiv zusammengezimmerte Stände, auf denen kleine, verdorrt<br />

wirkende Feldfrüchte lagen, und warf dabei eine Kiste mit länglichen Früchten um. Hastig rannte der<br />

Jüngling davon, als ihn der fette Händler fluchend und keifend verfolgte. Er duckte sich, als ihm zwei<br />

Bewaffnete entgegenkamen, die augenscheinlich ihrer Herrin den Weg bahnten, einer edel<br />

gekleideten Dame, deren Gesicht von einem feinen weißen Schleier bedeckt war, so daß man ihre<br />

Züge nicht erkennen konnte.<br />

„Was will die hier?“ - „Die soll nur aufpassen, daß keiner ihr...“ Einige Frauen am Brunnen steckten<br />

die Köpfe zusammen und tuschelten, deuteten immer wieder mit ihren Händen auf die Frau.<br />

Ein bunt gekleideter Geck, dessen Gewänder einmal bessere Zeiten gesehen hatte, wich schimpfend<br />

dem Guß eines Nachttopfes aus, weil er zu dicht unter einem der windschiefen Häuser hergegangen<br />

war und trat gegen ein Schwein, das quiekend davonstob und einige Pferde zum Scheuen brachten,<br />

deren Reiter laut fluchend an den Zügeln rissen. Einer hieb sogar mit einem gefährlich aussehenden,<br />

an der Spitze gezacktem Speer nach dem verängstigten Tier. Mehrere Straßenkinder lachten über sie<br />

und riefen laute Spottverse, huschten geschwind wie die Ratten davon, als sie die Aufmerksamkeit der<br />

Reiter auf sich gerichtet sahen. Ein Kind mit zinnoberrotem Haar kletterte flink wie ein Äffchen auf<br />

einen Holzstapel und streckte die Zunge heraus.<br />

Dicht neben den Berittenen brachte ein Ziegenbock, der durch die Beine seines Herrn lief, diesen zum<br />

Stolpern und ließ ihn in einem Dunghaufen landen. Das Tier sprang meckernd durch die Menge<br />

davon, auf der Suche nach Fressen oder einem Weibchen, das er bespringen konnte.<br />

Im Tumult des Marktes fielen die zerlumpten Bettler, die unter der Hitze des Mittmondes besonders<br />

zu leiden hatten, weil sie ständig von den schattigen Plätzen vertrieben wurden, nur wenig auf.<br />

Ihr Klagen bildete eines der gewohnten Geräusche im Rattenloch von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, und die elenden<br />

Kreaturen wichen schon aus, wenn man nur mit dem Stock nach ihnen schlug. Es war auch angeraten<br />

Argwohn zu besitzen, denn die Börsen waren im Gewühl der engen Gassen zwischen den Ständen<br />

nicht immer besonders sicher...<br />

Schmale Gestalten wie ein drahtiger Jüngling mit schwarzem Haar, oder ein blondes Mädchen<br />

krochen unter den Holzschragen durch, wann immer sie einen Beutel abgeschnitten hatten und<br />

machten sich, ehe der Betroffene es merken konnte, durch die Menge davon.<br />

Ein schlanker, blaß wirkender Bursche mit mädchenhaften Gesichtszügen, der eine spitz nach hinten<br />

zulaufende Kapuze über sein Haar und einen Teil der Stirn gezogen hatte war nicht so vorsichtig.<br />

Flink hatte er eine saftige Frucht stibitzt und biß hinein, während er ruhig von dem Stand<br />

wegschlenderte, als habe er das Obst erworben.<br />

Blaugrüne Augen mit einem Silberschimmer blitzten und schienen nach würdiger Beute zu suchen -<br />

vielleicht der Börse der Dame, die interessiert feine Stoffe aus fernen Landen betrachtete. Der<br />

schmierige Barmian hatte sie unter ein paar grob gewebten Decken hervorgezaubert, nachdem eine<br />

Silbersonne den Besitzer gewechselt hatte. Der Jüngling grinste. Das war also der Grund, der das<br />

feine Dämchen hergeführt hatte: Sie wollte wohl Geld sparen, indem sie die, vor ein paar Vierteln aus<br />

den Lagern des Kaufherrn Dolphinius entwendeten Stoffballen erwarb. Na wenn sie sich dabei nicht<br />

in die zarten Finger schnitt... Er wischte sich die Finger an seinem schmutzigbraunen Überwurf ab<br />

und machte dann ein seltsamen Zeichen, ehe er sich umdrehte.


Schattenfuchs und Schleiertanz - Christel Scheja<br />

„Pawlek!“ Erstaunt zuckte ein Kräuterhändler zusammen, der den Jüngling eben noch neben seinem<br />

Stand stehen gesehen hatte. Sofort überprüfte er seine Auslagen und wischte sich erleichtert den<br />

Schweiß von der Stirn, als er feststellten daß ihm nichts zu fehlen schien. „Man kann ja nie wissen,<br />

was dieses Gauklerpack vor hat!“ murmelte er zu sich selber und blickte argwöhnisch über den Platz.<br />

Ja, die Wahlen und das darauf folgende Stadtfest brachte es mit sich, daß Gesindel seinen Weg nach<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> fand, das er weit wegwünschte - Nushq' quai und anderes Gesindel.<br />

Der Jüngling war zwischen den Menschen hindurch zu einer Lücke gehuscht und unter einen Stand<br />

gekrochen, der neben dem des Stoffhändlers lag. Schlangengleich hatte er sich durch die Schragen<br />

gewunden und kauerte nun fast unsichtbar unter dem tuchverhangenen Tisch.<br />

Geschickt lösten seine Finger die bestickte Börse vom Gürtel der Dame, ja der dreiste Dieb wagte es<br />

sogar der Maid einen Ring vom Finger zu ziehen, ehe er wieder nach hinten zurückwich und durch<br />

den hinteren Teil des Standes auf eine Gasse zwischen den Buden gelangte. Ehe er auftauchte ließ er<br />

die Münzen in seinen eigenen Beutel gleiten, den er wieder unter seinen Überwurf schob.<br />

Fröhlich pfeifend warf er die geleerte Börse über den Stand zurück und grinste breit, als er das<br />

Wehklagen und Geschrei der Edlen vernahm, die den Diebstahl entdeckt hatte. Unschuldig blickend<br />

mischte er sich unter die Schaulustigen und beobachtete, was weiter geschah.<br />

Ihre Leibwachen eilten nun herum wie aufgescheuchte Hähne. Zwei von ihnen jagten ein dürres Kind<br />

in Lumpen, das zu auffällig mit der bestickten Börse gespielt hatte.<br />

Entsetzt kreischend entwischte es den zupackenden Händen und stob wie ein aufgehetztes Reh in der<br />

nächstliegenden Gasse, verfolgt von den eindrucksvoll großen Kasraliten. Bald war nur noch Fluchen<br />

und Kreischen zu hören.<br />

Der Jüngling zuckte mit den Schultern und seufzte. Gemächlich schlenderte zu einem Fleischstand<br />

und erwarb dort ein Spießchen. Während er an dem knusprigen Fleisch nagte, setzte er seinen Weg<br />

fort, als wolle er sich nur die Stände anschauen.<br />

Der Jüngling zuckte jedoch zurück und riß die Augen weit auf, als er an dem Stand einer Nushq'quai-<br />

Sippe vorbeikam. Fast hätte er einen Packen Flickenteppiche heruntergerissen. Eine gebeugte alte<br />

Frau hatte tadelnd den Finger gehoben und verzog nun ihr runzliges Gesicht zu einem wissenden<br />

Lächeln. „Himbli, Junge, der du glaubst ...“, kicherte sie.<br />

Der Dieb schnaubte und warf den Fleischspieß beiseite, als habe er plötzlich den Appetit verloren<br />

drehte den Kopf weg, als er den prüfenden Blick der goldenen Augen nicht mehr ertragen konnte und<br />

überquerte hastig den Markt. Erst am Brunnen kam er zur Ruhe und kauerte sich dann zu einem<br />

Barden der neben einem der Becken saß, um dessen Gesang zu lauschen.<br />

Als der Sänger seinen Vortrag beendet hatte, neigte er den Kopf und lächelte den Burschen an,<br />

musterte verliebt das weiche Gesicht des Jünglings und wisperte etwas in zu ihm, das dieser ebenso<br />

rasch und leise erwiderte.<br />

„Füchslein, hab acht, die Leute des Hauptmannes Larkur suchen dich schon wieder. Was hast du nur<br />

wieder Leichtsinniges angestellt? Der Preis auf deine Ergreifung ist erhöht, und ich kenne manch<br />

einen, der sie sich verdienen will.“<br />

„Ach Reyard, das ist eine lange Geschichte. Ich war in der Oberstadt und habe da ... nein, das erzähle<br />

ich später. Ach weißt du, wenn das Leben hier zu schwer wird, dann zieh' ich einfach mit dir fort!“<br />

erklärte der Knabe fröhlich und unbeschwert. „<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> ist schließlich nicht meine Heimat. Du<br />

weißt ja, daß ich nicht nur dies eine Handwerk ausüben kann.“ Seine Stimme klang weich und schön,<br />

als sei sie für Gesang gemacht. „Ich bin zu lang in dieser Stadt, und will mich wahrlich nicht an die<br />

Menschen hier binden, sei es durch Verpflichtungen oder ...“<br />

Er verstummte und sah sich aufmerksam um, als er einen, in der Menge herausragenden Federbusch<br />

entdeckte. Die blaue Uniform einer Stadtwache stach deutlich unter den bunten Gewändern der<br />

Menschen hervor. „Nun, wie ist's? Einen Sänger wie mich kannst du gebrauchen, oder nicht?“<br />

„Ach Füchslein, das Leben eines Barden ist so wild bewegt wie seine Lieder! Zudem habe ich mich<br />

einer Gauklertruppe angeschlossen. Ich weiß nicht was Matany sagen wird, wenn ich dich zu ihr<br />

bringe! Sie ist eine sehr eifersüchtige Frau und du hast sie schon einmal vor den Kopf gestoßen, falls<br />

du dich erinnerst. Damals als du das erste Mal zu uns kamst ...“<br />

„Matany ist eine dumme Gans, du weißt es wohl! Und ich will doch nichts von dir außer deiner<br />

Freundschaft, mein dummer großer Freund. Deinen Körper schenke ich ihr gerne!“<br />

Der Barde seufzte und verdrehte die Augen: „Füchslein, du bist trotz allem ein reizvolles Geschöpf,<br />

und deine Schönheit übertrifft Matanys. Sie wird nicht zulassen, daß du den anderen Männern den


Schattenfuchs und Schleiertanz - Christel Scheja<br />

Kopf verdrehst, weil das nur Unfrieden in der Gruppe bringt. Und um ehrlich zu sein - sie um ihre<br />

Wahl unter den Männern!“<br />

„Vergiß eines nicht, ich stelle einen Jüngling dar, und das will ich bleiben! Eben ein Hochseiltänzer,<br />

Sänger und Akrobat, auch wenn ... Mutter ... „, er spie das Wort mit einem haßerfüllten Unterton aus,<br />

„immer wieder meinte, daß ich meine wahren Gaben vergeuden würde! Vergiß, was du damals am<br />

Fluß gesehen hast, ja?“<br />

„Oh Kindlein ...“, seufzte der Sänger verlegen. „Wie soll ich das, können? Überhaupt - du wirst es in<br />

einer Gemeinschaft nicht lange verbergen können.“<br />

„Ich bin kein Kindlein mehr! Und das zweite laß meine Sorge sein!“ fauchte der Jüngling erbost. „Du<br />

wirst mich nicht noch länger so nennen, sonst ...“<br />

„Es stimmt, du bist seit du das Haus deiner Mutter verlassen hat, erwachsen geworden, und dazu noch<br />

eine schöne Maid. Ich kann es nicht glauben, aber es stimmt, was die alte Meka einst prophezeite:<br />

Begabt, und schön wie Cherindrasta, die Herrin der Schleier, aber spitzzüngig und frech wie ein<br />

Schlänglein Selefras ...“<br />

„... und wie ein Füchslein so geschwind und klug! Vergiß das nicht. Also, nimm mich mit!“ drängelte<br />

der Jüngling.<br />

„Die Götter beschützen und behüten mich!“ Der Barde nickte ergeben, machte aber ein verzweifeltes<br />

Gesicht, weil ihm die Forderung nicht behagte.<br />

Dann schien ihm etwas einzufallen: „Meinetwegen, Füchslein, aber du mußt vorher noch etwas<br />

wissen: Die Seherin Ailanth lebt hier - hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, und Selefra mag mich in den Spalt<br />

stürzen, wenn ich lüge! Ich habe sie vorgestern gesehen, als sie über den Markt wanderte! Und ich<br />

habe sie sofort erkannt. Schließlich habe ich ein Jahr unter eurem Dach gelebt!“ Er zog die<br />

Augenbraue hoch, als er die Überraschung seines Gegenübers bemerkte. „Oh, so ist das. Ich verstehe<br />

nicht, wie du das nicht bemerken konntest! Oder sie. Ihr haßt euch doch aufs Blut und eigentlich hätte<br />

eine die andere zer...“<br />

„Ich begreife das auch nicht!“ grübelte der Jüngling, der eigentlich ein Mädchen war und starrte den<br />

Barden an mit geweiteten Augen an. „Ich habe mehr als ein Jahr hier zugebracht, und kenne das<br />

Rattenloch so gut wie meine Taschen, aber sie muß mir entgangen sein. Vielleicht weil ich die<br />

Nachtstunden zum Herumstreifen bevorzuge, während sie sich dann auf ihr Dach verkriecht ...“ Sie<br />

legte eine Hand auf seine Schulter und verkrallte sich in dem Hemd. „Wo ist dieses elende Weib, das<br />

geschworen hat, grausame Rache an mir zu nehmen?“ fragte sie mit kalter Stimme, als erwarte sie<br />

eine Antwort.<br />

Der Mann schluckte. „Du weißt, deine Mutter hüllt sich in die Nebel Cherindrastas. Niemand erinnert<br />

sich an sie, wenn sie es nicht will. Wie ich erfahren habe, als ich neugierig herumfragte, lebt Ailanth<br />

als Wahrsagerin und Mechanica in einem Hause nahe des Hesvite-Tempels, so als erhoffe sie sich<br />

durch des Gottes Nähe Visionen und Träume, die.... Nun ja, ich wollte sie besuchen, aber eine Frau<br />

mit einer Maske ließ mich nicht ein ...“<br />

Weiter kam er nicht. Das Mädchen sprang auf und verschwand im Schatten der Häuser, als sie sich<br />

von einem Soldaten erspäht fühlte, einem hochgewachsenenen dunkelhaarigen Mann.<br />

���<br />

„Ich werde euch benachrichtigen, wenn die Sterne mir ihre Rätsel enthüllt haben.“ Die Stimme der<br />

hochgewachsenen Frau klang kalt und tonlos, als sie ihren Besucher verabschiedete, der hastig die<br />

Kapuze seines Umhanges über den Kopf streifte und an der Sonnenuhr vorbei zum Gartentor eilte,<br />

das eine Magd offenhielt. Sie blickte ihm einen Augenblick nach, dann drehte sie sich um und<br />

betrachtete eine der Wandmalereien. Ihre Augen glitzerten, als sie die Figur des Schlangenskorpions<br />

kurz musterte und dann durch eine der hinteren Türen verschwand.<br />

Sie begab sich in einen Raum im zweiten Stock des Hauses und wirkte wie die Statue einer Göttin, als<br />

sie reglos vor dem Fenster verharrte und über die niedrigen, breitkronigen Bäume ihres Gartens<br />

hinaus auf die Straße blickte, auf der eine Menschenmenge ihren Weg durch die enge Gasse suchte.<br />

Verdeckt wurde eine weitere Aussicht durch das dunkle zweistöckige Gebäude mit den purpurn im<br />

Sonnenlicht schimmernden Fenstern.<br />

Blaugrüne Augen suchten bekannte Gesichter unter den Passanten, und sie lächelte, als sie dann und<br />

wann einen ihrer Kunden entdeckte, aber als es ihr zu müßig wurde, kehrte sie an den Tisch zurück,<br />

auf dem eng beschriebene Pergamentblätter mit komplizierten Berechnungen lagen. Einen Moment


Schattenfuchs und Schleiertanz - Christel Scheja<br />

runzelte sie die Stirn und strich ihr pastellgrünes fließendes Gewand zurecht, dann setzte sie sich<br />

wieder und beugte sich über die unvollendete Arbeit. Gedankenverloren griff sie nach der, im Tintenfäßchen<br />

stehenden Feder und malte weiter bildhafte Symbole von links nach rechts, überlegte eine<br />

Weile und setzte ihre Berechnung fort. Erst als sich die Tür einen Spalt öffnete, sah sie hoch.<br />

„Was ist?“ fragte sie mit ruhiger Stimme.<br />

„Herrin Ailanth, Ashline und Mikari bitten darum, heute früher gehen zu dürfen. Sie wollen ihren<br />

Familien helfen, und unten auf dem Markt spielen schon einige Musikanten auf. Sie freuen sich auf<br />

den Tanz, glaube ich“, erwiderte die Magd, die nun eintrat und den Kopf senkte. Ihre rechte<br />

Gesichtshälfte bedeckte eine emaillierte Maske, die nur bei genauerem Hinsehen als solche zu<br />

erkennen war. Ailanth nickte freundlich und winkte das Mädchen näher. Sie hatte dem Mädchen diese<br />

gefertigt, um die darunterliegenden Entstellungen - die zerfurchten Narben, die ihr betrunkene<br />

Männer zugefügt hatten, zu verbergen. „Sie haben die Erlaubnis zu gehen, Jamiriel. Und was ist mit<br />

dir?“<br />

„Ich?“ Die Magd wirkte erstaunt und verlegen , dann schüttelte sie den Kopf. „Die anderen werden<br />

mich verspotten. Die Gaukler sind doch die schlimmsten von allen spitzzüngigen Rashquiat!“<br />

wisperte sie haßerfüllt.<br />

„Gaukler sind in der Stadt“, grübelte Ailanth selbstvergessen, so als habe sie die letzten Worte nicht<br />

genau mitgekommen. „Ja natürlich. - Aber ich stelle es dir frei. Du kannst an diesem Abend tun und<br />

lassen, was du willst.“<br />

„Ich werde mich um Rhysian, eure Tochter, kümmern! Die Kleine treibt sich immer öfter auf den<br />

Straßen herum, so als habe sie Freude unter den Straßenkindern gefunden...“ sagte die Magd und<br />

verstummte, als ihre Herrin wieder nicht zuhörte. „Herrin Ailanth, habt ihr Sorgen?“<br />

Ailanth schüttelte zerstreut den Kopf. „Nein. Heute jährt sich nur ein trauriger Tag. Ich ...“ Sie sah die<br />

Frau an und ihre Augen blitzten purpurn, ein Zeichen, daß sie erregt war. „Bitte laß mich jetzt allein.“<br />

Jamiriel, die die Launen ihrer Herrin kannte, gehorchte schnell, und schloß die Tür hinter sich.<br />

Schon im nächsten Augenblick flog das Tintenfäßchen zu Boden und verteilte seinen Inhalt auf den<br />

Holzbohlen. Ailanth war aufgesprungen und hatte die Hände vor der Brust zu Fäusten geballt. Ihre<br />

Augen glühen in rotviolettem Licht. Schmerz und Wut vermischten sich in ihrem Gesicht zu einer<br />

Maske des Hasses und Zorns. Dann löste sie hastig die Bänder die ihre weißsilbernen Haare hielten<br />

und fuhr sich durch die langen Strähnen. Ihre Brust bewegte sich heftig.<br />

„Neun Jahre sind vergangen. Neun Jahre trauere ich um ihn, und noch immer sehe ich ihn in seinem<br />

Blut vor mir liegen.“ keuchte sie. „Damals hast du alles zerstört - alles was uns verband ...“ Ihre<br />

Stimme sank zu einem Wispern herab. „Ich sehe Mirthanh noch vor mir liegen, mit durchschnittener<br />

Kehle und gebrochenen Augen. Fast hätte ich das Kind verloren, das ich damals in mir trug. Oh, du<br />

hättest mir am liebsten auch noch das genommen.“ Dann schrie sie: „Warum hat dein Haß alles<br />

zerstört?“<br />

���<br />

Nur einen Tag vor der Triumviratswahl in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> brodelte das Leben im Rattenloch. Im<br />

unteren Teil der Stadt, auf den Plätzen, in den Schenken und Tavernen herrschte Lärm: Der<br />

Trommelklang eines wilden Tanzes vermischte sich mit dem Gekreisch von jungen Mädchen und<br />

Männern oder brüllenden Lachen. Sänger versuchten gegen das Stimmengewirr anzukommen,<br />

während Gaukler lauthals ihre Attraktionen anpriesen. Auch jetzt, kurz vor dem Fest, daß die oberen<br />

ausrichteten, versuchten die Zugereisten ihr Geschäft zu machen, und die Menschen nahmen es<br />

dankbar an. In der Schwüle der Nacht konnten ohnehin die wenigsten schlafen.<br />

Doch nicht überall im Rattenloch ging es so zu. Gerade am Rande der Schlucht, aus der wabernd<br />

Nebel aufstieg, herrschte fast schon beklemmende Leere und Stille.<br />

Das Mädchen in der Verkleidung eines Jünglings duckte sich in den Schatten des Hesvite-Tempels<br />

und beobachtete im Licht der Monde das beleuchtete obere Stockwerk des Hauses gegenüber. „Du<br />

konntest es nicht lassen, seine Zeichen aufzumalen“, stieß sie hervor und spuckte zu Boden. Bei ihrem<br />

ersten Versuch hatte sie die Malereien an der Hauswand gut erkennen können - leider auch einige<br />

Stadtwachen sie. Die junge Frau schnaubte. die Verfolgungsjagd hatte sie kostbare Zeit gekostet, Zeit<br />

in der ihre Mutter sie vielleicht schon gespürt hatte - denn der Zeiger der Sonnenuhr im Garten war<br />

ihr verdächtig genug vorgekommen. Die Männer suchten sie jetzt bestimmt schon in anderen Teilen<br />

des Rattenlochs - oder was wahrscheinlicher war - sie hatten sich anderen Aufgaben zugewandt.


Schattenfuchs und Schleiertanz - Christel Scheja<br />

Sie seufzte und zupfte sich die Kapuze eiligst zurecht, nur um dann einen vorsichtigen Blick zu der<br />

Mauer zu werfen um abzuschätzen, wie sie diesmal ungesehen über sie gelangen konnte.<br />

Widersprüchliche Gefühle rasten durch ihren Geist.<br />

Aziareya fühlte sich an ihre Jugend, als sie von drinnen Kinderlachen zu hören glaubte, erinnert.<br />

Cherindrasta - alles war gut gewesen, sie hatte ihre Mutter geliebt und ihr vollends vertraut. Sie war<br />

eine aufmerksame Schülerin gewesen, auch wenn die Lehren der Mechanika und Weisen sie nur<br />

gelangweilt hatten - ja, sie hätte sogar den Eid abgelegt, eine ...<br />

Aziareya schüttelte sich angewidert. Aber vor neun Jahren war alles zerbrochen. Nur durch diesen<br />

elenden Mirtanh, der zwischen sie und Ailanth getreten war. Aziareya wollte nicht länger daran<br />

erinnert werden - und doch, diese Nacht rief alles wieder hervor.<br />

Gegenüber ihrer Mutter hatte dieser falschzüngige Mann schön getan: Er war liebenswert und<br />

verständnisvoll gewesen, so daß Ailanth sich ihn in verliebt hatte, aber sie, Aziareya, hatte nur unter<br />

ihm leiden müssen: Unter seinen kleinen Boshaftigkeiten, die er ihr anlastete (wie oft hatte er Werke<br />

ihrer Mutter beschädigt und hatte behauptet, Aziareya sei es gewesen), unter dem Raub der Liebe<br />

ihrer Mutter, die er mit seinem Kind geschwängert hatte ...<br />

Schließlich hatte er sie umbringen wollen, als die ungeliebte Stieftochter zu klug und mächtig werden<br />

drohte - Aziareya erinnerte sich an die Konfrontation im Keller des Hauses ... wie er sie gepackt hatte,<br />

und ihr seine Pläne verraten, sie dann aber schneller nach dem Messer gegriffen hatte, als er ... wie<br />

das Blut über sie gespritzt war.<br />

Seitdem war das Band zwischen ihnen zerbrochen und ihre Mutter ihre größte Feindin gewesen: Sie<br />

hatte Aziareya verstoßen und all ihre Besitztümer vernichtet, um ihr Dasein zu leugnen, und wann<br />

immer sie sich daraufhin begegnet waren, versucht, es ihr heimzuzahlen, als sei sie eine Blutfeindin.<br />

Das Mädchen wußte, sie konnte sich des Dämons und Schattens, der ihr Leben belastete nur durch<br />

eine Möglichkeit entziehen, indem sie ihn auslöschte - nein, indem sie schneller war als dieser!<br />

Ihr Herz begann schneller zu pochen und trieb das Blut durch die Adern, daß ihr warm wurde.<br />

Cherindrasta, eines verstand sie immer noch nicht: ein Jahr hatten sie einander nicht bemerkt! Ob die<br />

Schleier dies gewollt hatten, oder Ailanth selber.<br />

Aziareya hatte in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> ein gutes Auskommen gefunden, sie stahl, was sie brauchte und lebte,<br />

so wie sie es gewohnt war - frei und unbeschwert in den Tag hinein. Sollte sie das jetzt so einfach<br />

aufgeben?<br />

Nachdenklich spielte sie mit dem Ring des Patrizierdämchens in ihrer Tasche. Kaum einer wußte, daß<br />

„das Füchslein“ ein Mädchen war, das sich weigerte einer der Banden anzuschließen.<br />

Und das war auch gut so, denn manchmal mußte sich Aziareya, wenn ihr die Wache wieder einmal zu<br />

dicht auf den Fersen war, als Magd verkleiden, um nicht aufzufallen, und selbst in den einfachen<br />

Gewändern einer Schankdirne wirkte sie auf Männer wie ein exotisches Tier: Unter der Kappe<br />

verbarg sich die nun fest geflochtene und für ihr Volk typische Haarflut, die bis zu den Hüften reichte.<br />

Allerdings juckte die Kopfhaut bei der Hitze im Mittmond mörderisch.<br />

Aziareya begriff nicht, warum die Männer hier sie hübsch fanden. In ihr hatte sich das Blut<br />

verschiedenster Vorfahren mit all seinen Vorzügen vermischt und ihr nicht nur das künstlerische<br />

Talent der Familie ihrer Mutter und die Gelenkigkeit ihres Vaters geschenkt, sondern auch ein<br />

Aussehen, das sie hervorhob. Eindrucksvolle grünblaue Augen mit einem schillernden leichten<br />

Silberblick, eine wahre Mähne feurigroten Haares, und die leicht gebräunte Haut machten sie zu<br />

einem für ihr Volk häßlichen Mischling, aber für die anderen offensichtlich reizvoll. Auch als<br />

Jüngling verkleidet konnte sie dies nicht gänzlich verbergen.<br />

Dann wurde sie unsanft aus ihren Gedanken gerissen.<br />

„Hab ich dich!“<br />

Im nächsten Moment raste eine Faust seitlich auf sie zu und traf sie in der linken Gesichtshälfte. Ihr<br />

Kopf wurde schmerzhaft zur Seite gedrückt, Aziareya stolperte einige Schritte weit und stützte sich an<br />

den Mauern des Tempelgebäudes ab. Im Licht der Monde konnte sie den vierschrötigen Mann kaum<br />

erkennen, der sie so angegriffen hatte. Aber seine Silhouette verriet ihn. Verdammt! Das war<br />

Koroush, einer der Burschen aus der größten Bande der Stadt, und er vergnügte sich damit, trotz<br />

seines beschränkten Verstandes, Kopfgeldjäger zu spielen.<br />

Sie hätte Reyards Warnung nicht überhören sollen - also stimmte es doch, daß jemand sie - vermutlich<br />

der eklige Fettsack aus der Oberstadt, dem sie ein paar kleine aber kostbare Schmuckstücke vor der<br />

Nase entwendet hatte, verstärkt suchen ließ!


Schattenfuchs und Schleiertanz - Christel Scheja<br />

Der Mann brummte zufrieden. Sie kannte ihn nicht genauer, aber die Arbeit in den Erzminen hatte<br />

seine Kraft in dem Maße vergrößert, in dem sein Verstand darunter gelitten hatte.<br />

Schneller als man vermuten konnte, setzte er ihr nach. Obgleich sie noch immer durch den Schlag<br />

benommen war, wich Aziareya ihm taumelnd aus und ergriff die Flucht. Ihren Plan - die Mutter zu<br />

„besuchen“ mußte sie ein anderes Mal umsetzen. Jetzt blieb nicht die Zeit dazu - mit einem so<br />

blutrünstigen Bullen hinter sich, der ihr schon wieder gefährlich nahe kam.<br />

Geschwind wie ein Springhase schlug sie vor seinen zugreifenden Pranken Haken - und bemerkte erst,<br />

als sie die Nebelwand vor sich sah, daß er sie an die Schlucht herangetrieben hatte. Es stank<br />

bestialisch aus der Tiefe herauf, so daß sie sich unwillkürlich die Nase zuhalten mußte.<br />

Als sie ein schnaufendes Lachen hörte, wirbelte sie herum. Ihr Verfolger versperrte ihr den Weg in<br />

die Gasse, aus der sie gekommen war. Einen anderen Weg aus der Sackgasse gab es nur über ein<br />

Gitter, dessen Eisenstäbe in scharfen Spitzen endeten - und in die Schlucht.<br />

„So mein kleines Füchslein, jetzt kannst du mir nicht mehr entwischen - und die 20 Silbersonnen für<br />

deinen hübschen Kopf habe ich gleich verdient und vielleicht noch'n bißchen mehr ...“, murmelte der<br />

Vierschrötige und rieb sich in Vorfreude die Hände. Das klang so, als wüßte er, was sie war. „Nun<br />

Knäblein, zermatsche ich dich wie eine Wanze auf meinem Kopf!“ Er klopfte sich auf seine verfilzte<br />

Haarpracht und spuckte aus.<br />

Aziareya war nicht zum Lachen, denn er war trotz aller Angeberei in einer besseren Position als sie,<br />

zumal noch zwei weitere Männer aus den Schatten auftauchten. Sie sah sich gehetzt um und wich, so<br />

weit es ging zurück. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. So wenig wie sie sterben wollte, so<br />

wenig wollte sie die Gefangene dieses ekligen Kerls sein ...<br />

Sie holte tief Atem und schüttelte den Kopf. Verdammt war dieser Mittmondtag, diese verfluchte<br />

Nacht. Als ob sie es herausgefordert hätte und nun den Preis für ihre Tat vor neun Jahren zahlen<br />

müßte.<br />

Beim Schlangenskorpion nein! Nicht umsonst war sie unter Selefras Zeichen geboren und wußte<br />

immer einen Ausweg!<br />

Bei Cherindrastas Schleiertanz, es gab nur noch diesen einen Weg. Sie mußte sich selber vertrauen.<br />

Sie drehte sich zum Abgrund hin - und sprang, als der Mann sie mit seinen Pranken festhalten wollte.<br />

Lautlos verschwand sie im Dunst und verlor ihren Verfolger, von dem sie nur noch einen Schrei hörte<br />

aus den Augen ...<br />

Ailanth schreckte aus dem dumpfen Brüten hoch, dem sie auf der Dachterrasse verfallen war. Trotz<br />

der heißen Nacht war der Himmel sternenklar gewesen, und sie zeichnete die Positionen der<br />

Sternbilder auf, um aus ihnen Erkenntnisse über den Ausgang der Triumviratswahl zu lesen. Sie<br />

lächelte zynisch. Ihrem Auftraggeber würde sicher nicht gefallen, daß ab dem Mittmond des Jahres<br />

167 ein anderer Wind wehen würde. Die Sterne standen gut für das Haus Broschakal, und der<br />

Feuervogel verhieß Kraft und Stärke - während der Eisdrache die Hoffnungen ihres Klienten erstarren<br />

ließ. Glücklicherweise hatte er sie schon bezahlt, und konnte das Geld nicht mehr zurückfordern, das<br />

sie so dringend benötigt hatte.<br />

Noch einmal blickte sie über den Garten hinaus auf die Straße. Unter ihr war es für einen Moment<br />

laut geworden, eine Männerstimme hatte die Stille der Gasse zwischen ihr und dem Hesvite-Tempel<br />

unterbrochen - doch bevor sie die Störenfriede erkennen konnte, waren diese schon verschwunden.<br />

Wahrscheinlich war es nur sich streitendes Gesindel gewesen, um das sie sich nicht weiter kümmern<br />

mußte. Obgleich das nicht das erste Ärgernis des Abends gewesen war. Hauptmann Larkur hatte sie<br />

kurz nach Einbruch der Dämmerung gestört und ihr von einem Straßenjungen berichtet, der in ihren<br />

Garten hatte eindringen, und sie dazu befragen wollen. Und sie hatte ihn erregt, ja wütend aus dem<br />

Haus gewiesen, weil sie noch immer von ihren schmerzlichen Erinnerungen gequält worden war. Nun,<br />

um eine Entschuldigung würde sie sich wohl kümmern müssen.<br />

Ailanth lehnte sich zurück und wollte sich wieder ihren Beobachtungen widmen, als sie plötzlich eine<br />

Schwäche in ihren Gliedern spürte.<br />

Die Feder entglitt ihren steifen Fingern, während sich ihr übriger Körper taub anfühlte. Ihr Blick<br />

verschwamm und sie meinte einen Moment das dreieckige Gesicht eines Kindes vor sich zu sehen,<br />

dessen Silberaugen sie aufmerksam musterten.<br />

„Bei Cherindrasta, Kind, das ist unsere Gabe und du hast das Gefühl sie zu lenken in dir: Alles ist<br />

möglich, wenn du nur daran glaubst - du kannst sogar in der Luft wandeln und einen Abgrund


Schattenfuchs und Schleiertanz - Christel Scheja<br />

überqueren - aber um das Gleichgewicht und das Gefüge der Welt zu bewahren, wird diese Kraft<br />

einem anderen geraubt.“<br />

Ailanth verkrampfte sich und röchelte. Sie konnte nur würgende Laute von sich geben und krallte die<br />

Hände in den Stoff ihrer Gewänder.<br />

Endlich ließ das Gefühl nach, und sie konnte wieder atmen, die Kraft kehrte mit einem Kribbeln in<br />

ihren Körper zurück. Ailanth sprang auf, fing sich an der Brüstung der Terrasse ab und starrte über<br />

die nebelverhangene Schlucht auf die Oberstadt. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Bei Cherindrastas<br />

Schleier, wer war dieses Wissens kundig? Etwa ... Sie preßte die Lippen fest aufeinander und schlug<br />

dann mit der Faust auf die Schmuckziegel des Hauses. „Aziareya!“<br />

„Willst du etwa in dem Dampf da runtersteigen? Bei Hesvites Spiegel - ich werd's nicht tun!“ - „Ha,<br />

der Bursche ist bestimmt hinüber! Den hat die Schlucht verschluckt!“<br />

Die Männerstimmen entfernten sich, nachdem die Halunken doch noch eine Weile diskutiert und mit<br />

einem Stock den Rand der Schlucht abgeklopft hatten.<br />

Aziareya kauerte heftig atmend auf einem Vorsprung ungefähr einen Sprung unter dem Rand der<br />

Schlucht und rührte sich nicht. Von hier aus konnte sie leicht nach oben klettern und im Gewirr der<br />

Gassen des Rattenloches verschwinden. Aber obwohl es gräßlich stank und das Atmen eine Qual war,<br />

wartete sie. Ihre Gegner konnten ihr auflauern, und sie selber fühlte sich benommen. Ihre Wange<br />

schmerzte und ihre Glieder zitterten, aber sie mußte vor Freude kichern.<br />

Ihr tollkühnes Vorhaben war gelungen. Sie hatte ganz fest daran geglaubt, und plötzlich war ihr Fall<br />

gebremst worden. Wie auf Schaum oder Schlamm war sie die wenigen Tritte bis zum Rand der<br />

Schlucht gegangen und hatte auf diesem Absatz Zuflucht gefunden.<br />

Ja! Irgendwie stimmten die Lehren ihrer Mutter also doch! Sie hatte die Kraft gespürt, die ihr<br />

zugeflossen war - und das eröffnete ihr ungeahnte Möglichkeiten, wenn sie es genau überlegte.<br />

Aziareya genoß das Hochgefühl, das sie erfaßte und dachte an das bunt bemalte Haus nur wenige<br />

Pfeilweiten von hier.<br />

Sie würde es an einem anderen Abend noch einmal besuchen. Wenn sie in ihren Fähigkeiten geübter,<br />

und Gras über die Sache mit dem Schmuck gewachsen war. Bis dahin würde sie Reyard eben zur Last<br />

fallen und ein wenig mit den Gauklern herumziehen.<br />

Bei Cherindrastas Schleiertanz, konnte denn jetzt noch etwas schiefgehen?


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Spiel<br />

Thomas Peter Goergen<br />

In der letzten Nacht war wieder Schnee gefallen, dichter Schnee wie Löschkalk, der alles, was er nicht<br />

bedeckte, gegen seine Weiße schwärzte, ob Mauer- oder Zimmerwerk, feucht, von glänzender Glätte<br />

wie Quarzgestein. Es war ein früher, frostiger, menschenleerer Morgen kurz nach Jahreswende. In die<br />

Schneewüste, welche die sommerliche Steinöde der Berge abgelöst hatte, duckte sich <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

unter den stehenden Dünstungen seiner Schornsteine als ein frierendes, schlafendes Tier.<br />

Im Rattenloch, wo gemeinhin selbst der Schnee schmutziger war als der in der Oberstadt, hatte, zu<br />

dieser Stunde, noch nicht das Gewühl der Leute die Bracke, den gefrorenen Schlamm der Straße mit<br />

der Schneedecke vermengt und in das unansehnliche Grau verwandelt, das Sommers wie Winters die<br />

Unterstadt zeichnete. Es war ein schönes, lebloses Bild.<br />

In der Früh, kurz nach dem klaren Tagesanbruch, glitt die klobige Kutsche, lautlos bis auf das feine<br />

Klingeln der Zaumglöckchen, auf den versprengten Rand der Südstadt zu. Bald passierte sie die ersten<br />

schuppigen Häuser. Das eingeschneite Dach ließ darauf schließen, daß sie bei Nacht unterwegs<br />

gewesen waren, der Kutscher und sein Pferd, beide in schwere Decken gehüllt, ebenfalls von dünnem<br />

Schneeflaum bedeckt; ihr Atem dampfte in die kalte Luft. Der Verschlag war von dunklen Vorhängen<br />

verfinstert. Langsam schaukelte der Wagen über das holprige, schneebedeckte Pflaster durch die<br />

ausgestorbenen Gassen. Von ferne drang der müde, hohe Hornton der Wachablösung.<br />

Es war seltsam anzusehen, wie das Gefährt ganz regungslos - weder der Kutscher rührte sich, noch tat<br />

die Mähre mehr als die spärlichsten Bewegungen, nötig, den Kasten in Fahrt zu halten - durch die<br />

Straßen schlich, fast wie von einer inneren, verborgenen Maschine getrieben.<br />

Schließlich, vor einer kleinen Hütte, deren Türe und die Fenster vernagelt waren, wurde angehalten.<br />

Der Kutscher stieg vom Bock, klopfte an seinen Decken herum, daß es Schnee staubte, stapfte dann<br />

auf die Baracke zu. Dort ergriff er einen an den Türrahmen gelehnten Spaten; ein kräftiges Gestemm,<br />

splitterndes Holz, und die Balken war von der Türe herunter. Vorsichtig öffnete der Mann und spähte<br />

in den dunklen Raum. Dann machte er kehrt, zurück zu seiner Kutsche - ein zögerliches Innehalten,<br />

bevor er sich wieder hinaufhangelte und oben erstarrte.<br />

Nun, nach einer Weile, in der die Kutsche stumm verharrte, das Pferd mit bald traurig-komischen<br />

Gesten sein Maul über die Schneedecke strich, als suchte es zaghaft nach einem letzten, kümmerlichen<br />

Gras, öffnete sich der Verschlag. Eine gebückte Gestalt in einem kostbaren Pelz, von öligem<br />

Schimmer wie ein Rabengefieder, den Kopf in einen kunstvoll gewundenen Schal versteckt, kletterte<br />

heraus. Ohne sich noch einmal umzusehen, schritt sie zügig auf die ärmliche Hütte zu, huschte hinein<br />

und schloß die Tür.<br />

Fast gleichzeitig setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung. Sie wendete, den Weg zurück, den sie<br />

gekommen war. Noch bevor sich die Straße allmählich zu beleben begannen, war sie wieder aus der<br />

Stadt verschwunden.<br />

Im Süden dehnte sich die Unterststadt. Ein weites Feld, vielleicht ein, zwei Läufe in Fläche gezählt,<br />

ein einsames und unwirsches Land, im Sommer heißer Schutt und Geröll mit schwarzen Bewuchs,<br />

jetzt weiß, karge Weiden wie gebückte, erfrorene Schäfer, still und kalt.<br />

Die Unterststadt wurde gemeinhin von allen gemieden; selbst an sonnig-schönen Tagen im Hamilé<br />

haftete diesem Ort etwas düsteres an, etwas gespenstisches - im Streichen des Windes, der in einigen<br />

Höhlen dort sich wie in Orgelpfeifen brach, im grauen Laub und in den Mustern des Sandes, die vor<br />

allem aufgeworfen wurden durch die Unterhöhlungen der Akka-Gräbler, einer heimischen, aasenden<br />

Maulwurfsart.<br />

Die Unterststadt war das Vorrecht eines Mannes, der seit bereits etlichen Jahren hier wohl nicht lebte,<br />

aber seine Zeit und Kraft auf die Sorge auf den „dritten Stadtteil“ <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s verwandte. Auch an<br />

diesem Morgen im frühen Erststrahl.<br />

Parcesastre Lugubrues hatte den Leinensack in das Loch versenkt, das er seit einigen Stunden in den<br />

steinharten Boden gegraben hatte, und machte sich nun daran, es wieder aufzufüllen. Die Nacht hatte<br />

er mit den Vorbereitungen verbracht, den Leichnam, den er gestern abend unweit vom „Totenkopf“<br />

aufgelesen hatte, für die Verscharrung („Beerdigung“ zu sagen, gefiel ihm nicht, das war etwas für<br />

Reiche und Priester) hergerichtet: ein Rekschat, augenscheinlich zu Tode gekommen durch den Stich<br />

in den Magen, doch im Grunde waren es die Kopfverletzungen, Blutungen des rechten


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Schädellappens, verursacht durch einen stumpfen Gegenstand, die des Mannes Schicksal<br />

abgeschlossen hatten.<br />

Die Sache stellte sich übrigens als umständlicher heraus als zunächst gedacht, denn um den Hals trug<br />

der Leichnam, unter einem Schal versteckt, die obsidiane Flamme der Brennergläubigen, und<br />

Parcesastres Pietät gebot die Rücksichtnahme auf etwaige Frömmigkeit, also bei diesem Mann die<br />

Einäscherung des Ober- und Unterleibes, die Ausbälgung des Kopfes mit der Asche und die Verschließung<br />

der geöffneten Augen mit einem Tropfen Kerzenwachs, wie es der Totenbrauch der<br />

Brenner vorschrieb.<br />

Parcesastre hatte sich in die Pflicht ergeben, nachdem der Kohleabdruck des Gesichtes auf Pergament<br />

gefertigt war, und die so verewigten Züge des Toten zu den anderen gelegt, die in bereits Dutzenden<br />

von Buchdeckeln, alle sorgsam datiert, in seinem Keller trockenlagerten.<br />

Kurz nach Tagesanbruch begab sich der Totengräber schließlich in die Unterststadt, um den schweren<br />

Beutel mit dem traurigen Inhalt zu vergraben. Als das Loch wieder verschlossen war, die kurzen<br />

Worte des Priesters, der wie so oft an dieser Stelle fehlte, von Parcesastre stellvertretend gesprochen<br />

waren, kehrte der Mann mit der weißen Strähne nach Hause zurück.<br />

In der kleinen Hütte hatte der Fremde sich an dem einzigen Tische niedergelassen. Darauf ruhte eine<br />

rechteckige Platte, zwei Pfeillängen die Kanten, aus stumpfem, blauem Stein.<br />

Eine Kerze verbreitete mäßiges Licht.<br />

Der Mann schien zu schlafen, er hatte die Augen geschlossen, das Kinn in den seidenweichen Kragen<br />

getaucht, die Hände in den Ärmel versunken. Langsam bewegte er sich, fast behaglich, auf dem harten<br />

Stuhl. Ein paar mal schnoberte er dösig durch die Nase. Er mochte vielleicht Stunden so verbringen.<br />

Doch er richtete sich auf und den dunklen, haifischartigen Blick auf den tiefblauen Stein; einmal war<br />

es, als zöge etwas gegen die Kerze, er starrte versonnen.<br />

Dann! schimmerte die Tafel, ein Licht, als hätte jemand im Innern des Steines eine Türe geöffnet.<br />

Weitere Lichter, in symmetrischem Abglanz, tauchten auf, verschwanden, kehrten zurück.<br />

Der behagliche Eindruck des Mannes war jäh verschwunden.<br />

Er war nun ganz der Jäger.<br />

Parcesastre entriegelte seine Pforte.<br />

Nicht, daß es viele Leute in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, nicht einmal im Rattenloch, gegeben hätte, denen es ein<br />

Bedürfnis gewesen wäre; sich widerrechtlich, selbst bei sperrangelweit geöffneter Türe, Zutritt zu<br />

verschaffen zu dem schmalen Hause mit den das ganze Jahr über blühenden weißblauen Blütenranken<br />

und den ewig rauchenden Schloten. Es war mehr der Ausdruck eines geordneten Lebenswandels.<br />

Beim Eintritt aber stutzte der Totengräber und hob den Kopf. Er drehte sich um, sein Blick schweifte<br />

über die leeren Gassen.<br />

Er machte den Eindruck, als versuchte er die Worte eines weiter abseits stehenden Menschen zu<br />

verstehen, der ihn in nämlichen Augenblicke unvermittelt angesprochen hätte; weit und breit war aber<br />

niemand zu sehen, wiewohl der Totengräber den Kopf reckte, als lauschte er angestrengt.<br />

Unruhig spähte er aus den Augenwinkeln in den Himmel. Da war nun wirklich nichts, nicht einmal<br />

die roten Wintervögel, die sonst in dieser Gegend kreisten.<br />

Er senkte den Blick, kniff die Augen zusammen, wie verwirrt; als er sich dann umwandte, um endlich<br />

ins Haus zu gehen, war seine Miene besorgt und von mißtrauischer Wachsamkeit.<br />

In seiner Stube verharrte er ein Weilchen, nachdenklich, gedankenverloren.<br />

Da war ein Schrank aus grünem Holz, ein Schreibtisch mit vielen verborgenen und sichtbaren<br />

Fächern, die große, damaszierte Ampel von der Mitte der Decke herab, die Anrichte mit irdenen<br />

Schalen, Back- und Naschwerk und Gewürze darin in bunter Mischung, das runde Tischchen nach<br />

multorischer Schnitzart (es herrschte ein ganz eigentümliches Gewirr unterschiedlichster Möbelstile),<br />

auf dem eine silberne Schale stand, in dieser dann ein grauweißgeäderter Stein. Eine Türe führte in<br />

sein Schlafzimmer. Zwei Luken im Boden; die eine, die in den wärmenden Ofenkeller führte, die<br />

andere, die verschlossen war.<br />

Parcesastre ging zu dem runden Tisch und nahm, zögerlich, Platz in einem beistehenden, verschlissenen<br />

Sesselstuhl. Auf dem Tisch wartete die Silberschale mit dem, einige Pfeilbreit in klarer<br />

Flüssigkeit, schönen Stein, der in der Mitte ein gleichmäßiges, glattes Loch aufwies, das in der Zeit,<br />

in der er noch in einem Bachlauf gelegen hatte, vom fließenden Wasser ausgewaschen worden war.<br />

Parcesastre betrachtete den Stein.


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Eine Frau.<br />

Eine Frau mit ernstem Angesicht. Und mit könglichem Gepräge.<br />

Wohl ihr Gefolge. Gesichtslos. Blau und leer, wie nichtgeboren. Aufgereiht.<br />

Kalt. Und mit grausamen Gesichtern, streng, und von härterem Blau, kaltes Angedenken.<br />

Reihe und Reihe, wie schon fast von der Kette gelassen.<br />

Und über allem - die Augen: schwarz, raubfischartig, ausdruckslose Lust.<br />

Kalt. Da war es wieder.<br />

Der Totengräber lehnte sich langsam zurück. Seine Miene war unbewegt, nur blinzelte er ein ums<br />

andere Mal; als er neben sich griff, um aus einer Schüssel auf der Anrichte einige farbige Zuckerstückchen<br />

zu angeln, zitterte die rechte Hand.<br />

Gegen Abend verließ er das Haus, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, und eilte die breite Straße<br />

hinauf, die von seinem Haus nach Norden führte.<br />

Es war das Geheimnis des dritten Saalherren, wie es ihm gelang, noch zu dieser Jahreszeit ein<br />

derartiges Aufgebot an ibriscischen Seidenrosen aufzutreiben, um aus diesen zartduftenden Blüten mit<br />

dem mattbläulichen Schimmer schwindsüchtiger Lippen ein nahezu kathedralisches Gebinde zu<br />

fertigen, sogar drei davon, drei dieser kunstreich bestäubten Blumenwunder, um der maßlose Tafel im<br />

alten Saal des „Schillerndes Vogels“ eine eindrucksvoll-frühlingshafte Aura zu verleihen.<br />

Aber er wäre nicht der dritte Saalherren des ersten Hauses in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, würde ihm, in dessen<br />

Obwalt ja gerade die hohe Bürde des Tafelschmuckes fiel, nicht dieses Kunststück gelingen.<br />

Und er würde eher sterben, als sein Geheimnis preiszugeben, wie er den staunenden Gästen an diesem<br />

Abend gleich mehrfach versichern durfte...<br />

„...bestand, frage ich Dich, eine wie auch immer geartete Notwendigkeit, darauf hinzuweisen, daß<br />

Seidenrosen im Osten vom gänzlichen Verschwinden bedroht sind...?“<br />

„Mutter, ich...“<br />

„...bedroht - was ist das überhaupt für ein Ausdruck - durch 'Mißbrauch als Tischputz'?“<br />

Torador blickte äußerst unglücklich auf die steile Falte auf der ansonsten makellosen Stirne seiner<br />

Mutter. Die Richterin im Augenblick maß ihren kleinen Sohn dagegen mit einem mißbilligendem<br />

Blick. Derartige Entgleisungen waren zwar selten, stellten sich indes unverhältnismäßig oft bei den<br />

Anlässen ein, die eine (sozusagen) gesteigerte gesellschaftliche Bedeutung besaßen. Ein (unseliges)<br />

Trefferglück hat der Junge ja, nicht ein, nicht zwei, nein, gleich drei Angehörige des Virates auf<br />

einmal, gewissermaßen das Schwarze der Scheibe, standen auf der Gästeliste. Mißbrauch als<br />

Tischputz...<br />

„... außerdem wurde es als - als Scherz? ja, als witziger Scherz ja aufgefaßt - der Herr Eborrie hat<br />

sogar - nunja, gelacht und...“ Torador fiel nicht auf, daß es ihm mittlerweile peinlicher war als es<br />

seiner Mutter jemals hätte sein können; sie zumindest brachte sein Redefluß wieder gedanklich zu den<br />

wesentlichen Dingen des Abends zurück, ihren Gästen, wohlverstanden: „Torador“, unterbrach sie<br />

somit, milde gestimmt, die wortreiche Abbitte ihres Sohnes,“ daß Eborrie - 'gelacht' hat, ist als<br />

strafmaßbegünstigender Umstand hiermit vermerkt. Geh´ nun bitte auf Deinen Platz!“, eine Weisung,<br />

die der Heiler nicht unerleichtert umgehend befolgte.<br />

Während die Richterin nun also das Kopfende der Tafel erreichte, dort in die angeregte Unterhaltung<br />

mit ihren („Beisitzern“, dachte Torador verdrossen) Tischnachbarn tauchte, beäugte ihr Sohn<br />

geistesabwesend die farbenprächtigen Darstellungen des weitläufigen Deckenmosaiks.<br />

In Gedanken war er weniger bei den geeisten Lerchenzungen, die just von dienernden Händen vor ihm<br />

zu Tische kamen, als bei den höchst bemerkenswerten Schreikrämpfen eines eigentlich an dauerndem<br />

Stumpfsinn leidenden Bäckermeisters - und bisweilen schob sich auch das eigenartige Bild der großen<br />

Melirae vor sein inwendig gekehrtes Auge - trotzdem ließ sich nicht vermeiden, die angemessene<br />

Höflichkeit gegenüber den Plaudereien einer für ihre geistvolle Unterhaltung bekannten Stadträtin an<br />

den Tag zu legen. Zumindest entging ihm auf diese Weise, aufgescheucht aus den wahren Dingen<br />

seines Interesses, nicht der seltsame Gast, den er kurz im Türrahmen zum Nebensaale bemerkte - mit<br />

einer hastigen Bewegung erhob er sich, bat die doch verwunderte Stadträtin um Verzeihung und<br />

verließ, den entgeisterten Blick seiner Mutter im Rücken, den Saal.<br />

Der Mann wehrte gerade einen Bediensteten, der sich darum drängte, ihm den schäbigen Kapuzenmantel<br />

abzunehmen, und wanderte auf einen kleinen, sehr versteckten Tisch in der hintersten Ecke


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

des Raumes zu. Ein paar Schritte vor dem bereits herbeieilenden zweiten Saalherrn erreichte Torador<br />

den Tisch.<br />

„Herr Lugubruk...?“<br />

„Ich bitte um Verzeihung, Herr Broschakal...“<br />

„O bitte, nein, ich wollte nur...“<br />

„Ihr - Euer - der Gast Eurer...“<br />

„Lugubrues“, warf der Mann mit der weißen Strähne in den sich verwirrenden Wortwechsel zwischen<br />

den beiden vornehm gekleideten Herren ein, „Parcesastre - Lugubrues.“ Damit faltete der Totengräber<br />

die Hände auf dem Tisch und betrachtete ruhig die beiden Herren, welche nunmehr sich wieder auf<br />

den Grund ihres Zusammentreffens besannen.<br />

Der Saalherr hielt es jetzt für angebracht, sich unauffällig zurückzuziehen; Torador hätte fast<br />

ähnliches getan, hätte ihn nicht eine höfliche Nachfrage zurückgehalten: „Ich will eigentlich gar<br />

nichts“, antwortete er, „aber ich war nur überrascht - wir hatten noch nie das Vergnügen...“<br />

Ob es für ihn, Torador, ein Vergnügen sei, sei zu bezweifeln, erwiderte der andere unbewegt, er<br />

jedenfalls freue sich über die Bekanntschaft. Woher denn Torador ihn kenne?<br />

„Eine - Freundin hat mich einmal - unlängst auf Euch aufmerksam gemacht...“<br />

„Wie schön“, meinte der andere ungerührt.<br />

„...Ihr seid ein - o danke“, ließ sich Torador auf die einladende Geste hin nieder, „ - ein Heiler? auch<br />

ein Heiler? wurde mir gesagt...“<br />

Er verfüge über gewisse Kenntnisse des Körpers, entgegnete der Totengräber mit einer Regung um<br />

die Lippen, in der man fast ein Lächeln hätte sehen können, „die allerdings eher auf Umständen<br />

beruhen, wo für einen Heiler nichts mehr zu tun übrig bleibt.“<br />

„Ich meinte auch nur“, sagte der Heiler, winkte einen Lakaien heran, indes schlug der Totengräber das<br />

Angebot eines Glases roten Weines höflich, aber bestimmt aus; erst als Torador, dessen für<br />

menschliche Schwächen geschulten Blick des anderen Liebäugelei mit einer am Nebentisch aufgetragenen<br />

Pracht aus Schokolade und Trüffeln, Sahne und Nüssen durchaus nicht entgangen war,<br />

nämlichen „Winternachtszauber“ von der Küche erbat, wurde Parcesastre nahezu umgänglich, taute<br />

sichtlich auf und begann eifrig den Verzehr.<br />

„Ihr seid ein kluger Mann, Heiler Broschakal“, bekannte er zwischen ein, zwei Löffeln, „aber...?“<br />

Torador nahm Abstand davon, ihn zur Vollendung des Satzes zu nötigen. „Ich habe nur“, sagte er<br />

zufrieden, „schon vorher einige Male von einem Mann gehört, der den Behörden bei der - Aufklärung,<br />

sagen wir mal, von Todesfällen unnatürlicher Art hilfreich gewesen sein soll... meine Freundin<br />

erzählte mir auch von Eurer, nun, Tätigkeit in der Unterstadt. Gerade im Sommer ist die - Bestattung<br />

(verzeiht, Ihr seid am Essen) unter dem Gedanken etwa der Seuchenvorsorge...“<br />

„Gewiß“, nickte der Totengräber, „doch vor allem denke ich, daß es nur wenige Menschen gibt, die<br />

von ihrer Mutter gezeugt wurden, um den Ratten anheimzufallen. Ich habe“, sagte er auf Toradors<br />

verdutzten Gesichtsausdruck hin, „eine etwas andere - Beziehung zu den Abläufen und<br />

Verstrickungen der Zeit!“<br />

„O, das Schicksal...“<br />

„Schicksal ist etwas für Helden und Liebende“, warf der andere unwillig ein. „Der einfache Mensch<br />

hat kein 'Schicksal', nur seine Zeit auf Nontariell!“ Nachdenklich widmete er sich seiner Schokolade.<br />

„Und was meine Zusammenarbeit mit den Behörden anbelangt - Euer Hauptmann Larkur traf mich,<br />

vor einigen Jahren, beim Tode des alten Von Erzfeld. Bevor die Untersuchungen abgeschlossen<br />

wurden, konnte ich ihn noch darauf aufmerksam machen, daß keinesfalls ein Fehltritt, sondern ein<br />

kräftiger Stoß den alten Mann die zehn Sprung in die Tiefe des Stollens befördert hatte. Er ging der<br />

Sache nach, und seitdem (ich weiß nicht, wie die Angelegenheit weiterverlief) wurde ich das eine<br />

oder andere Mal nach meiner - Meinung gefragt...“<br />

Und woher er wußte, daß Erzfeld nicht verunglückt, sondern...<br />

„Ermordet wurde? Nun“, schaufelte er geschickt einen wundervollen Trüffel aus der Sahne, „Ihr wißt,<br />

daß im Auge des Opfers das Bild des Täters...“<br />

„Ich bitte, also bitte Euch“, Torador lächelte mit einer Mischung aus Enttäuschung und Vergnügen<br />

über die kauzig-unbefriedigende Erklärung, „was der Volksmund...“<br />

„Welchen Grund sollte der Volksmund haben, Lügen zu verbreiten?“ knurrte der Totengräber, ohne<br />

indes den Anschein zu machen, durch den Heiterkeitsausbruch seines Gegenübers sonderlich gekränkt<br />

worden zu sein. Torador´s Lächeln gefror ein wenig. „Manchmal“, fuhr der andere fort (schien jetzt<br />

jedoch eher zu seiner Süßspeise zu reden als zu dem Heiler), „bleibt das Bild eines Mörders wie eine


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Narbe im Bewußtsein des Opfers zurück; noch wenn der Leib erkaltet ist, brennt der Gedanke<br />

unauslöschlich weiter: Haß - Schmerz - namenlose Rache - Vergeltung und - Verhängnis!“ Er<br />

schwieg.<br />

Die neue Kerze war fast wieder niedergebrannt.<br />

Doch vom Tisch ging jetzt aus ein auf- und abpulsendes, bläuliches Licht, wie ein lohendes, schlagendes<br />

Herz: die schwarzen Augen glitzerten saphirisch, Mondsteinen gleich in dem kalten Licht; und<br />

der Hai war in der Lagune, sein dunkler Leib, zielstrebig und still.<br />

Steinerne Gestalten auf dem steinernen Brett.<br />

Dann griff er nach einer und bewegte sie vor.<br />

„Was ist mit Euch?“ Torador erhob sich halb in seinem Sessel, als er sah, wie der andere plötzlich<br />

zusammensacke, als preßte ihm etwas die Luft aus den Lungen.<br />

Der Totengräber lag schweratmend auf der Bank, der Löffel klimperte zu Boden, und so heftig krallte<br />

er sich in den weißen Damast des Tischbezugs, daß Torador nur mit viel Geschick den<br />

„Winternachtstraum“ vor dem Umstürzen bewahren konnte.<br />

Der Totengräber kam langsam wieder hoch. Sein ohnehin bleiches Gesicht war jetzt aschfahl, die<br />

Lippen waren über die blitzenden Zähne zurückgezogen und in seinen weiten Augen bildeten sich<br />

rötliche Risse, als seien Äderchen in großer Zahl aufgrund einer großen Anstrengung geborsten -<br />

„Großer <strong>Mantow</strong>in, Ihr braucht Hilfe“, flüsterte Torador erschrocken...<br />

„Nein“, kam es da gepreßt. „Werft Euch nach links...“<br />

„Was?“ Torador traute seinen Ohren nicht.<br />

„Werft Euch - nach links!“<br />

Torador war einen ganz kurzen Augenblick wie erstarrt, dann zögerte er nicht mehr und ließ sich<br />

linker Hand aus seinem Sessel gleiten - während neben ihm eine aufwehende Feuerwolke, inmitten<br />

entsetzlichen Gescheppers und Geklirrs, auf den Tisch niederprasselt!<br />

Torador lag auf dem Boden, den Kopf in die Arme vergraben, und erwachte wie aus einer Betäubung<br />

- um sich herum Stimmengewirr, spitze Schreie und ein Gemurmel, aus dem helle, laute Rufe<br />

unregelmäßig aufblitzten; er fühlte wie jemand nach seiner Schulter griff: „Seid Ihr unversehrt?“<br />

fragte ihn ein älterer, weißbärtiger Mann, er dankte der Nachfrage und ließ sich vorsichtig hochhelfen:<br />

der Tisch war ein schwarzbrauner Brandherd, ein Lakai schwang gerade eine Wasserkaraffe darüber.<br />

Daneben kauerte ein anderer Lakai und der zweite Saalherr wie ein lüsterner Gott der Strafe kreischte<br />

über ihm: „Du Tölpel! Du nichtswürdiger, unfähiger Bauer! Du - du - Bauerntölpel...!!“ bis seine<br />

Stimme sich überschlug.<br />

Der ältere Herr klopfte freundlich an Toradors Gewand herum: „Eine ganz neue Art, flambierte<br />

Palatschinken zu verkosten“, meinte er launig. „Seid Ihr sicher, daß Ihr...<br />

„Danke, mir fehlt nichts, Herr...“<br />

Der Herr nannte seinen Namen, und Torador erkannte ihn als den Angehörigen einer der angesehensten<br />

Offiziersfamilien <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s.<br />

Mittlerweile war der erste Saalherr hinzugetreten, und erledigte die Angelegenheit mit der augenspielenden<br />

Überlegenheit, wie sie nur ein erster Saalherr, Säule und Ausdruck der Würde des Hauses,<br />

einzusetzen verstand: ein Seitenblick, Rüge für die unstandesgemäße Entgleisung des zweiten<br />

Saalherrn und vernichtender Tadel für den so unglücklich gestrauchelten Lakaien zugleich, der beide<br />

auch sogleich entweichen ließ; dann wandte er sich Torador zu, um in wohlgesetzten Worten tiefes<br />

Bedauern zum Ausdruck zu bringen.<br />

Der Angesprochene beachtete ihn kaum, seine Augen suchten nach dem Mann, dessen absonderliche<br />

Warnung ihn vor dem Unglück bewahrt hatte; in der Tat entdeckte ihn bald am anderen Ende des<br />

Saals, sein Anruf erreichte den Totengräber aber nicht mehr, da jener, den Mantel um sich schlagend,<br />

in diesem Augenblick eilig den „Schillernden Vogel“ verließ...<br />

Wirres Geschrei schreckte Torador auf; ein leichter Schädelschmerz kündigte sich bereits in seinen so<br />

jäh überforderten Nerven an. Indes, die lauten Rufe, das Aufheulen einiger Frauen, drangen aus dem<br />

alten Saal, dem Festsaal seiner Mutter, aus dem auch schon die ersten prächtig gekleideten Herren<br />

stürzten, lautstark und sichtlich verzweifelt nach einem Heiler verlangten - Torador hastete herbei, der<br />

große Saal glich einem aufgescheuchten Vogelnest und alles drängte nach dem Kopfende der Tafel:<br />

„Mutter!“


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Mit diesem Schrei stolperte der Heiler durch die Menge an sich drängenden Rücken und Köpfen:<br />

„Mutter“, entfuhr es ihm entsetzt - sie lag, anscheinend bewußtlos, vom Stuhl dahingesunken, von den<br />

Gästen umringt...<br />

„Platz da, geht doch weg“, flehte Torador händeringend, „laßt ihr doch Luft, Luft“, und er fiel neben<br />

ihr auf die Knie: das anmutige, strenge Gesicht von lebloser Bleiche, die Glieder schlaff wie schon<br />

hinfort, ein bläulicher, giftiger Glanz auf Mund und Lidern - „Wasser, holt Wasser“, schrie Torador,<br />

„holt Mikall, einen Träger, einen Träger...“<br />

Doch sein Rufen verlor sich, ging unter in der summenden Menschentraube, die sich wild durcheinander<br />

warf, um zu sehen, was dort geschah...<br />

Einen Moment lang schwankte das blaue Licht. Die Gestalten glühten wie geschmiedetes Metall.<br />

Die lichtlosen Augen verengten sich zu einem scharfen Schlitz.<br />

Das Gesicht, das einzige Gesicht in der antlitzlosen Horde um die Königin, war vorgedrungen.<br />

Nutzlos, weit hinter sich gelassen, die kleine Gestalt, die zum Ersten bewegt worden war.<br />

Der grausame Mund, das Haifischmaul, verzog sich stumm und in maßlosem Hohn.<br />

Bald regt sich die Hand und ordnet neu die Reihen aus blauem Gestein. Die nächste Gelegenheit bot<br />

sich schon.<br />

Draußen war es bereits weit nach Sonnenuntergang. Die winterliche Luft war feucht und kalt, machte<br />

die Wangen frösteln, als hätte man sie an eine Glasscheibe gepreßt; und der Nachthimmel über der<br />

Stadt war wirklich makellos wie schwarzes Glas, auf das sich Sterne wie funkelnder Sand in<br />

rätselhaften, geomantischen Mustern verstreut hatten.<br />

Parcesastre stand am Rand der breiten Straße, die vom westlichen Tore aus geradlinig <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

bis zum Marktplatze durchquerte. Nach dem zähen, frierenden Leben, das sich tagsüber auf dieser<br />

Straße abgespielt hatte, war der Schnee des Morgens aufgewühlt und von den Furchen der vielen<br />

Händlerkarren zerschnitten; er breitete sich, im dampf-flackernden Schein der wegsäumenden<br />

Feuerbecken, wie ein gelbliches, zerwühltes Bett vor den Stufen des „Schillernden Vogels aus.<br />

Der Totengräber atmete tief die klare, frische Luft ein.<br />

Aus dem Gebäude hinter ihm lärmte es ins Freie, sie schickten nach den Heilern der Stadt; bald schon<br />

würde es ein paar Ratlose mehr geben.<br />

Parcesastre faßte den Mantel enger und stieg zügig die Treppe hinab. Als er die Straße überquerte, auf<br />

der Höhe der Feste der Stadtwache, stockte sein Schritt...<br />

Pferde.<br />

Pferde, kraftvoll und gewandt, mit glühendem, rasendem Huf.<br />

Die Reiter, der Zug der Reiter. Steinharte Reiter, in blauem Küraß.<br />

Kalt. Und grausam die Gesichter. Leer.<br />

Und - die Augen: schwarz, raubfischartig, verbissene Gier.<br />

Kalt. Da war es wieder.<br />

Der Grollen der kupferbeschlagenen Tore drang dumpf an sein Ohr. Mit von schrillem Kreischen der<br />

mächtigen Angeln verzerrtem Nachhall schwangen die dornbewehrten Flügel auf und ins Innere der<br />

Feste.<br />

Aus dem Innern drangen wütende Rufe und aufgeschrecktes Pferdegetrampel.<br />

Es ging sehr schnell - Lauschen: Tumult im Innern der Wache, die Befehle und die Flüche -<br />

Verharren, nicht weitergehen - die Lippen flatterten, als zählte er, dann tat er (sogar noch) einen<br />

kleinen Schritt zurück, nicht einen! Augenblick zu früh und nicht einen Daumen zu wenig, denn der<br />

im Irrsinn durchgegangene, schaumbedeckte Gaul donnerte keine Pfeilbreite an ihm vorbei, daß der<br />

peitschende Schlag des Schweifes ihn noch streifte und der reißende Wind an seinem Umhang zerrte!<br />

Fast umgeworfen hätten ihn dann die Wachen, die im Folgenden aus dem Tore stürmten; einer von<br />

ihnen, eine blutige Schramme im Gesicht und die Hand um den rechten Arm gekrallt, brüllte derart,<br />

daß die Adern an seinem Halse wie Taue hervortraten.<br />

„Seid Ihr... Ach nein!“, hörte Parcesastre da eine wohlvertraute Stimme.<br />

„Guten Abend, Herr Hauptmann“, erwiderte er und wandte sich um; Larkur stand, noch die Brauen im<br />

Ärger verfinstert, am Straßenrand, und betrachtete den Totengräber gereizt. Auf den entbotenen Gruß<br />

hin sog er scharf die Luft ein, deutete ein knappes Nicken an. „Ihr seid natürlich unversehrt“, stellte er


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

kurzer Hand fest, und nun war es an Parcesastre zu nicken: „Inwieweit das natürlich ist“, bemerkte er<br />

höflich, „mag dahingestellt sein, doch es ist wahr, ich danke der Nachfrage.“<br />

Larkur musterte ihn noch einen Moment, dann kehrte er sich auch schon ab: „Ihr müßt verzeihen“,<br />

sagte er in der Bewegung. „Der Gaul ist wohl verrückt geworden - kaum daß das Tor auf war, warf er<br />

den Reiter ab und ging durch - ein anderer“ - ein prüfender Schulterblick zu Parcesastre - „hätte an<br />

Eurer Stelle vielleicht weniger Glück gehabt...“ Der Totengräber blieb unbewegt.<br />

Larkur hielt inne, schien nachzudenken: „Wie dem auch sei, es war jedenfalls knapp genug!“ Damit<br />

wandte er sich endgültig zum Gehen. Er hatte einen Wachposten zu befehligen. Ein paar harsche<br />

Worte zu seinen Männern, Anweisungen, das Pferd zurückzuholen...<br />

„Indultassi, Herr Hauptmann!“<br />

Larkur dreht sich (deutlich angestrengt) langsam wieder um, und auch das Reden der nahestehenden<br />

Soldaten flaute ab: „Was sagt Ihr?“<br />

Parcesastre zuckte mit den Achseln. „Meines Wissens nach kehren ausgebildete Rösser wie die Euren<br />

doch immer in ihren Stall zurück, wenn ihnen der Weg bekannt ist!“<br />

Er wolle sich lustig über ihn machen! Der Hauptmann schnitt dem Totengräber das Wort ab:<br />

„...natürlich kennt das Luder den Weg, es ist ihn ja gerade 'durchgegangen', aber - das zum ersten, das<br />

Tier ist irre...“<br />

„Hauptmann!“ Larkur fuhr aufs neue herum (allmählich war durch das Hin- und Her die Grenze<br />

seiner Geduld erreicht). „Hauptmann, seht!“<br />

„Bei der silbernen - Verdammnis, was zum...“ Da war das Pferd. Da war es. Allmählich zurückgetrabt,<br />

stand es nun bei den Männern am Tore, warf ungeduldig den Kopf zurück und schnaubte<br />

weißen Dampf in die Nacht: „Hauptmann“, der Mann, ein Rekschat, nähert sich vorsichtig dem Tier,<br />

klopfte ihm, ganz ergriffen, den Hals, die Flanke, „es ist wieder da...“<br />

Larkur verzog keine Miene. Er hörte noch die leidenschaftslose Stimme des Mannes mit der weißen<br />

Strähne: „Das Tier - ist unschuldig, Hauptmann. Und es hat seinen Zweck - nicht erfüllt!“ Dann,<br />

Larkur wußte es, war der Totengräber in der Nacht verschwunden.<br />

Die Kerze war längst verloschen, längst dämmerte die Kammer einzig in dem bläulichen Zwielicht<br />

des Steins. Aber das Licht war schwächer geworden. An seinen Grenzen fraßen sich die Schatten der<br />

natürlichen Nacht immer weiter auf den Tisch zu.<br />

Die Augen glänzten in Wut.<br />

Nutzlos vertan schon auch der zweite Versuch, der Springer, abgeschlagen, nunmehr ohne Wert...<br />

Das war bitter, aber lehrreich zugleich. Der Hai ist ein Jäger, er jagt mit Bedacht.<br />

Ihm wird nichts entgehen. Er wird siegreich sein.<br />

Parcesastre erreichte die Brücke. Vor ihm lauerte das grob gemauerte Haus der Wache, darin der<br />

Torbogen wie eine gähnende Höhle, fahl beleuchtet von den knisternden und in der feuchten Kälte<br />

pfeifenden Fackeln. Ein leichter Schneewind schlierte aus der schwarzen Höhe der Nacht.<br />

Der Brückenposten war um diese Stunde verwaist; nur einzelne Soldaten stapften unruhig, frierend<br />

umher.<br />

Der Totengräber näherte sich dem nächsten Matjek, der gerade leise über irgendetwas in den filzigen<br />

Mantelkragen schimpfte, fingerte in seiner Tasche nach dem Wegeschein und förderte diesen auch,<br />

just als er vor dem Posten zum Stehen kam, hervor und dem Manne unter die Nase.<br />

Der Matjek hatte keinen guten Tag gehabt. Die übliche Plage mit einem gelbäugigen Hauptmann, der<br />

an Griesgrämigkeit sogar ihn selbst zu übertreffen fähig, sturer noch als Niklion gewesen war.<br />

Dienstpläne, Mannschaftsbericht, und wieder Dienstpläne. Als gelte es den Dienst für das nächste<br />

Jahrhundert durchzuplanen. Was für ein Aas.<br />

Der Matjek fror, wollte nach Hause und verfluchte wechselnd den Hauptmann, das Wetter, die<br />

unsinnige Vorstellung seines Vaters, er müßte unbedingt zu den Stadtwachen gehen. Das lag jetzt<br />

auch schon sechs, sechs ganze Jahre zurück. Der Gedanke besserte seine Stimmung ganz und gar<br />

nicht.<br />

Der Wegeschein des Fremden war in Ordnung, daran ließ sich auch durch gleich mehrfache Überprüfung<br />

nichts ändern. Was soll´s. <strong>Mantow</strong>in hatte ihm halt keinen gesandt, an dem er seine schlechte<br />

Laune hätte scheuern können. Und überhaupt: jetzt sich darüber Gedanken zu machen, wie er anderen<br />

das Leben schwer machen solle...<br />

„Hier“, sagte er nur und reichte das Papier zurück. Dann winkte er den Mann im Kapuzenmantel<br />

weiter; seufzte, als dieser den Torbogen durchschritt. Gute Nacht. Er blickte nicht hinterher.


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Übrigens näherte sich schon der nächste Kunde (wird noch richtig aufregend, die Nacht, dachte er<br />

mürrisch), ein leicht abgehetzt wirkender junger Mann, schweratmend, den Schein schon von weitem<br />

gut sichtbar vor sich hin gereckt; der Matjek knurrte nur noch etwas, was der Junge zutreffend als<br />

Aufforderung den Wegeschein herzuzeigen, verstand. Er vertiefte sich in den Anblick des<br />

Schriftstücks, um so sorgsamer, als er die Eile des anderen spürte: immer langsam, junger Mann. Nur<br />

nicht hudeln...<br />

Die schmale Hand schwebte einen Augenblick lang über dem Stein, die Finger in leichter, nachdenklicher<br />

Bewegung. Dann ergriff sie eine Figur und schob sie über die Fläche, auf die einzelne<br />

Gestalt fast in der Mitte des Feldes zu.<br />

„Aufhalten, Matjek, aufhalten!“<br />

Der Posten sah überrascht von dem Papiere auf. Zwei Männer von der Garde bogen soeben um die<br />

Ecke an der Straßenkreuzung, ebenfalls abgehetzt und mit gezogenen Schwertern.<br />

Sein Blick traf den des jungen Mannes, dessen geweitete Augen, dann fühlte er schon einen Stoß und<br />

in einem verwischten Eindruck - er taumelte und fing sich noch - sah er den Jungen an sich<br />

vorbeirennen, durch den Torbogen und auf die Brücke zu...<br />

„Matjek...!!“ brüllte einer der Soldaten, als sie den Posten überholten, und das anschließende<br />

Schimpfwort ging in Wind und Schneeregen unter; immerhin hatte der Mann noch genug Geistesgegenwart,<br />

zum Wachhorn zu stürzen, mit ganzer Kraft hinein zu stoßen, daß die andere Seite der<br />

Brücke vorbereitet sei. Tatsächlich antwortete, dumpf und fern, das Horn der Gegenseite.<br />

Der Junge wetzte derweil schon über die Brücke.<br />

„Stehenbleiben, sofort stehenbleiben“, brüllten die Verfolger, verlangsamten aber zugleich, um<br />

wieder zu Atem zu kommen, schließlich war davon auszugehen, daß auch die Südseite der Brücke<br />

jetzt einige Männer herüberschicken würde - der Kerl saß in der Falle!<br />

Der Junge sah sich gehetzt um. Der Wind sauste hier, auf halbem Wege der Brücke, noch frei, nicht<br />

gefangen in Mauern oder Häuserwänden, und heulte den Schnee in sein Gesicht. Er kämpfte mit sich,<br />

wog das Für und Wider ab, wurde langsamer, rannte wieder einige Sprung, unschlüssig und mit<br />

klammen Herzen: dann sah er den gebeugten Mann, vielleicht eine Viertel Pfeilweite vor sich, der im<br />

Windschutz der Brüstung eilig vorwärtsstrebte, und er faßte einen kühnen Entschluß, zog seinen<br />

Dolch und stürzte auf die dunkel gekleidete Gestalt zu.<br />

„Hölle, eine Geisel, der Powlik will eine Geisel...“ Der eine Soldat sprintete mit einem Fluche wieder<br />

los, sein Freund überschaute das ganze etwas später, um dann dem ersten stolpernd und ausgleitend zu<br />

folgen.<br />

Der Junge erreichte den Vordermann, mit einem Satz warf er sich auf ihn - aber der andere wich aus,<br />

mit einer Leichtigkeit wie ein kasralitischer Ochsenkämpfer, und auch noch ohne einen einzigen Blick<br />

nach hinten geworfen zu haben. Der Angreifer suchte sich zu fangen, geriet aber ungeschickt in eine<br />

Bahn halbgefrorenen Schnees - der Boden wurde seinen Füßen lang und glatt, bis zur Brüstung der<br />

Brücke, ein harter Aufprall und entsetzt spürte er das morsche Gestein aus den Fugen geraten. Die<br />

ersten Brocken prasselten in die Tiefe - verzweifelt ruderte er mit den Armen...<br />

Mit einem Schrei verschwand er in der Finsternis.<br />

Die Figur des Läufers löste sich auf.<br />

Eine unheimliche Verwünschung kam von unsichtbaren Lippen.<br />

Die Soldaten langten inzwischen hustend, keuchend bei der Unglücksstelle an. Vorsichtig lugten<br />

beide über den Rand der Brüstung: „Verflucht, das wär´s dann“, meinte der eine, während der andere<br />

mißtrauisch mit der Hand über die splittrigen Kanten des Durchbruchs fuhr. Eigentlich wirkte die<br />

Mauer gar nicht baufällig oder einsturzgefährdet; nur an dieser Stelle war es, als hätten Würmer<br />

gezielt sich durch den Kalk, den Putz, die Ziegel gefressen und nur hohles Löcherwerk<br />

zurückgelassen...<br />

„He, wartet, Augenblick, Herr...“ Der Fremde hatte sich schon einige Sprung weit entfernt, erst der<br />

Ruf des Soldaten ließ ihn innehalten. Nun wandte er sich ruhig um und erwartete die beiden<br />

Bewaffneten, die sich mit großen Schritten auf ihn zu bewegten.<br />

„Nun?“ fragte der Totengräber


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

„Ihr müßt verzeihen, Herr“, setzte der eine an, „aber zumindest Euren Namen und den Ort Eures<br />

Aufenthalts - nur falls...“ Er hob die Schultern. „... eine Untersuchung, Ihr versteht“, ergänzte der<br />

zweite. „Nicht, daß es später heißt, wir hätten...“ Und er deutete mit dem Kopf nach hinten.<br />

Der Totengräber nickte, bat aber darum, da er in Eile sei, die Angelegenheit am Südende der Brücke<br />

erledigen zu dürfen, nicht etwa wieder zurückgehen zu müssen; die Soldaten willigten sofort ein,<br />

einerseits erleichtert über die Umgänglichkeit des Mannes, anderseits doch befremdet über die<br />

Gleichgültigkeit, mit der dieser offenbar das Geschehene aufnahm - als sie, ihn begleitend, den Weg<br />

fortsetzten, meinte der erste auch, irgend etwas beunruhigend-nachdenklich Stimmendes sagen zu<br />

müssen: „Ihr hattet“, sagte er, „großes Glück, müßt Ihr wissen!“<br />

Der Totengräber, den Blick starr nach vorne, hob nur fragend die Braue.<br />

„Jaja“, erklärte der Soldat fast eifrig, „hätte er Euch erwischt, hätte er Euch womöglich mitgerissen“,<br />

und er erblich ein wenig, als er den Fremden sagen hörte: „Das war auch beabsichtigt!“<br />

Beabsichtigt? Die Stimme des Soldaten klang schrill. Aber der Totengräber nickte nur mit ernster<br />

Miene.<br />

Den Rest des Weges legten die drei schweigend zurück.<br />

Wenig später befand sich Parcesastre in der Unterstadt. Die Angelegenheit in der Südfeste der Wache<br />

war vergleichsweise zügig vonstatten gegangen, den meisten Männer dort war er bekannt und deren<br />

Zuneigung zu ihm hielt sich in Grenzen. Man verabschiedete ihn so schnell als möglich.<br />

Nur als er das Tor durchschritt, gab es eine kleine Störung: ein Ziegel von einem der beiden Türme<br />

zerbarst keinen Tritt hinter ihm am Boden, wo er unmittelbar vorher gestanden, es vorgezogen hatte,<br />

einen kleinen Schritt nach vorne zu tun. Einer der beiden Soldaten, die ihn hergeleitet hatten, hatte<br />

stieren Blicks erst den Turm, dann den Totengräber auf- und abgestarrt, als hätte sich gerade höchst<br />

Außergewöhnliches zugetragen, hatte sich aber jede weitere Bemerkung versagt.<br />

So verließ denn Parcesastre unbehelligt die Feste und eilte nun durch die winterleeren Straßen des<br />

Rattenlochs.<br />

Er war wachsam und angespannt. Der Gegner hatte sich noch nicht geschlagen gegeben.<br />

In dem großen Haus an der breiten Straße waren die Fenster mit dunklen Tüchern verhangen, nur<br />

spärlich erleuchteten Kerzen die einsamen Räume. Vereinzelt huschten Menschen auf Zehenspitzen<br />

von Tür zu Tür, und unterdrückte Wortwechsel klangen aus allen Ecken und Winkeln.<br />

Vor dem Schlafgemach hatte sich eine Vielzahl gut gekleideter Herren um eigens herbeigeschaffte<br />

Tische und Bänke geschart und führten einen gedämpften Disput anhand schwerer Bücher und Bergen<br />

bekritzelten Pergaments. Ab und an trat einer durch die hohe Türe, um nach kurzer Zeit wieder<br />

kopfschüttelnd zurückzukehren: die Heiler <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s waren einhellig ratlos.<br />

Die ehrenwerte Richterin Geral Broschakal war diesen Abend in eine tiefe Bewußtlosigkeit gefallen,<br />

aus der sie bis zur Stunde nicht erwacht war. Die Ursachen waren völlig unbekannt, es war weder Gift<br />

noch eine Krankheit (noch ein Fluch) mit letzter Sicherheit auszuschließen - allerdings unter den<br />

Heilern, die für sich in Anspruch nahmen, bisweilen auf die übersinnliche Kräfte der Kunst<br />

zurückgreifen zu können, herrschte ein ihnen selbst unerklärliches Unbehagen, sobald sie sich der<br />

Bewußtlosen auch nur näherten.<br />

Sarjana ging es ähnlich. Sie war als eine der letzten ans Lager der Kranken gerufen worden und kaum<br />

daß sie an das Bett herangetreten war, überkam sie ein Schwindelgefühl, wie einer Schwimmerin, die<br />

einen anderen aus einem Strudel herausziehen wollte und dabei selbst fast zu nahe an den Sog geriet -<br />

es war ihr, als wäre die Richterin wie in einem tauben Sog gefangen, vusla donne prado...<br />

Aber helfen konnte sie auch nicht. Die arme Frau lag mit blau überglänztem Antlitz reglos in ihren<br />

kalten Kissen, mit einem so grauenvoll leeren Gesicht, als wäre jede Empfindung aus ihr gewichen -<br />

ein Ausdruck des Schmerzes oder des Leides wäre im Vergleich dazu schier menschlich gewesen...<br />

Die Zeit verstrich.<br />

Das eingeschneite, schiefe Flachdach hatte etwas sauber haubenhaftes, etwas daunendeckiges, der<br />

dürftig rauchende Schornstein ragte wie ein schwarzer Bettpfosten daraus hervor - allerdings war das<br />

auch alles, was entfernt gemütlich schien an dem langgezogenen Haus mit dem rostigen Schild<br />

„Zweischneidiges Schwert“, daran die mächtigen Eiszapfen schon wieder geradezu grimmig wirkten.<br />

Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, um die Kälte so gut es ging von drinnen fernzuhalten, und<br />

zu fortgeschrittener Stunde sollte man es sich gut überlegen, ob man zum Ein- oder Austreten die


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Türe öffnen wollte, denn frierende Söldner waren durchaus zu Handgreiflichkeiten in der Lage; Elmar<br />

Einarm beheizte einen großen Kamin, nicht mehr und nicht weniger, und diese einzige Feuerstelle war<br />

hinter seinem Tresen. Trotzdem war die Schenke immer gut besucht, gerade um diese Jahreszeit, denn<br />

bei dieser Kälte galt es so nah wie möglich aneinander zu rücken und sich aufzuwärmen - wenn schon<br />

nicht am Herde, so doch am Nebenmann und einer Flasche Branntwein, und Gejohle und Beifall<br />

machten die Runde, wenn der mißmutige Wirt dann und wann ein Scheit aufs Feuer legte.<br />

Melirae hatte heute Abend nichts zu tun. Die Richterin hatte einen Empfang gegeben, hatte den<br />

kleinen Torador mitgenommen. Dabei wäre sie fehl am Platze gewesen, schade drum war´s nicht, was<br />

soll´s. Sie hatte sich nicht lange alleine im Hause aufgehalten, war gleich in die Unterstadt gezogen<br />

und hatte es sich eine Zeitlang, erst im „Totenkopf“, sodann im „Zweischneidigen Schwerte“ gut<br />

ergehen lassen.<br />

Allerdings brach sie schon recht früh wieder auf; irgendeine flüchtige Überlegung hatte die Zerstreuung<br />

wie eine Seifenblase zerspringen lassen - und, ohne sich noch an diesen lästigen Gedanken<br />

wirklich erinnern zu können, hatte sie doch plötzlich die Lust verloren und sie war das Gedränge, das<br />

kehlige Lachen leid: dosd ewje, was soll´s, zahlte sie still ihre Zeche, wischte einen Rempler beiseite<br />

und machte sich davon.<br />

Fast ungehalten schlug sie die Türe hinter sich zu, als sofort verschiedentliche Klagen über die Kälte<br />

laut wurden.<br />

Sie sah einen großen Schatten in die nächste Gasse laufen, hörte ein rauhes Schnaufen - „der<br />

Bärenmann aus den Bergen“, dachte sie noch; kalt war´s, wickelte sie sich enger in ihren Mantel und<br />

stapfte durch den Schnee - wer ist denn der... was will denn der... „He da“, machte sie droh-end - was<br />

ist das denn: „Verschwinde“, warnte sie, „weg, hau bloß...“ Melirae zog ihre Axt.<br />

Der Totengräber wußte nicht, wie ihm geschah.<br />

Vor ihm, aus dem Schatten des „Zweischneidigen Schwertes“ wuchs ein riesiges, fellbekleidetes<br />

Weib mit einem schweren, scharfen Beil in Händen, angriffslustig - dumpf drangen wütende Worte an<br />

sein Ohr, er machte eine beschwichtigten Geste - da sprang die Hünin mit einem markerschütternden<br />

Schrei auf ihn los und schwang das Mordwerkzeug im pfeifendem Bogen; seinerseits schrie er auf<br />

und warf sich zur Seite, etwas streifte seinen Arm...<br />

Mächtig dröhnten ihm die Gedanken im Kopf, die unheimlichen Bilder, falbes Angedenken, eines<br />

kolossalen, weiblichen Schädels mit großen, gelben Zähnen - die ihm gekommen waren, als er just<br />

den bärenhaften Mann mit dem steingefaßten Knochen am Rücken zwischen den Häusern verschwinden<br />

hatte gesehen - o großer Herrscher, durchfuhr es ihn, es geht wieder los... Er hat es<br />

ausgelöst!!<br />

Aber Melirae bebte vor Zorn: der Wicht, der Zwerg, der aus dem Dunkel gekommen war und sie<br />

plötzlich angekreischt hatte mit irrsinnigen, krallenhaften Händen, verkrampft wie im Wahn, als<br />

wollte er ihr die Augen aus dem Schädel kratzen - „Sdanooo...“, brüllte sie wutentbrannt, diese Ratte,<br />

diese Ratte - sie holte weit aus und schlug zu...<br />

Die Gestalt verschwand.<br />

Die kaltblaue Königin stand vor einem leeren Feld.<br />

Mit freudlosem Lächeln lehnt sich der Fremde zurück, auf seinen teigigen Zügen das blaue Licht wie<br />

ein Fackelzug des Sieges. Kalt. Gelöschter Durst.<br />

Nun aber! holt sich der Jäger das kaltumkämpfte Wild.<br />

Der Hai reckt sich vor.<br />

Das Zimmer war dunkel bis auf ein, zwei Kandelaber, in denen mit gleichmäßiger Glut zarte Kräuter<br />

brannten. Im Vorzimmer lagen auf den Bänken die Heiler der Stadt und schliefen, andere brüteten<br />

über ihren Büchern: kalte Umschläge, Riechsalz. Flüssigkeit einzuflößen hatte sich als unmöglich<br />

erwiesen. Sie war immer noch nicht wieder zu Bewußtsein gelangt.<br />

Torador saß am Bett seiner Mutter und rückte mindestens zum dutzendsten Male die seidenen Kissen<br />

zurecht. Seine Augen waren feuerrot und auch gerötet war die Haut seiner Wangen. Ansonsten war er<br />

von übermüdeter Blässe. Er hielt die Wache am Krankenlager der Richterin, inzwischen heiser, hatte<br />

er doch ununterbrochen leise, beschwörend geredet und geredet, Gedichte erzählt aus Kindheit und


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Jugend oder Klatsch aus längst vergangenen Tagen, daß wenigstens seine Stimme sie erreichte - aber<br />

reglos und weiter erkaltend lag sie da, wie aus Marmor gehauen und antwortete nicht.<br />

Er schrak zusammen - „Meister Torador“, flüsterte jemand, hochblickend erkannte er Suszlo, den<br />

Kammerdiener. Er brachte nur ein müdes Stöhnen hervor.<br />

„Meister Torador, Ihr müßt Euch etwas Ruhe gönnen“, flüsterte der alte Mann, senkte aber sogleich<br />

traurig den Blick, als Torador wie lahm den Kopf schüttelte. Dann winkte er einen Diener mit einer<br />

dampfenden Schüssel heran: „Ich habe Euch eine Brühe machen lassen“, wisperte er, „Ihr müßt doch<br />

etwas essen!“ Er wies den Diener an, die Brühe auf das Betttischchen zu stellen, dann verließ er<br />

besorgt das Gemach.<br />

Als er sich umwandte, um die Türe zu schließen, sah er Torador aufs neue über die Richterin gebeugt<br />

und dessen Lippen im Schein der Kandelaber sich bewegen. Leise fiel die Türe ins Schloß.<br />

Der Fremde schreckte hoch.<br />

Er lauschte in die Nacht. Da! Die Stille war aufgescheucht. Ungewöhnliche Geräusche störten ihn.<br />

War ihm nicht versichert worden, die Gegend sei, selbst für dieses - Rattenloch, nahezu verlassen,<br />

nahezu totenstill? Über den schwarzen Wölbungen der Augen verzogen sich mißmutig die mäuseschwänzigen<br />

Brauen, als er sich wieder der Tafel widmete. In wenigen Zügen - die Schlinge, das<br />

Netz: zugezogen.<br />

Mit flinker Hand verschob er einige wie Eiskristalle funkelnde Figuren.<br />

Seine Arbeit wäre dann getan...<br />

Da! Da war es wieder, das Geräusch, als schreie ein Mensch in rasendem Zorn - und es war sicher<br />

kein Dutzend Sprung von der Hütte entfernt...<br />

Er saß, zitternd vor Unschlüssigkeit. Dann verstummte der Lärm (es mochte eine Stunde vor Mitnacht<br />

sein), so plötzlich wie er aufgeflackert war und die blaupulsende Ruhe kehrte wieder ein: „Suspicio“,<br />

fauchte der Kahle, dessen Haut so grauglatt und ledrig war, daß er in diesem Licht einer ausgestopften<br />

Puppe glich, biß sich vor Erregung in den Daumen, denn seine höchste Aufmerksamkeit war unerhört<br />

beeinträchtigt worden - vorwärts, vorwärts, der kalte Sieg, stirb nun, Königin, erstick´ an Deinem<br />

Blute - was denn...<br />

Die Pforte flog in den Raum.<br />

Der Fremde fuhr in in seinem Stuhl herum.<br />

Die Gestalt im Türrahmen zuckte und wankte, wie von einem Anfall gepackt, die Nägel rissen am<br />

Holz, die Füße scharrten und wütende Laute kollerten in der Kehle - der andere dagegen saß erstarrt.<br />

Dann verging die Erscheinung, floß an dunklen Gliedern hinunter, wie ein Mantel, der zu Boden<br />

gleitet, und eine ruhige, beherrschte Stimme sagte nun: „Guten Abend!“<br />

Der Totengräber trat ein und schloß hinter sich die Tür.<br />

Ein Rascheln weckte Torador und etwas Weiches berührte sein vornüber aufs Bett gesunkenes<br />

Gesicht: „Torador“, flüsterte eine Stimme, spröde wie lange außer Übung gewesen, „Torador, wie<br />

spät ist es...?“<br />

Der Heiler hob ruckartig den Kopf.<br />

Im schwachen Schein der Kandelaber sah er deutlich seine Mutter, in ihrem Bette aufgesetzt und mit<br />

verwunderten, geschwollenen Augen umherschauen, die kalte Brühe auf dem Nachttisch, die schwer<br />

verglühten Kräuter („O <strong>Mantow</strong>in, laßt die Fenster öffnen!“), ihren müden und verweinten Sohn am<br />

Fuße ihres Lagers...<br />

„Mutter!“ „Schrei nicht so, was...!“<br />

Aber schon hatte ihr Sohn sie mit einer Freude umfangen, daß sie die Frage nach dem eigentlichen<br />

Verbleib ihrer Gäste vergaß; dann polterte die Türe auf und eine ganze Schar verdutzter Gesichter<br />

drängte sich herein, Kerzen wurden entzündet, ein Bote zum Tempel gesandt, alle zwängten sich vor<br />

ihre Lagerstatt, und erstaunte Rufe mischten sich mit Gebeten aller Art - schwierig war´s, das Volk<br />

aus ihrem Schlafgemach zu werfen; erst dann beruhigte sich ihr Sohn und hieß sie glücklich sich erst<br />

auszuruhen, am nächsten Morgen sollte sie alles erfahren, was sich zugetragen hat in dieser Nacht.<br />

In jener Nacht bliesen die Schornsteine des kleinen Hauses mit den weißblauen Blütenranken<br />

schwarzen Rauch und Asche in die Luft.<br />

Am nächsten Morgen wartete eine in einen schwarzen Mantel gehüllte Gestalt am Eingang einer<br />

schäbigen, schiefen Baracke im Süden <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s. Unter dem Arm hielt sie ein in dickes


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Wachspapier eingeschlagenes, eckiges Bündel. Dann und wann griff sie in die Tasche und förderte<br />

bunte Sachen hervor, sich in den Mund zu schieben. Am Himmel stiegen, rot, die Wintervögel.<br />

Schließlich, kurz nach Anbruch des Tages, klang von ferne ein feines Klingeln über die sachte<br />

beglänzten, weißen Dächer der Stadt. Das Bimmeln rückte bedächtig näher.<br />

Die dunkle Kutsche bog um eine Ecke. Zielstrebig glitt sie über die neuschneeigen Straßen auf die<br />

Hütte zu; der Kutscher und sein Pferd, beide in schwere Decken gehüllt und überstreut von zartem<br />

Flaum des Schnees der Nacht. Vor der Hütte hielten sie an.<br />

Die Gestalt rührte sich und stapfte auf den Wagen zu. Davor blieb sie stehen und eine Zeitlang<br />

kreuzten sich die Blicke des Kutschers und des Sehers; dann griff dieser nach dem Bündel und reichte<br />

es zum Bock hoch: „Hier“, sagte er,“ bring´ das zur atamanischen Botschaft in die Oberstadt. Gib es<br />

dort ab. Dann verlaß die Stadt und kehre nie wieder zurück!“<br />

Der Kutscher nickte.<br />

Als er sich wieder der Straße zuwandte, setzte sich die Kutsche in Bewegung.<br />

Parcesastre sah den schwarzen Verschlag an sich vorüberziehen, das rotgelbe Wappen an der Türe:<br />

der Kopf, den vier Hände linksherum umkreisten und auf Mund und Ohren und Augen zum Liegen<br />

kamen - es war das letzte Mal, daß er diese Kutsche sehen sollte, er war sich sicher. Und das gleiche<br />

galt für - das Spiel. Es würde die Botschaft niemals verlassen!<br />

Noch bevor das Gefährt um die Biegung gefahren, außer Sicht endlich war, kehrte sich der Seher ab.<br />

Die Schlucht lag lautlos in der kalt-klaren, niedrigen Erststrahlsonne und ihre bleifarbenen Klüfte mit<br />

der weißen Maserung des Schnees hatte etwas unschuldig-sonnenbeschienenes wie ein (noch)<br />

schlafender Grauwolf. Wer auch immer nächtens dort zu Tode gekommen war, er war so sicher für<br />

immer verschwunden, als hätte ihn wahrlich ein Wolf verschlungen.<br />

Der Seher stand auf der Mitte der Brücke, lehnte sich auf die Brüstung und ließ sich die Sonne in den<br />

Rücken scheinen. Die Luft war noch feucht und sauber, frisch wie Eiswasser, und er genoß sie in<br />

vollen, tiefen Zügen.<br />

Seine Schulter schmerzte noch von dem tiefen Hieb, den er heute Nacht davongetragen hatte. Tarynth<br />

hatte nähen müssen. Und der Mantel hatte gestopft werden müssen. Eine denkwürdige Nacht.<br />

Eine meisterliche Finte war der letzte Zug des Fremden gewesen: den eigenartigen Bärenmenschen,<br />

die Hallakine, beide klug auf einander abgestimmt... Er mußte gewußt haben, daß der Bärenmann mir<br />

Gesichte bringen würde - und was für starke Gesichte, seltsam und von vom Tod gekennzeichnet - daß<br />

dieses Gesicht der Tropfen war, der den Damm zum Brechen brachte: seine (unwahre) Verwandlung<br />

kraft der Illusion, ausgelöst durch die letzte krankhafte Überreizung seines Geistes, mußte die<br />

Hallakine erschreckt und zum Rasen gebracht haben... Eigentlich schade, daß er niemals erfahren<br />

würde, welche Veränderung er diesmal erfahren hatte... Es war auch zu unbestimmtes Geschehen<br />

gewesen, als daß es unter seine Voraussicht gefallen wäre, unbestimmt wie ein Tonklumpen, aus dem<br />

auch keiner ersehen kann, was der Künstler daraus formen wird...<br />

Und wenn nicht der eine Bote dahergelaufen wäre, um dem Weibsbild die - ablenkende - Nachricht<br />

vom Unheil ihrer Herrin zu bringen, wodurch er den rettenden Augenblick zu entkommen gewann,<br />

hätte der Fremde womöglich Erfolg gehabt und diese hallakinische Höllenbrut hätte ihn in Stücke<br />

gehackt - bei der Vorstellung mischte sich Schauder und ein bitteres Lächeln.<br />

Er suchte in seinen Taschen, verzog schmerzvoll das Gesicht, als der Mantel sich über die Schulterwunde<br />

spannte, bis er Zuckerguß und Lebkuchen in Händen hielt, es versonnen kaute: die Illusion<br />

auszulösen war zugleich auch der große Fehler gewesen - die Gestalt, die er bisher beobachtet,<br />

verfolgt und bekämpft hatte, war ja verschwunden, vertauscht gegen das Wesen, welches das Trugbild<br />

gebar... und im Schatten jenes Blendwerks gelangte Parcesastre dann zu der verwünschten Hütte, die<br />

sich schon klar vor seinem geistigen Auge mahlte...<br />

Der Seher blickte kurz über die Schulter, blinzelte in das warme Licht.<br />

Er griff unter seinen Mantel und zog einen weichen Beutel hervor. Die Kordel war rasch gelöst und<br />

dann, der Totengräber zögerte einen Moment, langte er über die Brüstung und über der Schlucht<br />

kehrte er den Beutel von innen nach außen: eine Staubwolke stob hervor, graue, stinkende Asche und<br />

sank allmählich in die Tiefe der Klamm.<br />

„Lasset den Wurm zu den Würmern gehen“, sagte er leise. Im Frühjahr würde das Schmelzwasser das<br />

seinige tun.<br />

„Was tut Ihr da“, hörte er eine Stimme. Er drehte sich um. Eine alte Frau in einem schwarzen<br />

Überwurf, einen Lumpenkarren hinter sich, stand vor ihm und betrachtete ihn mit einem neugierigen


Spiel - Thomas Peter Goergen<br />

Ausdruck auf ihrem faltenübersponnenen Gesicht. Jetzt reckte sie sich und spähte auf den Beutel in<br />

den bleichen Händen: „Was war denn das?“ fragte sie und schüttelte erwartungsvoll den Kopf.<br />

Der Mann mit der weißen Strähne sah sie lange an. „Ein böser, mörderischer, gedungener Geist“,<br />

erwiderte er hart. „Er wird nicht bei meinen Toten ruh´n!“ Und, dachte er bei sich, wer immer diesen<br />

Mann auf die Richterin angesetzt hatte, er hat seine tödlichste Waffe verloren.<br />

Dann löste er sich von der Brüstung, hob grüßend die Hand, und, den Mantel um sich schlagend,<br />

wanderte er den Weg hinab nach Süden.<br />

Die alte Frau indes zuckte mit den Schultern, stutzte eine Weile, und schließlich ruckte sie ihren<br />

Karren ächzend, aber ob des schönen Tages guter Dinge, die Brücke hinauf und davon.


Ein Sehender unter Blinden - Marc Rösl<br />

Ein Sehender unter Blinden<br />

Marc Rösel<br />

37. Talu 165<br />

Die Tür schwang auf wie von Geisterhand.<br />

Jegliche Unterhaltung verstummte, wie mit der Schere durchschnitten, das einzige verbleibende<br />

Geräusch war der schwere Atem der düsteren, verschmutzten Gestalten, die sich in der Totenkopf-<br />

Kaschemme um wacklige Holztische drängten und zwielichtige Geschäfte besprachen, alle Blicke<br />

richteten sich auf die Frau in Rot, die im Eingang stand.<br />

Die Zeit schien stillzustehen, der ganze dunkle Raum war wie gefroren. Hände verhielten mitten in<br />

der Bewegung, Gläser stoppten auf halbem Wege zum Mund, und manche hielten sogar den Atem an,<br />

um die rotgekleidete Frau im Türrahmen durch das laute, aufdringliche Geräusch nicht auf sich<br />

aufmerksam zu machen. Allesamt waren die Besucher des Totenkopfes hartgesottene Kerle, die nichts<br />

so leicht aus der Ruhe bringen konnte, aber in diesen Augenblicken gab es keinen, der sich nicht<br />

dringlich wünschte, an irgendeinem anderen Ort zu sein, und sei es der Kerker der Stadtwache! Der<br />

Geruch der Angst füllte den stickigen Schankraum und überlagerte die vielfältigen anderen stinkenden<br />

Dünste.<br />

Die Dame in Rot schritt zur Theke. Ihr rotes Rüschenkleid raschelte leicht, in ihren schmalen,<br />

elfenbeinernen Händen hielt sie ein Stück zusammengerollte Menschenhaut, die noch feucht glänzte.<br />

Ihre Finger waren befleckt von frischem, schillerndem Blut.<br />

Harl blickte direkt in ihr blasses Antlitz, in dem sich Schönheit mit Bosheit zu einer unheilvollen<br />

Mischung verband. Der Wirt der Kaschemme schluckte schwer, Schweiß perlte von seiner Stirn.<br />

„Reiche Er mir eine Kerze, eine Schale mit klarem Wasser, darinnen ich meine Hände zu waschen<br />

vermag, und ein Glas Seines besten Weines.“<br />

Ihre Stimme hatte einen fließenden, melodischen Klang, und sie sprach mit einem seltsamen Akzent,<br />

das „s“ fast wie ein „sch“, und in einer fremdartigen Betonung der einzelnen Worte. Verachtung und<br />

maßlose Arroganz kennzeichneten ihre Bestellung.<br />

Dennoch beeilte sich der fette Harl, ihrem Befehl raschmöglichst Folge zu leisten. Die Dame in Rot<br />

ging zielstrebig auf einen Tisch zu, an dem drei stadtbekannte Schwertkämpfer saßen und von ihren<br />

vergangenen Taten geprahlt hatten, ehe sie eingetreten war. Fast schon fluchtartig erhoben sich die<br />

Männer und räumten ihren Platz. Die Rote Zauberin hatte nichts anderes erwartet und setzte sich mit<br />

bösem Lächeln.<br />

Kurz darauf brachte ihr der Wirt das Gewünschte. Die Schale war mit Trinkwasser gefüllt, so klar und<br />

rein, wie man es im Rattenloch zu finden vermochte, und damit in der Unterstadt kostbarer als Wein.<br />

Das Rote Fräulein wusch die feingliedrigen Finger, dann hob sie den Becher und roch prüfend an dem<br />

dunkelroten, schweren Wein, den Harl ihr kredenzt hatte. Der fette Mann stand wie versteinert, sein<br />

Herz schlug mit nie geahnter Intensität. Er wußte, wenn der Wein ihr nicht schmeckte, war das sein<br />

Todesurteil - oder schlimmeres... Er verfluchte sich, keinen besseren Tropfen in seinen Vorräten zu<br />

haben, aber verdammt! für die Halsabschneider des Rattenloches reichte es allemal, und wer konnte<br />

schon erwarten, daß sich solcher Besuch in den Totenkopf verirrte!<br />

Die Dame in Rot zog eine schmale Augenbraue hoch. Harl verkrampfte sich, sein Herz setzte einen<br />

Schlag aus. An einem der Tische tastete Kam Tak nach seinem Springmesser. Harl war sein Freund,<br />

und er würde ihm beistehen, wenn es darauf ankam, aber obwohl Kam der wahrscheinlich beste<br />

Assassine von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> und einer der besten Schwertkämpfer war, war seine teilnahmslose<br />

Miene nur Außenfassade. Er hatte Angst.<br />

Dann lächelte das Fräulein ihr dünnes, grausames Lächeln und nippte an dem Becher. Immer noch<br />

lächelnd setzte sie ihn wieder ab. Rote Tropfen schimmerten wie Blut auf ihren Lippen. Sie machte<br />

eine Bewegung hin zu Harl, wie um ein lästiges Insekt zu verscheuchen, und widmete sich dann im<br />

flackernden Schein der Kerze dem Studium der Rolle, die sie vorsichtig vor sich auf der Tischplatte<br />

ausbreitete. Seltsame Zeichen bedeckten die Menschhaut in verschlungenen und komplizierten<br />

Mustern. Die rotgekleidete Frau beugte sich in sichtlicher Faszination darüber und vertiefte sich in<br />

die bizarre Symbolik, während sie von Zeit zu Zeit von dem Rotwein kostete. Harl, der sich hastig<br />

zurückzog, konnte die Magie förmlich riechen, die von der Schriftrolle ausging. Auch Kam Tak<br />

entspannte sich wieder.


Ein Sehender unter Blinden - Marc Rösl<br />

Es dauerte nicht lange, und diese drei waren die einzigen Personen, die im Totenkopf zurückgeblieben<br />

waren. Alle anderen stahlen sich heimlich davon, während die Dame in Rot abgelenkt war. Für Harl<br />

und Kam Tak dehnten sich die Minuten zu einer zeitlosen Ewigkeit des bangen Wartens.<br />

Endlich.<br />

Nach über einer Stunde erhob sich die Dame mit allen Anzeichen deutlicher Zufriedenheit von dem<br />

Tisch, blies die Kerze aus und legte eine einzelne Münze auf die Tischplatte. Dann nahm sie ihre<br />

Schriftrolle und ging. Die Münze war von einer Art, wie sie Harl niemals zuvor gesehen hatte, aber<br />

sie sah wertvoll aus, und der dicke Harl bekam später von einem Geldwechsler in der Nordstadt 200<br />

Goldsonnen dafür! Danach blieb der Totenkopf erst einmal für eine Weile geschlossen. Es sei<br />

hinzugefügt, daß der Wein in dem Glas ein anderer war als der, den Harl eingeschenkt hat (die Rote<br />

hatte den Becher nur bis zur Hälfte geleert), und als Harl davon kostete, meinte er, es sei das beste<br />

gewesen, was er jemals getrunken habe.<br />

Die Dame in Rot wandelte hernach wie ein Gespenst durch die verwaiste Unterstadt, nachdem sie den<br />

Totenkopf verlassen hatte, denn natürlich hatte sich die Kunde von ihrer Anwesenheit wie ein<br />

Lauffeuer verbreitet. Alle Fenster und Türen waren verrammelt, und nicht einmal die Tapfersten<br />

wagten sich mehr auf die Straße.<br />

Allein einer sammelte all seinen Mut, obschon es im Rattenloch gewißlich Tollkühnere gab als ihn,<br />

denn seine Neugierde war stärker denn seine Furcht. Doch wäre es falsch, sein Wagnis als aus purer<br />

Neugier geboren zu umschreiben, war es doch vielmehr ein inneres Bedürfnis, das ihn trieb. Vielleicht<br />

hatte er endlich eine gefunden, die so war wie er...<br />

Der schmächtige Jüngling, fast war er noch ein Knabe, mit dem goldblonden Haar und dem spärlichen<br />

Flaum eines noch nicht so zu nennenden Bartes auf den blaßblauen Wangen, die in diesem<br />

Augenblick noch weit bleicher waren als zu anderer Stunde, trat aus einem Hauseingang und der<br />

Roten Dame direkt in den Weg. Er machte eine galante Verbeugung und blickte ihr mit mehr<br />

Festigkeit, als er im Herzen trug, in die blaßgelben Augen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr<br />

elfenbeinernes Antlitz, während sie einen höfischen Knicks andeutete.<br />

„Sei mir gegrüßt, o süßer Aramar,“ hauchte sie mit einer Stimme wie der Gesang einer Nachtigall,<br />

erfüllt von einer seltsamen Mischung aus Spott und Achtung. „Ein Junge jetzt, ein Eingeweihter<br />

einst.“<br />

Sie reichte ihm ihre zierliche Hand zum Kuß. Zögernd ergriff der Jüngling die dargebotene Hand der<br />

Roten Zauberin und berührte mit seinen mit einem Mal trockenen Lippen ihre blasse Haut, die sich<br />

anfühlte wie erlesenster Samt und doch kühl war wie ein Windzug am Abend. Ihn fröstelte, und seine<br />

ohnehin aufgesetzte Selbsticherheit schwand dahin. Er blinzelte verwirrt, dann raffte er sich zu einer<br />

Frage auf, die angesichts seiner gewohnten Wortgewandheit erschreckend plump und einfältig klang.<br />

„Was meint Ihr damit, ehrenwertes Fräulein?“<br />

Das silberne Glockengeläut ihres Lachens ergoß sich über ihn, ehe sie ihm mit ironischem Lächeln<br />

eröffnete: „Wir sind von der gleichen Art.“<br />

„Aber ich bin nicht wie Ihr!“ rief Aramar erschrocken. Es klang, als wolle er sagen: Ich bin doch kein<br />

Dämon!<br />

Es mied ihren Blick, bis er bemerkte, daß ihre Schwefelaugen von einem Schleier überzogen schienen<br />

und durch ihn hindurch in unendliche Ferne sahen.<br />

„Du bist nicht wie ich,“ sagte die Dame in Rot. „Und doch bist Du wie ich. Wir sind umgeben von<br />

Blinden, die die Welt bevölkern wie Vieh, Parasiten der Schöpfung. Wir aber, wir sind Sehende. Uns<br />

offenbart die Schöpfung ihre tiefsten Geheimnisse. Wir ergründen die Kräfte, die die Welt im<br />

Innersten zusammenhält - und machen sie uns untertan.“<br />

„Wollt Ihr damit andeuten, holde Dame... auch Ihr habt die Fähigkeit?“<br />

„Nicht Deine Fähigkeit, Aramar. Aber andere Fähigkeiten. Jeder von uns hat sein eigenes Talent, und<br />

wir bilden auch keine Gilde oder Zunft, aber wir erkennen einander, wenn wir uns begegnen.“ Ihr<br />

fahler Blick drang ihm durch die Smaragdaugen und schien ihn bis auf den tiefsten Grund seiner<br />

Seele zu durchbohren, ihn auszuleuchten, einzuschätzen. Aramar konnte nichts dagegen tun, außer zu<br />

bereuen, daß er so vermessen gewesen war, die Frau anzusprechen, die in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> als Dämon<br />

galt und der man nachsagte, sie lache über die Gesetze der Götter und über die Götter selbst. Es gab<br />

nicht wenige in der Geteilten Stadt, die hielten sie für mächtiger als die großen Gottheiten in ihren<br />

Tempeln, für mächtiger als Hesvite oder Selefra und für imstande, diese von ihren Sockeln zu stürzen,<br />

auch wenn die Priesterschaft solche Einschätzungen natürlich als Ketzerei verurteilte.


Ein Sehender unter Blinden - Marc Rösl<br />

„Ich ziehe meine Kraft aus den Wurzeln der Erde, aber auch aus den Strömungen und Strahlungen,<br />

die zwischen den Sternen in der ewigen Nacht flackern. Du hingegen, o Aramar, bist deine eigene<br />

Quelle,“ so sprach sie, und es hallte wie ein dunkles Orakel in Aramars Kopf wider. „Du nährst dein<br />

Talent aus deinem eigenen Selbst. Hüte dich, o Aramar, denn so wie ich täglich ins Angesicht des<br />

Wahnsinns blicke, das mir aus den Wesenheiten und Schrecknissen, die ich gemeistert habe,<br />

entgegenstiert, so magst du dich durch deinen Zauber selbst verzehren und ausbrennen zur leeren<br />

Hülle. Unsere Macht hat ihren Preis, kleiner Junge, und wenn du damit spielst, dann spielt die Macht<br />

auch mit dir. Hast du den Weg erst einmal eingeschlagen, gibt es kein Zurück mehr.“<br />

Der Kasralit senkte die Augen. Das Rote Fräulein musterte ihn kalt, doch auch mit dem flüchtigen<br />

Schatten von Mitgefühl. Oder war es Mitleid?<br />

„Warum erzählt Ihr mir davon? fragte er mit brüchiger Stimme.<br />

„Verbundenheit zu meinesgleichen. Es ist wohltuend, inmitten des menschlichen Unrats einen<br />

Edelstein zu entdecken.“<br />

„Wollt Ihr meine Lehrerin sein?“ fragte Aramar, von plötzlicher und wahnwitziger Hoffnung<br />

ergriffen.<br />

Ihr Lächeln war kalt wie gefrorener Marmor. „Ich nehme keine Schüler an.“ Ihre Stimme hatte eine<br />

Endgültigkeit, die ihn an den Tod denken ließ.<br />

„Gibt es viele... wie uns?“ erkundigte sich der Jüngling, der seine Hoffnung nicht aufgeben wollte<br />

(sollte er aufhören zu atmen?) mit mehr vor Aufregung denn vor Furcht bebender Stimme.<br />

„Ein paar. Nicht viele. Der Bergmeister, Abudnebu, Penhaligon... Du wist sie kennenlernen, nach und<br />

nach. Sie und andere. Wir treffen einander immer, so als würde unser Talent uns wie ein<br />

unwiderstehlicher Magnetismus zueinanderziehen.“ Eine unheilvolle Glut schlich sich in ihre<br />

schwefelgelben Augen. „Doch nicht immer ist es nur des Plauderns willen, daß wir zusammenfinden.“<br />

Sie strich Aramar über sein seidenweiches Goldhaar. „Noch bist du ein Kind, unbeschwert und naiv.<br />

Aber die Zeiten ändern sich, und du wirst dich mit ihnen ändern. Du wirst wachsen, vielleicht höher<br />

als jeder von uns...“ Sie packte sein Kinn mit einer Bewegung, die so schnell war, daß der junge<br />

Kasralit sie nicht einmal sehen konnte, und hielt es in einem eisenharten Griff, den er dem zierlichen<br />

Persönchen nie zugetraut hätte. Ihre Nasenspitze berührte die seine, und er spürte ihren duftenden<br />

Atem heiß auf seiner bläulichen Haut.<br />

„Ich werde ein Auge auf dich haben, Aramar, daß du nicht zu hoch wächst,“ sagte sie dann, ehe sie<br />

ihren Griff löste und ihm zärtlich über die Wange strich. Aramar kam sich vor wie eine beiläufig<br />

gestreichelte Katze.<br />

Ohne ein weiteres Wort wandte sich die Dame in Rot ab und ging davon.<br />

Aramar stand und zitterte. Sein Kinn schmerzte und würde sich alsbald in einem dunkleren Blau<br />

verfärben. Die Dame in Rot hatte ihm seine Bestimmung kundgetan, und er wußte, daß es keine<br />

leichte Bürde war, die das Schicksal ihm zugedacht hatte. Als er zu seinem Haus zurückkehrte,<br />

glaubte er ein schweres Gewicht auf den Schultern zu tragen, und er hoffte inbrünstig, daß seine<br />

Schultern nicht zu schmal und sein Rücken nicht zu zerbrechlich sein mochten.<br />

Die Dame aber schritt weiter bis hin zur Brücke, die die beiden Teile von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> verband und<br />

zu einer Stadt zusammenfügte. Die Wachen an der Brücke wurden weiß wie frisch getüncht, als sie<br />

die Dame auf sich zukommen sahen. Es muß kaum erwähnt werden, daß sie keinen Passierschein von<br />

ihr verlangten, hatte doch gerade einer der Männer eine Geistergeschichte zum Besten gegeben, in der<br />

die Dame in Rot als bluttrinkendes Schreckgespenst geschildert worden war - und jetzt stand sie<br />

leibhaftig vor dem Erzähler und seinen Zuhörern! Gerade so, als hätte die Gruselgeschichte sie aus<br />

der tiefsten Hölle heraufbeschworen... Die Dame in Rot ging bis zur Mitte der Brücke, dann sprang<br />

sie einfach in die Tiefe und verschwand in den grauen Nebeln, die ihre rote Gestalt verschluckten.<br />

Es heißt, in dieser Nacht seien die Monde über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> rot gewesen wie Blut.<br />

Epilog<br />

Am 5. Nirtsch wurde ein abgemagertes Bettlermädchen zu Grabe getragen. Sie hatte gerade erst knapp<br />

ihre Pubertät erreicht und nicht viel von ihrem kurzen Leben gehabt, ihre erste sexuelle Erfahrung<br />

hatte ihr gleich den Tod gebracht. Den Schuldigen würde wahrscheinlich nie jemand finden - nicht,<br />

daß es besonders viele Leute gab, die sich überhaupt darum gekümmert hätten. Es war ein typischer<br />

Herbsttag, als Parcesastre Lugubrues, der Totengräber von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, ein Grab für sie aushob, und<br />

nur zwei Menschen standen im leichten Nieselregen, um Abschied von dem Mädchen zu nehmen. Das<br />

Ganze war kaum eine Beerdigung zu nennen, die Kleine wurde fast schon verscharrt wie ein


Ein Sehender unter Blinden - Marc Rösl<br />

verendetes Tier. Über ihre Religion war nichts bekannt gewesen, ebensowenig wie über ihre<br />

Herkunft, keiner vermochte sich auch nur daran zu erinnern, wie sie hieß, und auch wenn Parcesastre<br />

Lugubrues sich verpflichtet gefühlt hatte, ein kurzes Gebet zu den Göttern zu sprechen ( zu allen<br />

Göttern, da er ihren Gott, wenn sie einen hatte, nicht wußte) und einen in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> gängigen<br />

Bestattungsritus abzuhalten, konnte das ihrer Grablegung doch kaum etwas von ihrer Trostlosigkeit<br />

nehmen, zu der der graue Himmel und der feine tröpfelnden Regen ein passendes Stimmungsbild<br />

boten. Die Trauer der beiden Anwesenden aber war echt.<br />

Sarjana, die Heilerin, hatte der Kleinen oft kostenlos geholfen, wenn sie verletzt oder krank war, und<br />

Aramar hatte ihr von seinem mageren Lohn als Hauslehrer in der Oberstadt regelmäßig ein paar<br />

Eisensonnen zugesteckt. Beide hatten das Mädchen wirklich gemocht.<br />

„Das war´s,“ meinte der Totengräber schließlich und wischte sich die Hände ab. „Ihr könnt nach<br />

Hause gehen, die Kleine hat es hinter sich.“<br />

Er blickte in ihre betretenen Gesichter, und ein Schatten huschte über seine Züge, als er das für andere<br />

Augen unsichtbare Signum erspähte, mit dem der junge Kasralit gezeichnet war. Mariannette<br />

Flambertin hatte ihn berührt, mit der Hand und mit ihrer Macht. Parcesastre las Tod und Untergang in<br />

Aramars Augen, aber dieses eine Mal war es anders als sonst, keine Gewißheit, sondern nur eine<br />

Möglichkeit. Der Totengräber runzelte überrascht die Stirn.<br />

„Was habt Ihr, guter Mann?“ fragte Aramar, dessen scharfer Beobachtungsgabe nicht entgangen war,<br />

daß er einer kurzen, aber intensiven Musterung unterzogen worden war.<br />

Aber der Seher schwieg.


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Totentanz<br />

<strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Prolog<br />

„Ding dang dingding didang dingding...“<br />

Drei Paare -Königspaare- drehten sich auf einer großen Scheibe herum, jedes für sich auf einer<br />

kleineren noch einmal um sich selbst. Wie das Bild eines Ballsaals, nur soviel kleiner und soviel<br />

prunkvoller. Goldgeschmückt, Edelsteine als Augen, Perlen statt Schuhe und Perlmutt als Haar. Drei<br />

Paare, immer herum, immer im Takt. „Ding dang dingding didang dingding...“<br />

Zufrieden betrachtete der Feinschmied sein Werk. Wenig größer als zwei seiner Finger zusammen<br />

war jede der Figuren, die dort ihre Kreise auf der kleinen Spieluhr drehten. Die Uniformen, die<br />

Kleider der Damen, die Melodie, alles war so wie es sein sollte. Jeder erkannte sofort, mußte sofort<br />

die letzten Könige Multors nebst ihren Gemahlinnen in den Figuren erkennen.<br />

Ein letztes Mal drehte der schon recht alte Multorier den Kasten herum, hängte ihn in ein Gestell,<br />

damit der edle Überzug der Figuren nicht abgeschabt wurde und öffnete die Unterseite. Unzählige<br />

kleine Räder aus bestem multorischen Metall drehten sich, schoben andere Räder weiter, spannten<br />

jene Feder, schob diesen Hebel weiter. Alles lief wie er es geplant hatte. Einmal aufgezogen, ließ die<br />

Spieluhr das Hohelied der Könige dreimal ganz hören. Über 100 Mal drehte sich das große Rad dabei,<br />

die Paare selbst wirbelten an die 300 Mal herum. Sorgsam verschloß er die Uhr und zog die<br />

Schrauben fest. Fast hatte es ihm leid getan Schrauben in dieses edle Holz zu rammen, aber anders<br />

war es nicht zu machen gewesen. Er drehte das Kunstwerk herum und stellte es auf den Tisch. Ein -<br />

zwei -drei Umdrehungen des kleinen Hebels an der Rückseite des Kästchens und schon erklang das<br />

lustige und doch stolze Lied wieder: „Ding dang dingding didang dingding...“<br />

Sogar Platz für eine kleine Schublade hatte er gefunden. Man konnte sie an einem Perlenknopf<br />

herausziehen und sie bot Platz für ein paar Ringe oder sogar eine dünne Kette.<br />

Er trat einen Schritt zurück, betrachtete das Reigen der Könige und nickte zufrieden. Ja, es war<br />

vollbracht. Ein Jahr seines Lebens hatte er in diesen Kasten gesteckt, jede Stunde ein Opfer für seine<br />

Familie. Doch mit dem Geld, das ihm der Kriegsherr zahlen würde, könnte er seinem Sohn ein<br />

schönes Haus in der Stadt kaufen, in dem er mit seiner jugen Frau leben könnte. Das wäre etwas<br />

anderes, als diese schäbige Holzhütte, in der sie jetzt lebten.<br />

Ja, es war vollbracht, und anscheinend keinen Augenblick zu früh. Der Handwerker hörte von<br />

draußen das Klappern von Pferdehufen auf dem einfachen Lehmweg, der von der Hauptstraße zu<br />

seiner Hütte führte. Hier kamen nicht oft Leute vorbei, es sei denn sie suchten ihn.<br />

Ein schneller Blick aus dem Fenster bestätigte seinen Verdacht. Es war ein Befehlshaber der stolzen<br />

multorischen Armee, in seiner Begleitung zwei Berittene. Die Gruppe hielt und der stolze<br />

Kommandant stapfte auf die Hütte zu, aus deren kleinen Kamin ein lustiger Rauchfaden stieg.<br />

Bevor er klopfen konnte, öffnete der alte Mann die Tür von Innen: „Ah, Herr Hauptmann. Kommt<br />

doch herein, immer erfreut einen so stattlichen Soldaten zu sehen. Ich nehme an ihr wurdet von<br />

Kriegsherr Blu´Kelar geschickt?“<br />

Der Soldat öffnete den Verschluß seines langen Reitermantels und legte ihn neben sich auf den Tisch.<br />

Auch seine Handschuhe zog er aus, und warf sie daneben. Die Rüstung, die darunter zum Vorschein<br />

kam, war scheint´s sehr neu oder außerordentlich gut gepflegt. Der Kettenpanzer blitzte in den<br />

Strahlen der Sonne, die durch die offene Tür fielen.<br />

„Dem ist so! Ihr werdet meine Ungeduld verstehen, aber die Uhr soll ein Geschenk des Kriegsherrn<br />

für den König sein. Wenn ich jetzt also...“<br />

Der Krieger wurde von der aufgeregten Stimme des Schmieds unterbrochen, der seine schwitzigen<br />

Hände an seiner Lederschürze abwischte: „Ja sicher, kommt hier herüber, hierher! Da steht sie, das<br />

Werk eines Jahres. Wartet ich laße sie ihr Lied spielen.“<br />

Ein -zwei -drei Umdrehungen, sie soll ja nicht zu lang laufen, und schon: „Ding dang dingding didang<br />

dingding...“.<br />

„Sehr schön wirklich, der Kriegsherr wird zufrieden sein.“ Das Gesicht des Mannes war unverändert<br />

ernst und doch von einer gewissen Vorfreude erfüllt. Seine Augen funkelten verschwörerisch und ab<br />

und an blitzte ein kurzes Zucken in den Mundwinkeln des unrasierten Gesichts auf. Vermutlich freute<br />

er sich auf das Lob seines Herrn, wenn er dieses erlesene Stück zu ihm brachte. Draußen, durch die<br />

offene Tür deutlich zu sehen, saßen die beiden Begleiter ab und der eine machte sich an seiner<br />

Satteltasche zu schaffen.


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Der Soldat näherte sich der Uhr und sagte, mit freundlicher Stimme: „So werde ich das Prachtstück<br />

nun mitnehmen. Der Dank des Herrn ist euch sicher!“<br />

Etwas stimmte nicht, jetzt spürte es auch der einfache, etwas einfälltige Handwerker. „Ja sicher, aber<br />

von Dank alleine ist schlecht leben. Ihr entsinnt euch sicher, in der Abmachung heißt es `bei Erhalt<br />

der Ware 500 Goldsonnen an den Schmied´. So war es besprochen und beschlossen.“<br />

Der Kommandant blickte über seine Schulter. Der Handwerker folgte dem Blick und sah, zuerst mit<br />

Verwunderung, dann mit Schrecken, daß der eine der Soldaten eine gespannte Armbrust erhoben<br />

hatte.<br />

„Sicher, nun ist es aber leider so, daß mein Herr zur Zeit das Gold etwas knapp nur hat und sich<br />

deswegen entschlossen hat“, hier machte er einen Schritt zur Seite, „euch mit Eisen zu bezahlen.“<br />

Ein Sirren erfüllte die Luft und der Schmied spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Der<br />

Bolzen hatte seine Lederschürze durchschlagen und war tief in seine Brust gesunken. Nurmehr die<br />

Federn waren zu sehen, rote Federn, kurz und ausgefranst.<br />

Der Hautpmann lachte und stieß den verdutzt auf seine Brust starrenden Schmied zur Seite. Auch die<br />

Soldaten lachten laut und saßen wieder auf.<br />

„Habt Dank!“,sagte der Kommandant mit höhnischer Stimme, als er die Spieluhr aufnahm und sich<br />

zur Tür wandte, „Schade nur, daß die Welt einen Mann eures Talentes verlieren muß. Es trifft doch<br />

immer die Falschen.“<br />

Der Wirt setzte sich mühsam auf. Haß sprühte aus seinen blutunterlaufenen Augen und nur mühsam,<br />

röchelnd konnte er sprechen: „Niemals sollt ihr Freude an meinem Werk haben. Die Melodie soll auf<br />

immerdar in euren Ohren sein und ihr sollt tanzen. Tanzt den Todestanz“<br />

Dann brach er zusammen und mit einem letzten Husten löschte er sein Lebenslicht aus. Der<br />

Kommandant stand noch einige lange Augenblicke dort. Warum konnte er nur die Worte des alten<br />

Mannes nicht abschütteln, wie er die Flüche der vielen Anderen abschüttelte? Und wo zum Petek kam<br />

dieser Wind her.<br />

„Wir reiten!“, rief er den noch immer wie Milchmädchen kichernden Soldaten zu, die sich nach<br />

diesem gelungenen Scherz in Hochstimmung fühlten. Er saß auf und sie preschten los. Es sollte ihr<br />

letzter Ritt sein.<br />

Das erste Band<br />

Das monotone Stampfen der Hufe auf das Kopfteinpflaster und das hin- und herwiegen des Wagens<br />

schläferten A´Tjall ein. Sie waren schon seit den frühen Morgenstunden, kurz vor Sonnenaufgang<br />

unterwegs und würden mit etwas Glück <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> schon am frühen Abend erreichen. Der Neue<br />

machte sich gut. Er war noch unerfahren und manchmal etwas nervös, aber er konnte mit Tieren<br />

umgehen und wußte den Wagen zu steuern. Auch jetzt hatte er die Zügel in der Hand. Sie warf ihm<br />

einen nachdenklichen Blick zu. Er war nicht besonders groß, obwohl er sie noch immer um fast eine<br />

Hand überragte. Auch kräftig war er nicht, aber das konnte noch kommen, immerhin war er höchstens<br />

16 Jahre alt. Sein genaues Alter wußte niemand, anscheinend nicht mal er selber. Er war ein typischer<br />

Junge <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s, wenn er auch das Glück gehabt hatte, auf der besseren Seite der Stadt geboren<br />

zu werden. Seine Mutter war im Dienste des Hauses Broschakal. Sein Name klang seltsam in A´Tjalls<br />

Ohren: Fenuk. Irgendwie erschien es ihr, daß ein solcher Name eher zu einem Hallakine passen<br />

würde, oder zumindest zu einem großen, kräftigen Mann und nicht zu einem solchen Jungen.<br />

Aber egal, sie mußte sich langsam überlegen, was sie Herrn Tibrand über den Jungen erzählen sollte.<br />

Er war sicher ein guter Arbeiter, hatte hart mit angepackt und schien fast unermüdlich. Auf der<br />

anderen Seite war er etwas tolpatschig und unbedacht. Vielleicht hing das mit seiner Jugend<br />

zusammen. Und er mußte lernen sich durchzusetzen.<br />

Sie hatten die Ladung schneller als erwartet abgeliefert, gerade bei diesem Schnee eine beachtliche<br />

Leistung und sich dadurch den versprochenen Bonus verdient. Der Händler aber wollte sich<br />

herausreden, er habe nicht genug Gold um auszuzahlen, beim nächsten Male aber, da würde die<br />

Summe selbstverständlich aufgeschlagen. Der Junge wollte sich schon darauf einlassen, doch A´Tjall<br />

hatte sich den Händler vorgenommen und wenig später hatte er einiges herausgerückt. Der Junge<br />

bekam ein Schwert und ein Pony, das nun hinter dem Wagen herlief. Sie selbst hatte auf etwas<br />

bestanden, daß man zu Geld machen konnte.<br />

Sie lehnte sich nach hinten und hob ihren Teil der Prämie auf, drehte ihn in den klammen Händen. Es<br />

war ein verzierter Holzkasten auf dem neun Figuren standen. Es schien Multorisch zu sein, denn drei<br />

der Figuren waren multorische Soldaten, angebracht auf einer runden Scheibe, die sich sicher drehen


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

ließe, wenn da nicht diese sieben stählernen Bänder wären, die kreuz und quer über den Kasten<br />

gespannt waren. Die anderen sechs Figuren waren zu drei Pärchen zusammengefaßt und jedes dieser<br />

Pärchen auf einer weiteren, kleineren Scheibe angebracht. Auch sie wurden von den etwa eine<br />

Pfeilbreite meßenden Bändern zur Bewegungslosigkeit gebannt. Es war erstaunlich, wie detailreich<br />

die Soldaten gearbeitet waren. Jeder Haar schien man an den Eisengrauen Figuren erkennen zu<br />

können. Scheinbar war der Schaffer dieses Kunstwerks nicht mit seiner Arbeit fertig geworden, denn<br />

die anderen Figuren waren mit Gold und Silber, Edelsteinen und Perlen verziert. Es sollte wohl gut<br />

und gerne seine 10 Goldsonnen wert sein, also das Doppelte der versprochenen Summe. Die<br />

Abmachung gebot es, sie erst Herrn Tibrand zu zeigen, so daß er sie für 5 Goldsonnen kaufen konnte.<br />

Das schien ungerecht, aber bei anderen Fuhrunternehmen war es üblich, das der Fahrer gar nichts<br />

außer seinem Lohn bekam.<br />

Doch was war das? War da nicht, verborgen unter den Bändern, eine Schublade? A´Tjall versuchte<br />

die Bänder zu verschieben, aber sie waren zu stramm gespannt. Mit einem Seufzer schob sie ihre<br />

Hand unter ihre dunklen Haare und zog eines ihrer Wurfmesser aus seiner Nackenscheide. Sie steckte<br />

es unter eines der Metallbänder, an der Stelle, wo es zusammengefügt schien und drehte das Messer.<br />

Der erste Versuch schlug fehl und die abrutschende Messerklinge hinterließ einen tiefen Kratzer in<br />

dem von der Feuchtigkeit des Winters weichen Holz. Fluchend und alle Götter auf diese Bänder<br />

herabbeschwörend versuchte es die Rekschat nochmal. Mit einem leisen metallischen Klirren riß das<br />

Band und fiel, bevor A´Tjall es auffangen konnte, vor dem Wagen in den Schnee. Sie ließ es liegen.<br />

Erst jetzt fiel ihr auf, daß Fenuk sie anblickte.<br />

„Was gibt´s?“, fauchte sie ihn an, viel härter, als sie eigentlich vorgehabt hatte, aber dieses Wetter<br />

störte sie immens. Immer war es kalt, feucht und rutschig.<br />

Er stammelte: „Ich...also...was machst Du da?“<br />

Sie verdrehte die Augen und antwortete dann, freundlicher diesmal: „Nach was sieht es denn aus?“<br />

In diesem Moment sah sie die dunklere Stelle im Schnee, zu spät jedoch. Sie rief noch: „Paß auf,<br />

Dummkopf!“, aber da war der Wagen schon voll mit dem Vorderreifen in das Loch in der Straße<br />

gekracht. Die Pferde wieherten Angstvoll, als sie den schweren Ruck spürten, der Wagen drohte<br />

umzustürzen und Fenuk machte mit seinem Gezerre an den Zügeln nur alles noch schlimmer.<br />

A´Tjall stürzte nach hinten und lehnte sich weit zur anderen Seite des Wagens heraus. Eine zeitlang<br />

schwebte der Wagen mit zwei Rädern in der Luft, dann fiel er polternd zurück auf alle vier. Sofort<br />

sprang A´Tjall nach draußen, lief um den Wagen herum und begann beruhigend auf die Pferde<br />

einzureden. Nach einigen Minuten gelang es ihr tatsächlich die Tiere zu besänftigen und sie<br />

auszuspannen. Solange man nicht sicher wußte, was mit dem Wagen los war, sollte er besser nicht<br />

bewegt werden. Vielleicht war die Achse angebrochen oder aus der Halterung gesprungen.<br />

Es dauerte den ganzen Vormittag, bis sie den Wagen wieder flott hatten. Das Vorderrad war<br />

gebrochen gewesen. Zum Glück hatten sie ein Ersatzrad dabei.<br />

Diese Verzögerung sorgte nun aber dafür, daß sie <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> erst weit nach Sonnenuntergang<br />

erreichten. Entgegen A´Tjalls Befürchtungen aber ließen sie die Wachen nach Einsicht in ihren<br />

Passierschein ohne Murren durch. Es hatte durchaus seine Vorteile für einen so einflußreichen Mann<br />

wie Herrn Tibrand zu arbeiten.<br />

Als der Wagen auf den gepflasteten Hof der Tibrands polterte, war man im Inneren des Hauses<br />

überaus erstaunt. Man hatte den Wagen nicht vor Anfang des nächsten Viertels erwartet und bis dahin<br />

waren es immerhin noch drei Tage. Sogar Mirtan Tibrand selber warf sich einen Mantel über und lief<br />

dem Wagen entgegen: „Was wollt ihr denn schon hier? Habt ihr keine Rast gemacht?“<br />

A´Tjall nickte nur stumm. Fenuk wollte zu einer Erwiederung ansetzten, wurde aber von der Stimme<br />

Ilske Tibrands, der Frau des Hauses, unterbrochen: „Ihr müßt ja halb erfroren sein, kommt herein und<br />

setzt euch ans Feuer. Es ist auch noch Braten da!“<br />

Nach dem Essen fiel ihr der Kasten wieder ein, der noch irgendwo im Wagen liegen mußte. Nach<br />

kurzer Suche hatte sie ihn gefunden und hielt ihn Mirtan Tibrand vor: „Die Prämie!“<br />

„Sehr schönes Stück“, erwiderte er, „aber was soll ich damit?“<br />

„Es ist mehr wert als 5 Goldsonnen!“<br />

„Das sehe ich“, das berüchtigte Lächeln erschien in dem dunklen Vollbart unter der krummen Nase,<br />

„oder willst du mir die Kunst des Schätzens absprechen? Trotzdem ist es deine Belohnung, immerhin


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

hast du dir fast den Tod geholt, nicht ich. Wenn du also auch nur ein bißchen von mir gelernt hast,<br />

gehst Du morgen los und holst dir eine Menge Gold für dieses Ding! Und nun geh schlafen, du bist<br />

schon ganz blaß!“<br />

Tatsächlich war A´Tjall wirklich sehr müde, blaß jedoch konnte sie bei ihrer dunklen Haut wohl kaum<br />

werden.<br />

Am nächsten Morgen ritt sie als erstes mit ihrem geliebten Tavian aus. Dann machte sie sich auf, den<br />

Kasten zu Gold zu machen. Um ein solches Ding loszuwerden bot sich nichts so sehr an, wie Rominas<br />

Laden in der Unterstadt. Diese Frau kaufte und verkaufte nahezu alles. Keiner wußte, woran sie ihre<br />

Preise festmachte und wie sie sich ernährte, aber durch ihre Hände war wohl schon fast alles<br />

gegangen.<br />

Als A´Tjall den Laden betrat, krächzte der bunte Papagei, der auf einer Stange neben einer der<br />

Vitrinen saß laut: „Kundschaft!“.<br />

A´Tjall wartete einen Augenblick und tatsächlich tauchte in der einen Ecke, halb verborgen von<br />

einem hohen Stapel bunter Tücher, der braune Lockenkopf Rominas auf. Ihre goldbraunen Augen<br />

wanderten suchend durch den Laden, bis sie die Rekschat entdeckten.<br />

„Kommt doch herein, was kann ich für euch tun? Interessiert ihr euch vielleicht für einige Tücher der<br />

Fruchtbarkeit? Ganz frisch hereingekommen, damit empfangt ihr garantiert die Frucht der Lenden<br />

eures Geliebten.“<br />

A´Tjall konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen: „Ich muß euch enttäuschen. Ich bin hier um euch<br />

etwas anzubieten.“<br />

„Oh“, Romina wirkte keineswegs enttäuscht. Sie ließ die Tücher zurück auf den Stapel fallen und man<br />

sah, daß die mottenzerfressen waren. „Dann zeigt her, was ihr habt.“<br />

A´Tjall stellte den Kasten auf eine der Vitrinen und Romina kam herbeigeeilt, um die Ware zu<br />

begutachten. Nach einigem „Mmh“ und „Aha“ sagte sie: „Ich gebe euch sieben Goldsonnen für dieses<br />

Ding.“<br />

A´Tjalls Lächeln wurde ein Stück breiter. Wenn sie schon mit sieben anfing, sollte es ein leichtes sein<br />

sie auf mindestens 15 hochzuhandeln.<br />

A´Tjall verließ den Laden mit 9 Goldsonnen und war im Nachhinein noch froh, ein so gutes Geschäft<br />

gemacht zu haben. Beim Brenner, diese Romina konnte feilschen. Da konnte ja sogar der Tibrand<br />

noch etwas lernen. Nun galt es aber etwas Geld auszugeben. Neue Stiefel konnten nicht schaden und<br />

wenn möglich wollte sie auch ein neues Hemd erstehen. Und den Barbier würde sie zur Arbeit rufen.<br />

Noch gab es keinen, mit dem sie eines von Rominas Tücher gebrauchen konnte, aber wer wußte schon<br />

was die Zukunft -vielleicht schon der heutige Abend- brachte...<br />

Das zweite Band<br />

Aramar trat aus seinem Haus und blickte sich um. Die kalte Winterluft schlug ihm ins Gesicht und<br />

ließ seine Atem zu kleinen Wölkchen gefrieren. Er steckte die Hände tief in die Tasche und stapfte<br />

los. Es gab keinen besonderen Grund, er wollte einfach nur mal raus. Die letzten Tage hatte er<br />

intensiv an seinen Kräften gearbeitet. Mittlerweile konnte er schon seinen gesamten Tisch vom Boden<br />

abheben und im Raum herumschweben lassen. Es war ihm aufgefallen, daß bestimmte Formeln eine<br />

größere Wirkung hatten als andere. Jetzt jedoch brummte ihm der Kopf vom vielen Nachdenken und<br />

ein bißchen Ablenkung würde ihm sicher gut tun. Schon jetzt vertrieb der kühle Winterwind die<br />

Nebel aus seinem Kopf.<br />

Ohne es zu merken, war er die Spalte entlang Richtung Multor gelaufen. Die Ränder und der Boden<br />

der Spalte waren weiß von Schnee. Es war wohl ungesund, sich bei diesem Wetter der Spalte auf<br />

mehr als zwei Tritt zu nähern, sonst lief man Gefahr hinunter zu stürzen. Ob es wohl möglich wäre,<br />

nicht nur den Tisch, sondern vielmehr sich selbst schweben zu lassen. Eine Art Abstoßen vom Boden.<br />

Grübelnd blieb er stehen. Nachdem er einige Augenblicke nachgedacht hatte, blickte er sich um. Er<br />

stand am Rande der Stadt, vor ihm nur ein weites, weißes Feld. Neben ihm jedoch erhob sich Rominas<br />

Ramschladen. Hier hatte er schon mehr als einmal etwas Interessantes gefunden. Dies, und die<br />

Tatsache, daß er langsam anfing zu frieren, brachten ihn dazu den Laden zu betreten. Sorgsam achtete<br />

er darauf, daß er keinen Schnee mehr an den Füßen hatte, dann überschritt er die Schwelle. Das<br />

heisere, ihm schon wohlbekannte „Kundschaft“ von Myrrlon, dem Papagei hieß ihn willkommen und<br />

gleich darauf gesellte sich auch die helle Stimme Rominas dazu. Die fröhliche Frau war einige Jahre


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

älter als Aramar, allerdings von ungefähr seiner Größe. Ihr braunes Haar hatte sie heute nach oben<br />

gebunden, was ihr ausgesprochen gut stand. Allein bei diesem Gedanken merkte er, wie seine<br />

Gesichtshaut eine satte Röte zu erreichen drohte, also beeilte er sich: „Schön warm hier!“ zu sagen.<br />

Romina lachte: „Auch euch einen schönen guten Morgen! Was kann ich für euch tun?“<br />

Aramar errötete noch ein wenig mehr und brachte dann ein: „Wollte mich nur mal umschauen“<br />

heraus, während er sich abwandte.<br />

Sein Blick streifte über die Regale und Vitrinen. Wie Romina es nur immer wieder schaffte ihrem<br />

Laden innerhalb weniger Tage ein vollständig anderes Aussehen zu geben. Noch bei seinem letzten<br />

Besuch hatten dort in dem Regal Dutzende häßlicher Vasen gestanden. Die konnte sie unmöglich alle<br />

verkauft haben. Plötzlich streifte sein Auge etwas Ungewöhnliches. Er bemerkte es erst, als er den<br />

Kopf schon weiter gedreht hatte. Er schaute noch einmal hin -Nichts! Doch als er den Kopf abwandte,<br />

erschien es wieder. Ein gelbliches Leuchten, nicht so hell wie ein Feuer oder eine Lampe, eher so wie<br />

reflektiertes Sonnenlicht in einem klaren Bergsee. Er schaute hin und der Glanz verschwand. Was<br />

immer es war, es konnte nur aus dem Augenwinkel entdeckt werden. Also schaute er zur Seite und<br />

ging langsam auf die Quelle des Lichtes zu. So konnte er erkennen, daß die Lichtstrahlen von einem<br />

Holzkasten, vielleicht eine Hand mal eine Pfeillänge mal drei Ring groß ausging. Oben auf diesem<br />

Kasten standen einige Figuren, ein paar reich verziert, einige andere ganz schmucklos. Der Kasten<br />

wurde von sechs Bändern aus Metall umfangen, die auf irgendeine Art und Weise magisch zu sein<br />

schienen. Mit feuchten Händen hob Aramar den Kasten auf und schaute ihn sich genau an. Es waren<br />

keine magischen Zeichen oder Runen zu sehen, nichts woran man eine magische Formel festmachen<br />

könnte. Trotzdem war an diesem Kasten etwas Besonderes.<br />

„Na, habt ihr etwas nach eurem Geschmack gefunden?“, Romina tauchte irgendwo aus ihrem Gewühl<br />

auf und stand neben ihm.<br />

„Vielleicht“, schwindelte Aramar. Wenn er etwas in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> gelernt hatte, dann war es das<br />

feilschen.<br />

Einige Momente später verließ Aramar den Laden, den Kasten eng an seine Brust gepreßt. Er hastete<br />

nach Hause und stellte den Kasten auf den Tisch. Seinen Verfolger hatte er nicht bemerkt.<br />

Lange Augenblicke saß er einfach vor dem Kasten und probierte herum. Tatsächlich, wann immer er<br />

den Kasten nur aus den Augenwinkeln sah, schien er zu leuchten, blickte er ihn jedoch direkt an, war<br />

nichts Außergewöhnliches zu sehen...<br />

Und wofür wohl diese Bänder waren? Sie waren etwa eine Pfeilbreite breit und ziemlich dick. Auch<br />

schien es ihm, als wären die Figuren eigentlich beweglich. Auf der Vorderseite ließ sich unter einem<br />

dieser Bänder etwas ertasten. Es schien eine Art kleiner Kugel zu sein. Zögerlich zog er an dem Band.<br />

Es war stabil, ließ sich kein Stück bewegen. Vielleicht waren ja an der Innenseite Runen eingeritzt,<br />

anders war es kaum zu erklären. Aramar holte also das kleine Messer, mit dem er sein Brot zu<br />

schneiden pflegte und fing an das Band zu zerschneiden. Es dauerte ziemlich lange und als er es<br />

endlich durch hatte und es mit einem leisen Schnacken auseinandersprang, waren seine Hände richtig<br />

klamm. Die Kugel stellte sich als Perle heraus. Aber diese Kälte... der Ofen mußte erneut<br />

ausgegangen sein. So ein Mist! Er huschte nur schnell zum Herd und schürte das Feuer, setzte ein<br />

bischen Wasser für einen Tee auf und wollte sich dann wieder dem Kasten zuwenden. Doch dort, wo<br />

er noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte, lag nun nur noch das metallene Band auf dem Tisch.<br />

Durch die nun offene Tür fegte der Wind verirrte Schneeflocken herein. Er war sich doch sicher<br />

gewesen, die Tür geschlossen zu haben. Verzweifelt rannte er in den Schnee hinaus auf die Straße und<br />

schaute hin und her. Natürlich war niemand mehr zu sehen. Er mußte vergessen haben die Tür zu<br />

verschließen und nun war irgendein Taugenichts mit seinem Hab und Gut auf und davon. Wer brachte<br />

so etwas nur fertig?<br />

Aramar ging zurück in sein Haus, verschloß die Tür hinter sich und setzte sich traurig an den Tisch.<br />

Gedankenverloren spielten seine Hände mit dem metallenen Band. Na toll, nicht mal Runen auf<br />

diesem dummen Band! Was hatten die Götter nur gegen ihn?


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Das dritte Band<br />

Jamir streckte seine Hände dem wärmenden Feuer entgegen. Irgendwie war das noch nicht das<br />

Wahre. Der schwere Stoff, den er quer durch den Höhleneingang gespannt hatte, hielt zwar den Wind<br />

recht gut ab, die Kälte aber kroch trotzdem hinein. Er würde besser mal nach dieser verzogenen Göre<br />

schauen, nachher erfror die ihm noch und dann war Essig mit dem Lösegeld. Vorher aber würde er<br />

sich etwas genauer mit dem Diesbesgut beschäfftigen, das er von diesem jungen Burschen erstanden<br />

hatte. Er war wirklich übel dran, völlig gebeutelt, zitternd und gierend nach Rauschkraut. Zum Glück<br />

für Jamir. Er lachte rauh auf. Eine Silbersonne hatte er ihm gegeben, nicht mehr. Alleine die<br />

Diamantenaugen der Tänzer waren das Zehnfache wert, mindestens. Sollte er sie und die Perlen und<br />

das ganze Gold wohl herausbrechen und einzeln verkaufen? Besser nicht. Die Leute aus der Oberstadt<br />

würden wohl mehr für dieses Ding bezahlen, wenn es intakt war. Die mochten ja solchen Kram,<br />

nannten ihn Kunst und zahlten gleich das dreifache. Vorher würde er aber diese dämlichen Bänder<br />

abmachen müßen. Aus dem hinteren Teil der Höhle war ein erstickter Schrei zu hören. Meine Güte,<br />

ja, die Höhle war naß dahinten und es liefen Ratten herum, aber deswegen mußte man ja keinen<br />

solchen Aufstand machen. Er würde das Balg mal richtig vertrimmen müßen. Und wer weiß,<br />

vielleicht war ja trotz Kälte auch noch was anderes zu machen! Dieses Mädchen war irgendwie<br />

anregend, vor allem weil sie trotz ihrer 13 Lenze schon so gut entwickelt war. Ja, mit einem guten<br />

Feuerchen würde sich die Kälte schon besiegen lassen. Lachend kratzte er sich im Schritt. Dann erhob<br />

er sich und zog dabei ein kleines Messer aus dem Stiefel. Auf dem Weg in den dunklen hinteren Teil<br />

des Höhle schnitt er eines der Bänder auf und ließ es zu Boden klirren. Darunter kam ein kleiner<br />

Hebel zum Vorschein. Mit etwas Gewalt konnte man ihn ein Stück drehen, und dann zuckten die<br />

Figuren. Auch war ein unmelodisches „Deng“ zu hören. Na, mal sehen wie es sich anhörte, wenn die<br />

anderen Bänder ab waren. Er nahm das Messer wieder in die Hand und wollte es unter das nächste<br />

Band schieben, als sein Fuß wegrutschte. Er schlitterte zu Boden, fiel mit dem Kopf knapp neben<br />

einen spitzen Stein. Der Kasten entglitt seiner Hand und kullerte einige Tritt weit über den feuchten<br />

Steinboden. Der Arm eines der Tänzer brach ab und sprang funkelnd beiseite. Jamir blickte sich<br />

suchend um und sah zu seinem Schrecken, wie der Kasten in einen dunklen Schacht fiel. Er machte<br />

einen Satz nach vorne, der ihn wieder auf den harten Boden beförderte. Er schlitterte auf dem Bauch<br />

nach vorne, konnte aber nur noch dem leisen Scharren und Poltern hören, mit dem der Kasten den<br />

dunklen, vom Wasser gewaschenen Tunnel hinunterfiel. Weg! Das Ding konnte er vergessen, wer<br />

weiß wo dieses Schacht hinführte und außerdem war er eh zu eng und zu dunkel. Aber er hatte ja noch<br />

einen kleinen Schatz, der sehnsüchtig auf ihn wartete. Er erhob sich, drehte sich um und wußte gar<br />

nicht, wie ihm geschah, als ihn ein zierlicher Mädchenstiefel erst in den Magen und als er<br />

zusammensackte ein paar Mal zwischen die Beine trat. Jamir wußte nicht, was er zuerst tuen sollte,<br />

ohnmächtig werden oder sich Übergeben vor Schmerzen. Er entschied sich für das Erste, so daß er die<br />

schlanke Gestalt nicht mehr sah, die zurück nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> lief.<br />

Das vierte Band<br />

„Nun komm schon Bärchen!“. Mitarra wandte sich in dem engen Gang um. Ein gutes Stück hinter ihr<br />

kam der runde Kopf von Gutram, genannt Bärchen, in den Schein ihrer kleinen Laterne. Die rostroten<br />

Haare des jungen Regthils schimmerten sanft. Nicht so sanft waren seine Flüche: „Verdammt noch<br />

mal, ist das eng hier, Scheiße, Autsch!“. Gutram war nicht besonders geschickt, er war auch nicht der<br />

Hellste, aber er war stark und vor allem war er Mitarras Freund.<br />

„Was ist denn nun Gutram, kommst Du?“ Mitarras Stimme zitterte vor Ungeduld. Wenn sie nicht bald<br />

da wären, würden sie den Zeitpunkt verpassen und noch einmal konnte selbst sie Bärchen nicht<br />

überreden mit ihr Nachts in die Höhlen zu steigen.<br />

„Autsch, ich... ich stecke fest, verdammt noch mal, verflucht!“, Gutrams Stimme wurde immer<br />

ärgerlicher, also kletterte Mitarra den sogar für sie engen Schacht wieder zurück und reichte Bärchen<br />

eine Hand. „Komm schon. Und hör auf zu fluchen, damit rufst Du nur Selefra herbei!“ Mit einem<br />

Ruck war er frei und kletterte weiter.<br />

„Was willst Du mir überhaupt zeigen? Ich hoffe nur es lohnt sich.“, es war ihm anzuhören, das er<br />

keine Lust mehr hatte. „Überhaupt ist es gefährlich in den nicht erkundeten Gängen herumzuklettern.<br />

Wir verbieten euch Kleinen das nicht umsonst.“<br />

„Argh!“ Mitarra wandte sich mit einem wütenden Schnauben herum. Sie haßte es, wenn die Falken<br />

sie als „Kleine“ bezeichnete. „Ich war schon so oft hier! Ich weiß wo man aufpassen muß. Und jetzt<br />

beeil dich ein bischen, sonst kommen wir zu spät.“


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

„Zu spät wo... Autsch, verdammt... wozu?“ Aber Mitarra war schon weitergeklettert.<br />

Endlich erreichten sie den Eingang zu der großen Höhle. Sie blieb einige Zeit am Eingang stehen, um<br />

Gutram Zeit zu geben zu ihr aufzuschließen. Er erreichte keuchend das Loch am oberen Ende des<br />

Tunnels. Er rieb sich unzählige blaue Flecken und sein Gesicht war griesgrämig, schlimmer sogar<br />

noch, als morgens kurz nach dem Wecken. Damit er nicht auf die Idee kam umzudrehen, stieg sie im<br />

Inneren der Höhle wieder herunter.<br />

„Na toll, eine große Höhle“, brummelte Bärchen, wie um seinem Namen Ehre zu machen, „und was<br />

ist daran so besonders?“<br />

„Wirst Du schon sehen, komm jetzt!“ Langsam wurde Mitarra auch ungeduldig. Konnte er ihr nicht<br />

einmal vertrauen? Schließlich hatte sie ihn noch nie in irgendwas Unangenehmes reingezogen. Naja,<br />

nicht so richtig unangenehm wenigstens. Und auch nur ganz selten.<br />

Endlich war auch Bärchen am Grund der großen, runden Höhle angekommen. Er blickte sich um.<br />

Eine Höhle wie jede andere, oben ein paar Löcher, unten ein paar Löcher, an den Seiten ein paar<br />

Löcher. Gut, sie war größer als viele Andere, aber auch kleiner als viele Andere. Nichts also was eine<br />

nächtliche Klettertortur in engen, naßen, kalten Gängen mit spitzen Kanten rechtfertigen würde. Zu<br />

allem Überfluß hatte Mitarra nun auch noch die Laterne ganz heruntergedreht<br />

„Und nun?“<br />

„Warte noch einen Moment.“ Als hätte die Natur nur auf ihr Stichwort gewartet, fielen plötzlich fahle<br />

Strahlen durch eines der Löcher in der Decke. Sie trafen auf den Boden, wurden da von irgendetwas<br />

reflektiert und gestreut. Wo sie auf die Wände trafen, wurden sie erneut zurückgeworfen. Das ganze<br />

pflanzte sich immer und immer weiter fort. Im Nu war die ganze Höhle taghell erleuchtet. Die beiden<br />

Kinder Hesvites standen in der Mitte des Höhle, umflossen von hellen aber weichen Strahlen.<br />

Bärchens Mund stand weit offen und er blickte sich erstaunt um. In völliger Stille standen sie da, auch<br />

Mitarra immer wieder auf´s Neue überrascht von der Schönheit des Anblicks. So schnell, wie das<br />

Licht gekommen war, verschwand es auch wieder. Fast kam es Gutram so vor, als könne man die<br />

Strahlen beobachten, wie sie ausliefen, aber es waren wohl doch nur die Flecken auf seinen Augen.<br />

Noch als es wieder dunkel war, standen die beiden schweigend da, ergriffen von dem unglaublichen<br />

Anblick. Ohne es bewußt zu merken, hatten sie sich bei der Hand genommen. Jetzt ließ Bärchen ihre<br />

Hand los und machte einen kleinen Schritt zur Seite: „Das... das war einfach... einfach wunderbar!“<br />

„Habe ich es Dir nicht gesagt?“ Mitarra blickte ihn triumphierend an. Sein Blick war noch immer<br />

etwas verklärt. Jetzt erhob er den Arm und fragte, während er auf etwas zeigte: „Was ist denn das?“<br />

Mitarra schaute seinem Finger nach. Tatsächlich, da drüben, auf dem Felsvorsprung lag irgendetwas,<br />

das sanft im schwachen Licht der Laterne blitzte.<br />

„Moment!“ Sie drehte die Laterne wieder hoch und hielt sie in die Richtung des Vorsprungs. Jetzt<br />

funkelte das Ding dort drüben wie verrückt.<br />

„Ich geh mal gucken!“, rief Bärchen und kletterte schon die etwa zwei Sprung die Wand hoch: „Ui!“<br />

sagte er nur. Dann kam er mit diesem glitzernden Ding wieder herunter. Mitarra lief zu ihm herüber<br />

um im Licht der Laterne sah sie einen Holzkasten in Gutrams Händen ruhen. Seine Seiten waren<br />

goldbesetzt, oben drauf standen einige Figuren. Um den ganzen Kasten waren vier Bänder aus Metall<br />

geschlungen. Die Figuren waren mit Gold und Glitzersteinen verziert und sogar die eine oder andere<br />

Perle war dabei. Drei standen irgendwie abseits und sahen aus, als wären sie im Nachhinein drauf<br />

gesetzt worden. Die anderen sechs bildeten drei Paare, aber dem einen Tänzer fehlte der rechte Arm.<br />

„Was mag das sein?“, fragte sie mit großen Augen ihren Begleiter. Der zuckte nur die Schultern:<br />

„Vielleicht ist irgendwas drin?! Ich seh mal nach!“ Er nahm eine stabile Eisenstange aus der Tasche.<br />

Seit er beim Schmied gesehen hat, wieviel man damit anfangen konnte, hatte er immer eine dabei.<br />

Diese war etwa eine Hand lang. Er schob sie mit einiger Mühe unter eines der Bänder und drehte.<br />

Mitarra hob den Kopf und lauschte: „Was war das?“.<br />

Gutram hob den von der Anstrengung geröteten Kopf und blickte sie fragend an.<br />

„Da war ein Geräusch, ich habe was gehört!“<br />

Gutram holte tief Luft und drehte weiter. Gepreßt sagte er: „Der Wind.... mmh... vielleicht. Ha!“<br />

Mit einem lauten Knall, der Mitarra herumwirbeln ließ, war das Band gesprengt. Zufrieden blickte er<br />

auf. „Also was hast du gehört?“<br />

„Es war so ein Quitschen. So wie ein...“ Mitarra schrie auf. Aus einem Loch neben ihnen schoß ein<br />

Schatten, vielleicht zwei Tritt lang und einen hoch. Weiße Zähne blitzen auf, ein schuppiger Schwanz<br />

schleifte über den Boden. Vor Schreck warf Bärchen den Kasten hoch, zu seinem Glück!


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Das Wesen rannte über ihn hinweg, preßte ihn mit unglaublichem Gewicht auf den Boden und die<br />

Luft aus seinen Lungen. Mit einem lauten Krachen schloßen sich die Zähne des Wesen um den durch<br />

die Luft wirbelnden Kasten. Mit einem Sprung war das Wesen in einem weiteren Loch<br />

verschwunden. Gutram atmete stoßweise, war totenbleich und Schweiß rann in dicken Strömen seine<br />

Schläfen herunter. Er kämpfte sich auf die Beine, schaute Mitarra an und sah auch in ihren Augen<br />

Panik. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wußten sie, was zu tun war. Sie drehten sich um und<br />

rannten, kletterten so schnell sie konnten die Wand hoch und rutschten den Tunnel fast hinunter. Erst<br />

als sie wieder in den Gängen von Hesvites Schatten waren, hörten sie auf zu rennen.<br />

Das fünfte Band<br />

Die klagende Stimme einer Geige mischten sich mit dem Geheul des Winterwindes zu einer<br />

Symphonie der Melancholie. Schnee fiel in dicken Flocken zu Boden, wehte an der kleinen Höhle<br />

vorbei, in die sich Kareç vor dem Unwetter geflüchtet hatte. Ein kleines Feuer flackerte in der Mitte<br />

der Höhle und spendete klägliche Wärme und nicht viel mehr Licht. Aber das machte Kareç nichts<br />

aus. Er war diese Umstände gewohnt, ja suchte sie sogar manchmal, wenn die Sehnsucht nach seinem<br />

Heimatland ihn wieder verzehrte. An solchen Tagen stieg er hier hinauf in die Berge, spielte seine<br />

Geige und genoß das Alleinsein.<br />

Während die letzten Töne seines Spiels noch von den Wänden der Höhle, die sich hinter ihm noch<br />

weit in den Berg erstrecken mußte, wiederklangen, legte er die Geige zur Seite und drehte den Braten<br />

des kleinen Hasens an dem Spieß langsam herum.<br />

Er spürte ein menschliches Bedürfnis nach Auslaß verlangen. Um seine Lagerstadt nicht zu<br />

beschmutzen, trat er in den Sturm hinaus und erleichterte sich eilig.<br />

Als er in die Höhle zurücktrat, sah er gerade noch einen Schatten im Dunkel verschwinden.<br />

Blitzschnell hatte er ein Messer in der Hand, doch was immer es war, es war zu schnell wieder weg.<br />

Mit den Schultern zuckend ging Kareç zurück zum Feuer. Er würde halt darauf hoffen müßen, das<br />

dieses Wesen nicht wiederkam.<br />

Als er sich dem Braten zuwenden wollte, mußte er erschrocken feststellen, daß er weg war. Kein<br />

Grund also für den Dieb, noch einmal wiederzukommen, immerhin hatte er ein Abendessen. Im<br />

Gegensatz zu Kareç. Als sein, nun noch dunkler gewordener Blick über den steinigen Boden der<br />

Höhle schweifte, blieb er an einem schimmernden Gegenstand hängen. Was war das? Sicher nichts,<br />

was er mitgebracht hatte. Vorsichtig erhob er sich und ging hinüber. Bei einem zweiten Gedanken<br />

griff er nach einem der brennenden Äste.<br />

Der Gegenstand entpuppte sich bei näherer Betrachtung als goldverzierter Kasten, mit kleinen Figuren<br />

darauf. Kareç zog erneut eines seiner Messer und stuppste den Kasten an. Nichts besonderes daran,<br />

scheinbar. Er tippte ihn mit einem Finger an, zog ihn aber vorsichtshalber schnell wieder zurück. Das<br />

war ja mal etwas ganz Neues. Ein Dieb aus den Tunneln, der für seine Mahlzeiten bezahlte. Und<br />

großzügig wie es aussah. Aber seinen Hunger stillte das im Moment auch nicht.<br />

„Und ich soll das Ding für dich verkaufen?“ Corwin blickte Kareç verdutzt an. Er mußte sich erst<br />

daran gewöhnen, daß ihm jemand so einfach vertraute. Aber noch mehr verwirrte es ihn, daß er nicht<br />

mal mit dem Gedanken spielte, Kareç zu betrügen. Das war ihm noch bei keinem so gegangen. Das<br />

war es wohl, was man Freundschaft nannte. Seltsames Gefühl!<br />

„Ja!“, antwortete Kareç, „Du hast Kontakte und Freunde in der Stadt.“<br />

„Und es lag einfach so da? Einfach so?“<br />

„Wenn ich es Dir doch sage!“<br />

Corwin drehte den Kasten, der früher sicher einmal wirklich prachtvoll gewesen sein mußte, bevor<br />

irgendetwas seine Zähne ins Holz geschlagen, irgendjemand einem der Tänzer einen Arm<br />

abgebrochen und etwas einen tiefen Kratzer auf der Seite hinterlassen hatte. Trotzdem sollte der<br />

Materialwert Einiges sein, mindestens 5 oder 6 Goldsonnen. Aber was war denn das? Da war doch<br />

tatsächlich eine Schublade in dem Kasten.<br />

„Wollen doch mal sehen, was in dieser Schublade ist. Muß ja was Wertvolles sein, warum sollte sonst<br />

jemand drei Metallbänder darüber spannen?“<br />

Kareç blickte Corwin mißtrauisch an: „Und wenn es, naja, irgendwie magisch...?“<br />

Corwin hob beruhigend die Hand. „Wird schon nicht!“<br />

Er blickte sich einmal mehr um im Totenkopf. Natürlich konnte er nicht stillsitzen, Corwin konnte nie<br />

irgendetwas in Ruhe tun.


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Sein Blick wanderte über den dicken Wirt zu dem Tisch, an dem früher immer Kam Tak saß. Nun war<br />

er tot. Richtig so, der Bastard hatte ihm mehr als einmal Ärger gemacht. An einem Nebentisch<br />

erzählte ein alter Jäger Lügengeschichten über die Wesen, die er in den Tunneln gefangen hätte und<br />

an einem anderen Tisch verlor ein Multorier, umgeben von seinen Freunden, gerade ein Wettsaufen<br />

gegen eine Hallakine. Das mußte diese Melirae Todesstreich sein, die mit Yanec d´Ibisco oder so<br />

ähnlich für den Tod des Meuchlerkönigs <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s verantwortlich war. In der Ecke sah man auch<br />

ihren ständigen Begleiter, dieses verwöhnte Broschakal-Bürschchen.<br />

Keiner achtete auf die beiden Freunde. Corwin zog seinen Dolch, schob ihn unter das Band und<br />

lächelte Kareç an. Dann holte er tief Luft, drehte den Dolch und sprengte damit das Band. Die Beiden<br />

schauten sich an und warteten. Dann stieß Corwin den Atem aus und lächelte wieder. „Siehst Du,<br />

nichts passiert! Also das Nächste!“<br />

Gerade wollte er den Dolch unter das vorletzte Band schieben, da wurde es still um ihn herum. Das<br />

Gegröhle der Multorier verstummte und auch die Stimme des Jägers verlief sich im Nichts. Corwin<br />

blickte erstaunt auf und sagte dann leise, resignierend: „Oh Mist!“<br />

Das sechste Band<br />

Der Atamanai war es gewohnt, daß man ihm aus dem Weg ging. Manchmal aber, wenn die Gier der<br />

Menschen groß genug war, überflügelte sein ungesprochenes Versprechen von Gold die mystisch<br />

große Angst des Ungewissen. So im Fall von Almir, dem Bettler. Der Alte hatte ihm von einem<br />

Kunstwerk erlesener Güte erzählt, das im Besitz des wandelbaren Bergmenschen sei. Heimlich<br />

natürlich, im Schutz der Dunkelheit und sicher, daß keiner sie gesehen hatte. Und natürlich voller<br />

Angst. Keiner begegnete dem Sammler mit etwas anderem als Angst und Mißtrauen.<br />

Es konnte kein Domomai sein. Dessen Anwesenheit hätte er gespürt. Dennoch rief ein Kunstwerk<br />

gleich welcher Art immer sein Interesse heraus.<br />

Also war er auf dem Weg in den Totenkopf, die Schenke der Unteren, Hinterhältigen, der<br />

Niedertracht Anheimgefallenen. Dort trat er ein und wie immer war Stille sein Begleiter. Etwas nach<br />

ihm kam dann das Wispern, das auf ihn Zeigen, das Schlagen der Schutz- und heiligen Symbole. So<br />

auch diesmal. Aber er hatte entdeckt, was er suchte. Der Mann, den sie Kareç nannten und den er<br />

suchte, saß bei Sell am Tisch. Der größte Schwindler der Stadt blickte ihn erschrocken an und war<br />

bleich geworden. Doch in seiner Natur lag die Täuschung und schon jetzt sprang wieder das falsche<br />

Lächeln in sein Gesicht. Lanungo Buzecchia, der Sammler in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, ging auf Corwin Dery<br />

alias Sell zu. Als dieser bemerkte, daß er das Ziel des Rotgewandeten war, erhob er sich, legte etwas<br />

neben sich auf den Tisch und kam auf ihn zu. Der Blick des Sammlers glitt an ihm vorbei und fand<br />

den Kasten auf dem Tisch. Corwin eilte hinter ihm her und blieb schnell stehen, als sich Lanungo ihm<br />

wieder zuwandte: „Ihr werdet mir diesen Kasten verkaufen wollen, nehme ich an?“<br />

Corwin blickte auf Kareç, der den Roten unverwandt anstarrte.<br />

„Nun, wenn ihr mir ein gutes Angebot macht, Herr, könnte ich meinen Freund eventuell davon<br />

überzeugen...“<br />

Eine fließende Bewegung des rotbewehrten Armes und auf dem Tisch landete ein klingender Beutel.<br />

„Das wird reichen, Cer Corwin!“<br />

Er nahm die Spieluhr auf und ließ sie, während er zur Tür ging, in seinen Beutel gleiten. Hinter sich<br />

hörte er das erstaune Keuchen, als Corwin den Beutel mit den goldenen Sonnen öffnete.<br />

Draußen umarmte ihn der kalte Hauch des Winters. Nachdem er einige Straßen weit gegangen war,<br />

hielt er unter einer der wenigen Laternen der Unterstadt an. Er würde hier bereits einen Blick auf das<br />

Kunstwerk werfen, um sicher zu sein. Er hob den Kasten vor sein Auge. Es war eine Spieluhr aus<br />

Multor. Man erkannte deutlich die Königspaare der letzten drei Regierungen. Dem ältesten König<br />

fehlte ein Arm. An den Rändern standen multorische Soldaten, in Uniformen der heutigen Zeit, ein<br />

seltsamer Stilbruch. Auch paßte das Material und die einfache Ausführung der Soldaten so gar nicht<br />

zu dem Rest der Uhr. Kratz und Beißspuren waren über die ehemals prunkvolle Oberfläche verteilt.<br />

Nein, leider kein Domomai, sicher nicht. Aber trotzdem ein Stück von erlesener Qualität, wenn auch<br />

von der Zeit und den Umständen getroffen. Es wäre sehr schade, wenn diese Arbeit in die Hände von<br />

Unwissenden geraten sollte, Lanungo würde die Spieluhr in die Botschaft bringen und sie dort<br />

aufbewahren. Welche Melodie sie wohl spielen mag. Es wäre nur angebracht, wenn es das Hohelied<br />

der Könige wäre. Das würde sich herausfinden lassen. Mit einem Ruck des Fingers löste er eines der<br />

Bänder. Als er sich gerade an den zweiten Eisenriemen machen wollte, vernahm er das leise<br />

Knirschen von Reiterstiefeln, die sich anschleichen wollten. Es waren einige, etwa ein Dutzend.


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Lanungo steckte die Spieluhr in seinen Beutel und machte sich bereit. Ein Rückzug war nicht<br />

möglich, zumindest nicht, solange sie ihn von allen Seiten umringten.<br />

Das siebte Band<br />

Es war eine lange und mühsame Arbeit gewesen, aber nun, nach über einem halben Jahr, war ihr Ziel<br />

zum Greifen nahe. Der Kriegsherr hat gesagt: Findet die Spieluhr und bringt sie mir. Seit der<br />

Kommandant mit ihr verschwunden war, war der Herr außer sich gewesen. Immerhin hatte er 10<br />

Goldsonnen angezahlt und stand nun mit einem zweitklassigen Geschenk für den König da.<br />

Die Multorier umringten den Rotgewandeten. Sie alle hatten die Geschichten über die Atamanai<br />

gehört und es lief ihnen kalt den Rücken herunter. Aber nach Jahren in der harten multorischen Armee<br />

waren die Befehle des Kommandanten sogar stärker als die Angst und der Aberglaube.<br />

Also stürmten sie vor, als der Kommandant das Zeichen gab. Der vorher ruhig dastehende Rote<br />

verwandelte sich in einen Wirbelsturm. Mit spielerischer Leichtigkeit wich er den Säbelhieben aus.<br />

Seine Hand schnellte hervor, einen roten Schatten hinter sich herziehend und sandte einen der Söldner<br />

zu Boden. Ein weiterer wurde von seinem Bein, daß er bis über den eigenen Kopf erhob, gefällt. Der<br />

Säbelstreich der kampfgeprüften Hand eines dritten Soldaten wurde umgeleitet und traf einen<br />

Kameraden. Der vierte Soldat starb als der Atamanai ihn wie ein Schild vor sich hielt. Ehe die<br />

Multorer es sich versahen, war ein Drittel ihrer Gruppe ausgelöscht. Ein Weiterer fiel, von dem roten<br />

Stab der Gestalt umgeworfen. Doch als der Sechste entwaffnet wurde, schaffte es einer den Beutel zu<br />

greifen. Er riß mit aller Gewalt daran und der Träger gab nach. Lanungo tänzelte einen Schritt zur<br />

Seite, wollte den Fliehenden mit einer Fußsense zu Boden schicken, mußte aber zwei Säbelhieben<br />

gleichzeitig ausweichen und verfehlte deswegen den Soldaten. Ohne Möglichkeit etwas daran zu<br />

machen, blickte er dem Soldaten nach. Zwei weitere Multorer fielen, bevor die anderen sich eiligst<br />

zurückzogen. Der Beutel- der Uhr entledigt- lag achtlos hingeworfen am Boden. Der Rote machte<br />

keine Anstalten ihnen zu folgen. Scheinbar fand er die Spieluhr nicht wichtig genug.<br />

Noch in der selben Nacht brachen die Multorer auf, nun nur noch die Hälfte an der Zahl. Sie ritten<br />

lange Tage, bis sie endlich die weiten Ebenen Multors errreichten und schließlich die stolze<br />

Hauptstadt des Reiches selber, Multor.<br />

Man brachte den Kommandanten des Stoßtrupps vor den Kriegsherrn. Er erwartete ihn in seinen<br />

prunkvoll eingerichteten Privatgemächern. Seine Sklavinnen schickte er heraus, ebenso seine Diener.<br />

„Kommt herein, tapferer Soldat! Habt ihr, worum ich schickte?“<br />

Der Soldat senkte den Kopf und beugte sein Knie: „Ja, Herr.“ Mit noch immer gesenktem Kopf<br />

streckte er beide Hände nach vorne, darin die Spieluhrs des multorischen Kunstschmiedes.<br />

Der Kriegsherr nahm sie ihm aus der Hand. Wütend stapfte er nach einem Blick darauf auf und ab:<br />

„Das soll das gepriesene Kunstwerk sein? Die Spieluhr, die eines Königs, meines Königs würdig<br />

wäre? Dieses Ding, schäbig, zerkratzt und abgerissen?“<br />

Der Kriegsherr trat von unten gegen den geneigten Kopf des Soldaten und die harten Stiefel seine<br />

Uniform brachen die Nase des jungen Mannes.<br />

„Spielt sie wenigstens ihr Lied noch?“<br />

Der Soldat erhob sich mühsam wieder in die kniende Position.<br />

„Ich habe dich was gefragt, Bursche.“ Wieder traf der Stiefel den Kopf des Soldaten und wieder<br />

wurde er zu Boden geworfen. Seine Schläfe blutete und er hatte Mühe zu sprechen, nur lallend<br />

brachte er ein: „Ich weiß nicht, Herr!“ hervor.<br />

„Nun, das wird auszuprobieren sein! Aber vorher:“, er beugte sich vor dem Soldaten nieder, „Ihr habt<br />

mich sehr enttäuscht, Soldat.“<br />

Der Kriegsherr zog seinen Dolch und durchschnitt mit einer schnellen Bewegung das letzte der sieben<br />

eisernen Bänder. Mit leisem Klirren fiel es zu Boden. Dann rammte der Herr seinem Soldaten den<br />

Dolch bis zum Heft ins Ohr. Er fiel zu Boden und sein Blut färbte das Metallband rot.<br />

„Wollen doch mal sehen...“, sagte der Kriegsherr und zog die Spieluhr auf. Ein- zwei- dreimal<br />

gedreht. Die Figuren auf der Oberfläche begannen zitternd sich zu umkreisen, erst leise, dann deutlich<br />

hörbar, erklang das Hohelied der Könige: „Ding dang dingding didang dingding...“<br />

Epilog<br />

Man fand den Leichnam des Soldaten wenige Stunden später. Das Zimmer war angefüllt mit dicken<br />

Schwaden hellen Rauches. Als man den Rauch abziehen ließ, fand man auch die leere Uniform des


Totentanz - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Kriegsherren. Stiefel, Rüstung, Schwert, alles lag dort, in einem Haufen am Boden. Nur der Körper<br />

des Herrn fehlte.<br />

Eine Sklavin stahl die Spieluhr. Sie entdeckte in der genauen Mitte der großen Scheibe die Figur eines<br />

nackten Mannes. Sie sah genau so aus wie der Kriegsherr, bis ins kleinste Detail. Sogar das grausame<br />

Lächeln sah aus wie seines.<br />

Die Federn und Räder der Spieluhr waren aus den Fugen geraten. Nie mehr würden sie sich drehen,<br />

nie mehr würde sie ihr fröhliches Lied spielen. Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt.


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Vogelfreiheit<br />

Stephan Packard<br />

I.<br />

Mit dem Herbst kamen die Krähen.<br />

Sie kreisten unter dem eisblauen Himmel der frühen Morgenstunden, setzten sich zwischen<br />

den ersten gelb gewordenen Blättern in die starren Baumkronen und schrien ihr lautes Krächzen in<br />

eine Welt hinaus, die sich nach den Regenstürmen im Oberring auf die nun folgende kalte Jahreszeit<br />

vorbereitete.<br />

Einer der schwarzen Vögel hatte sich vor einem Fenster festgekrallt, schüttelte sich ein paar Mal<br />

und plusterte sich auf. Das Fenster war nicht verglast, sondern vergittert. Teures Glas konnte sich<br />

der Besitzer nicht leisten; das Gitter war in der Unterstadt von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> eine<br />

überlebenswichtige Selbstverständlichkeit.<br />

Drinnen befand sich ein kleiner aber stabiler Schreibtisch, auf dem sich eine Feder rasch über ein<br />

unebenes Stück Pergament bewegte. Sie zeichnete die Worte auf, die der Besucher ihr diktierte.<br />

„...und die Ernte ist diesmal nicht gut. Nun kommen letzten Monat einige hohe Herren und fragen<br />

nach mir. Und sie sagen, ich muß noch mal mehr zahlen als letztes Jahr. In Pro-Zehn.“<br />

Die schreibende Hand war in der Kälte blau angelaufen und zitterte ein wenig. Am Ringfinger<br />

spiegelte sich ab und zu der Kerzenschein in einem schmalen, plumpen Ring aus Blei. Man wurde<br />

nicht reich als Schreiber.<br />

„Ihr meint gewiß Prozent?“ Die Frage klang höflich, unbeteiligt.<br />

„Irgendsowas.“<br />

„In Ordnung.“ Die Feder vollendete den Satz und setzte einen<br />

Punkt. Der Ring blitzte kurz. Dann wartete die Hand geduldig auf die nächsten Worte.<br />

„Und wir sind sowieso arm. Und haben kein Geld. Und der Boden hier ist nicht sehr gut. Also habe<br />

ich gesagt, wir können nicht noch mehr zahlen. Und die hohen Herren sagen, ich muß.“<br />

Die Feder kratzte, die Worte erschienen. Der Schreiber versuchte nicht, ihnen eine<br />

ansprechendere Form zu geben, noch gab er dem Bauern einen Rat. Er schrieb nur.<br />

„Wir leben gerne in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, aber wir können Euch Hohen Herren nichts zahlen, das wir<br />

nicht haben. Seit unser Sohn Jekal in die Stadt hineingezogen ist, haben wir viele Probleme auf dem<br />

Hof.“<br />

Der Bauer wartete kurz. Dann fragte er leise:<br />

„Meint Ihr, man kann das so schreiben?“<br />

Der Schreiber zuckte mit den Schultern.<br />

„Gut.“ sagte der Bauer. „Hm... Und ich hoffe, daß Ihr mir das laßt, was ich brauche. Äh. Darum<br />

schreibe ich. Vielen Dank, Bauer Gunther.“<br />

Die Feder schrieb, der Ring blinkte.<br />

„Ist das dann alles?“<br />

„Äh. Ich denke schon, ja.“<br />

Die Hand legte die Feder flach auf die Tischplatte. Dann stützte sie sich ab, und der Schreiber<br />

erhob sich. Er war keine besonders große Person. Seine weite schwarze Kutte raschelte, als sie auf<br />

den Boden fiel. Sie warf weite Bögen um die knochigen Glieder des Alten.<br />

Der Bauer war sich seiner Sache nicht sicher.<br />

„Der Brief soll zu den Hohen Herren im Triumvirat. Äh. Meint Ihr, die werden mir helfen?“<br />

„Ich weiß es nicht.“ Seine Stimme war ruhig.<br />

„Aber sie müssen mir doch helfen! Sie können mich doch nicht verhungern lassen, oder?“<br />

„Ich weiß nicht.“ Die Stimme zeigte kein Interesse.<br />

„Aber sie werden den Brief doch wenigstens lesen, nicht wahr?“<br />

„Das weiß ich nicht. Das macht 12 Eisensonnen.“<br />

Der Bauer zuckte zusammen, aber er zahlte. Und ging. Nachdem sich die Türe geschlossen hatte,<br />

seufzte Manyr kurz und rückte seine Brille zurecht. Dann zog er die Schublade an seinem Tisch aus.<br />

Drinnen lag, direkt unter dem unreinen Pergament, das er gerade gefüllt hatte, ein sauberer Stapel<br />

besten Panlîlpapiers. Daneben lag eine Feder mit golden schimmerndem Schaft. Der alte Mann zog<br />

den Ring von seinem Finger und strich damit einige Male über die leere Seite.<br />

Die Feder zitterte kurz, dann richtete sie sich langsam auf. Sie schwebte knapp über dem Holz<br />

hinüber zum Papier und setzte an:


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

„An die hohen Herren des Hohen Triumvirats von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>:<br />

Liebe Hohe Herren,<br />

ich habe ein großes Problem. Ich lebe draußen vor der Stadt und bin Bauer und zahle meine Steuern<br />

als Korn. Es sind viele Steuern, und die Ernte ist diesmal nicht gut...“<br />

Schnell wanderte die goldene Federspitze hin und her und schrieb den Brief ein zweites Mal zu<br />

Ende. Als sie wieder ruhig neben dem Stapel lag, nahm Manyr das oberste Blatt heraus und schloß<br />

die Schublade wieder.<br />

���<br />

Im Herbst kommt es an der Ostküste Nontariells häufiger zu schweren Stürmen. Die Fischer von<br />

Jargas fahren in dieser Zeit nicht allzu weit aufs Meer hinaus, sondern beobachten lieber die Küste<br />

und hoffen, daß die Wellen ihnen ein neues Zeichen Rautos bringen. Im Talu läßt die Strömung<br />

treibendem Gut kaum eine andere Wahl, als am Kontinent angespült zu werden, ganz gleich, ob es<br />

sich nun um eine göttliche Botschaft oder um die Überreste einer Havarie handeln mag.<br />

Die Fischer sagen: Wenn sich die heiligen Krähen hoch über der Brandung sammeln und ihr lautes<br />

Geschrei hören lassen, feiern sie die Schönheit von Regthil und preisen die Klugheit Rautos.<br />

���<br />

In <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> haben die Menschen meist andere Probleme als das Geschrei der Krähen, und<br />

wenn sie doch einmal darauf achten, verwünschen sie ihr entnervendes Kreischen.<br />

Als die Sonne schon ein gutes Stück höher stand und den Frost des Morgens vertrieben hatte,<br />

mischten sich zwischen das Krächzen der Vögel und das andere geschäftige Treiben in der Unterstadt<br />

die Schläge eines Hammers, der in einem kleinen Haushof nahe der Spalte auf ein weiches Stück<br />

unreinen Eisens einschlug, in der vagen Hoffnung, daraus möge eine Klinge werden.<br />

Lyr konnte die kalte Jahreszeit nicht leiden. Sie war heute morgen aufgewacht und hatte gefroren.<br />

Die Arbeit ging ihr schwer vonstatten, ihre Arme waren müde und verkrampft. Eigentlich hatte sie<br />

vorgehabt, heute an der Hundefamilie weiterzuarbeiten, die unfertig in einer Ecke am Zaun stand.<br />

Es war ihr erster Versuch in eigentlicher Bildhauerei, und dafür, fand sie, sah es eigentlich recht gut<br />

aus. An einer Stelle war der Stein leider gesplittert, aber sie würde einfach eines der Welpen<br />

opfern und die linke Hinterpfote der Mutter etwas anwinkeln, dann wäre der Schaden<br />

abgefangen.<br />

Aber bei diesem unfreundlichen Wetter war sie nicht in der Stimmung für ihr Hobby. Also hatte<br />

sie sich statt dessen an das Schwert gemacht, das schon vor mehr als einem Viertel bestellt worden<br />

war. Schwerter lagen ihr nicht besonders.<br />

Ihr eigenes Schwert hatte sie bei Toshi im Süden der Stadt gekauft; wenn wirklich einmal ihr<br />

Leben davon abhängen sollte - eine Situation, die ihr bislang zum Glück erspart geblieben war -<br />

wollte sie die beste Qualität, die sie sich nur irgendwie leisten konnte.<br />

Wenn sie mit der Klinge fertig war, würde es zwar kein besonders gutes Schwert geben; aber<br />

die Silbersonnen, in die es sich verwandeln ließ, waren um so hochwertiger.<br />

���<br />

Die einzelne Krähe starrte noch immer durch das selbe Fenster. Auf Manyrs Schreibtisch lagen jetzt<br />

viele Dutzend Seiten Papier verstreut. Er schrieb Zusammenfassungen und ordnete die Flut aus<br />

Informationen. Hier fanden sich neben den Schwierigkeiten verarmter Bauersfamilien auch<br />

Rechnungen und Quittungen, offizielle Mitteilungen, Anzeigen, Gesuche nach Söldnern und ganz<br />

selten einmal sogar persönliche Briefe an die Lieben und Verwandten in fernen Städten, die,<br />

falls sich überhaupt ein Reisender finden ließ, der die Nachricht mitnahm und ablieferte, erst<br />

einmal zu ihrem eigenen Schreiber laufen mußten, damit er ihnen die Neuigkeiten vorlas.<br />

Unzählige Kopien von dringenden Bitten, überraschenden Absagen, kühlen Drohbriefen und<br />

freundlichen Einladungen hatte der Schreiber im letzten Jahr gesammelt. Was jetzt vor ihm lag,<br />

war ein Abbild fast aller Vorgänge im Rattenloch während der letzten neun Monate.


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Schließlich sammelte er die Blätter ein, brachte sie in die richtige Reihenfolge und stapelte sie<br />

säuberlich auf. Dann nahm er noch einen unverbrauchten Bogen und schrieb eine Aufstellung über<br />

alle gesammelten Daten. Er machte seine Arbeit gut.<br />

���<br />

Draußen vor der Stadt lagen nur wenige Höfe; der Boden der Gunthers war keine Ausnahme, das<br />

Land war einfach nicht dazu gemacht, Getreide wachsen und Sträucher sprießen zu lassen.<br />

Statt dessen bot der Berg den Bewohnern <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s einige reichhaltige Erzadern, und in<br />

den letzten Jahrhunderten hatten sich zahlreiche Minen tief ins dunkle Innere der Erde gegraben.<br />

Die Menschen, die hier siedelten, hatten die Erzförderung schon lange vor der Zeit dieses Staates<br />

betrieben. Einige ihrer uralten Tunnel waren noch immer in Betrieb; die meisten aber waren<br />

irgendwann aufgegeben worden. In vielen hatte sich das Erzvorkommen ganz einfach<br />

erschöpft, andere waren mit der Zeit in Vergessenheit geraten oder eingestürzt. Oder sie mußten aus<br />

ganz anderen Gründen geschlossen werden. Die alte Mine im Nordwesten bekam weder von<br />

Menschen noch von Krähen Besuch; alles Leben mied diese Stelle - mit einer Ausnahme.<br />

���<br />

Es war unklar. Hier fehlte eine wichtige Information; einer der berüchtigtsten Attentäter der<br />

Unterstadt war verschwunden, und es gab keine plausible Erklärung dafür.<br />

Natürlich konnte man im Rattenloch nicht erwarten, daß ein Mord aufgeklärt oder auch nur eine<br />

Leiche gefunden wurde; aber dieser Tak hatte offensichtlich schon mehrere Jahre lang gute Arbeit<br />

geleistet, und es war nicht einzusehen, wieso er bei einem Routineauftrag das Leben lassen<br />

sollte.<br />

Und an seiner Statt war ein neuer Assassine aufgetaucht, der sich jedoch niemals offen zeigte und<br />

einen Wirt als Agenten benutzte, um neue Aufträge zu erhalten.<br />

In dieser Stadt war Schriftverkehr nicht so häufig, wie Manyr es sich wünschte, und seine<br />

bisherigen Methoden reichten nicht mehr aus, Übersicht über alle wichtigen Vorgänge zu erhalten.<br />

Er stützte den Kopf auf die rechte Hand, während er mit der Linken in seinen unvollkommenen<br />

Aufzeichnungen blätterte. Sein Blick fiel auf die Krähe vor dem Fenster.<br />

���<br />

Eine zweischneidige Klinge, noch rot von der Glut des Feuers.<br />

Gut sah es aus, das Schwert; wie lange es halten mochte, war Lyrs Sorge nicht. Es war ein geringer<br />

Preis, den sie für ihre Waffen verlangte, und das Metall war ebenso billig.<br />

Sie stieß das Schwert kurz in das zischende Wasser. Eine Dampfwolke stieg auf und nahm ihr<br />

kurze Zeit die Sicht. Mit einer langsamen, müden Handbewegung wischte sie sich den Schweiß von<br />

der Stirn, dann ging sie zurück ins Haus. Drinnen wartete ein Kunde.<br />

Wie er die Türe geöffnet hatte, wußte sie nicht. Er saß einfach auf einem harten Holzstuhl in der Ecke<br />

des Zimmers und wartete auf die Schmiedin. Als sie schließlich kam, stand er auf und machte eine<br />

steife Verbeugung; wer hatte in der Unterstadt Zeit für solche Höflichkeiten?<br />

„Guten Morgen. Ihr seid Lyr, nehme ich an?“<br />

„Das kommt darauf an. Wer seid Ihr?“<br />

„Mein Name ist Manyr.“ Die kleine, dunkel gekleidete Person streckte ihr eine Hand entgegen.<br />

„Ich bin eine Schmiedin.“ bot Lyr an. Die Hand ignorierte sie.<br />

„Und ich bin ein Schreiber, die meiste Zeit über. Aber wenn meine Arbeit mir Platz läßt für die<br />

angenehmeren Dinge -“dann raube ich gerne junge Frauen aus, erwartete Lyr halb und wußte nicht, ob<br />

sie sich verteidigen oder laut loslachen sollte. Der Greis mit seinem Buckel und den fahrigen<br />

Bewegungen war gewiß kein Gegner für sie.<br />

„ - dann beschäftige ich mich ein wenig mit Kunst.“ Manyr ließ die Hand wieder sinken und fiel auf<br />

den Stuhl zurück.<br />

„Ahso.“ Sie atmete tief durch. „Aber ich bin eine Schmiedin. Wenn Ihr also ein Pferd beschlagen<br />

lassen wollt-“<br />

„Nein.“


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

„Oder wenn Ihr ein Eisengitter oder eine Kette braucht, um Euer Haus zu schützen -“<br />

„Nein, ich interessiere mich mehr für Euer Hobby, Schmiedin. Wie ich hörte, schnitzt Ihr in<br />

Eurer Freizeit gerne kleine Skulpturen aus Holz, hübsche kleine Tierchen wie der Fuchs dort oben.“<br />

Er zeigte auf ein von der Wand hängendes Brett. Neben einem Wenigen an Geschirr stand dort<br />

tatsächlich ein kleiner hölzerner Fuchs samt Eingang zu seinem Bau, alles aus einem Stück, einer<br />

ihrer größeren Erfolge.<br />

„Oh, normalerweise schnitze ich eigentlich Menschen.“<br />

„Ich weiß. Aber mich interessieren die Tiere.“<br />

„Woher wißt Ihr das alles überhaupt, alter Mann?“<br />

Manyr schüttelte kurz den Kopf, als wäre er senil und hätte die Frage nicht ganz verstanden. Dann<br />

entgegnete er: „Habt Ihr Euch auch schon mal an Vögeln versucht?“<br />

���<br />

Seit etwa drei Monaten hatte die Mine nun einen Bewohner, einen Menschen und Einsiedler. Vor<br />

langer Zeit einmal hatte der alte Mann einen Namen gehabt, aber nun dachte er von sich selbst nur<br />

noch als dem Einzelnen. Die anderen waren zusammen geblieben, er hatte sich von ihnen getrennt.<br />

Die anderen blieben ihr ganzes Leben lang winziger Teil einer gewaltigen Gruppe, keiner erfuhr<br />

jemals Ruhm oder Ehre, noch die Furcht seiner Mitmenschen. Nur der Einzelne hatte die Welt<br />

kennengelernt, und die Welt ihn. Im Staate <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> war er zwar unbekannt, doch einige Völker<br />

im Süden Nontariells und sogar einige wenige Bewohner anderer Kontinente hatten seine<br />

Bekanntschaft gemacht und die Begegnung gewiß noch nicht vergessen.<br />

Er saß im Schneidersitz auf dem Boden des steinernen Tunnels, sein Rücken war gerade, die Hände<br />

ruhten sacht auf den Schenkeln. Durch den dunklen Gang schien vereinzelt der schwache Schein der<br />

wenigen Kerzen, die vor ihm an den Spitzen eines in den Untergrund geritzten Sternes standen. Fünf<br />

Strahlen, drei Kerzen. Es fehlten zwei Kerzen und zwei Artefakte; drei Schlösser waren geöffnet, es<br />

brauchte noch zwei Schlüssel.<br />

Er hob einige Fetzen Pergament auf und überflog die Zeilen, wie er es schon so oft getan hatte.<br />

Eine Geschichte, die hundertfünfzig Jahre alt war und die die Menschen in diesem Land ohne<br />

Gedächtnis natürlich längst vergessen hatten. Keiner machte sich hier die Mühe, die Vergangenheit<br />

zu ehren. Aber häufig war die Vergangenheit wertvoll, nicht selten enthielt sie die Wege zu wahrer<br />

Macht und manchmal war sie wie eine Landkarte der Gegenwart, mit der man das, was heute<br />

geschah, mühelos entziffern und seinen wahren Sinn erkennen konnte.<br />

Der Talu brachte den Wind über die Wasser, und der Wind trug die Schätze des Meeres an<br />

Nontariells Küste.<br />

���<br />

Kein Gruß zum Abschied. Kein unnötiges Wort. Und keine Erklärung. Entweder verbarg der<br />

kleine Alte mit seinen grauen Haaren, den schrägen Mundwinkeln und dem seltsamen Gerät auf<br />

seiner Nase gezielt etwas vor ihr, oder - und das war wahrscheinlicher - der eintönige Beruf des<br />

Schreibers hatte seine Seele über die Jahrzehnte mit ebensoviel Staub überzogen, wie auf seiner<br />

Kutte lag, und er hatte das Interesse an anderen Menschen verloren.<br />

Statt dessen sammelte er Holzfigürchen. Die Götter alleine wußten, was er mit ihnen in den<br />

dunklen Stunden der Nacht anfing, wenn seine wenigen Kunden schlafengegangen waren.<br />

Wahrscheinlich redete er mit seinen Skulpturen! Braver Hund, braver Hund, gell, du wartest auf<br />

deinen Herrn, ja, oh, hast du wieder einen Splitter in der Pfote? Ach so, das ist ja dein eigenes<br />

Holz...<br />

Es gab schlimmere Sorten von Wahnsinn in dieser Stadt, aber trotzdem... Lyr hatte nie<br />

verstanden, wie sich ein Mensch mit Lesen und Schreiben beschäftigen konnte, solange die<br />

Tavernen noch geöffnet waren. Eines war sicher: Viel Geld konnte der alte Mann nicht besitzen,<br />

sonst hätten ihn seine Nachbarn längst ausgeraubt. Und wenn er sich nun eine Krähe aus Holz<br />

wünschte, um glücklich zu werden, und dafür sein letztes Geld auszugeben bereit war - er hatte ihr<br />

den Preis von drei Schwertern geboten -, dann sollte er seine Krähe auch bekommen.<br />

Plötzlich fiel Lyrs Blick auf die Vögel, die in ihrem Hof auf dem Boden hockten und nach<br />

spärlicher Nahrung zwischen den Eisenspänen pickten. Sie lachte noch einmal leise über den


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Auftrag des Alten, dann holte sie sich ein kleines Stück Pergament, griff nach einem Stück<br />

unverbrauchter Kohle aus dem kleinen Eimer neben dem Eingang und begann, einen Entwurf zu<br />

zeichnen.<br />

���<br />

Die Sonne wanderte im Verlauf des Tages über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> und die anderen Ostländer hinweg,<br />

streifte das Reich der Multorier, schickte ihr bleiches Herbstlicht dem hallakinischen Imperium,<br />

schenkte einem der letzten Nuu-Giik rote Abendstunden, bis er an den Wunden, die die grausame<br />

Nordfaust ihm geschlagen hatte, verblutete. Hinter den letzten Ausläufern des Gebirges verschwand<br />

ihr Licht, dann wurde es dunkel und Nacht auf Nontariell.<br />

II.<br />

Wie jeden Morgen seit Anbeginn der Welt vollzog sich auch an diesem Morgen wieder das<br />

unendliche Wunder, das den Bewohnern Nontariells Leben und Licht schenkte: In der unruhigen<br />

Ostsee, die wilde Stürme peitschten und hohe Flutwellen durchzogen, wurde die Sonne<br />

wiedergeboren und verteilte ihre warmen Strahlen von Neuem auf die Welt.<br />

Noch in der Kälte des frühen Tages wirbelten auch die Krähen aufs Neue hoch hinauf in den<br />

Himmel, umkreisten die Häuser <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s und ließen ihr nervtötendes Geschrei erklingen. Das<br />

ganze Land bedeckten sie, nur die einsame Mine im Nordwesten sparten sie aus.<br />

Der Einzelne blickte lange Zeit auf den fünfeckigen Stern. Drei Strahlen besetzt, es fehlten noch<br />

zwei Schlüssel. Es war nicht ganz einfach gewesen, die ersten drei aufzuspüren; der erste hatte<br />

Jahrhunderte lang in der Bibliothek der anderen herumgelegen, und er hatte ihn mit sich genommen,<br />

als er sich von ihnen absonderte und seinen eigenen Weg anfing. Wahrscheinlich hatten sie sein<br />

Fehlen nie bemerkt; weder den Schlüssel noch den Einzelnen selbst würden sie vermissen. Er<br />

vermißte die anderen auch nicht.<br />

Den zweiten hatte er gegen teures Geld bei einem fahrenden Händler erworben, den er in den<br />

Südländern getroffen hatte. Damals ahnte er noch nicht einmal, daß diese beiden Stücke<br />

zueinandergehörten, hatte nicht die geringste Vorstellung vom wahren Wert der Artefakte.<br />

Erst als ihm der dritte Schlüssel auf dem fremden Boden eines anderen Kontinents in die Hände<br />

gefallen war, erkannte er den Wert dieser Kleinodien. Sie sollten ihm ein Tor öffnen, er würde<br />

hinübergehen in die andere Welt, und wenn er dann zurückkehrte, würde er mächtig genug sein,<br />

daß die anderen in ihren verstaubten Hallen und zwischen ihren vergilbenden Pergamenten ein<br />

weiteres Buch schreiben müßten - ein Buch über ihn, eine ganze Enzyklopädie!<br />

���<br />

Manyr erwachte aus einem Alptraum.<br />

Die ganze Nacht hindurch hatte ihn die junge Schmiedin mal als Mensch und mal mit dem Körper<br />

einer Krähe durch dunkle Tunnel und düstere Gänge gejagt, immerzu kreischend: „Perger! Du bist<br />

ein Perger!“<br />

Er holte mehrmals tief Luft und schüttelte sich dann. War es falsch gewesen, eine Bewohnerin der<br />

Stadt anzusprechen? Hatte er sich verraten? Gewiß ahnte die junge Frau, daß er etwas zu<br />

verbergen hatte - was, wenn sie kam, um nachzusehen, was es war?<br />

Die Krähenfigur würde ihm sicherlich gute Dienste leisten, und er brauchte dringend eine<br />

Möglichkeit, den Geheimnissen im Rattenloch beizuwohnen, während sie noch passierten. In<br />

den letzten zwei Jahren hatte sich mehr wunderbares und seltsames zwischen den kleinen, eng<br />

beieinander stehenden Häuschen und in den verräucherten Tavernen getan als in den ganzen vierzig<br />

Jahren davor - wie es dazu kam, war ihm schleierhaft, aber es waren offensichtlich eine Menge<br />

Dinge in Bewegung geraten.<br />

Es reichte nicht mehr aus, den stillen Schreiber zu spielen und sich darauf zu verlassen, die<br />

Menschen würden mit ihren Geheimnissen schon selbst zu ihm kommen. Er seufzte tief auf und<br />

stand auf. Ein Mal erlaubte er sich zu gähnen, dann begann er die Morgenmeditation, die die Sonne<br />

auf ihn aufmerksam machen und ihr Feuer in seine Kraft fließen lassen sollte.


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Wenn alles gut ging, würde er heute noch exzessiven Gebrauch von der Hohen Kunst machen, und<br />

er brauchte alle Konzentration, die er aufbringen konnte. Über die Jahre hinweg waren, so<br />

fürchtete er, seine magischen Fähigkeiten wohl ein wenig angerostet.<br />

���<br />

Die Krähen, die Lyrs Haus aufsuchten und sie mit dem mittlerweile schmerzhaft bekannten,<br />

unerträglichen Geschrei aus dem Schlaf rissen, flatterten diesmal besonders aufgeregt vor dem Gitter<br />

ihres Fensters herum. Drinnen sahen sie einen der ihren - einen kleinen Vogel mit<br />

scharfgeschnittenen, leicht angehobenen Flügeln und spitzem Schnabel, der auf dem kleinen<br />

Schemel in dem Zimmer saß und seit Stunden dabei war, abzuheben, um sich in die Lüfte zu<br />

schwingen und seine Artgenossen auf ihrer herbstlichen Wanderung zu begleiten.<br />

Aber etwas wichtiges schien er falsch zu machen, denn er verharrte völlig reglos in der instabilen<br />

Haltung und machte keine Anstalten, den Vorgang des Abflugs zu Ende zu bringen.<br />

���<br />

Zum erstenmal seit vielen Jahren gingen dem Einzelnen wieder die Lehren Isagars des<br />

Weißhaarigen durch den Sinn:<br />

Bist du im Dunkeln, verwandelst du oft das Antlitz der Menschen,<br />

Zwingst du die Tiere und hörst nicht das Flehn aller Wesen, dann werden<br />

Jene müssen; Bist du jedoch im Hellen, gebrauchst<br />

Alle Kräfte der Hohen Kunst zum Sehn und zum Wandern,<br />

Darfst du. So ist der Lauf der Welt, und so ist<br />

Deine Entscheidung. Die Welt aber, sie braucht gleichmäßig<br />

dunkle Monde und helles Licht von der Sonne, um zu bestehen.<br />

Er war also im Dunkeln; denn im Dunkeln lag die Macht, und Macht war die einzige Sicherheit.<br />

Wenn der Mensch Macht besaß, war er kein Opfer, nicht Objekt, sondern Subjekt; das Geschehen<br />

ging von ihm aus, er hatte die Initiative. Diese Freiheit war Grundzug des Menschen; wenn er sie<br />

verlor oder auch nur ein Stückchen davon aufgab, verlor er das Menschliche in sich selbst und<br />

wurde zum Sklaven der Umwelt.<br />

Nachdem er diesem Gedankengang, wie schon so oft in seinem Leben, bis zum bitteren Ende<br />

gefolgt war, reinigte er seinen Sinn von allen Gefühlen und sperrte jede Ablenkung aus. Als er<br />

vollkommen ruhig geworden war, ging er zu einem großen Beutel in einer Ecke der Höhle im Stein<br />

und entnahm ihm eine kleine Flasche, die anscheinend mit schwarzem Rauch gefüllt war.<br />

Vorsichtig hob er eine Hand an den Verschluß und zog.<br />

���<br />

Als Manyr sein Haus verließ, flatterte ein großer Krähenschwarm vor seiner Tür auf, der dort im<br />

Boden herumgepickt und die Straße mit Beschlag belegt hatte. Ein paar Mal mußte der alte gebeugte<br />

Schreiber mit seinen dünnen Armen wild in der Luft herumrudern, bis ihn die großen dunklen Vögel<br />

in Ruhe ließen.<br />

Plötzlich hörte er einen ungewohnten Laut zwischen dem Gekrächze und Gekreische. Ein Blick<br />

nach oben bestätigte seine Ohren: Dort vor den vereinzelten weißen Wolken zog ein verirrter Falke<br />

durch die Luft, ein dunkelgefiederter einzelner Bergfalke, wie Manyr ihn in seiner Jugend oft in<br />

der Nähe der Akademia beobachtet hatte. Ein Lächeln machte kurz auf seinem Gesicht Halt, bevor es<br />

wieder weiter mußte; der Schreiber mochte diese Vögel gerne leiden.<br />

Schließlich machte er sich auf den Weg zu Lyrs Schmiede.<br />

���<br />

„Es sieht schön aus.“<br />

„Ja, nicht wahr? Selbst mir gelingt nur selten eine Klinge von dieser Qualität.“ Lyr verdrehte kurz<br />

die Augen und hoffte, daß ihre Kundin es nicht bemerkte. Die Frau, eine Händlerin mittleren Alters,<br />

die wohl plötzlich beschlossen hatte, ihre Wagenzüge selbst gegen Räuber zu verteidigen, hatte<br />

offensichtlich keine Ahnung von Waffen.


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

„Aber der Preis bleibt doch derselbe, nicht wahr?“ fragte sie.<br />

„Wie? Warum denn nicht?“<br />

„Weil die Arbeit so außerordentlich gut gelungen ist, meine ich. Aber die Abmachung von vorhin<br />

gilt doch noch, oder?“<br />

Beinahe hätte Lyr laut aufgelacht. Wie konnte die Vettel Händlerin sein und so wenig Ahnung<br />

von Geschäften haben? In <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> hätte nicht einmal der unerfahrenste Marktschreier auch nur<br />

im Traum daran gedacht, freiwillig einen anderen, ungünstigeren Preis vorzuschlagen. Aber sie<br />

durfte nicht lachen; vielleicht konnte sie ja tatsächlich noch eine weitere Eisensonne<br />

herausschlagen.<br />

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Manyr kam herein.<br />

Als er sah, daß schon eine andere Kundin da war, zuckte der Alte merklich zusammen und beschloß<br />

offenbar, sofort wieder umzukehren.<br />

„Wartet einen Augenblick, alter Mann!“ rief Lyr. „Ich bin mit Eurer Arbeit bereits fertig; sie steht<br />

im anderen Raum vor dem Fenster. Geht doch schon einmal hinüber -“ sie stockte kurz,<br />

überzeugte sich dann aber selbst davon, daß der Greis ihr nichts anhaben konnte, auch wenn sie ihn<br />

allein ließ - „und schaut Euch die Ware an.“<br />

Manyr zögerte, dann nickte er knapp und ging mit ein paar eiligen Schritten bis zur Tür, durch<br />

die er verschwand. Nachdem sie sich hinter ihm geschlossen hatte, sagte Lyr:<br />

„Ihr habt natürlich schon recht, Herrin: Die Arbeit ist mir exzellent gelungen.“<br />

„Das dachte ich mir.“ Die Frau seufzte. „Ich werde also nicht darum herumkommen, Euch einen<br />

Bonus zu entrichten, wie?“<br />

„Es ist die übliche Geschäftspraxis,“ log Lyr und hob die Schultern. „Aber da Ihr das nicht<br />

wußtet, werde ich mich mit einer einzigen zusätzlichen Eisensonne begnügen.“<br />

„Eine ganze Eisensonne?“<br />

Manyr kam zurück, die etwa anderthalb Pfeillängen große Holzstatuette unter den Arm<br />

geklemmt. Mit wenigen Schritten hastete er bis zu dem wackligen Tisch in der Ecke, legte dort<br />

sechs Eisensonnen ab. Er wollte schon gehen, dann drehte er sich noch mal um, gab Lyr mit<br />

komplizierten Handzeichen hinter dem Rücken der Kundin zu verstehen, daß er die Holzkrähe jetzt<br />

mitnahm und daß das da drüben das Geld war und wieviel und warum, und daß er jetzt ging.<br />

Lyr nickt ihm mehrmals zu und wandte sich dann wieder an die Händlerin, die mittlerweile mit<br />

sich selbst darum rang, ob sie nicht noch eine vierte Eisensonne in die tüchtigen Hände der<br />

Schmiedin wandern lassen sollte.<br />

Der Morgen ließ sich für Lyr gut an.<br />

���<br />

Vollkommen schwarz war der Falke, und überdurchschnittlich groß. Schnell hatte er alle Krähen<br />

vor Lyrs Fenster vertrieben, und nun saß er auf dem Fensterbrett und fixierte das kleine<br />

metallene Objekt auf dem Tischchen wie eine Maus, die er bei seinem Flug über weites<br />

Gelände ganz unten zwischen zwei Grasbüscheln entdeckt hatte.<br />

Seine Augen blitzten gelb auf. Noch immer waren sie starr auf den kleinen Gegenstand gerichtet.<br />

Sein Schnabel öffnete sich einen Spalt weit, seine Flügel zitterten vor Anspannung. Dann begann das<br />

Objekt im Innern des Hauses zu vibrieren, rührte sich, und stieg plötzlich einige Daumen hoch in<br />

die Luft. Dort verharrte es kurz, und der Falke krächzte leise.<br />

Schließlich schwebte das geschmiedete Stück Metall leise auf das vergitterte Fenster zu, drang<br />

durch die engen eisernen Maschen, und fiel schließlich auf das Fensterbrett herunter, wo der<br />

große Raubvogel schnell zuschnappte und es aufhob. Mit wenigen Flügelschlägen löste er sich vom<br />

Fensterbrett und flog davon.<br />

Kaum, daß er verschwunden war, öffnete Lyr, die ihrer Kundin tatsächlich volle vier Eisensonnen<br />

abgenommen hatte, die Tür. Sie holte einen Beutel aus dem Innern ihres Gewandes und ließ der<br />

Händlerin und Manyrs gutes Geld hineingleiten. Dann verschnürte sie die Börse wieder und verbarg<br />

sie in ihrem Wams. Seltsame Leute waren heute unter ihren Kunden. Was wollte der Alte nur mit<br />

einer hölzernen Krähe anfangen? Ihr Blick fiel auf den Tisch.<br />

���


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Manyr saß an einem Tisch in seinem Keller. Die Wände des Raums waren mit hohen Regalen<br />

vollgestellt, in denen kleine Phiolen und bauchige Reagenzgläser sich mit unzähligen dicken<br />

Wälzern und einigen verstreuten Pergamentrollen abwechselten. Der größte Teil des Bodens war<br />

leergeräumt und mit Sand bedeckt worden, in den der alte Schreiber zwei ineinander verschlungene<br />

Dreiecke gezeichnet hatte. Wo sich drei der Linien trafen, hatte er die kleine Figur aufgestellt.<br />

Das einzige Licht im Keller seines Hauses kam von den an der Wand angebrachten Fackeln, deren<br />

zitternde Flammen ihren Schein mal hierhin und mal dorthin warfen. In den Halbschatten sah die<br />

Krähe noch lebendiger aus als vorher, der vorgestreckte Kopf schien bereit, nach der Hand eines<br />

Menschen zu schnappen, die scharfen Krallen mochten fähig sein, menschliche Augen<br />

auszukratzen.<br />

Manyr hatte in einem seiner Folianten die richtige Stelle gefunden. Er stand vom Tisch auf - das<br />

Buch ließ er aufgeschlagen liegen - und ging hinüber zu der schweren Türe, die zur Treppe<br />

hinaufführte. Mit einem nicht geringen Kraftaufwand entriegelte und öffnete er sie. Ein Vogel<br />

mußte fliegen können.<br />

Dann wanderte er zu der seltsamen Figur im Sand zurück und kniete sich an eine Spitze des<br />

Vielecks. „- gebrauchst Alle Kräfte der Hohen Kunst zum Sehn und zum Wandern -“ ging es ihm<br />

durch den Kopf. Dann schloß er die Augen und konzentrierte sich auf die Worte der Macht. Die<br />

alten Pirman-Silben schlichen sich aus einem dunklen Winkel seiner Person in sein Bewußtsein<br />

hinein, begannen einen unendlich langsamen Tanz um das Bild der Krähe in seinen Augen.<br />

PIR EN ROT. PIR AL ROT. PIR EN ROT. flüsterten sie: Gedanken in mir, Gedanken fort, Gedanken<br />

in mir... Die Augen der Holzfigur öffneten sich. Der Schnabel der Krähe schnappte ein paar Mal<br />

auf und zu.<br />

PIR AL ROT. PIR EN HOS. PIR AL ROT. - Gedanken fort von mir, Gedanken in dir, Gedanken<br />

fort von mir... Manyr zuckte plötzlich unter einem schmerzhaften Krampf zusammen. Im selben<br />

Augenblick schlug die Krähe einmal mit den Flügeln, dann lagen sie wieder starr an ihrer Seite.<br />

ROT EN HOS! schrie Manyr auf, während sich sein Körper ruckartig zusammenrollte. Die<br />

Fackeln zitterten. Die Flammen schrumpften. In die dunklen Schreie des Menschen mischte sich<br />

das schrille Krächzen eines Vogels. Manyr litt grausame Qualen. Seine Flügel waren taub, seine Füße<br />

krallten sich krampfhaft in den Sand unter seinen Füßen. Immer und immer wieder schrie er<br />

seinen Schmerz in die große Halle über ihm hinaus. Dann raffte er sich zusammen und floh diesen<br />

Ort mit ein paar Flügelschlägen.<br />

���<br />

Die Diebesbeute im Schnabel, glitt der schwarze Falke über dem Rattenloch dahin. Sein Blick streifte<br />

über die kleinen und großen Häuser, über das geschäftige Treiben in den engen Gassen. Er<br />

beobachtete, wie eine junge Frau in einem Hinterhof ihr Leben ließ und wie eine Gruppe junger<br />

Knaben von erfahreneren Beutelschneidern ausgeraubt wurde.<br />

Den ersten Teil seiner Aufgabe hatte er erfüllt; es fehlte noch eine Hälfte der Beute, dann konnte er<br />

zurückkehren. Wo war das zweite teure Stück, nach dem er suchen mußte?<br />

Plötzlich erkannte er unter den vielen hastig eilenden Menschen und den langsam einherwandernden<br />

Händlern die Schmiedin, deren Erbe zwischen seinen Kiefern steckte. Sie rannte gerade aus einer<br />

Taverne heraus und quer über die Straße zu einem winzigen Bau ohne Obergeschoß. Dort schlug sie<br />

wie wild gegen die Türe und begann laut zu rufen.<br />

���<br />

Der Morgen war wunderschön, wenn auch kalt. Die anderen Vögel flogen gemeinsam, er alleine.<br />

Die Luft schmiegte sich an seine Federn. Die anderen Krähen hatten einen Schwarm, er flog alleine.<br />

Verwirrung machte sich breit. Was tat er hier? Die Winde, die seinen Körper umfaßten, die Höhe,<br />

in die er sich begeben hatte, das alles kam ihm falsch vor. Wer war er eigentlich? Gehörte er<br />

überhauot in die Luft?<br />

Er hatte etwas vorgehabt - was war es gewesen? Einzelne Worte rannten durch seine Gedanken wie<br />

eine heiße Klinge, die einen Rücken hinauflief und erst am Nacken haltmachte. Kam, erinnerte er<br />

sich. Und Tak. Und Suche. Und Finden. Das war es - das mußte es sein. Er mußte - diesen -


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Menschen - finden - aufspüren - wenn er sich nur lang genug daran erinnern konnte! Er mußte Kam<br />

Tak suchen und finden, in Erfahrung bringen, was mit ihm-<br />

Ein dunkler Schatten sauste über ihm durch die Wolken. Ein Großer. Von den Bösen. Ein<br />

Raubvogel, sein Gefieder ganz schwarz wie der Himmel der Nacht.<br />

���<br />

„Macht auf, wenn Ihr da seid, Schreiber! Ich will nur mein Hab und Gut zurück!“ Drinnen regte<br />

sich nichts. Lyr fluchte rasch, dann hämmerte sie weiter auf die Tür.<br />

Der harmlose alte Schreiber hatte sie doch noch bestohlen. Das liebe Erbstück von ihrer Mutter hatte<br />

er mit sich genommen, als er mit dem Vogel aus Holz ihre Werkstatt verlassen hatte. Wieso sollte<br />

er so etwas tun? Übermäßig kostbar war das Objekt nicht, das Material war billig; nur ihr bedeutete<br />

es viel, und sie wollte es wiederhaben.<br />

Mit welcher seltsamen Person hatte sie da einen Handel geschlossen? Was wollte er mit dem<br />

Vogel, und was mit ihrem spärlichen Erbe anfangen?<br />

Schließlich verlor sie die Geduld, nahm Anlauf und rannte gegen Manyrs Türe.<br />

���<br />

Der Falke hatte die Krähe gesehen, die anders war als die anderen. Diese Krähe bestand aus<br />

Holz, das sich wider alle Vernunft bewegte. Sie flog ebenso elegant wie ihre Artgenossen, aber sie<br />

folgte keinem Leitvogel. Und sie hatte ihn gesehen. - Ein pechschwarzer Falke war ungewöhnlich in<br />

diesen Breiten. Manyr flog in einem weiten Bogen zurück zu dem Raubvogel und betrachtete ihn<br />

genauer. Was hielt er da in seinem Schnabel? - Holztiere flogen nicht von selbst. Wer konnte<br />

diesen Vogel beseelt haben? Es war eine ganz besondere Technik vonnöten, den Geist in Totes<br />

fließen zu lassen und es dann zu beleben. Die Projektionsmagie war eine seltene Kunst. Nur die<br />

anderen, aus<br />

deren Händen er vor so langer Zeit ausgerissen war, beherrschten diese besondere Methode. Die<br />

Schlußfolgerung war klar: Ein Perger flatterte hier neben ihm durch die Luft! - Der Falke war nicht<br />

echt. Ein Blick in seine gelbglühenden Augen hatte genügt. Es war ein Magier, der Manyrs Flug<br />

hier begleitete, und in seinem Schnabel trug er ein Artefakt - offensichtlich wertvoll. - Wenn<br />

hinter der Krähe ein Perger steckte, dann durfte sich der Falke ihr nicht lange genug zeigen, um<br />

erkannt zu werden. Einen der zwei Schlüssel hatte er nun gefunden, den anderen würde er ein anderes<br />

Mal holen müssen. Für den Augenblick jedenfalls machte er sich aus dem Staub. -<br />

Der Falke drehte ab und flog nach Norden. Aber Manyr war jetzt neugierig geworden. Soweit<br />

seine gesammelten Informationen reichten, gab es in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> keinen Magier nach dieser<br />

Art. Offensichtlich war er hier auf ein weiteres Geheimnis gestoßen, von dem er keine Ahnung<br />

hatte. Der Falke schien ihn noch nicht bemerkt zu haben; also folgte er ihm in einiger Entfernung.<br />

���<br />

Es war nicht leicht gewesen, die Türe aufzubekommen. Das Holz hatte schon beinahe<br />

nachgegeben, da war Lyr plötzlich eine furchtbare Fratze erschienen, ein aus Flammen gebildetes<br />

Gesicht mit einem riesigen Maul und langen Zähnen. Sie war zurückgeschreckt, und das<br />

Gesicht war verschwunden.<br />

Als sie es das zweite Mal versuchte, öffnete sich die Tür ohne weitere Probleme. Offensichtlich hatte<br />

der Schreiber sein Haus mit magischen Mitteln vor Einbruch geschützt. Woher nahm er das Geld<br />

dafür? Zauberer waren nicht billig, und gerade in der Unterstadt <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s fand man nur selten<br />

einen, der bereit war, seine Kunst für solche Zwecke zu verkaufen. Hinter dem tatterigen Alten<br />

steckte offenbar mehr, als Lyr erwartet hatte.<br />

���<br />

Obwohl der Falke ein gewaltiges Tempo vorlegte, war die Krähe mit ihren wild schlagenden<br />

Flügeln noch immer hinter ihm her. Längst hatten sie die Oberstadt mit ihren teuren Fassaden und<br />

dem güldenen Inhalt, mit ihren mächtigen und reichen Bewohnern hinter sich gelassen, und nun


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

flogen sie über die weiten kargen Felder, die sich nach Norden hin anschlossen. Dem Falken gefiel<br />

nicht, daß der andere ihm folgte. Wenn er sich nicht abschütteln ließ, mußte er ihn wohl töten.<br />

���<br />

Der Raum war winzig klein, nur ein Schreibtisch und zwei Stühle standen darin. An der Wand war<br />

ein schmales Brett angeschraubt, auf dem ein paar Folianten lagen. Welches Leben konnte ein<br />

Mensch zwischen den papiernen Seiten führen, das es wert war, gelebt zu werden? Und wieso hatte<br />

der alte Mann diese karge Stube mit magischer Hilfe gesichert?<br />

���<br />

Schon drei Erzminen hatten die beiden Vögel jetzt auf ihrer Jagd überflogen, und nun endlich<br />

änderte der Falke seine Richtung und bog nach Westen ab. Die Krähe folgte ihm weiter.<br />

���<br />

Lyr hatte eine Türe gefunden. Es war ein schweres, gut geriegeltes Schloß daran, aber der<br />

Türflügel stand einen Spalt weit offen. Mit einiger Anstrengung zerrte Lyr das eiserne Portal zur<br />

Seite und spähte auf eine Treppe hinunter.<br />

Kurze Zeit nur zögerte sie, dann legte sie wie zur Beruhigung die Hand auf das Schwert an ihrer<br />

Seite, richtete sich auf und ging die von Fackeln beleuchteten Windungen hinunter.<br />

���<br />

Jetzt griff er an. Eben noch hatte der Falke alle Kraft darauf verwendet, möglichst schnell nach<br />

Hause zu kommen, jetzt bremste er urplötzlich ab, machte eine Kehrtwende und sauste mit<br />

einem Mal auf die etwas unter ihm fliegende Krähe hinab.<br />

Manyr erschrak, konnte gerade noch ausweichen. Kurz war er ins Trudeln gekommen, jetzt pumpte<br />

er sich mit seinen hölzernen Flügeln in eine bessere Position hinauf.<br />

Der Falke war in seinem Sturzflug fast bis zum Erdboden gelangt. Kurz streiften seine Krallen<br />

den steinigen Untergrund, dann erhob er sich wieder. Mit wenigen Flügelschlägen hatte er eine<br />

günstige Luftströmung erreicht und machte sich an einen zweiten Angriff.<br />

���<br />

Am unteren Ende der Treppe befand sich eine weitere Tür, noch besser gesichert als die obere, aber<br />

ebenfalls geöffnet. Lyr stieß sie zur Gänze auf und warf einen Blick in Manyrs Keller.<br />

���<br />

Noch zweimal konnte die Krähe ihrem neuen Verfolger ausweichen, nur ihr linkes Bein war vom<br />

hölzernen Rumpf abgesplittert und die vielen Sprungweiten bis zum Boden gefallen.<br />

Der Gebirgsfalke wurde mit jedem Mal zorniger, seine Bewegungen ständig schneller. Diesmal<br />

würde der andere nicht entkommen. Er ruhte sich auf einem kurzen Gleitflug in Wolkenhöhe<br />

von der letzten Strapaze aus, dann löste er sich ganz sanft von dem kreiselnden Kurs und fiel auf<br />

Manyr zu.<br />

���<br />

Ein wildes Krächzen jagte durch den dunklen Keller.<br />

Gleichzeitig krümmte sich Manyrs schlafender Leib auf dem Sand zusammen. Lyr hatte eine der<br />

Fackeln aus dem Treppenhaus von der Wand losmachen und in den Keller mitnehmen müssen,<br />

weil alle Flammen in diesem Raum verlöscht waren.<br />

Jetzt beugte sie sich mit fragendem Gesicht über den wild zuckenden Greis und versuchte<br />

herauszufinden, ob er nur schlecht träumte oder womöglich krank und ins Fieber gefallen war.


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

���<br />

Diesmal konnte der hölzerne Vogel nicht rechtzeitig aus weichen. Wie lange spitze Nadeln<br />

bohrte der dunkle Falke seine Krallen in den kleinen Krähenleib. Ein Holzflügel riß sich vom<br />

restlichen Körper los, schlug noch ein paar Mal und raste dann auf den Erdboden zu.<br />

Der Falke holte mit dem Kopf weit aus und begrub dann seinen Schnabel im Hals des anderen.<br />

Das schmerzhafte Kreischen verstummte.<br />

���<br />

Der Schreiber hatte unter verzweifeltem Krächzen einen Arm weit von sich geschleudert, jetzt<br />

winkelte er ihn wieder eng an seinen Körper an, verschlang seine Gliedmaßen ineinander. Tränen<br />

flossen über das blasse Gesicht mit den fest geschlossenen Augen, sickerten langsam bis zu dem<br />

Mund des Fiebernden herunter, aus dem ein schwaches Blutrinnsal quoll.<br />

Lyr rüttelte ihn an beiden Schultern, wußte nicht, womit sie es zu tun hatte und wie sie ihm helfen<br />

konnte. Das Erbstück, das er ihr entwendet hatte, war für den Augenblick völlig aus ihrem<br />

Gedächtnis verschwunden.<br />

Als sie an dem Alten zerrte und ihn wild hin und her schüttelte, verstummte das Kreischen<br />

plötzlich.<br />

���<br />

Die Diebesbeute war während des Kampfs aus dem Schnabel des Falken gefallen. Nachdem sein<br />

Gegner in der Mitte entzwei gebrochen und zur Erde hinabgesegelt war, flog der Raubvogel einen<br />

eleganten Bogen nach unten und hob das kostbare Stück wieder auf.<br />

Die Bruchstücke des Holzvogels ließ er auf dem Kies und Geröll des Gebirgsbodens liegen.<br />

���<br />

Manyr sank in Lyrs Händen nach hinten, ließ seinen Kopf rücklings fallen. Der Mund stand<br />

nun weit offen, Blut floß reichlich über sein Kinn. Die Augen blinzelten in einem fort, doch sonst<br />

regte sich kein Glied an dem Greis.<br />

���<br />

Der Falke hatte sein Ziel erreicht. Elegant flog er durch den engen Spalt im zusammengefallenen<br />

Höhleneingang und glitt durch den dunklen Gang, bis er den in den Boden gezeichneten Fünfstern<br />

erreichte.<br />

Der einzelne Mensch im Schneidersitz öffnete die Augen und grinste kurz. Er entkorkte die jetzt<br />

leere Flasche und hielt sie mit der Rechten über sich, die Linke streckte er geöffnet aus. Der Falke<br />

schrie kurz, dann ließ er das Artefakt in die offene Hand fallen.<br />

RES ANAR! rief der Einzelne, und noch im Flug wurden die Konturen des Vogels unscharf,<br />

verwandelte sich sein Körper in eine dunkle Wolke mit vagen Umrissen, bis nur noch dichter<br />

schwarzer Rauch übriggeblieben war, der wie von selbst in die Flasche glitt. Der Einzelne stöpselte<br />

sie rasch zu. Dann nahm er das Beutestück zwischen zwei Finger, hob es auf Augenhöhe<br />

und<br />

untersuchte es so genau, wie es der unruhige Schein der Kerzen zuließ. Langsam breitete sich ein<br />

Lächeln auf seinem Gesicht aus.<br />

III.<br />

Es waren zwei Tage vergangen, seit Manyr unter Krämpfen und von schrecklichen<br />

Schmerzensschreien begleitet in seinem Keller aufgewacht war, wo ihn Lyr erwartete. Jetzt<br />

brannte die Mittagssonne von den Berggipfeln auf den Rastplatz der beiden weit nördlich der Stadt<br />

herunter. Sie sprachen nicht miteinander, sondern waren jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.<br />

���


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Lyr versuchte, die Informationen über ihre eigene Herkunft, die sie von dem angeblichen Schreiber<br />

erhalten hatte, Stück für Stück zusammenzusetzen. Er hatte ihr nur mit kleinsten Bruchteilen des<br />

Geheimnisses ausgeholfen, gab ihr auch keinen Hinweis darauf, woher er selbst dieses Wissen<br />

nahm.<br />

Die junge Schmiedin wußte wohl, daß ihre Familie nicht immer ihrem jetzigen Handwerk<br />

nachgegangen war, hatte sich von ihrer Großmutter in Kindertagen häufig von der goldenen Zeit<br />

ihrer Urgroßeltern erzählen lassen, die in der Oberstadt <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s ein reiches Leben zwischen<br />

herrlichen Tempeln und großartigen Ratsgebäuden geführt hatten.<br />

Was diesen glücklichen Zustand damals beendet und warum ihre Familie offensichtlich Konkurs<br />

erlitten hatte und ins Rattenloch abgestürzt war, darüber hatte die Großmutter keine Auskunft geben<br />

wollen. Auch Manyr schwieg sich in diesem Punkt aus; er redete von einer noch viel weiter<br />

entfernten Vergangenheit, meinte, unter ihren Vorvätern seien einige Begabte gewesen, Menschen<br />

zwar, aber mit besonderen Talenten gesegnet, die sich noch heute in ihrer Arbeit äußerten.<br />

„Von hervorragenden Talenten habe ich bei der Arbeit nie etwas gemerkt.“ hatte sie gesagt.<br />

„Eigentlich gibt es in der Stadt einige Schmiedemeister, die besseres leisten können als ich.“<br />

„Es geht nicht ums Schmieden,“ hatte Manyr abgewehrt. „Das ist kaum mehr als eine Pfründe für<br />

Euch. Die wahre Berufung Eurer Familie liegt in der plastischen Kunst.“<br />

„Worin?“<br />

„In der Bildhauerei, im Schnitzen von naturgleichen Bildern der Welt. Ihr seid eine ausgezeichnete<br />

Künstlerin.“<br />

„Darum wolltest du die Krähe von mir gefertigt haben.“<br />

„Ja. Sie ist - war - vom ästhetischen Gesichtspunkt aus wertvoll und besaß auch noch... andere<br />

Qualitäten.“<br />

Lyr hatte eine Weile geschwiegen, bis sie hinter diese Andeutung gestiegen war. „Du bist damit<br />

geflogen, nicht wahr?“<br />

„Ja.“<br />

Dann hatte Manyr sich erhoben und war Feuerholz suchen gegangen. Wann immer Lyr sich der<br />

Anwort auf ihre Fragen zu nähern meinte, brach er das Gespräch ab. Daß er das Erbstück gestohlen<br />

habe, leugnete Manyr. Statt dessen erklärte er ihr, er habe den wahren Dieb auf seinem Flug<br />

beobachtet und wisse, wo sie den Ring wiederbekommen konnten. Außerdem erklärte er, es sei<br />

von ungeheurer Wichtigkeit, daß der neue Besitzer dieses Kleinods unter keinen Umständen an<br />

den zweiten Ring gelangte, den ihre Mutter ihr hinterlassen hatte.<br />

Sie zog das Stück Messing von ihrem Finger und betrachtete es im Sonnenschein. Es war vielfach<br />

abgerieben und geplättet, die stumpfen Stellen schimmerten kaum mehr im Licht. Trotzdem legte<br />

Manyr anscheinend großen Wert auf den Erbring, war sogar selbst bereit, aus seiner Stube, die er<br />

so selten verließ, aufzubrechen und das Pendant zurückzuholen. Nach Norden müßten sie, hatte er<br />

gesagt, und dann nach Westen, etwa zwei Tagesreisen weit.<br />

���<br />

Dunkel also braucht die Welt, gleich wie das Licht ist’s Nötig, damit die Fugen der Realität nicht<br />

brechen Zwischen dem Druck der zaubernden Menschen. Einer hingegen, Der all sein Leben in Ruhe<br />

will bleiben, den jener Zweikampf Nicht so begeistert, daß er das eigene Wohl hinten anstellt, Um<br />

einer Seite zum Sieg zu verhelfen, der ruhe stetig In der Mitte der Waage, nicht soll er je sich<br />

verschreiben Dunkler Macht noch auch dem Licht. Alleine wenn einer Um ihn ist, der große Kraft im<br />

Dunkeln oder im Hellen Sammelt, so wende der Sinn sich des Manns in der Mitte: Nunmehr Muß er<br />

dem Schicksal sich fügen, die Waage selbst richten, und selber Gegengewicht sein, gleich, wie viel<br />

an Blut es ihn kostet.<br />

Die weisen Worte Isagar des Weißhaarigen wiederholten sich wie von selbst wieder und wieder in<br />

den Gedanken des Pergers. Perger! Jahrzehntelang hatte er nicht mehr so von sich gedacht.<br />

„Wenn du das Leben eines Schreibers führst, eines alten Mannes, dem seine eigene Existenz<br />

gleichgültig ist, und wenn du lange genug seine Gedankenwelt auswendig lernst und seine Rolle<br />

zur Perfektion bringst - Irgendwann verliert sich dein altes Ich im Hintergrund.“ Mit diesen Worten<br />

hatte er es Lyr beizubringen versucht. „Irgendwann verlierst du das Interesse an deinen eigenen<br />

Übungen, verlierst mit dem Interesse auch die Magie selbst.“


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Jetzt saß er da mit seinem Stab, den er aus einer staubigen Ecke in seinem Keller geholt hatte. Er<br />

hatte beschlossen gehabt, Magie einzusetzen, echte und große Magie, um das Geschehen im<br />

Rattenloch zu überwachen. Das war die Aufgabe der verstreuten Perger auf ganz Nontariell:<br />

Wissen sammeln. Mehr tat der Alte Orden zu Pergemitron nicht mehr. Zu mehr war er nicht mehr<br />

in der Lage.<br />

Legenden erzählten davon, daß die Magier und Gelehrten in dem kleinen Gebirgsstaat zwischen den<br />

hoch aufgetürmten Spitzen der östlichen Berge einstmals um die Wahrheit hinter der Welt<br />

gekämpft, daß sie diese Wahrheit nicht nur gesucht, sondern selbst gemacht hätten...<br />

Jetzt war mit all den weisen Männern vom Berge dasselbe passiert, was Manyr in seinem<br />

selbstgewählten Exil widerfuhr: Sie waren in die Mitte der Waage gerutscht. Nicht im Licht war ihr<br />

Wesen, auch nicht im Dunkeln; sie machten einfach keinen Unterschied mehr. Sie wirkten<br />

nicht. Sie handelten nicht. Sie lebten ja kaum mehr.<br />

Aber sobald er es wagte, wieder eines der großen Wunder zu wirken, sobald er eine Höhere<br />

Projektion versucht und selbst zum Vogel geworden war, hatte er sich in einer Richtung in<br />

Bewegung gesetzt. Er hatte Licht gewirkt, und kaum war diese Entscheidung gefallen, mußte er als<br />

Licht vor dem Dunkeln bestehen.<br />

Denn kaum, daß er den Zauber gewirkt hatte, tauchte auf der anderen Seite ein Gegenspieler auf.<br />

Kaum hatte er sich zur Handlung entschieden, wurde er wieder hineingerissen in den Kampf<br />

zwischen dem Hellen und dem Dunkeln.<br />

Lyrs Ringe... Sie stammten nicht von diesem Kontinent, waren ein Erbstück ihrer fremden<br />

Vorfahren. Sie konnten Tore öffnen, nicht diese zwei Ringe alleine, aber wenn einer fünf von ihrer<br />

Art gesammelt hatte, konnte er hinüberwechseln, hinüber in die Halbwelt, - Ein kann der gehn in<br />

die Schatten des Halbdunkels. Dort aber wartet Macht, mit der er Großes in beiden Welten bewirkte.<br />

Und er, Manyr, der Schreiber, war ausgezogen, den anderen, den Falken, den Dunkeln, aufzuhalten.<br />

Ihm den einen Ring zu entreißen, den anderen vor seinem Zugriff zu schützen... ein uraltes Motiv in<br />

Märchen und Legenden. Fast so, als sei die Zeit der Sagen wiedergekehrt. Oder als wäre er in<br />

die Welt dieser Erzählungen hinübergerutscht, als er sich in die Krähe bewegte, in ihrem Körper<br />

flog und in ihrem Leib litt. Er, Manyr, würde jetzt wieder handeln müssen.<br />

���<br />

Eine flüchtige kühle Brise ließ Lyr erschauern. Ein Perger! Sie versuchte sich zu erinnern, welche<br />

Rolle Pergemitron in den Märchen ihrer Großmutter gespielt hatte. Land der hundert Weisen... Eines<br />

Tages war der Schlaf über ihre Große Schule gefallen, die Graubärte waren endgültig über ihren<br />

Büchern zusammengesackt, und eine hohe Hecke war um den großen Bau gewachsen... Nie<br />

wieder hatte man etwas von den Gelehrten gehört.<br />

Wenn sie sich einen dieser Schläfer, die in alten Sagen oft vom Held gefunden, aufgeweckt und um<br />

Hilfe befragt werden mußten, vorstellen wollte, dann käme Manyr ziemlich genau hin: Klein,<br />

steif, uralt. Die Gelenke mußten ihn schmerzen, er sah nichts mehr ohne das seltsame<br />

Linsenkonstrukt auf seiner Nase; erstellte er Wettervorhersagen nach dem jüngsten Ziehen in seinem<br />

Zauberstab?<br />

Überhaupt: Zauberstab. Ein alter, ausgebleichter Holzstecken, wie der abgefallene Stiel eines<br />

Besens. Auch eine nette Vorstellung: Manyr, wie er sich an den Haaren einer Hexe<br />

festklammerte und hinter ihr auf einem Besenstiel durch den Kamin ritt! Der lange Holzstecken war<br />

mit ebensoviel Staub bedeckt wie Manyrs Kutte und wie seine Seele. Was wollte der alte Mann<br />

schon ausrichten?<br />

���<br />

Wenn er jetzt handelte, dachte Manyr bei sich, würde er der wirklichen Welt der Taten und<br />

Entscheidungen nicht mehr auskommen. Wenn er sich jetzt profilierte, würde das Profil haften<br />

bleiben, und er würde weiterhin die Zauber des Lichts wirken müssen, um am Leben zu bleiben;<br />

seine Aktion würde Reaktionen hervorrufen, und die geruhsame Rolle des alten Schreibers wäre<br />

dann für ihn gestorben.<br />

Wie sollte er seinen Auftrag dann noch erfüllen? Große und berühmte Zauberer eigneten sich<br />

nur wenig zum typischen unbeteiligten Beobachter, den ein Perger abgeben sollte. Würden sie


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

ihn aus dem Orden gar verstoßen? Vielleicht sollte er doch aufs Zaubern verzichten - aber ein<br />

toter Perger, erinnerte er sich, nützte der Akademia auch nichts.<br />

Und die junge Schmiedin, die er mit hineinzog? Oder zog sie ihn? Es war ihr Ring, aber die<br />

Verhältnisse der Magie waren ihre Sache nicht. Was wäre geschehen, wenn sie ihn nicht getroffen<br />

hätte? Sie hätte nichts von der besonderen Natur ihres außernontariellschen Erbes erfahren,<br />

der Falke wäre wiedergekommen und hätte ihr auch den zweiten Ring noch abgenommen. Dann<br />

hätte der Zauberer, der dahinter steckte, zwei Ringe gehabt... die anderen drei, die er brauchte,<br />

hatte er vielleicht schon gefunden oder konnte sie womöglich auftreiben, dann hätte er alle Schlüssel<br />

beisammen, um das Tor zu öffnen. Und dann? Manyr wollte es lieber nicht wissen.<br />

Aber was, wenn der Mensch hinter dem schwarzen Falken selbst von außerhalb Nontariells<br />

stammte und die Ringe nur sammelte, um sie in seine Heimat zurück und damit in Sicherheit zu<br />

bringen?<br />

���<br />

Was tat Lyr eigentlich hier? Der Alte hatte ihr nur spärlich von den Gründen erzählt, aus denen<br />

sie die Ringe unbedingt zurückbekommen mußten, nichts wußte sie von Manyrs eigener<br />

Vergangenheit. Und war er tatsächlich in der Lage, ihr Erbe zu retten? Dieser alte Mann, der<br />

sich an seinem angeblichen Zauberstab festhielt wie an einem Gehstock?<br />

Und wenn sie die Ringe tatsächlich wiederbekommen hatten, würde er sie ihr dann zurückgeben, wo<br />

sie doch für ihn so wertvoll waren?<br />

���<br />

Sie hatten nun schon eine gute Stunde gerastet. Manyr erhob sich steif und unter Ächzen. Als<br />

Lyr es bemerkte, sprang sie sofort auf. Noch eine halbe Tagesreise, dann hätten sie ihr Ziel erreicht.<br />

IV.<br />

Wieder saß der Einzelne im Schneidersitz in der alten Mine. Vor sich war der Fünfstern in den<br />

Boden gezeichnet; vier Kerzen brannten nun, vier Ringe lagen an dem ihnen vorbestimmten Platz.<br />

Wo war der letzte? fragte er sich. Der Falke war losgeschickt worden, die zwei letzten Ringe von der<br />

jungen Frau zu holen, deren Erbe die Stürme des Talu einst an die Küste Nontariells gebracht hatten.<br />

Aber etwas hatte ihn aufgehalten: Er hatte länger gebraucht, als sein Meister erwartet hatte, und<br />

war mit nur einem einzigen Ring zurückgekehrt.<br />

Jetzt beugte sich der Einzelne tief über den kleinen Kreis, den er etwas abseits von den vier Ringen<br />

mit einem Ast in den Boden geritzt hatte. Er strich ein paar Mal mit der Hand darüber, dann<br />

kräuselte sich der steinerne Boden wie die Wellen eines Teichs, wurde durchsichtig und zeigte<br />

ihm seinen neuerworbenen Widersacher.<br />

Willst du erfahren, was in der Ferne geschieht, so zeichne Rasch dir ein Auge, ein drittes, das weiter<br />

sieht als die eignen. Isagar der Weißhaarige hatte gewußt, wovon er sprach, als er die 23 nützlichen<br />

Epen für den Magus verfaßte.<br />

Lange Zeit blieb der Einzelne so sitzen, betrachtete die Informationen, die der Zauberkreis ihm<br />

eröffnete: Es war einer von den anderen, der sich auf seiner Spur befand. Einer von jenen Greisen,<br />

aus deren ruhmlosen Kreis er sich schon vor so vielen Jahren gelöst hatte. Einer von denen konnte<br />

ihm nicht mit Gefahr drohen; die alte Mine barg mehr Geheimnisse als auf den ersten Blick zu<br />

sehen war. Der andere würde ihm den fünften Ring ganz von selbst bringen.<br />

���<br />

Wie schon so oft zuvor wanderte die Sonne von den Ostländern, wo einst die ersten pirgid gesiedelt<br />

hatten, über das Reich der Multorier bis ins Imperium der Hallakine, wo sie sich zum Horizont senkte<br />

und den Abend machte.<br />

Weit im Osten standen am Fuße eines der kleineren Berge zwei kleine verlorene Menschen vor<br />

einem Höhleneingang. Die uralte Mine war dem Berg wichtig. Er selbst war dort empfindlich, aber


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

auch mächtig. Seinem eigenen Wesen lag viel an dem Ort, wo jetzt die alten Schächte und Gänge<br />

lagen.<br />

Davon ahnten die junge Frau und der alte Mann nichts, als sie sich ihre Fackeln anzündeten und<br />

durch die dunkle Öffnung im Stein traten.<br />

„Es ist besser, Ihr gebt mir den Ring, Schmiedin.“<br />

„Warum sollte ich? Es ist mein Ring.“<br />

„Und ihr sollt ihn zurückerhalten. Aber da drin ist es vielleicht zu gefährlich für Euch -<br />

vielleicht wäre es klüger, Ihr bliebet glcih hier draußen.“<br />

Lyr schnaubte. „Auf keinen Fall, alter Mann! Den Ring werde ich dir geben - nur für den Augenblick.<br />

Aber hinterher-“<br />

„-hinterher bekommt Ihr ihn natürlich zurück.“ Er seufzte. „Wie ich es Euch versprochen habe.“<br />

���<br />

Kommt nur, dachte der Einzelne. Hier warte ich auf euch im Zentrum einer Macht, deren<br />

Reichweite ihr gar nicht abschätzen könnt. Ich warte still und leise, bis ihr mir den Ring gebracht<br />

habt. Und dann werdet ihr das größte und das letzte Wunder eures Lebens sehen.<br />

���<br />

Der dunkle Gang war lang und feucht, ganz so wie die Geheimgänge in den Geschichten,<br />

die Lyr früher von ihrer Großmutter gehört hatte. Auch das vereinzelte Geräusch von<br />

fallenden Wassertropfen fehlte nicht.<br />

Manyr blieb kurz schnaufend stehen. Es ging bergauf, und er war solche Gebirgswanderungen nicht<br />

mehr gewohnt. Während er sich auf seinen Stab stützte, versuchte er die Kraft seiner Jugend wieder<br />

heraufzubeschwören, mit der er damals wie eine Gemse durch die Schluchten und Berge rings um<br />

die Akademia geklettert war. Zu lange her; er war alt geworden.<br />

���<br />

Kommt nur. Kommt schneller. Ich warte schon. Der Einzelne erhob sich aus seinem Schneidersitz,<br />

das lange feuerrote Gewand fiel in Falten um ihn, der geringe Schein der vier Kerzen zitterte<br />

zwischen seinen Füßen. Langsam breitete er die Arme aus, streckte beide Hände weit von sich wie<br />

zum Gebet.<br />

Die Berge von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> waren alt und voller Leben. Leben war eine Sache der Geduld; schon<br />

vor Urzeiten hatte der Berg ein eigenes Ich entwickelt, eine eigene Seele. Und nicht nur einmal; oft<br />

waren aus den kargen Flächen, den tiefen Schluchten und den hohlen Behausungen, aus den<br />

weiten Nadelwäldern und dem gelegentlichen Donner der Steinlawinen Persönlichkeiten<br />

entstanden, hatten auf ihre eigene Art begonnen zu atmen, zu sein - und zu herrschen.<br />

���<br />

„Woher willst du wissen, daß das die richtige Abzweigung ist?“<br />

„Es ist die gerade Fortsetzung des Gangs, durch den wir gekommen sind.“ erklärte Manyr,<br />

nachdem er mit Mühe Luft geholt hatte.<br />

„Eben. Wenn sich der Dieb vor uns versteckt, ist er vielleicht in einen der Seitengänge geflohen.“<br />

„Nein.“ brachte der Alte mit rasselndem Atem hervor.<br />

„Nein?“<br />

„Nein, er wird sich nicht verstecken. Und er wird ganz sicher nicht fliehen.“ Er schloß die Augen.<br />

„Er wird dableiben und mich zwingen zu zaubern, zu handeln...“<br />

���<br />

Wenn die Macht des Berges zu eigenem Leben erwachte, kamen oft Menschen dazu, die diese<br />

Macht übernehmen wollten. Oft war es ihnen auch gelungen. Der Einzelne dachte kurz an den<br />

Bergmeister, eine der jüngeren Inkarnationen des Berg-Seins. Nicht ganz Mensch, aber auch nicht<br />

ganz Naturgewalt, lebte er mit und von dem Atem des Gebirges. Aber wie die Unbekannten von der


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Akademia blieb er fast immer abseits vom Geschehen der Welt, handelte kaum einmal. Und wenn<br />

er doch einmal etwas bewirkte, dann waren es Kleinigkeiten, die nie einen Unterschied machten.<br />

Der Einzelne war anders. Sein Wirken sollte einen Unterschied machen. Er würde sich nicht dem<br />

Berg hingeben, sondern der Berg würde ihm einen Teil seiner Macht schenken. Er würde ihm<br />

diesen Teil entreißen, und es war so einfach wie der Diebstahl einer verlorenen Münze auf der<br />

Straße, die keinem Menschen mehr gehörte. Es war einfach, wenn man wußte, wie es ging.<br />

���<br />

Lyr blieb stehen. Manyr war neben ihr zu Boden gefallen. Seine Hand war auf der glatten<br />

Oberfläche seines Stabs ausgerutscht, und das ganze spärliche Gewicht seines kleinen Körpers<br />

war hinterdrein gefallen. Was wollte dieser alte Mann denn um <strong>Mantow</strong>ins Willen ausrichten,<br />

fragte sie sich wiederum, während sie zusah, wie der Schreiber nach seiner Brille tastete, sie<br />

endlich fand und aufsetzte und sich mühsam wieder hochzog. Was konnte der denn tun, um ihr zu<br />

helfen?<br />

���<br />

Die Arme weit ausgebreitet, reglos, stand der Einzelne eine Weile. Dann erinnerte er sich an die<br />

Silben, nach und nach kam jede einzelne in sein Gedächtnis zurück, schob sich langsam auf seine<br />

Zunge, und er sprach die Worte aus. LOUROS! reif er, und das Wort hallte durch die Gänge.<br />

���<br />

Jetzt blieb Manyr stehen. „Was war das?“ fragte Lyr.<br />

SPEDOS! folgte das nächste Wort.<br />

„Ich weiß es nicht...“ begann Manyr.<br />

CHALANDRIANI! rief die dunkle Stimme.<br />

„Aber ich fürchte, ich ahne es...“ Er hob seinen Stab und ging schnell weiter. Jetzt hatte Lyr beinahe<br />

Schwierigkeiten, ihm zu folgen.<br />

GROTTA! PELOS! DOKATHISTMATA!<br />

Der Berg hörte die uralten Silben.<br />

Etwas in ihm regte sich.<br />

Etwas anderes in ihm sträubte sich.<br />

Etwas in ihm zog in eine Richtung.<br />

Etwas anders sperrte sich.<br />

Etwas in ihm war bereit zu dienen.<br />

Etwas anderes wurde getrennt.<br />

Etwas in ihm diente.<br />

Etwas anderes schrie.<br />

���<br />

���<br />

„Wieso gehst du jetzt so schnell?“<br />

KEROS!<br />

„Ich möchte -“ schnaufte Manyr.<br />

SYROS!<br />

„- ankommen, bevor der Zauber fertig ist, -“ KEPHALA!<br />

„- wenn ich kann.“<br />

���


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Die Worte erklangen in den engen Gängen und den tiefen Schächten der Mine, hallten im<br />

ganzen Berg wieder und wurden von flüsternden Stimmen in den Ecken und Nischen des<br />

Gesteins tausendfach wiederholt.<br />

Langsam bildeten sich Risse in der steinernen Wand in der Nähe des Einzelnen. Kleine, kaum einen<br />

halben Sprung große Figuren zeichneten sich in dem dahinterliegenden Grau und Schwarz ab,<br />

menschenähnliche Körper schälten sich langsam aus dem glatten Fels.<br />

Ein tiefes, dunkles Stöhnen erklang, als einer der neuerstanden Diener seinen Fuß aus dem Inneren<br />

des Bergs herausriß und auf den Boden der Höhle setzte. Jetzt kamen sie alle hervor, fünf oder zehn<br />

an der Zahl, kleine steinerne Homunculi mit langen Armen und Beinen und weitgestreckten Hälsen,<br />

klobig waren ihre Häupter und glatt ihre Gesichter, stumpf und rund ihre Hände und Füße, düster<br />

und langsam ihr Geist.<br />

���<br />

Sie kamen aus dem Berg.<br />

Sie kamen und waren viele.<br />

Da war einer.<br />

Ein Zweibein - Mensch.<br />

Er herrschte.<br />

Sie waren Diener.<br />

Sie standen im Kreis um den Menschen.<br />

Dieser Mensch war der Erste.<br />

Der Erste war der Herr.<br />

Dann kamen die Zweiten.<br />

Zwei Zweibeiner - Menschen.<br />

Sie waren die Zweiten.<br />

Die Zweiten herrschten nicht.<br />

Die Zweiten standen da und schauten.<br />

Der Erste redete zu den Zweiten.<br />

Der ältere Zweite antwortete.<br />

Der Erste lachte.<br />

Der Erste winkte.<br />

Die Diener näherten sich den Zweiten und drohten.<br />

���<br />

Lyr war überrascht, fühlte sich überrumpelt. Plötzlich war die Geschichte des Alten Realität<br />

geworden, plötzlich war sie in Gefahr. Die kleinen beweglichen Statuen kamen immer näher, und<br />

sie wußte nicht, wie sie sich gegen sie verteidigen sollte.<br />

Und der Mensch, dem sie begegnet waren - er sah fast genauso aus wie Manyr, nur irgendwie<br />

echter. Er war größer, seine Schultern breiter, seine Stimme tiefer, sein Haar zwar ebenso weiß,<br />

aber voller.<br />

Auch dieser Mann stützte sich auf einen Stab, aber das war kein abgeriebenes Stück Holz, sondern<br />

eine lange, gedrechselte rote Stange, eine Waffe und ein Insignium.<br />

Und die steinernen Zwerge hörten auf das Wort dieses Menschen, und sie kamen näher.<br />

Der eine von den Zweiten blieb stehen.<br />

Die andere von den zweiten zog ein Stück Metall.<br />

Sie zog es von ihrer Hüfte.<br />

Jetzt kam die weibliche Zweite auf die Diener zu.<br />

Die Zweite wollte den Dienern wehtun.<br />

Aber die Diener waren stärker.<br />

���<br />

���


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Manyr hatte gerade noch mitbekommen, daß Lyr ihre Fackel zu Boden geworfen hatte, dann sah er<br />

sie sich auch schon, ihr Schwert in der Hand, auf die Molegs stürzen.<br />

Die Molegs, die steinernen Diener -<br />

Bist du im Dunkeln, dann kannst du sie rufen, die Geister Aller Berge, die Geister aller Quellen, die<br />

Geister Aller Himmel. Sie alle rufst du, und rufst nicht umsonsten.<br />

er hatte in Isagars Schriften von den steinernen Dienern gelesen, aber dies war das erste Mal, daß<br />

er sie mit eigenen Augen sah. Und er wußte nicht, was er tun sollte.<br />

Neben ihm schrie Lyr.<br />

���<br />

Die Diener hatten der einen Zweiten das Stück Metall genommen.<br />

Die Diener hatten die eine Zweite gepackt.<br />

Die eine Zweite hatten geschrien.<br />

Die Diener hatten die eine Zweite losgelassen.<br />

Aber die Diener blieben nahe bei ihr.<br />

Die Diener dienten gut.<br />

���<br />

„Und jetzt, Manyr alter Knabe -“ Welch ein Witz, daß es ausgerechnet dieser sein mußte! Der<br />

Einzelne freute sich unbändig über diesen gelungenen Scherz des Schicksals. Er erinnerte sich:<br />

���<br />

„Ich kann nicht im Stillen leben.“<br />

„Am Ende lebt ein jeder still, sagt Isagar.“<br />

„Ich weiß, Manyr! Ich weiß, was Isagar sagt, aber ich bin für<br />

das Leben im Stillen nicht gemacht.“<br />

„Was willst du tun?“<br />

„Ich werde gehen. Ich muß gehen, Manyr.“<br />

„Das ist gegen die Gesetze!“<br />

„Ich weiß, aber ich kann nicht anders. Du wirst doch nichts verraten, bevor ich weg bin, oder?“<br />

Manyr hatte gezögert, dann hatte er leise „Nein.“ gesagt. Die beiden Jungen hatten sich damals gut<br />

verstanden, besser noch als die voll ausgebildeten Gelehrten der Akademia oft untereinander<br />

auskamen.<br />

���<br />

Manyr also mußte es sein! Und jetzt, bald schon am Ende der Reise, trafen sie sich wieder.<br />

„Und jetzt, Manyr, alter Knabe“ - der Einzelne sang die Worte beinahe - „jetzt wirst du mir den<br />

Ring geben, und dann werde ich das Tor öffnen und gehen. Wenn ich zurückkomme, können wir ja<br />

ein bißchen über alte Zeiten plaudern, nicht wahr? Oder warte - dann wirst du ja nicht mehr am<br />

Leben sein, ich vergaß!“<br />

Manyr zitterte. Gegen die Molegs konnte es keine Gegenwehr geben.<br />

Der Erste befahl dem einen Zweiten.<br />

Der Erste wollte etwas von den Zweiten.<br />

Der eine Zweite gab es dem Ersten.<br />

Der Erste jubelte.<br />

Die eine Zweite schrie etwas.<br />

Der andere Zweite senkte den Kopf.<br />

Der Erste ließ die Zweiten gehen.<br />

Der Erste war der Herr.<br />

Er war Herr über die Diener.<br />

���


Und er war Herr über die Zweibeiner.<br />

Er war der Herr.<br />

Die Zweiten gingen.<br />

Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

V.<br />

Die Sonne war schon beinahe vollkommen untergegangen, als Lyr und Manyr stehenblieben. Sie<br />

waren aus der alten Mine gerannt - Lyr hatte immer noch den Widerhall ihrer schnellen Schritte<br />

durch die feuchten Gänge im Ohr - und immer weiter waren sie gelaufen, bis sie nicht mehr konnten.<br />

Dann waren sie stehengeblieben.<br />

„Und jetzt?“<br />

Manyr setzte sich auf den Boden, bevor er antwortete. „Was jetzt?“<br />

Lyr sog die kühle Abendluft ein, spürte das Pochen in ihrer Lunge. „Was soll jetzt werden?“<br />

„Wieso?“<br />

„Der Dieb hat jetzt zwei Ringe, und du hast gesagt, das darf niemals passieren. Was wird jetzt<br />

geschehen?“<br />

���<br />

Die Molegs waren wieder im Gestein verschwunden. Der Einzelne zündete langsam, mit zitternden<br />

Fingern, die fünfte Kerze an und stellte sie an die Spitze des Sterns zurück. Der Fünfstern begann<br />

hellrot zu glimmen, das Leuchten wurde heller und steigerte sich zu einem beinahe schmerzhaften<br />

Glänzen.<br />

Im fünften Strahl bildete sich ein kleiner, kreisrunder schwarzer Fleck im roten Feuer des Sterns.<br />

Der fünfte Ring fehlte noch. Hier sollte er liegen.<br />

Der Einzelne atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. Dann nahm er den Ring,<br />

betrachtete kurz das billige Metall, aus dem dieses so kostbare Artefakt gemacht war; dann ließ er<br />

seine Hand langsam sinken und legte das Kleinod exakt in den kleinen schwarzen Rund hinein.<br />

Schnell zog er seine Hand zurück; eine Flamme war entstanden in der Mitte des Rings, jetzt sprangen<br />

die flackernden Lichter auch aus den vier anderen Ringen in die Luft, breiteten sich über den Stern<br />

aus und bildeten ein Meer aus rotem Feuer.<br />

Der Einzelne murmelte schnell einige Silben, um die neugeborene und doch uralte Macht auf ihn<br />

selbst zu fokussieren.<br />

In der Mitte des Fünfsterns richtete sich eine große Flammensäule auf, begann sich zu drehen<br />

und dabei noch weiter zu wachsen. Immer schneller rotierte sie. Der Einzelne hielt den Atem an. Die<br />

wachsende rote Säule erreichte die Decke der Höhle. Die Wände der Mine zitterten. Der Einzelne<br />

wartete. Das Feuer loderte noch einmal auf, dann sprang es zur Seite weg und bohrte sich in den<br />

Stein, wo es verlosch.<br />

Überraschung ergriff den Einzelnen; so hatte er es sich nicht vorgestellt. Schnell lief er hinüber zu<br />

der Stelle in der Wand, die noch immer Wärme abstrahlte, und blickte auf die mannshohen,<br />

rotglühenden Buchstaben, die ins Gestein gebrannt standen:<br />

An die hohen Herren des Hohen Triumvirats von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>:<br />

Liebe Hohe Herren,<br />

ich habe ein großes Problem. Ich lebe draußen vor der Stadt und bin Bauer und zahle meine Steuern<br />

als Korn...<br />

���<br />

„Ihr habt nicht richtig zugehört, meine Liebe.“ Jetzt grinste Manyr. „Ich habe nicht gesagt, er<br />

dürfe niemals zwei Ringe besitzen. Es dürfen nur nicht gerade diese beiden sein.“<br />

Er streckte eine Hand aus und reichte ihr ihren Erbring, den sie mit Verwunderung annahm.<br />

„Was hast du ihm gegeben?“<br />

„Einen meiner eigenen Ringe. Einen, den ich nicht so dringend brauche.“<br />

���


Vogelfreiheit - Stephan Packard<br />

Zwei Tage vergingen, und der Schreiber hatte sein zeitweilig unterbrochenes Geschäft wieder<br />

aufgenommen.<br />

„Ich wollte schon vorgestern kommen, aber ich fand Eure Türe verschlossen.“ sagte Bauer Gunther.<br />

„Ja, ich weiß. Ich war ein wenig erkältet. Hatte wohl ein paar Schwierigkeiten mit der herbstlichen<br />

Kälte.“ Er streckte sich kurz. „Das Alter, nicht wahr.“<br />

„Oh, das verstehe ich gut.“ Heute schien der Schreiber etwas geselliger aufgelegt zu sein, und<br />

Gunther verfiel ins Plappern.<br />

„Mein eigener Großvater hat ein ganz ähnliches Problem, auch immer im Herbst. Schon ein paar<br />

Tage, bevor es richtig kalt wird, spürt er so ein Ziehen in der rechten großen Zehe, das heißt,<br />

eigentlich spürt er es das ganze Jahr, aber um diese Zeit kommt es von der Kälte, sagt er-“<br />

„Ja. Ich bin sicher, er hat recht.“ Der Schreiber rückte seine Brille zurecht. „Und was kann ich heute<br />

für euch tun?“<br />

„Oh. Entschuldigung.“ Der Bauer rügte sich selbst für seine Redseligkeit. „Das Triumvirat hat auf<br />

meinen letzten Brief nicht geantwortet, und wo doch schon fast wieder ein halbes Viertel<br />

vergangen ist, habe ich gedacht...“<br />

Während er die erneute Bitte des Bauern auf das Pergament bannte, schweiften Manyrs Gedanken<br />

ungewöhnlich weit ab. Er hatte sich aus dieser Situation befreien können, ohne Magie einzusetzen:<br />

Vielleicht würde er doch der alte, harmlose Schreiber bleiben können, den er so liebte.<br />

Obwohl er sich dieser Liebe inzwischen nicht mehr gar so sicher war. Es machte Spaß, aktiv zu<br />

werden und Handlungen auszulösen oder zumindest zu reagieren, statt immer nur zuzusehen.<br />

Vielleicht sollte er wieder mehr Zeit seinen magischen Studien widmen. Vielleicht brauchte die<br />

Welt ihn ja? In der Akademia hatte man ihn eine andere Philosophie gelehrt, aber wie sagte schon<br />

Isagard der Weißhaarige:<br />

kamen zwei Geister zu mir und sie sprachen, als hätten sie Zungen:<br />

Sei dir nie sicher, denn was du auch siehst, es ist nur ein Abbild,<br />

Abglanz der Welten; die Wahrheit hat viel mehr Gesichter. Ihr Perger Faßt eure Zauber in Formeln, in<br />

Silben der Macht, doch sonstwo Wirken die Menschen Magie noch viel freier, mit ebenso großer<br />

Macht und Gewalt. Woher willst du wissen, daß deine Augen Richtig sehen, daß deine Bilder alleine<br />

nur wahr sind?<br />

Vielleicht sollte er ein paar Experimente in Richtung freier Magie wagen. Vielleicht. Aber nicht<br />

heute; morgen vielleicht. Wer wußte das jetzt schon zu sagen?


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Wiedersehen<br />

Vanessa Niederkinkhaus<br />

Es war noch kälter geworden - und dunkler, da kein einziger Lichtstrahl durch die dicke Wolkendecke<br />

zu dringen vermochte, um das verschneite Land zu erwärmen. Der Sturm, welcher schon seit Stunden<br />

über das Land hinwegfegte und das ganze Land in Unruhe versetzte, hatte etwas nachgelassen, die<br />

Temperatur war dafür noch um einige Grad gesunken. Das monotone Weiß, das in dieser vom Winter<br />

befallenen Welt vorherrschte, wurde nur von einem einzigen kleinen Berg unterbrochen, der gerade<br />

hoch genug war, um nicht von der dicken Schneedecke gänzlich bedeckt zu werden. Niemand hätte in<br />

dieser Kälte ohne Schutz überleben können und doch konnte man noch schwach eine Spur im Schnee<br />

entdecken, die erst einige Minuten alt sein konnte, da sie sonst schon wieder vom Neuschnee bedeckt<br />

gewesen wäre. Nur ein Verrückter würde sich zu dieser Zeit hier aufhalten und doch mußte dies<br />

geschehen sein, denn es war eindeutig eine menschliche Spur. Ein Beobachter hätte erkannt, daß die<br />

Spur von zwei zweibeinigen Wesen stammen mußte, doch konnte man nirgendwo die dazu gehörigen<br />

Personen entdecken. Plötzlich zerriß ein gellender Schrei die Stille der Eiswüste; ein Schrei der nur<br />

von jemanden in höchster Todesangst stammen konnte, doch niemand schien sich dafür zu<br />

interessieren, da sofort wieder die gespenstische Stille der Einöde vorherrschte, die nur gelegentlich<br />

von dem Heulen des Windes unterbrochen wurde. Nichts geschah und langsam wurde es immer<br />

dunkler. Bald würde nur noch der Schnee, welcher die schwachen Strahlen der Monde reflektierte,<br />

das Land erhellen. Als es völlig dunkel geworden war, erhellte sich ein Teil des Berges wie von<br />

Geisterhand. Dieses Licht war nicht beständig, sondern flackerte und lies riesige Schatten auf die<br />

schwach erhellte Schneedecke fallen, die an grausame Wesen der Unterwelt erinnerten. Als die<br />

Morgendämmerung einsetzte war der Berg wieder so dunkel und normal, wie er es auch am<br />

vorherigen Tag gewesen war. Die Wolkendecke war aufgerissen und vereinzelte Sonnenstrahlen<br />

bestrahlten das Land mit ihrer wohltuenden Wärme. Das Land schien von sich aus zu strahlen, da der<br />

Schnee die Lichtstrahlen reflektierte und so heller den je strahlte. Es war zur Mittagszeit, als sich<br />

plötzlich eine kleine, schwarze Gestalt vom Umland abhob. Sie rannte in Richtung Süden und schien<br />

in großer Eile zu sein, denn trotz der schweren Kleidung die sie trug bewegte sie sich sehr schnell<br />

vorwärts. Nach zwei-drei Stunden wurde die Gestalt immer langsamer und stolperte häufiger, wobei<br />

sie immer mehr Schwierigkeiten hatte wieder aufzustehen. Langsam kam der Sturm zurück. Für die<br />

Gestalt gab es keine Rettung, denn nirgendwo konnte sie Schutz vor dem Unwetter finden und so<br />

wurde sie von den Windböen wie ein leichtes Blatt herumgewirbelt. Nach einer halben Stunde ließ<br />

der Wind von ihr ab, und sie fiel einige Meter auf den Boden, wobei sie in grotesker Haltung<br />

regungslos liegenblieb. Einige Zeit später war die Leiche gänzlich vom Schnee bedeckt und keine<br />

Spur war von ihr übriggeblieben...<br />

Mek Liones wanderte fluchend auf den kleinen Berg zu, wo er sich mit einem alten „Freund“ aus dem<br />

Süden treffen wollte. Die Sonne schien und der Schnee begann bereits zu schmelzen, so daß seine<br />

Stiefel wasserdurchtränkt waren.<br />

„Wie konnte ich mich nur darauf einlassen? Warum ist diese verfluchte Egoistin nicht selbst hierhin<br />

gestiefelt, um sich mit diesem Halunken zu treffen? Aber nein,’ Mek mach du das mein Liebling, du<br />

kennst dich besser dort draußen aus, schließlich kenne ich noch nicht einmal die Mauern der Stadt<br />

von außen’, OK, hab ich gesagt, schließlich ist sie ja ´ne Frau und sieht dazu noch einmalig aus. Sie<br />

hat mich mal wieder mit ihrem treuen Hundeblick rumgekriegt. Da will man sich dann als ehrenwerter<br />

Kavalier aufspielen und erklärt sich dazu bereit hierhin zu latschen und ich denke auch noch ihr damit<br />

einen großen Gefallen zu leisten, obwohl ich mir denken kann, daß dieses Miststück nur keine Lust<br />

hatte einmal die Stadt zu verlassen. Sie wußte ganz genau welch ein Wetter wir haben. Na ja, was tut<br />

man nicht alles für eine Frau, obwohl sie gar keine sein will.“<br />

So und in ähnlicher weise vor sich hinfluchend bemerkte Mek plötzlich einen dunklen Fleck in der<br />

weißen Schneedecke. Eigentlich nichts ungewöhnliches in dem tauenden Schnee, doch hatte dieser<br />

Fleck eine verdammte Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen. Als Mek Liones ganz nah war,<br />

erkannte er einen toten Mann, der dank der Eisschicht, die über ihm lag noch gut erhalten war. Da<br />

Mek schon seit seiner Geburt in dem Rattenloch <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s gelebt hatte, besaß er keinerlei Angst<br />

mehr vor einem Toten, schließlich hatte er selbst einigen Bürgern der Stadt zu einem frühzeitigen Tod<br />

verholfen. Ihn interessierte nicht der Mensch sondern seine Kleidung in der sich vielleicht einige<br />

Wertgegenstände aufhalten könnten. Mek durchsuchte zuerst die Jacke des Toten, konnte jedoch


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

nichts finden, was von finanziellen Wert war, worauf er sich der Hose der Leiche zuwendete, dort<br />

jedoch ebenfalls nichts wertvolles finden konnte, bis auf ein Lederbündel, welches er auch sofort<br />

öffnete. In dem Bündel war ein Brief versteckt, dessen Inhalt Mek sehr in Aufregung versetzte.<br />

Nontariell, 165 n.G.<br />

An den ehrenwerten Hinozius Elba, Trimvirat, <strong>Elek</strong>-Matnow Ehrenwerter Herr, Eure Nachricht hat<br />

mich zuerst erstaunt, da ich seit der Flucht meiner Familie aus der Stadt, die durch ihre Hilfe<br />

geschah, nichts mehr von ihnen vernommen hatte, auch als mein Vater starb, und ich ihnen auf Grund<br />

dessen eine Nachricht zukommen ließ. Es erfreut mich, daß sie uns, meine geliebte Mutter, sowie<br />

meinen jüngeren Bruder und meine beiden Schwestern, nicht vergessen haben. Ich möchte ihnen<br />

nochmals für ihre aufopfernde Hilfe danken, die uns damals ermöglichte vor dem grausamen<br />

Beschluß des damaligen Triumvirats die Heimat meiner Mutter zu fliehen. Ihre Bitte nun folge zu<br />

leisten, die besagt, daß ich so schnell wie mir nur möglich nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> zurückzukehren und<br />

ihnen dort einen Gefallen zu erweisen solle, fällt mir zwar schwer, doch erkläre ich ihnen in diesem<br />

Brief, daß ich spätestens im Monat Hamilé eintreffen werde, da ein früheres Eintreffen durch das<br />

Wetter, sowie von privaten Problemen beeinträchtigt wird. Ich habe ihrer Vermutung, daß ein Kurier<br />

verfolgt werden könnte beachtet. Der Kurier kennt nur Bestimmungsort des Briefes. Er ist<br />

ausreichend bewaffnet und ist zusätzlich sehr verschwiegen, ferner besitzt er mein vollstes Vertrauen.<br />

Hochachtungsvoll,<br />

Ale Lieor,<br />

Adlabina, Seelenruh.<br />

Mek Liones kannte den Namen Hinozius Elba sehr gut, denn dieser hatte ihm schon viele Probleme<br />

bereitet. Er war erst vor kurzem zum Triumvirat erwählt worden und doch war er bekannter als seine<br />

zwei Bundesgenossen. Im Untergrund wurde oft von einer Revolte gegen die anderen Mitglieder des<br />

Rates gesprochen. Mek und seine Freundin Kimber waren auch schon oft angesprochen worden, ob<br />

sie dabei nicht mitwirken wollten, doch hatten sie entschieden abgelehnt, da die Bezahlung zu niedrig<br />

war. Den Namen Ale Lieor hatte er noch nie zuvor gehört und auch der Ort Adlabina war ihm<br />

Unbekannt. Den Staat Seelenruh kannte er vom Hörensagen, schließlich wußte jeder, daß sich dort die<br />

Rekschat aufhielten. Aus dem Inhalt ging hervor, daß dieser Lieor früher einmal in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

gelebt haben muß, nun aber in Seelenruh lebte. Ohne es bewußt zu merken war er weitergegangen<br />

und stand nun am Fuße des kleinen Berges auf dem er den Südländer treffen wollte. Oben<br />

angekommen sah er den verwilderten Mann an einem mickrigen Feuer sitzen auf einen Punkt starren,<br />

den Mek Liones nicht erkennen konnte, da er durch einen Felsen verdeckt war.<br />

„Sei gegrüßt du Halunke“, rief Mek, „was starrst du so vor dich hin zeig mir lieber ein fröhliches<br />

Lächeln, wenn du mich siehst, schließlich schickt mich Kim-Lo mit guten Nachrichten für dich.“<br />

Wortlos zeigte der Fremde in die Richtung in die er die ganze Zeit über geschaut hatte.<br />

Mek folgte seinem ausgestrecktem Arm, was ihm nun möglich war, da er einige Schritt näher<br />

gekommen war. Was er sah versetzte ihn in Erstaunen.<br />

„Noch so einer“, entfuhr es ihm, „Hier muß ja irgendwo ein Nest von denen sein. Hast du ihn schon<br />

durchsucht?“<br />

„Du bist wohl verrückt, ich fasse so einen nicht mal mit den allerdicksten Lederhandschuhen an. Wie<br />

kannst mich so etwas nur fragen?“<br />

„Pure Gewohnheit, und Neugier dazu, denn vor keiner Stunde habe ich noch so einen gefunden, sah<br />

jedoch etwas frischer aus als dieser hier, muß wohl an dem Eis liegen, welches hier ja nicht liegt.“<br />

Der Gegenstand um den es sich bei dieser makaberen Unterhaltung drehte war ein Mann, und zwar<br />

ein Toter, dessen Ende schon ein bis zwei Monate zurückliegen mußte, da die Verwesung schon stark<br />

eingetreten war. Mek wunderte sich, daß der anscheinend feige Südländer hier sitzengeblieben war,<br />

denn der Gestank den die Leiche aussandte war schier unerträglich. Er schien komischerweise nur<br />

einen kleinen Radius einzunehmen, da er bei seiner Ankunft nichts gerochen hatte. Vielleicht lag es<br />

auch nur daran, daß es im Rattenloch überall so stank.<br />

Mek näherte sich der Leiche und begann ihre Taschen zu durchsuchen. Diesmal fand er einen<br />

prallgefüllten Geldbeutel die seine 10 Goldsonnen enthalten mußte, dazu entdeckte er noch eine<br />

Nachricht:


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Befehl an alle treu Untergebenen!<br />

Jeder der diese Nachricht liest, wird umgehend aufgefordert, den Kurier Hinozius Elbas sofort zu<br />

eliminieren und die Nachricht, die jener überbringt zu vernichten!<br />

Gezeichnet<br />

Randor Pelis<br />

Auch dieser Name war Mek Liones gut bekannt. Pelis war einer der Kandidaten für eine Richteramt<br />

und würde somit dem Triumvirat angehören. Anscheinend waren ihm die Machenschaften Elbas<br />

bekannt, da er dessen Kurier töten lassen wollte, was ja auch geschehen war, ob mit oder ohne Hilfe,<br />

des Besitzers dieser Nachricht ist noch unbekannt. Doch schien dieser Mann hier eher gestorben zu<br />

sein, da der andere näher an <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> gestorben war als dieser hier. Nach nähere Untersuchung<br />

entdeckte er eine Schnittwunde am Rücken des Getreuen Pelis. Nachdem Mek dieses alles<br />

wahrgenommen hatte, wendete er sich wieder dem Südländer zu der indessen neugierig zugeschaut<br />

hatte. „Eins würde mich noch interessieren, „fragte Mek den Anderen, „warum bist du hier geblieben<br />

und hast dich nicht woanders breitgemacht, schließlich ist es nicht jedermanns Sache bei diesem<br />

Gestank hier zu bleiben?“<br />

„Na ja, hier ist der einzige Platz wo man ein Feuer entfachen kann und mir ist ziemlich kalt. Ich bin<br />

das kalte Wetter des Nordens nicht gewohnt. Auch hat mich interessiert, was du mit der Leich<br />

anfangen würdest.“<br />

„Also gut, jetzt laß uns aber mit dem Geschäftlichen anfangen, ich will so schnell wie möglich wieder<br />

in die Stadt zurück.“ Und zu Kimber, fügte er im Gedanken hinzu.<br />

„Erst zeig mir einmal die Bezahlung alter Halunke“ ,forderte er den Südländer auf.<br />

Dieser zeigte ihm einen etwa Daumennagelgroßen Rubin, den Mek nach eingehender Überprüfung als<br />

echt beurteilte.<br />

„Und nun die Information. Kim-Lo hat mir ein paar sehr interessante Dinge erzählt, die dich brennend<br />

interessieren müßten.“ „Fang endlich an“, forderte der andere ihn ungeduldig auf. Er wollte nicht<br />

länger als unbedingt nötig in diesem kalten Land bleiben, sondern so schnell wie möglich zu seinem<br />

Herrn zurückkehren. Mek Liones begann zu erzählen und nachdem er geendet hatte und seinen Lohn<br />

erhalten hatte, verabschiedete er sich und machte sich dann auf den Weg nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, um<br />

Kimber Loor den Brief des Toten zukommen zu lassen. Natürlich nicht umsonst versteht sich. Bei<br />

diesem Gedanken umspielte ein schelmisches Lachen die Lippen Mek Liones, denn er sah sich schon<br />

mit der Schönheit von einer Frau in seinem großen Bett liegen, eng umschlungen versteht sich.<br />

Es brannte noch licht in dem kleinen Zimmer. An einem alten, kleinen Tisch saß eine Frau tief in ihre<br />

Arbeit versunken. Ihre langen, feuerroten Haare hingen ihr wirr um den Kopf und wenn sie ab und zu<br />

zur Tür hinüberblickte, konnte man ihre geröteten Augen sehen, die Zeuge einer menschlichen<br />

Schwäche waren. In diesem Zustand konnte man denken ein junges Mädchen vor sich zu haben, doch<br />

lebte diese aufregende Frau schon an die 27 Jahre. Kimber Loor war wieder von einem ihrer Träume<br />

heimgesucht worden, als sie völlig übermüdet am Tisch eingeschlafen war. Sie hatte diesen Traum<br />

schon oft erlebt und teilweise entsprach er auch der Wahrheit - einer lang entfernten Wahrheit...<br />

Eine alte Frau kam auf sie zu, ihre traurigen Augen schauten das kleine Mädchen an, welches kaum<br />

drei Jahre zählte. Sie schloß Kimber in die Arme und flüsterte ihr tröstende Worte zu. Doch das<br />

Mädchen hörte sie nicht, sie sah nur die grausam verstümmelten Menschen am Boden ihrer Hütte<br />

liegen. Diesen Menschen waren mal ihre Familie gewesen. Ihre Mutter, ihr über alles geliebter Vater,<br />

ihre Brüder und ihre Schwestern, keiner war noch am Leben, nur sie, die jüngste der Familie.<br />

Langsam erkannte sie einen Sinn in den Worten der alten Ärztin. Sie erklärte ihr, daß ihre Familie<br />

einer Seuche zum Opfer gefallen war, einer unheilbaren Krankheit. Irgendwie kamen ihr die Personen<br />

anders vor, sie sahen nicht so aus, wie sie noch vor ein paar Tagen ausgesehen haben. Der Körper der<br />

ihre Mutter zu sein schien war dicker als sonst, ihr Vater wirkte verkrüppelt, obwohl er doch immer so<br />

stark gewesen war, ihre Brüder und Schwestern hatten andere Figuren als sonst. Die Alte zog sie sanft<br />

aus der Nähe des Hauses. Fremde Männer häuften Zweige aufeinander, dann legten sie die Körper<br />

ihrer Familie darauf. Ein Mann mit einem häßlichen Gesicht kam auf sie zu und erklärte der Frau<br />

irgend etwas. Kimber starrte nur wie gebannt auf ihrer Verwandten. Die einzigen Menschen, die sie<br />

kannte und liebte. Plötzlich stachen Flammen aus den Zweigen und ergriffen den Körper ihres<br />

ältesten Bruders. „Nein, nein“, hatte sie geschrien mit ihrer kindlichen Stimme, „laßt ihn, ihr tut ihm


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

doch weh!“ Sie war auf den Scheiterhaufen zugerannt, hatte ihren Bruder in den Arm schließen<br />

wollen, doch kräftige Hände zogen sie wieder hinfort.<br />

„Laßt mich zu ihnen, tut ihnen doch nicht weh!!“, hatte sie gefleht, doch niemand hörte auf die Worte<br />

eines kleinen Mädchens. Sie biß einem Mann in die Hand, die sie festhielt und dieser ließ sie mit<br />

einem Schmerzensschrei los. So schnell wie ihre kurzen Beine sie trugen, rannte sie weinend auf das<br />

Feuer zu, doch nirgendwo war ihre Familie. Plötzlich stand ein großer Mann vor ihr, er schrie sie an,<br />

und als sie nicht hörte schlug er sie nieder. Ein dreijähriges Mädchen. Danach sah sie nur noch<br />

schreckliche Monster, die ihre Eltern verspeisten und andere von häßlichen Wunden und Eiterbeulen<br />

verunstaltete Gestalten, die sie fangen wollten. Dazwischen sah sie immer wieder den Mann der sie<br />

niedergeschlagen hatte. Kimber lief, floh vor diesen Monstern, doch sie war zu klein, die<br />

schrecklichen Gestalten kamen immer näher und manche berührten sie schon. Kimber fing an zu<br />

schreien... Schnell wischte Kimber sich die Tränen aus dem Gesicht, doch ganz konnte sie die<br />

Beweise ihrer menschlichen Schwäche nicht auslöschen. Schritte wurden außerhalb der<br />

altersschwachen Hütte hörbar und wenig später trat ein ziemlich durchnäßter Mann ein. Dieser hatte<br />

dunkelbraune Haare, Rehbraune Augen und ein sehr attraktives Gesicht. Er schien nicht älter als<br />

Kimber zu sein, und eine Narbe, die sich von dem linken Ohr zur Wange führte, zeugte von langer<br />

Kampferfahrung. Über seiner braungebrannten Haut trug er eine dreckige, dunkelrote Lederhose und<br />

ein schmutziges, gelbes Hemd, welches teilweise von einer braunen Lederweste verdeckt war.<br />

Schwere, schwarze Lederstiefel vollendeten die Kleidung des Mannes. In seinem Gürtel steckte ein<br />

schwerer Dolch, sowie die Scheide eines Kurzschwertes. Seine grasgrüne Jacke hatte er an einem<br />

Haken an der Tür aufgehängt. Kimber hoffte, daß Mek Liones nicht erkennen würde, daß sie geweint<br />

hatte, doch erkannte sie schon an dessen nächster Bemerkung, das sie falsch gehofft hatte.<br />

„Du scheinst mal wieder einen deiner Alpträume gehabt zu haben mein süßer Liebling?“, sagte er.<br />

„Muß wohl so gewesen sein, Schatz, doch glaube ich das du mir weitaus wichtigeres zu erzählen hast,<br />

wie ich an deinen funkelnden Augen erkennen kann“, erwiderte sie ungetroffen.<br />

„Stimmt genau. Setzt dich, ach, du sitzt schon, gut, halt dich fest ich habe dir viel zu erzählen...“<br />

Mek erzählte ihr alles, was er erlebt hatte, seitdem er sie verlassen hatte, verschwieg jedoch den<br />

Gelbbeutel der zweiten Leiche, da er Kimber gut genug kannte, um zu wissen, daß sie das Geld sofort<br />

fordern würde.<br />

„Von Elba habe ich schon gehört, Pelis kenne ich auch, doch dieser Ale Lieor ist mir vollkommen<br />

unbekannt. Nie von ihm gehört. Uns sollte das aber wenig interessieren, schließlich haben wir<br />

herzlich wenig mit dem Triumvirat zu tuen. Versuchen wir lieber den Rubin zu gutem Geld zu<br />

machen. Angelegenheiten anderer langeweilen mich, obwohl mich schon interessieren würde, wer<br />

dieser Lieor ist, jedenfalls ein Rekschat sonst würde er nicht in Seelenruh leben.“<br />

Damit war ihre Unterhaltung beendet. Kimber stand auf und umarmte Mek Liones sanft. Sie küßten<br />

sich stürmisch und zogen sich gegenseitig die Kleidung aus. Nachdem sie völlig nackt waren, nahm<br />

Mek Kimber auf die Arme und trug sie zum Bett, wo sie sich liebten und dann engumschlungen<br />

einschliefen. Froh sich gegenseitig zu haben.<br />

���<br />

Dunkel, alles war dunkel, kein Lichtschein vermochte die Dunkelheit zu zerstören Kälte - tödliche<br />

Kälte, die langsam kam und dann unbarmherzig tötete. Dieser Mann, er hatte kalte, schwarze Augen,<br />

Augen die schon oft den Tot gesehen hatte. Sie saß in einem Keller, es war dunkel - und kalt.<br />

Niemand liebte sie, gab ihr wärme, nur dieser Mann, dieses Monster von einem Menschen, besuchte<br />

sie, vergewaltigte sie, fügte ihr Schmerzen zu, und sie konnte sich nicht wehren, konnte nichts<br />

dagegen anstellen, sie war ja erst zehn. Danach gab er ihr Essen. Eine eklige Brühe, die für einen<br />

Hund zu schlecht gewesen wäre, doch für sie war sie gut genug. Er wollte, daß sie auf die Straße<br />

hinaus ging und sich verkaufte. Andere Männer sollten ihrer perversen Dinge mit ihr treiben, damit er<br />

Geld bekam. Das hatte er ihr oft genug erzählt. Sie haßte ihn, denn er hielt sie schon seit über einem<br />

Jahr hier gefangen und während dieser Zeit hatte er sie nur schlecht behandelt. Die Wut überkam sie,<br />

sie nahm das Messer, welches sie zum Essen benutzt und stieß es ihm ins Herz. Der Mann gab nur ein<br />

kurzes Röcheln von sich, dann viel er um und bewegte sich nicht mehr. ICH HABE IHN<br />

UMGEBRACHT!! Durchfuhr es das Mädchen. Erschrocken rannte sie hinaus, hinaus in die Freiheit,<br />

wie sie dachte, weg von ihrer Tat, weg von dem Menschen den sie gehaßt hatte. Sie lief und lief,


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

durch die Straßen der Stadt, alles war unbekannt, doch sie lief, lief immer weiter bis sie vor<br />

Erschöpfung umkippte...<br />

Schreiend erwachte Kimber von ihrem Alptraum. Sie zitterte am ganzen Leibe und war über und über<br />

mit Schweiß bedeckt. Neben ihr war Mek erwacht und versuchte sie an sich heranzuziehen, um sie<br />

seine Wärme spüren zu lassen, doch sie wehrte ab. Immer noch von dem Ekel erfaßt der der Traum<br />

wieder in ihr erweckt hatte.<br />

„Hast du wieder das gleiche geträumt?“, wollte er wissen. „Komm her, du mußt vergessen was damals<br />

geschah.“<br />

Ärgerlich schlug Kimber die Hand ihres Freundes weg. „Laß mich, niemand kann mir helfen“, entfuhr<br />

es ihr zornig. Sie stand auf, kleidete sich rasch an und begab sich zur Tür. „Ich muß allein sein“, rief<br />

sie im noch zu und verschwand aus dem Lichtschein der noch brennenden Kerze. Stumm den Kopf<br />

schüttelnd löschte Mek Liones das Kerzenlicht und legte sich dann wieder hin um zu schlafen. Angst<br />

brauchte er nicht um sie zu haben, schließlich war sie Kimber Loor und nicht ein anderes ängstliches<br />

Weib.<br />

���<br />

Verwirrt rannte sie durch die Straßen des Rattenloches. Niemand kann mir helfen hallten die Worte in<br />

ihr nach - und doch, er hatte ihr schon geholfen mehr als er dachte. Erinnerungen kamen in ihr hoch,<br />

Erinnerungen, die sie ihr Leben lang versucht hatte zu verdrängen.<br />

NIEMAND KANN MIR HELFEN, NIEMAND!!!<br />

Sie mußte allein damit fertig werden. Mit den schlimmen Ereignissen ihrer Vergangenheit. Mit dem<br />

plötzlichen und schrecklichen Tod ihrer Familie und mit den Ereignissen während ihrer<br />

Gefangenschaft bei dem Mann, der sie vergewaltigt und gedemütigt hatte. Doch seine Taten waren<br />

gerächt. Sie hatte ihn ermordet, erstochen und somit einen grausamen Wesen von der Welt der<br />

Lebenden verbannt. Ihre Kleidung war völlig durchnäßt von ihrem Schweiß und immer öfter begann<br />

sie vor Erschöpfung zu taumeln. Kimber rannte blind durch die Straßen, vor ihren Augen sah sie<br />

Bilder aus der Vergangenheit, Bilder die sie verfolgten, sie erschreckten und sie in blinder<br />

Verzweiflung durch die Gassen der Stadt taumeln ließen. In ihrer Blindheit übersah sie eine vereiste<br />

Stelle der Straße, rutschte aus und schlug mit dem Hinterkopf hart auf den Pflaster. Dann verlor sie<br />

das Bewußtsein.<br />

���<br />

Der Morgen begann schon zu grauen als eine junge Frau die Gasse hinunterging. Ihre bis Taille<br />

reichenden, rotbraunen Locken hingen ungebunden herab und ihre grünen Augen zeugten von viel zu<br />

wenig Schlaf. Sarjana war für einen Krankenbesuch in der Oberstadt gewesen und dieser hatte sie bis<br />

zu den frühen Morgenstunden davon abgehalten, endlich wieder ein paar Stunden Schlaf zu finden.<br />

Sie vermißte ihre warme, behagliche Hütte, sowie ihre Katze Sehschijah. Als Sarjana um eine Ecke<br />

bog, stutze sie, da sie einen regungslosen Körper auf der Straße liegen sah. Eigentlich nichts<br />

ungewöhnliches in diesem Teil der Stadt, doch war sie viel zu sehr Heilerin, als das sie hätte einfach<br />

weitergehen können. Sie näherte sich der Gestalt der Gestalt, um zu sehen ob noch etwas Leben in ihr<br />

war. Geschockt trat sie einige Schritte zurück, als sie erkannte, daß eine Frau auf der Straße lag.<br />

Lange, rote Haare umrundeten ein zartes, weißes Gesicht, das schmerzlich verzehrt war, auch<br />

bemerkte die Heilerin, daß die junge Frau am Hinterkopf verletzt zu sein schien, da der Schein ihrer<br />

Lampe eine noch relativ frische Blutlache beschien. Gerade als Sarjana sich anschicken wollte, der<br />

Verletzten den Puls zu messen, um festzustellen, ob sie noch lebte, gab diese ein schmerzliche<br />

Stöhnen von sich. Dann schlug sie die Auge auf. Rabenschwarze Augen, die im Licht der Lampe<br />

flackerten und die Heilerin wiederum einen Schritt zurücktreten ließen. Irgendwie erinnerten sie diese<br />

großen, geheimnisvollen Augen an etwas, doch konnte sie sich beim besten Willen nicht daran<br />

erinnern, wo sie solche Augen schon jemals gesehen hatte.<br />

„Komm her mein Mädchen“, flüsterte sie der Verwundeten zu. „Ich werde dir helfen. Doch zuvor<br />

mußt du mir helfen, da ich dich beim besten Willen nicht ohne deine Hilfe zu mir bringen kann.“<br />

Kimber gab ein schwaches Kopfnicken von sich, dann versuchte sie sich mit Hilfe der Heilerin<br />

aufzurichten.


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Mit Mühe und Not erreichten sie Sarjanas Heim und dort bettete diese Kimber auf eine weiche<br />

Unterlage.<br />

„So, nun muß ich mir ersteinmal deine Wunde ansehen bevor wir weiterschaun“, erklärte sie Kimber<br />

liebevoll. Sie schien nicht zu bemerken, daß sie eine älter Frau als sich selber vor sich hatte. Kimber<br />

gab keinen Laut von sich, als die Heilerin ihre Kopfwunde nähte, was Sarjana sehr verwunderte, da<br />

sie sonst nur wehleidige Frauen und Mädchen behandelte, die trotz ihrer Magie wimmerten und<br />

weinten.<br />

„Ich danke dir“, erklärte Kimber als Sarjana mit ihrer Arbeit fertig war. „Ohne dich wäre ich<br />

vielleicht nicht mehr am Leben. Du kennst ja diese Stadt, Sarjana, wenn ich mich nicht irre.“ „Ach, da<br />

ist nichts zu danken, ich helfe gerne und wo ich kann. Vielleicht könntest du mir aber erklären, wie<br />

du auf offener Straße plötzlich fallen kannst, denn anders kann ich mir diese Wunde nicht erklären,“<br />

erwiderte die Helferin. „Am besten fängst du damit an, daß du mir deinen Namen verrät´s.“<br />

Kimber sah ein, daß sie diese Frau nicht belügen konnte, schließlich reagierte diese nicht auf die<br />

Reize, die einen Mann dazu veranlaßt hätten ihr alles zu glauben.<br />

„Ich nenne mich Kimber Loor. Ich bin auf dem Eis ausgerutscht, als ich durch die Straßen gerannt<br />

bin, dabei hatte ich nichts gesehen und so ist es dann passiert.“ Kimber hatte das Gefühl, das sie<br />

dieser Frau alles erzählen konnte und so zögerte sie auch nur ganz kurz als sie anfing den Grund ihrer<br />

Blindheit zu erklären, indem sie der Heilerin von ihren zwei Alpträumen erzählte...<br />

Sarjana hörte der Geschichte gebannt zu, und als die Erzählerin die alte Frau und das Schicksal der<br />

Familie Kimbers berichtete, viel es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich, daher kannte sie<br />

diese Augen. Augen die einen hypnotisieren könnten, würde diese Gabe richtig ausgenutzt werden.<br />

Sie erinnerte sich auf einmal an eine der Geschichten, die ihre Großmutter ihr früher oft erzählt hatte.<br />

Sie wollte ihre Ahnung bestätigt wissen. „Hattest du damals einen anderen Namen, Kimber, den du<br />

nur heute geändert hast?“ „Ich könnte mich nicht daran erinnern“, antwortete Kimber, verwundert<br />

über diese merkwürdige Frage. „Solange ich denken kann, besitze ich diesen Namen. Warum?“<br />

„Du mußt wissen, daß meine Großmutter mir einmal, von so einer Geschichte erzählt hatte. Damals<br />

war sie von einem ehemaligen Triumvirat gebeten worden, diesem und seiner zu helfen. Wie dies<br />

genau geschah, weiß selbst ich nicht, doch mußte ein Familienmitglied zurück bleiben, damit die<br />

Flucht getarnt werden könnte. Zuerst hat sich meine Großmutter um die jüngste der Familie<br />

gekümmert. Sie hat oft davon erzählt, daß dieses kleine kaum vierjährige Mädchen wundervolle,<br />

große, schwarze Augen besaß und meine Großmutter sich manchmal regelrecht vor diesen gefürchtet<br />

hat, denn in diesen loderte ein Feuer, wie sie es nur bei alten und erfahrenen Menschen, die nach<br />

Rache sühnten, entdeckt hatte. Die Beschreibung dieser Augen paßt genau auf dich, Kimber auch ist<br />

die Farbe deiner Haare gleich und da du eine ähnliche Geschichte zu berichten hast wie meine<br />

Großmutter, so muß ein gewisser Zusammenhang da sein. Doch eins macht mich stutzig. Der Name<br />

des ehemaligen Trimuvirats war da Lior und nicht Loor, was aber durch deine Jungend von damals<br />

erklärbar ist.“<br />

DA LIOR!!!<br />

LIOR!<br />

War das nicht der Name der auf dem Brief an Hinozius Elba gestanden hatte. Nein, das ist unmöglich.<br />

Erstens war meine Familie keine Rekschat und zweitens ist sie tot. Tot. Oder doch nicht. Sollte der<br />

Tod meiner Familie nur Täuschung gewesen sein? Doch warum sollten sie mich zurückgelassen<br />

haben. Ihre jüngste Tochter? „Nein, nein das ist unmöglich“, brachte sie schließlich kopfschüttelnd<br />

heraus. „Meine Familie ist tot. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.“<br />

„Nun gut“, erwiderte Sarjana,“ das mußt du wissen. Ich habe dir alles darüber erzählt, was ich weiß.<br />

Vielleicht habe ich mich auch getäuscht, doch die Augen dieses kleinen Mädchens habe ich mir<br />

immer so vorgestellt, wie du sie hast.“<br />

„Ich muß nun gehen“, erklärte Kimber, dann griff sie in ihre Tasche zog einige Bronzesonnen hervor,<br />

die sie zur Zeit als einziges Geld mit sich führte und verschwand, ehe Sarjana dieses abweisen konnte,<br />

durch die Tür.<br />

„Eine merkwürdige Frau, Sehschijah“, sagte die Heilerin, als sie wieder allein war.“ Sie hat gelitten,<br />

und kann die Wahrheit nicht erkennen. Doch sie ist die kleine da Lior - und diese Augen...“<br />

���


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Das Gasthaus ‘Totenkopf’ war mit Menschen überfüllt. Den Lärm, den diese Masse veranstaltet<br />

konnte man noch hundert Sprünge entfernt gut hören. Überall saßen und standen Männer, hatten ein<br />

Glas Bier oder anderes in der Hand, lachten und trieben Scherze. Manche erzählten einer Gruppe ihre<br />

angeblichen Heldentaten, andere vergnügten sich mit den zahlreichen Huren, die zu dieser Zeit ein<br />

gutes Geschäft witterten. Niemand schien die einsame Gestalt zu beachten, die still in einer Ecke saß.<br />

Ein flüchtiger Beobachter hätte meinen können, daß diese, in einen langen, schwarzen Mantel<br />

gehüllte Person, schlief, denn man konnte das Gesicht nicht erkennen, da eine Kapuze dieses<br />

verhüllte.<br />

Plötzlich flog die Tür auf und ein Mann trat herein. Kaum merklich hob die schwarze Gestalt den<br />

Kopf, um zu sehen wer eingetreten war. Der Mann hatte kurzgeschnittene, schwarze Haare, war<br />

braungebrannt und hatte ein feines, von einigen Fältchen durchzogenes Gesicht. Seine schmale Nase,<br />

wirkte direkt klein im Vergleich zu den großen Augen, dessen Farbe auf diese Entfernung nicht<br />

erkennbar war. Der Fremde schritt, die neugierigen und abschätzenden Blicke, der Gäste nicht<br />

beachten, durch den Raum zum Wirt, dann setzte er sich an einen bereits überfüllten Tisch und nahm<br />

dort ein bescheidenes Mahl zu sich. Die schwarze Gestalt beobachtete ihn genau, denn sie<br />

schnupperte ein Geschäft. Doch bevor sie sich ihm vorstellen konnte, schlug die Tür abermals auf und<br />

eine weitere Gestalt trat ein, die dem heimlichen Beobachter gut bekannt war.<br />

Der Neueingetretene schaute sich kurz um, dann schritt auch er auf den Wirt zu, um sich ein kühles<br />

Bier zu bestellen. Danach setzte sich auch dieser an einen Tisch. Ob es Zufall war, daß der andere<br />

Fremde am gleichen saß oder nicht wußte man nicht.<br />

Und abermals flog die Tür auf, diesmal war es eine stark verhüllte Gestalt, die sofort zielbewußt auf<br />

den Fremden zuschritt und sich neben diese setzte.<br />

Nun erhob sich die schwarze Gestalt, die davor mit immer größer werdender Neugier in ihrer Ecke<br />

gesessen hatte und versuchte sich unauffällig einen Platz in Hörweite zu sichern. „...endlich geschafft<br />

hierhin zu kommen. Ich glaube, daß niemand mir gefolgt ist, doch wundert es mich, daß ihr meine<br />

Nachricht nicht erhalten habt“, erzählte der Fremde.<br />

„Nun“, erwiderte der Vermumte.“ Dieses kann mehrere Gründe haben, die uns jetzt aber nicht mehr<br />

zu interessieren brauchen. Ich hoffe, daß von nun an alles nach Plan verlaufen wird, denn die Zeit eilt.<br />

Morgen werden sie sich einige Helfer besorgen, dann werden wir weitersehen. Am besten treffen wir<br />

uns morgen an der Spalte..“ Es folgten genaue Positionsangaben, danach verabschiedeten sich die<br />

beiden fremden Männer. Der Fremde verweilte noch einige Zeit in der Kaschemme, der Andere<br />

verließ sie sofort.<br />

Der Mann, der nach dem fremden eingetreten war und dem Gespräch der beiden Personen unauffällig<br />

zugehört hatte, folgte dem Vermumten.<br />

Arbeitsteilung, wie nett, dann kann ich mich derzeitig um den Fremden hier kümmern. Später kann<br />

ich dann mit Corwin Informationen austauschen, obwohl das bestimmt sehr zeitraubend werden kann.<br />

Die schwarze Gestalt näherte sich dem Fremden und setzte sich neben diesen.<br />

„Ihr seid fremd hier, wenn ich mich nicht irre“, fragte sie den Fremden. „Gestatten sie, daß ich mich<br />

vorstelle? Man nennt mich hier Kim-Lo.“<br />

„Oh, sehr nett, mein Name ist Ale Lior“, erwiderte der Fremde. LIOR. Also, das war dieser<br />

geheimnisvolle Schreiber, des Briefes, den Mek gefunden hatte. Unwilkürlich betrachtete Kimber Ale<br />

genauer. Seine Augen waren wasserblau und seine Hände, die er um das Glas Wasser, das er trank,<br />

geschlungen hatte, zeugten von harter Arbeit. Unter seiner Kleidung traten die Muskeln deutlich<br />

hervor und sein Alter schätze sie auf 35-40 Jahre.<br />

„Darf man fragen, was euch in diese elende Stadt getrieben hat?“, wollte Kimber wissen.<br />

„Nun...eigentlich nicht. Doch könntet ihr mir einen Gefallen erweisen. Ich suche gute, zuverlässige<br />

Männer, Söldner oder ähnliches, der Preis sollte aber nicht zu hoch sein.“<br />

„An wie viele habt ihr denn gedacht?“, hackte Kimber nach.<br />

„Ich meine, daß fünf genügen sollten.“<br />

„Nun gut, fünf werden wohl aufzutreiben sein. Müssen sie in der Oberstadt?“<br />

„Wahrscheinlich.“<br />

„Wahrscheinlich? Ich bräuchte schon nähere Informationen.“ „Die werde ich ihnen morgen um die<br />

gleiche Zeit geben. Jetzt entschuldigen sie mich bitte, ich muß mich um ein Nachtlager umsehen, denn<br />

dieser „Gasthof“ scheint mir dafür nicht geeignet zu sein.“ Ale Liors verabschiedete sich und verließ<br />

die Taverne. Kimber brauchte nicht lange warten, da betrat Corwin Dery wieder die Schenke.<br />

„Nun was hast du erfahren Dery?“, fragte Kimber, nachdem sich dieser gesetzt hatte.


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

„Nun ja, erzähl ersteinmal was du erfahren hast, Kim-Lo“, erwiderte dieser.<br />

„Nein, nein, nein. Erst du“, antwortete Kimber.<br />

„Nein du!“<br />

„Nein du!!“<br />

„Du!!!“<br />

„Nein du!!!!“<br />

„Jetzt komm schon, bevor ich ungeduldig werde. Ich könnte genauso gehen.“<br />

„Und ich könnte relativ ungemütlich werden“, drohte Kimber.“ Erzähl, wer war der Vermummte?“<br />

Unterdessen spielte sie, wie gelangweilt mir ihrem Dolch, was Corwin Dery wohl dazu überredete<br />

zuerst zu erzählen. „Na gut. Doch ich habe wirklich nicht viel erfahren“, fing er unscheinheilig an.“<br />

Der Vermummte ist eine Frau, die sich ohne das Wissen ihres reichen Ehemannes hier mit Männern<br />

trifft. Also wirklich nicht besonders interessant. Nun erzähl du.“<br />

„Ich habe auch nicht sehr viel erfahren“, berichtete Kimber im gleichen unschuldigen, naiven Ton,<br />

wie Corwin. „Diese Mann, trifft sich hier ohne das Wissen, mit einigen Huren, da seine Alte es nicht<br />

mehr bringt. So nun hast du es. Jetzt können wir ja gehen.“ Beide verließen sie den Totenkopf und<br />

gingen gemeinsam die dunkle Gasse hinunter. Plötzlich ergriff Kimber Corwin beim Kragen und<br />

drückte ihn an die nächste Hauswand.<br />

„So, und jetzt erzähle mir die Wahrheit. Ich habe keine Lust, mir andauernd deine miserablen<br />

Lügengeschichten erzählen zu lassen. WER IST DER FREMDE, CORWIN?“<br />

„Also gut, aber ich verlange auch eine entsprechende Entschädigung, da dein Erzählung auch nicht<br />

gerade die interessanteste war und langweilige Geschichten meinem frischen Teint schaden, da meine<br />

Augen so oft zufallen.“<br />

„Sehr witzig, Dery. Als Entschädigung werd´ ich dir meinen Teil der Geschichte erzählen. Ist das<br />

nichts?“<br />

„Geht klar. Also der Vermummte ist ein gewisser Triumvirat namens Hinozius Elba. Die Wachen an<br />

der Brücke haben seinen Namen ehrfürchtig herausgeschrien, als dieser über die Brücke gegangen ist.<br />

Jetzt du, Kim-Lo!“<br />

„Nun gut. Der Fremde heißt Ale Lior und kommt aus Seelenruh.“ „Wenn du es sagst, wird es wohl<br />

stimmen. Schließlich hat Kim-Lo noch nie seine Freunde belügt, oder?“<br />

„Ich wußte nicht das wir Freunde sind. Wer hat dir so etwas erzählt?“ „Äh, das habe ich mir so<br />

gedacht. Schließlich unterhalten wir uns hier fröhlich und so. Leider muß ich jetzt schnell gehen. Du<br />

weißt schon, wichtige Termine...“<br />

Beide verabschiedeten sich schnell voneinander und verschwanden in entgegengesetzten Richtungen.<br />

���<br />

„Also fünf Mann brauchst du. Viele sind das nicht gerade, aber das macht nichts. Drei kann ich ohne<br />

weiteres auftreiben, den vierten mußt du dir suchen. Wie ich dich kenne willst du selbst auch<br />

mitmachen, was dann die fünfte Person ist. Also gut, bis morgen hab ich die drei Mann. Wo willst du<br />

sie haben?“ Kimber hatte gewußt, daß sie sich auf Mek verlassen konnte. Er kannte die besten und<br />

einen einzelnen aufzutreiben würde nicht schwer sein.<br />

„Morgen um Mitternacht will ich sie vorm Totenkopf treffen“, erwiderte sie, „Jetzt mach ich mich<br />

ersteinmal auf den Weg, um selbst ein oder zwei Mann aufzutreiben. Bis morgen, Liebling.“ Kimber<br />

umarmte Mek und gab ihm einen flüchtigen Kuß, dann war sie auch schon wieder verschwunden.<br />

���<br />

Auf Bewohner der Oberstadt war das Rattenloch ein Ort in dem sich nur Mörder, Söldner, Diebe,<br />

Huren und anderes Gesindel aufhielten. Nun ja, die Unterstädtler waren stolz darauf. Vor der<br />

Stadtwache war man relativ sicher und es gab genug Möglichkeiten in diesem Teil <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s für<br />

immer zu verschwinden. Doch nicht nur die Angst vor den Bewohnern des Rattenlochs, ließ die<br />

Oberstädtler auf ihrer Seite der Spalte bleiben. Auch der Unrat und die Krankheiten, die in den<br />

ärmsten aller Armenviertel vorherrschten, schreckte sie davon ab, das Rattenloch in ihrer<br />

morgendlichen Spaziergänge mit einzubeziehen. Kimber Loor liebte die Unterstadt. Sie liebte die<br />

Freiheit, die man hier genoß und der Geruch von Abfällen, Kot und Leichen machte ihr nicht viel aus.<br />

Sie lebte hier schon, solange sie denken konnte und hatte deshalb viele Freunde, die jederzeit ihr


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Leben geben würden, um ihr aus der Klemme zu helfen. Andererseits würde sie das gleich für diese<br />

tun. Kimber würde mit geschlossenen Augen, jedes Haus finden, da sie ständig umherstreifte, um jede<br />

Kleinigkeit ihrer Heimat genaustens zu kennen. Wer ihre Gefühle für das Rattenloch kannte, hielt sie<br />

für verrückt, da jeder sofort wegziehen würde, wenn da nicht die Stadtwache wäre, von der viele ihrer<br />

Freunde gesucht wurden. Kimber machte sich nichts daraus. Vielleicht lag es auch daran, daß sie<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> noch nie verlassen hatte, denn für sie hörte die Welt hinter den Toren auf...<br />

Kimber suchte nach Enrico Shirin, einen Söldner und alten Freund von ihr. Nachdem sie ihn in seiner<br />

derzeitigen Behausung nicht angetroffen hatte versuchte sie es in den Kneipen der Unterstadt. In einer<br />

hatte sie Glück. Als sie eintrat, entdeckte sie Enrico an einem hinteren Tisch. Er spielte mit zwei<br />

Kimber unbekannten Freunden Karten und schien zu gewinnen. Als Enrico sie erkannte, stand er auf<br />

und begrüßte sie laut rufend. „Kimber Loor, mein Edelstein, was beschert mir die Ehre dich einmal<br />

wieder sehen zu dürfen. Komm her und setz dich zu mir.“<br />

„Hallo Enrico, wie nett dich mal wiederzusehen. Sag, hast du ein wenig Zeit für mich?“, erwiderte<br />

Kimber.<br />

Immer doch, mein Rubin. Wer könnte bei deinem Anblick schon nein sagen.“<br />

Gut, dann komm mit hinaus“, forderte Kimber Shirin auf. Enrico verabschiedete sich von seinen zwei<br />

Freunden, die Kimber mit ihren Blicken fast auszogen, und ging mit ihr hinaus. Still gingen sie ein<br />

paar Straßen entlang, bis Enrico endlich das Wort ergriff. Sag, was willst du, meine Kostbarkeit?“<br />

Kim-Lo schickt mich. Er braucht einen zuverlässigen Söldner, Bezahlung unbekannt, und da hat er an<br />

dich gedacht.“ Ich bedaure. Die Bezahlung muß schon festliegen, bevor ich irgend etwas annehme.“<br />

Das hat sich Kim-Lo auch gedacht und deshalb schickt er mich schon mal als Bezahlung. Also was<br />

sagst du?“<br />

Enrico überlegte kurz, dann antwortete er mit einem Lächeln auf den Lippen: „Gut, ich nehme an,<br />

wann will Kim-Lo sich mit mir treffen?“ Morgen um Mitternacht vorm Totenkopf mit voller<br />

Bewaffnung. Der genaue Zeitpunkt ist noch unbekannt. Wo gehn wir hin?“ Zu mir. Beeil dich“,<br />

forderte Enrico ungeduldig auf. Er konnte sich nicht erklären warum diese Frau so einen Einfluß auf<br />

ihn besaß. Vielleicht lag es an ihren Augen, die ihn immer traurig ansahen. Er faßte sie an der Hand<br />

und führte sie zu seiner bescheidenen Behausung, die am südlichen Rand der Stadt lag. Kimber betrat<br />

nach ihm die kleine Hütte und folgte ihm in sein Schlafgemach. Wie leicht diese Männer doch zu<br />

beeinflussen sind, dachte sie, sobald man verspricht mit ihnen zu kommen, werden sie weich.<br />

Enrico zog Kimber an sich heran und begann sie stürmisch zu küssen. Sie fühlte seine Hände überall<br />

und fragte sich warum die meisten ihrer Freunde wohl so gut wie Enrico aussahen. Als Enrico ihr den<br />

Rock auszog bemerkte er den Dolch an ihrem Oberschenkel. „Immer noch so vorsichtig, wie früher<br />

meine Sonne?“, fragte er während er ihr das Messer abschnallte. Kimber bedeutete ihm nur still zu<br />

sein. Als die beiden nackt aufeinander lagen und Enrico sich anschickte zum Ende zu kommen, mußte<br />

Kimber an Ale Liors denken. Seine Augen hatten sie an etwas erinnert, auch hatte sie das Gesicht<br />

schon einmal gesehen, doch wurde sie von Enrico abgelenkt, der nun von ihr abließ und sofort<br />

einschlief. Kimber wartete bis sie seine regelmäßigen Atemzüge hören konnte, dann kleidete sie sich<br />

wieder an und verschwand.<br />

���<br />

Kimber war schon etwas früher gekommen. Sie saß in einer Ecke der Kaschemme und wartete auf Ale<br />

Liors. Dieser trat gerade ein, als Kimber ihr Bier gelehrt hatte. Ohne erst mit dem Wirt zu sprechen,<br />

schritt der Fremde, dessen wasserblaue Augen eigentlich nicht zu einem Rekschat paßten, auf sie zu,<br />

nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben sie.<br />

Wißt ihr nun, wann und wo ich meine Leute hinschicken soll?“, fragte Kimber.<br />

Ja“, erwiderte Ale, und erklärte ihr wann er ihre fünf Mann in der Oberstadt erwartete. Er selber<br />

würde ohne Probleme hinüberkommen. Kimber verabschiedete sich von und verließ die Taverne, um<br />

ihre fünf Mann zu unterrichten.<br />

Sie mußte noch eine Stunde warten, dann erschienen Erico Shirin und drei andere Männer, die<br />

Kimber dem Namen nach bekannt waren. Es waren Johann Leizen, Jeremias Ansha und Quar Lun, ein<br />

braungebrannter Südländer. Da Mek diese Leute angeheuert hatte, konnte Kimber sich darauf<br />

verlassen, daß sie zuverlässig waren.


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Folgendes Männer“, fing sie an zu erklären, „Unser Auftrag lautet den Richter Randor Pelis<br />

unschädlich zu machen und zwar morgen Nacht. Vorher gibt es fünf Goldsonnen nach getaner Arbeit<br />

erhält jeder weitere zehn. Noch Fragen?“<br />

Es gab keine weitere Fragen. Ort und Zeit wurden noch genau festgelegt, dann eilten alle davon.<br />

���<br />

Es war ruhig in der Oberstadt. Keiner der Bürger wagte sich noch zu so später Stunde hinaus - trotz<br />

der Stadtwache. Nur sechs einsame Personen versteckten sich in einem dunklen Hauseingang und<br />

versuchten die Zahl der Wächter herauszufinden, die das Haus von Randor Pelis bewachten.<br />

Es sind sechs, zwei vor der Tür, einer auf dem Dach und die restlichen drei halten sich im Gebäude<br />

auf“, erklärte Quar Lun, nachdem er einen Rundgang gemacht hatte.<br />

O.k. wir werden folgendermaßen vorgehen: Du Quar Lun versuchst mit Enrico den Mann auf dem<br />

Dach unschädlich zu machen. Ansha und Leizen nehmen sich die beiden vor der Tür vor. Lior und ich<br />

gehen durch ein Fenster und der Rückwand hinein. Treffpunkt ist hier in genau zwei Stunden. Sollte<br />

etwas dazwischen kommen versucht jeder allein durchzukommen. Noch Fragen?“, Kimber schaute<br />

sich um, doch niemand schien noch etwas unklar zu sein. „Nun gut, dann los. Quar ihr zuerst!“<br />

Behende wie eine Katze verschwand Quar Lun, dicht gefolgt von Enrico Shririn, in der Dunkelheit.<br />

Kurze Zeit darauf schlichen Ansha und Leizen auf je einen Türposten zu. Ale und Kimber gingen um<br />

das Haus herum und suchten ein Fenster, das für ihr Vorhaben geeignet war. Das rechte Fenster,<br />

erstes Stockwerk steht offen. Dort könnten wir reingehen“, schlug Ale vor.<br />

Ausgezeichnet. Haben sie das Seil bei sich?“<br />

„Ja“<br />

Dann los!“<br />

Kimber schmiß das Seil, an dessen Ende ein Hacken befestigt war, hinauf und zog es dann straff.<br />

Dann begann der Aufstieg. An der Steinwand waren genug Vorsprünge, um schnell nach oben zu<br />

gelangen. Nachdem sie in einen dunklen, unbewohnten Raum hineingesprungen war, half sie Ale<br />

Liors hinauf. Dieser schaffte den Aufstieg weitaus leichter, da er größere körperliche Kräfte besaß.<br />

Sie erkannten, daß sie in einen Essalon waren, der zu dieser späten Zeit aber unbenutzt war.<br />

Vorsichtig öffnete Kimber die Tür zum Hausflur, doch schloß sie die Tür sofort wieder als sie eine<br />

Wache vor dem Zimmer Pelis sitzen sah.<br />

Wir müssen warten bis er eingeschlafen ist“, wisperte sie Ale zu, „laßt uns hier warten.“<br />

Ale gab mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß er einverstanden war.<br />

Sie setzten sich in eine Ecke des Essalons und warteten einige Zeit.<br />

Nach einer halben Stunde versuchte Kimber es noch einmal an der Tür. „Er scheint eingeschlafen zu<br />

sein. Kein Wunder, wenn man sich die billigsten Wachleute der Stadt beschafft. Kommt, wir müssen<br />

ihn unschädlich machen“, flüsterte Kimber Ale zu. Leise schlichen sie sich, jedes laute Geräusch<br />

vermeidend, den Flur entlang zur schlafenden Wache. Als die Beiden diese erreicht hatten, packte<br />

Kimber blitzschnell zu und brach der Wache mit einen gekonnten Griff das Genick. Dieses zerbrach<br />

mit einen leisen Knacken. Danach lies sie den Mann ungeachtet auf den Boden liegen. Durchsuchen<br />

konnte sie ihn immer noch. „Mußte das sein?“, murmelte Ale, als sie beide an der Tür zum<br />

Schlafraum Pelis standen. „Natürlich“, erwiderte Kimber ebenso leise, „sonst wäre er womöglich zu<br />

früh aufgewacht und hätte irgendwie Lärm schlagen können.“ Mit dieser Erklärung mußte Ale sich<br />

zufrieden geben, da Kimber sich nun anschickte die Tür aufzubrechen. „Leise hinein und dann schnell<br />

einen Dolchstoß verpassen. Alles muß ganz schnell gehen, damit er nicht vorher aufwacht. Die<br />

Wachen müßten zwar alle ausgeschaltet sein, aber man kann nicht vorsichtig genug sein“, erklärte<br />

Kimber ihrem Begleiter.<br />

Schnell schlichen sie sich ans Bett ihres Opfers und schon blitzte der Dolch in Ale Liors Hand. Mit<br />

einem gekonnten Stoß traf das Messer das Herz Pelis und dieser war sofort tot.<br />

Das wäre erledigt“, flüsterte Kimber, „jetzt wollen wir nur noch den Verdacht erwecken, daß<br />

gewöhnliche Räuber hier gewesen sind, das erspart einiges.“<br />

Schnell durchsuchten sie die Räumlichkeiten Pelis, nachdem sie ihre Gefährten hereingeholt hatten.<br />

Diese hatten, ebenso wie Kimber, die restlichen Wachen für immer zum Schweigen gebracht. Sie<br />

stifteten Unordnung und nahmen einige Wertgegenstände mit, dann verließen sie das Haus, die Leiche<br />

des Richters nicht weiter beachtend...


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

���<br />

Es war schwül diese Nacht, doch ein Gewitter, das sich durch tiefes Donnergrollen schon ankündigte,<br />

würde Abhilfe verschaffen. Nur mit einer leichten Bluse und einem langen, blauen Rock bekleidet,<br />

ging eine zierliche Frau durch die Straße des Rattenlochs. Ab und zu erhob sie grüßend den Arm,<br />

wenn sie auf junge Männer traf, die sie anscheinend gut kannten. Ihre rote Lockenmähne wurde von<br />

keinem Lüftchen erfaßt und doch konnte man nirgends Anzeichen von Schweiß sehen, obwohl die<br />

Hitze jedem zu schaffen machte. Kimber hatte sich vorgenommen etwas mehr über den Fremden aus<br />

Seelenruh zu erfahren und da keiner in der Stadt ihn kannte, mußte sie sich an die betreffende Person<br />

selbst wenden. Zaghaft, wie es zu einer zierlichen Frau paßte, klopfte sie an die Tür, hinter der Ale<br />

Lior Quartier bezogen hatte. Wer da?“, ertönte Ales laute Stimme.<br />

Herr, macht auf“, erwiderte Kimber mit unterwürfiger Stimme. Kimber konnte schlurfende Schritte<br />

in der Kammer hören und kurze Zeit darauf wurde die Tür langsam geöffnet.<br />

Wer bist du?“, wollte er wissen, als er Kimber im spärlichen Licht erkannt hatte, daß aus seinem<br />

Zimmer kam.<br />

Man nennt mich Maryn Ostega, ich bin auf Wunsch von Kim-Lo hier, der meinte, daß ihr einer<br />

Abwechslung bedarf - natürlich umsonst“, erklärte Kimber.<br />

Nun gut, komm herein.“<br />

Kimber atmete auf, als sie erkannte, daß Ale Lior ihr die Erklärung abnahm. Schnell trat sie in die<br />

kleine Kammer ein. Ale schien bald abreisen zu wollen, da er schon gepackt hatte. Als sie diesen<br />

darauf aufmerksam machte, erklärte er ihr nur das er so bald wie möglich heimkehren wollte.<br />

Ihr kommt aus Seelenruh?“, fragte Kimber, währen sie sich langsam auszog, „Kim-Lo hat es mir<br />

erzählt.“<br />

Damit hat er dir die Wahrheit erzählt“, erwiderte Ale, der sich nun ebenfalls anschickte sich zu<br />

entkleiden.<br />

So viel ich weiß, wohnen in Seelenruh aber nur Rekschat. Ihr seht nicht aus wie einer. Ihr habt blaue<br />

Augen.“<br />

Es gibt auch Mischlinge, Maryn. Meine Mutter war nur Rekschat. Aber nun genug geredet.“<br />

Beide waren nun vollkommen nackt. Langsam ging Kimber auf Ale zu, der sich auf sein Bett gesetzt<br />

hatte. Sie sah, daß er eine gut gebaute Figur besaß, die zeigte, daß er von körperlicher Arbeit lebte.<br />

Als sie vor ihm stand betrachtete auch Ale den Körper, der Frau, die er für eine gewöhnliche Hure<br />

hielt, doch stockte er plötzlich, als er das Muttermal entdeckte, welches Kimber auf ihrem Bauch<br />

hatte. Erschrocken ließ er sie los und zog eine Decke heran, um Kimber Körper damit bedeckte, was<br />

diese noch mehr verwundete, da es normal gewesen wäre hätte er den eigenen Körper versteckt.<br />

Was habt ihr, Herr?“, fragte sie mit unsicherer Stimme. Sie konnte nicht erklären, was Ale so<br />

erschrocken hatte.<br />

Wie ist dein richtiger Name?“, wollte er wiederum wissen,“ du mußt ihn mir sagen.“<br />

Wie kommt ihr darauf, daß ich einen anderen Namen habe, Herr?“ Ich habe in meinen Leben schon<br />

vieles gesehen, aber noch nie zwei Menschen, die das gleiche Muttermal besaßen. Das Muttermal<br />

welches ihr aber auf eurem Bauch habt, das gleiche hatte meine jüngste Schwester.“ Nun gut. Mein<br />

Name ist Kimber Loor. Doch meine Familie ist schon seit langem tot, darum kann ich euch nicht<br />

weiterhelfen, Herr.“ Ale Lior schien sich damit nicht zufriedenzugeben. Während er eine Lampe<br />

holte, die auf dem Tisch brannte erklärte er Kimber: „Meine Schwester hatte drei Merkmale. Erstens,<br />

dieses Muttermal. Zweitens rote Haare und Drittens Augen wie die tiefste Nacht. Schwarz und<br />

unergründlich.“<br />

Mit einer schnellen Bewegung hob er die Lampe vor Kimbers Gesicht und betrachtete eingehend ihre<br />

Augen. Kimber war geblendet, konnte deshalb nicht sehen, daß Ales Gesicht von großer<br />

Überraschung überzogen war. Wie gebannt schaute er in die schwarzen Augen von Kimber.<br />

Nachdem er sich von diesem Anblick lösen konnte, betrachtete er die lange, rote Haarmähne. Auch<br />

diesmal zeugte sein Gesicht von großem Unglauben. Erzähl mir den Tod deiner Familie“, verlangte<br />

er,“ Wenn ich mich nicht irre wird er sich mit meinen Erinnerungen decken.“ Das glaube ich nicht“,<br />

erwiderte Kimber. „Es war vor etwa 24 Jahren, als meine Familie an einer Seuche starb. Niemand<br />

hatte ihr helfen können, sogar die große Heilerin nicht. Damals war ich drei Jahre alt und ich war die<br />

jüngste der Familie. Meine Eltern, meine Brüdern und Schwestern waren alle gestorben.“<br />

Kennst du den Namen der Heilerin noch?“, wollte Ale wissen. Er schien sichtlich erschroken, über die<br />

Geschichte Kimbers. Ja, sie hieß Salija, und war eine der besten Heilerinnen in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Ihre


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

Enkelin hat jetzt ihre Position übernommen. Diese hat mir vor kurzem eine interessante Geschichte<br />

erzählt. Demnach hat sie einer verfolgten Familie geholfen zu fliehen, der Vater war ehemaliger<br />

Triumvirat gewesen. Sarjana, die Enkelin behauptete, daß ich die jüngste der Familie gewesen sein<br />

soll, die hatte zurückbleiben müssen. Ich habe ihr nicht geglaubt. Schließlich würde eine Familie nie<br />

ihre Jüngste alleine lassen. Oder was glaubt ihr, Ale?“ Ale war während Kimbers Erzählung immer<br />

unruhiger geworden. Eine ungeheurer Verdacht stieg in ihm hoch, doch anstatt die Frage Kimbers zu<br />

beantworten stellte er seinerseits eine Frage. Kannst du dich an Namen deiner Familie erinnern,<br />

Kimber?“<br />

Ja, ich glaube schon. Die Namen meiner Eltern kenne ich nicht mehr, doch glaube ich, daß die Namen<br />

meiner Schwestern Anastie und Emelie gewesen sind. Mein Bruder hieß Alek und der Andere Genobe<br />

oder ähnlich.“<br />

„Bei allen Göttern, das ist nicht möglich“, entfuhr es Ale, „Nach so langer Zeit.“<br />

Was habt ihr, ihr weint ja, Ale.“<br />

Ale hatte zu weinen angefangen und umarmte Kimber unverhofft.<br />

„Hast du noch immer nicht verstanden. Kimber, du bist meine Schwester. Alle Indizien sprechen<br />

dafür. Kimber, dein Name ist nicht der, den du mir genannt hast. Dein Name ist in Wirklichkeit<br />

Katrine da Lior. Mein Name war einmal Alek Pat da Lior. Begreif doch, du bist meine Schwester.“<br />

Kimber war nicht mehr fähig ein Wort über ihre Lippen zu bringen. Sie erkannte die Wahrheit und<br />

diese tat ihr weh. Bilder der Vergangenheit kamen in ihr hoch. Sie sah das Leid, welches sie hatte<br />

ertragen müssen nach dem Tod ihrer Familie. Nie zuvor war sie so sprachlos gewesen, nie zuvor<br />

empfand sie einen Haß. Einen Haß auf ihren eigenen Bruder! Gewaltsam löste sie sich aus den<br />

Armen ihres Bruder. Als dieser sie verwundert ansah, erkannte er den Haß in den Augen seiner<br />

Schwester. Verwirrt fragte er sie was sie denn habe und die Antwort erschreckte ihn.<br />

„Was ich habe? Ihr, ich meine du, willst wissen was mich bedrückt. Du scheinst nicht zu wissen, wie<br />

es ist als vierjähriges Kind im Rattenloch aufzuwachsen. Weißt welch Leid ich hatte ertragen müssen.<br />

Man hat mich geschlagen, gefangengehalten, vergewaltigt und gequält.<br />

Jetzt frag mich noch einmal was mich quält.“<br />

„Ich verstehe dich, Kimber oder Katrine, wie du willst. Doch auch wir haben gelitten. Am besten ich<br />

erkläre dir ersteinmal, was sich damals zugetragen hat:<br />

Ich war damals etwa vierzehn Jahre alt und unser Vater war Triumvirat. Er war im Norden geboren<br />

und was viele nicht wußten war, daß seine Frau, also unsere Mutter eine Rekschat gewesen ist. Nun<br />

ja, alles fing damit an, als ein anderer Triumvirat, ein Multorier dies herausfand... Der Triumvirat,<br />

sein Name war Jules Kamens, hatte die Mentalität eines typischen Multoriers, er haßte und verachtete<br />

jeden Rekschat. Deshalb war es für ihn ein Skandal, daß sein Kollege, Elosis da Lior, eine Rekschat<br />

als Frau hatte. Er konnte es nicht zulassen, daß Elosis noch länger Triumvirat blieb. Es plante ein<br />

Komplott gegen ihn, welches ihn und seine Familie für immer ruinieren sollte. Auch wollte er Elosis<br />

Frau, Merin da Lior, töten lassen. Der Anschlag gelang ihm nur halb. Zwar konnte er erreichen, daß<br />

Elosis aus seinem Amt entlassen wurde, doch konnte er seine Frau nicht töten. Elosis verschwand<br />

spurlos. Erst drei Jahre später erfuhr er, daß da Lior sich in der Unterstadt versteckt gehalten hatte.<br />

Doch kam er zuspät, da die ganze Familie, außer der jüngsten Tochter, Katrine da Lior, an einer<br />

Seuche gestorben war. Was er nicht gewußt hatte, war, daß ein Hinozius Elba der Familie geholfen<br />

hatte zu fliehen, indem er den Tod der Familie vortäuschte. Niemand stellte nähere Nachforschungen<br />

an, da die Leichen, sofort nach der Entdeckung verbrannt worden waren.<br />

Wir hatten dich zurücklassen müssen, da es nicht glaubhaft genug gewesen wäre, wenn alle gestorben<br />

wären. Auch ein grausamer Mann, wie Jules Kamens, konnte nicht glauben, daß Elosis seine jüngste<br />

Tochter zurücklassen würde. Nun ja, die Flucht gelang. Schon damals, hatten wir beschlossen nach<br />

Adlabina zu fliehen. Ein kleines Dorf in Seelenruh, wo Verwandte unserer Mutter lebten. Die Reise<br />

war anstrengend und hatte lange gedauert, da wir im Winter hatten fliehen müssen, um unsere<br />

Tarnung zu verbessern. Vater ist damals an den Folgen der Reise und unseres Schicksals zugrunde<br />

gegangen. Er starb kurz nach unsere Ankunft in Adlabina. Ich, als ältester Sohn der Familie hatte nun<br />

für die Familie zu sorgen. Mutter, war nicht mehr ansprechbar, da sie den Verlust ihrer jüngsten<br />

Tochter nicht hatte verschmerzen können. Sie hatte dich abgöttisch geliebt, Kimber, da deine Augen<br />

sie fazniniert hatten. Emelie und Anastie hatten dich schnell vergessen, sie waren nur fünf und sechs<br />

Jahre alt, als wir aus <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> geflohen waren. Genorre mein jüngerer Bruder, der die gleichen<br />

roten Haare hat wie du, war damals zehn Jahre alt gewesen. Er war auch erst nach einiger Zeit über<br />

den Verlust über seiner Schwester hinweggekommen. Ich selbst hatte meine Gefühle vor den Anderen


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

verheimlicht, da jemand sich um die Familie hatte kümmern müssen. Ehrlich gesagt machte mir dein<br />

Schicksal nicht viel aus, da du für mich keine wahre da Lior gewesen bist. Ich war damals ein<br />

ziemlich verwöhnter Junge, der den Adel und den Reichtum der Oberstadt gewohnt war. Du warst im<br />

Rattenloch geboren worden und ich gab dir die Schuld an unserem Elend. Nun ja, wir gewöhnten und<br />

allmählich an das einfache Leben bei den Rekschat, obwohl wir auch jetzt noch als außenstehende<br />

betrachtet werden, da wir nur Halb Rekschat sind. Vor einiger Zeit erreichte mich dann ein Brief von<br />

unserem damaligen Retter Hinozius Elba. Dieser verlangte von mir, nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> zu reisen und<br />

ihm zu helfen. Als ich hier ankam...“<br />

„Du brauchst nicht weiterreden, Ale. Ich kenne den Rest.“<br />

„Wie, was?“, Ale schien verwirrt. Kimbers Äußerung hatte ihn aus der Vergangenheit wieder in die<br />

Gegenwart zurückgeholt. Ich sagte, du brauchst nicht mehr zu erzählen, den Rest kenne ich schon.<br />

Kim-Lo hat ihn mir erzählt.“<br />

„Ach ja, ich vergaß, du bist die Hure die dieser geschickt hat und...“ Ale stockte, erst jetzt wurde ihm<br />

bewußt, daß er noch immer unbekleidet war. Auch Kimber hatte nur seine Decke vor ihren nackten<br />

Körper gehalten. Mit einen verlegenen Lächeln ergriff er seine Kleidung und zog sich rasch an. Als<br />

Kimber seine Absicht erkannte machte sie es ihm nach.<br />

„So, nun können wir unsere Unterhaltung fortsetzen“, erklärte Ale, nachdem er wieder vollständig<br />

bekleidet war.<br />

„Du weißt ja gar nicht, wie schwer es ist hier zu überleben, Ale. Doch jetzt habe ich mich daran<br />

gewöhnt und würde nirgendwo lieber leben.“ „Auch wir hatten es nicht gerade leicht. Doch möchte<br />

ich, daß du mit mir nach Seelenruh gehst, um unsere Familie zu sehen. Du glaubst gar nicht was für<br />

eine Freude du mir damit bereiten würdest.“ „Bedaure“, erwiderte Kimber, „Doch ich glaube nicht,<br />

daß ich dazu fähig bin die Stadt zu verlassen. Ich kenne die <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> nur von dieser Seite her.<br />

Auch wenn ich meine Familie gerne sehen wollte, ich kann nicht von hier weggehen.“<br />

„Nun gut, vielleicht überlegst du es dir noch anders. Ich werde morgen früh abreisen, wenn du<br />

mitwillst, komme morgen hierhin.“ „Gut, ich werde es mir überlegen.“ Mit diesen Worten<br />

verabschiedete Kimber sich von ihrem Bruder, dann verließ sie die Hütte, um ihre eigene<br />

aufzusuchen...<br />

���<br />

Es war kurz vor Mitternacht. Die Luft hatte etwas abgekühlt, doch hatte es immer noch nicht<br />

geregnet. Kimber ging langsam die Straße hinunter, tief im Gedanken versunken, als sie verdächtige<br />

Geräusche hinter sich hörte. Kimber kannte diese Geräusche. KAMPF! Ohne zu bedenken, daß sie<br />

ihren Mantel nicht anhatte, beschrieb sie eine 180° Drehung und rannte in Richtung Kampflärm. Als<br />

sie vor der Hütte ihres Bruders ankam, konnte sie gerade nur noch sehen, wie eine dunkle Gestalt Ale<br />

Lior ein Messer ins Herz bohrte. Eine andere Gestalt stand etwas abseits und schien zu beobachten.<br />

Kurz entschlossen zog Kimber ihren Dolch und ging, mit funkelnden Augen, die der Mörder nicht<br />

sehen konnte, auf die Fremden zu.<br />

Beide Männer drehten sich um und betrachteten interessiert die junge, hübsche Frau, die mit<br />

erhobenen Dolch auf sie zuging. „Oh“, staunte der Mörder, „Wen haben wir denn hier, zu so einer<br />

späten Stunde?“<br />

Erschrocken blickte Kimber an sich herunter. Sie hatte vergessen, daß sie nicht ihren Mantel trug.<br />

__Macht nichts, meine Kräfte sind die gleichen und Tote reden nicht viel.<br />

„Nun, ihr Hübschen, wenn ich mich vorstellen darf. Mein Name ist Orlana Ramenn und ich bitte euch<br />

mir zu sagen, wie ihr dazu kommt, einen guten Bekannten von mir so einfach umzubringen.“<br />

„Äh, öh, nun ja, nette Lady, das ist ganz einfach. Aber was interessiert ein Weibsbild, was starke<br />

Männer machen. Ich habe schon immer gesagt, daß Frauen sich nicht in die Angelegenheiten der<br />

Männer einmischen sollten. Sie sind viel zu schwach.“<br />

„Na wenn das so ist.“<br />

Blitzschnell sprang Kimber auf den Mörder zu und hatte ihm, ohne ihrem Gegner Zeit zu Gegenwehr<br />

zu geben, ihren Dolch in sein Herz gestoßen. Dieser brach sofort tot zusammen. Der andere Mann war<br />

noch immer starr vor Schreck, daß eine Frau zu so einer Tat überhaupt fähig war. Auch mit diesem<br />

hatte Kimber leichtes Spiel. Als der Fremde daran dachte, sich zu wehren, schlitzte Kimber ihm schon<br />

die Kehle durch. Auch dieser stürzte nach einem kurzen Röcheln tot zu Boden. Erst jetzt konnte<br />

Kimber sich um ihren Bruder kümmern. Sie erkannte das jede Hilfe zu spät kommen würde und


Wiedersehen - Vanessa Niederkinkhaus<br />

spürte wie Tränen in ihr hoch stiegen. Obwohl sie diesen Mann erst seit kürzester Zeit kannte hatte<br />

sie ihn gemocht. Sie wußte nicht warum er getötet worden war und wer der Schuldige war, doch<br />

wollte sie versuchen den Mörder zu finden und danach würde sie dann nach Seelenruh gehen und den<br />

Rest ihrer Familie suchen...<br />

Epilog<br />

Mit Hilfe Corwin Derys und Kareç erfuhr Kimber kurze Zeit darauf, daß Hinozius Elba schuld daran<br />

war, daß ihr Bruder getötet worden war. Der ehemalige Retter der Familie da Lior hatte nicht gewollt,<br />

daß irgendwelche Zeugen übrigblieben, die nachweisen konnten, daß er der Auftraggeber für den Tot<br />

an Randor Pelis gewesen ist.Er hatte nicht wissen können, daß Kimber ebenfalls davon wußte. In<br />

einer Nacht und Nebel Aktion stieg Kimber mit ihrem Freund Enrico Shirin und einem anderern<br />

Assassinen in den Palast Elbas ein und tötete diesen mit einem gekonnten Dolchstoß zwischen die<br />

Rippen. Danach ließ sie eine Nachricht Jules Kamens, dem Verräter der Familie da Lior, zukommen.<br />

Auf Grund dieser ließ sich dieser nur noch mit einer persönlichen Wache außerhalb seines Hausen<br />

blicken, da er Angst vor der Rache der da Liors hatte. Die Nachricht lautete wie folgt:<br />

Sehr geehrter Herr,<br />

vielleicht habt ihr schon vieles aus Eurer Vergangenheit vergessen, doch bin ich mir sicher, daß ihr<br />

den Namen da Lior nicht vergessen habt. Auch glaube ich, daß ihr das Schicksal und das Elend, das<br />

dieser Familie widerfahren ist, Euch noch immer bekannt ist. Wahrscheinlich könnt ihr Euch<br />

ebenfalls den Haß erklären, mit dem diese Familie auf Euch erfüllt ist.<br />

Katrine da Lior,<br />

Tochter Elosis da Liors.<br />

Kimber nahm sich vor den ehemaligen Triumvirat in Angst leben zu lassen. Später würde sie ihn<br />

töten. Da ihr Bruder nun nicht mehr unter den Lebenden weilte, mußte sie nach Seelenruh reisen,<br />

doch dies ist eine andere Geschichte zu einem andere Zeitpunkt...


Jenseits des Fensters - Oliver Nothers<br />

Jenseits des Fensters<br />

Oliver Nothers<br />

Das Haus war Vermillion schon des öfteren aufgefallen. Seltsam sah es aus, oder vielmehr<br />

„interessant“. Irgendwie paßte es nicht so recht in das gewohnte Bild der Südstadt... Die Fassade war<br />

in einem ungewohnt intakten Zustand, und außerdem bunt bemalt... Ganz zu schweigen von diesem<br />

seltsamen Ding da im Garten... Schon oft hatte sie sich gefragt, was wohl darin vorgehen würde, wer<br />

dort wohne und wozu dieses seltsame Ding wohl gut sei. Aber diese Frage würde sich wohl nie<br />

erklären, wenn nicht mal ein Wunder... Nanu! Da war ja plötzlich ein Gesicht hinter dem Fenster<br />

aufgetaucht - das Gesicht eines Mädchens, das sogar ein wenig Ähnlichkeit mit ihr hatte! Sie hatte<br />

auch rote Haare, und mochte ungefähr in ihrem Alter sein... und jetzt winkte sie sogar!<br />

���<br />

Rhysian war ein wenig langweilig gewesen, also hatte sie ein wenig verträumt aus dem Fenster<br />

geschaut, und hatte nicht schlecht gestaunt, als plötzlich ein Mädchen in ihrem Alter in ihrem<br />

Blickfeld erschienen war. Man hätte meinen können, die Luft hätte ein wenig geknistert, als ihre<br />

Blicke einander trafen, und irgendwie hatte Rhysian ein gutes Gefühl bei der Sache, dem anderen<br />

Mädchen zuzuwinken. Umso enttäuschter war sie, als das andere Mädchen zwar zurückwinkte, sich<br />

dann aber umwandte und flugs wieder verschwunden war. Das wäre doch mal etwas gewesen,<br />

jemanden kennenzulernen... jemanden in ihrem Alter... jemanden von jenseits des Fensters...<br />

���<br />

Verdammt! Wo war er wieder, wenn man ihn mal brauchte? „Shatt! Wo steckst du, du Schlafmütze?“<br />

Eigentlich war er ja wirklich ein netter Charach, und nützlich obendrein, aber warum mußte er immer<br />

unauffindbar sein? „He, Faulpelz, wo steckst du?“ Irgendwo im Tunnel war leises Schnarchen zu<br />

hören. „Das schlägt dem Faß ja den Boden aus - der schläft! Aufstehen, du Schnarchsack! Es gibt was<br />

zu tun!“ „Hmmmmmmmm? Autsch! Laß sofort mein Ohr los!“ „Nur, wenn du aufstehst!“ „Das<br />

wollen wir doch mal sehen...“ Innerhalb weniger Augenblicke wälzte sich ein Knäuel aus Armen und<br />

Beinen, teils bepelzt, teils nicht, durch die Höhle. Einige Zeit später einigten sich die beiden dann auf<br />

ein Unentschieden aus Müdigkeit. „Jetzt aber mal zur Sache - weshalb mußte ich denn unbedingt<br />

aufstehen?“ „Komm einfach mit, du wirst schon sehen, was los ist.“ „Vermillion... ich warne dich...<br />

wenn du mich hier veräppeln willst, dann...“ „Habe ich dich jemals veräppelt?“ „Nein, DU doch<br />

nicht... ach, was soll´s, ich habe sowieso nichts besseres zu tun, und wach bin ich jetzt ja sowieso...“<br />

„Du willst ja bloß nicht zugeben, daß du neugierig bist!“ „WAS ist los?“ „Fang mich doch!“ „Na<br />

warte!“ und mit einem ziemlichen Tempo rannten die beiden durch den Tunnel, und später in die<br />

Unterstadt, zu dem Haus, in dem Vermillion das Mädchen gesehen hatte.<br />

���<br />

Nanu! Da war sie ja wieder! Aber was war DAS denn? Ein seltsames Wesen war da in Begleitung des<br />

Mädchens aufgetaucht - es war größer als das Mädchen, und pelzig... irgendwie erinnerte es an einen<br />

Wolf. Komisch, sowas mitten in der Stadt... Und sie kamen sogar alle beide zu ihrem Fenster herüber!<br />

Was... öffnen sollte sie? Oje, hoffentlich würde Jamiriel nichts davon merken... Rhysian wollte gar<br />

nicht darüber nachdenken, was sie oder ihre Mutter für einen Aufstand machen würden, wenn - ach,<br />

was soll´s, sie brauchten es ja nicht zu wissen. Sie wurstelte ein wenig am Öffnungsmechanismus des<br />

Fensters herum - verdammt, warum ging das verflixte Teil denn nicht auf? Beim dritten Versuch<br />

gelang es ihr, einen Fensterflügel zu öffnen.<br />

���<br />

„Hallo du da oben! Hat du Lust mal rauszukommen?“ rief das Mädchen ihr zu. Oh ja, und wie<br />

Rhysian Lust hatte. Aber wenn ihre Mutter das erführe... „Kommt ihr doch erst mal rein!“ „Quatsch,<br />

hier unten ist es viel lustiger!“ Damit mochte das Mädchen sogar recht haben. Sie hatte hier drin zwar<br />

Spielzeug, aber irgendwann stieß man immer wieder an die Grenzen des Zimmers. „Nun komm


Jenseits des Fensters - Oliver Nothers<br />

schon! Shatt, hilf ihr mal da runter!“ Das bepelzte Wesen hielt ihr die Arme hin - Rhysian sah sich<br />

noch einmal um, daß Jamiriel auch ja nicht in der Nähe war, und dann kletterte sie aus dem Fenster<br />

geradewegs in Shatts Arme.<br />

���<br />

„Herzlich Willkommen auf dem Boden der Tatsachen - ich bin Vermillion, das ist Shatt; wer bist du?“<br />

Vermillion sah das andere Mädchen erwartungsvoll an. „Rhysian heiße ich - sag mal, WAS ist Shatt<br />

eigentlich?“ Vermillion brach in schallendes Gelächter aus, und Shatt grinste, was einen<br />

schauerlichen Anblick bot. „Habe ich was falsches gesagt?“ erkundigte sich Rhysian. „Nein“ gluckste<br />

Vermillion, die vergeblich versuchte, ihren Lachanfall zu unterdrücken, „aber das ist bei so ziemlich<br />

jedem, der ihn zum ersten mal sieht, die erste Frage...“ „Um es kurz zu machen: Ich bin ein Charach.“<br />

meldete sich Shatt nun zu Wort. „Brauchst du mich noch als was anderes als als Trittleiter für deine<br />

Freunde?“ „Ach Shatt, nun sei mal kein Spielverderber... ich dachte, wir machen uns heute mal einen<br />

lustigen Nachmittag... Du hast doch sonst immer Lust auf Spaß, oder?“ „Na gut, überredet.“ Shatt<br />

grinste wieder. „He, worüber redet ihr eigentlich?“ Rhysian schaute die beiden erwartungsvoll an.<br />

„Ich dachte, ihr könntet mir vielleicht mal die Stadt zeigen?“ Vermillion und Shatt grinsten einander<br />

an. „Aber sicher, Rhysian... das gibt einen Spaß, den wirst du nie vergessen...“<br />

���<br />

„WAS wollt ihr von mir? Ihr seid doch lebensmüde!“ Rhysian konnte es kaum fassen. Über die Spalte<br />

wollten die beiden! Und das UNTER der Brücke hindurch. „Angsthase! Jetzt bist du schon mal aus<br />

dem Haus, und dann traust du dich nicht mal, hier rüberzuklettern!“ Vermillion war mit einigen<br />

schnellen Bewegungen unter der Brücke. „Siehst du? ist gar nicht schwer!“ Rhysian überlegte. Es<br />

hatte wirklich einfach ausgesehen, aber Vermillion machte das bestimmt auch nicht zum ersten mal...<br />

���<br />

„Na, was ist? Hast du die Hosen voll?“ Vermillion wurde ungeduldig. Vielleicht war Rhysian durch<br />

ein paar Frechheiten zu motivieren. Und es schien Wirkung zu zeigen. Die Kleine hatte also doch was<br />

auf dem Kasten. „Mach es mir einfach nach, dann kommst du ganz einfach rüber!“ Vermillion zeigte<br />

ihr eine Möglichkeit, relativ einfach unter der Brücke hindurch zu kommen.<br />

���<br />

Shatt erwartete die Beiden schon auf der anderen Seite. „Na endlich! Dann laß mal sehen, was die<br />

Oberstadt uns heute so zu bieten hat!“ Shatt sah so aus, als wollte er alles auf einmal machen -<br />

Hauptsache, es machte Spaß. Und den konnte man in der Oberstadt haben, wenn man sich nicht<br />

erwischen ließ. Just dämmerte es - also eine ideale Zeit, um etwas abenteuerliches zu unternehmen.<br />

���<br />

„Nun sieh´ dir mal an, was sie heute schon alles in die Oberstadt lassen - so schmutzige Kinder! Das<br />

kann doch einfach nicht wahr sein.“ Tirael rümpfte die Nase. „Wie Recht du doch hast“ entgegnete<br />

Sfadral. „Was können wir froh sein, das solcher Pöbel in unserem Haus nicht toleriert wird.“ Die<br />

beiden sahen wieder aus dem Fenster. „Jetzt stehen diese Gören auch noch direkt vor unserem<br />

Zimmer - das ist doch die Höhe!“ „Warte, Sfadral. Hilf mir mal...“ Tirael schleppte einen Eimer mit<br />

Wasser heran. „So, und jetzt...“<br />

���<br />

Platsch! Mit einem mal waren Rhysian und Vermillion pitschnaß. „Was zum...“ albernes Gelächter<br />

von oben ließ Vermillion innehalten. Das waren zwei von den dummen Gänsen aus dem Internat!<br />

„Viel gebracht hat´s ja nicht.“ rief eine, „aber wenigstens etwas sauberer als vorher seid ihr jetzt!“<br />

Grrrrrrr! Die konnten froh sein, daß Shatt jetzt nicht dabei war, der würde glatt da hochklettern und<br />

den beiden mal kräftig den Hintern versohlen. So aber - Moment! „Ihr blöden Ziegen!“ schrie Rhysian


Jenseits des Fensters - Oliver Nothers<br />

neben ihr. „Laß mal... fluchen hilft bei denen nicht viel, auch wenn du´s mittlerweile kannst, aber die<br />

kriegen noch die Quittung dafür... ich habe auch schon eine Idee... wartet nur, Rache ist süß..“<br />

���<br />

Erst mußte sie Shatt wiederfinden - aber das war nicht allzu schwer. Natürlich war er auf dem<br />

Marktplatz gewesen, und hatte noch einiges bei den mit Einräumen beschäftigten Händlern<br />

abgestaubt. Aber nun brauchte sie seine Aufmerksamkeit. „Du Shatt...“ „Wieso seid ihr denn so naß?“<br />

„Später... besorge doch mal einen Eimer Kohle, ja?“ „Was hast du vor?“ „Wirst du schon sehen, aber<br />

bring einen Eimer Kohle zum Internat, wir treffen uns da. Los, Rhysian, komm mit, wir haben noch<br />

was zu tun.“<br />

���<br />

„So, nun mach den Eimer an dem Seil da fest - und halte gut gegen, der wird gleich schwer...“<br />

Vermillion kraxelte an der nördlichen Wand der Felsspalte herum. Da war ja das, was sie suchte - die<br />

Abflußöffnung der Thermen. Hilfe, das stank ja sogar für ihre rattenlocherprobte Nase. So, jetzt den<br />

Eimer davor... und schon war er voll Stinkbrühe. „So, jetzt gut festhalten... es ruckt jetzt!“ damit ließ<br />

Vermillion den Eimer langsam in die Senkrechte gleiten. Flugs war sie wieder nach oben geklettert<br />

und half Rhysian dabei, den Eimer nach oben zu ziehen.<br />

���<br />

Was Vermillion wohl wieder vorhatte? irgendein Blödsinn würde es schon wieder sein. Nun gut, er<br />

hatte einen Eimer Kohlen besorgt, wo war jetzt - da kam Vermillion ja schon mit ihrer neuen<br />

Freundin um die Ecke. Und die beiden hatten auch einen Eimer dabei. „Gut, dann kanns ja losgehen“<br />

meinte Vermillion und grinste verschwörerisch. Als sie den beiden ihren Plan erklärte, machte sich<br />

auch auf deren Gesichtern ein diebisches Grinsen breit.<br />

���<br />

„He, Mädels!“ Der Ruf kam von draußen. Sollten etwa diese Gören wieder - nein, niemand war zu<br />

se... Platsch! Ein Schwall stinkender Brühe ergoß sich über Tirael und Sfadral, und machte auch vor<br />

ihrem Zimmer nicht halt. „Oh, Entschuldigung, das war wohl ´ne Fehllieferung, hier kommt der<br />

Rest!“ Bei diesem Kommentar wurde den beiden im wahrsten Sinne des Wortes schwarz vor Augen.<br />

Eine Eimerfüllung Kohle polterte über sie hinweg und in den Raum. „Mit besten Empfehlungen aus<br />

dem Rattenloch!“ Die drei „Attentäter“ sahen zu, daß sie wegkamen.<br />

���<br />

„Wie sieht es denn hier aus?“ Demariz war außer sich vor Wut. „Nein, ich möchte jetzt keine<br />

Erklärungen hören. Es ist mir auch furchtbar egal, wie das passiert ist - ihr macht hier sauber. Und<br />

zwar sofort. Und dann geht ihr euch gründlich waschen. Und jeglichen Dreck, den ich danach noch<br />

hier finde, eßt ihr morgen zum Frühstück, habt ihr das verstanden? Ach, übrigens, bevor ich das noch<br />

vergesse - ihr habt die nächsten drei Monate Putzdienst, damit das klar ist! Irgendwann muß euch ja<br />

mal Disziplin beigebracht werden. Wieso arbeitet ihr noch nicht? Los, aber mal ein bißchen<br />

plötzlich!“ Demariz knallte die Tür hinter sich zu und ließ zwei schmutzige, stinkende Mädchen<br />

zurück, die so, wie sie jetzt aussahen, im Rattenloch nicht aufgefallen wären.<br />

���<br />

„Na? War das spaßig?“ fragte Vermillion, als die drei wieder auf der Südseite der Brücke<br />

angekommen waren. „Sicher - aber jetzt muß ich nach Hause, meine Mutter macht sich bestimmt<br />

schon Sorgen.“ „Na gut - aber ich hole dich bestimmt nochmal ab! Und dann machen wir den<br />

Ramschladen unsicher! Und...“ „Vermillion! Komm jetzt endlich!“ Es war zum verrücktwerden mit<br />

ihr. Shatt wußte nicht, warum er sich immer wieder von Vermillion für solche Sachen einspannen ließ<br />

- nun ja, es machte ja wirklich Spaß...


Jenseits des Fensters - Oliver Nothers<br />

���<br />

„Wo bist du denn gewesen? Ich habe mir Sorgen gemacht!“ Ailanth war sichtlich aufgebracht. „Ach,<br />

ich habe nur gespielt...“ „Gespielt? Wo denn? Mit wem denn? Egal, mach, daß du dich wäschst und<br />

ins Bett kommst!“ Offensichtlich hatte ihre Mutter es immer noch nicht ganz gefaßt, daß ihre Tochter<br />

„alleine“ einen „Ausflug“ gemacht hatte - Rhysian wußte allerdings sicher, daß das bestimmt nicht<br />

der letzte gewesen war. Schon beim Einschlafen malte sie sich aus, was Vermillion und sie nächstes<br />

mal wohl machen würden...


1. Wie alles begann...<br />

Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Stiefkinder der Schöpfung - der Geschichte erster Teil<br />

Die vier Jahreszeiten<br />

Aus dem Tagebuch der Atakuela de Kuansa (Verle 165 n.G. bis Talu 167)<br />

Marc Rösel<br />

Frühlingsgefühle<br />

3. Verle (165 n.G.)<br />

Heute morgen habe ich in der Pension „Lindenblatt“ Quartier bezogen.<br />

Als ich die Kranichgasse zum ersten Mal betrat - wobei ich hinzufügen muß, daß mir der Ausdruck<br />

„Gasse“ anbetrachts der breiten gepflasterten Straße als ein wenig fehl am Platze erscheint - ,fühlte<br />

ich mich um gut hundert Jahre in der Zeit zurückversetzt und starrte bewundernd auf die imposanten<br />

vom Alter gezeichneten Gemäuer, die durch den allmählich einsetzenden Verfall ihrer hohen und<br />

kunstvoll behauenen Fassaden mit den spitzbögigen Fenstern und den eingemeißelten Verzierungen<br />

an den Fensterrahmen und am Dachfirst nichts von ihrer Faszination eingebüßt hatten, vielmehr noch<br />

verlockender und geheimnisvoller wirkten. Ich war damals erst elf, und ich träumte mit offenen<br />

Augen von der verblichenen Pracht verflossener Epochen. Es ist immer das Alter, das Altehrwürdige,<br />

das gerade - aber nicht nur - auf Kinder einen besonderen Reiz ausübt, der Flair vergessener<br />

Geheimnisse, schaurig-schöner Geschichten, die nur darauf warten, erzählt zu werden, ein leichter<br />

Grusel, der einen wohlig durchflutet... Welches Kind träumt nicht davon, in einem verwunschenen<br />

Schloß zu spielen und dort wunderbare Abenteuer zu erleben?<br />

Die alte Straße - welcher armselige Tropf kam auf die Idee, sie als Gasse zu benennen? - hat heute<br />

noch die gleiche Wirkung auf mich wie damals, in meiner Kindheit, und jetzt endlich ist mein Traum<br />

wahr geworden. Es handelt sich bei meiner zukünftigen Heimstatt um ein schmales fünfstöckiges<br />

Gebäude, erbaut wie auch alle die Nachbarhäuser in dem verschnörkelten und für die heutige Zeit<br />

altertümlich wirkenden architektonischen Stil der Gründerjahre, die Fassade ist stellenweise<br />

abgebröckelt und schadhaft, der Stein von rotem Efeu überwuchert. Das Haus wirkt romantisch und<br />

irgendwie... verwunschen. Ich lache über mich selbst, eine Dame von 26 Jahren, die den Fantasien<br />

ihrer Kinderjahre nachhängt, aber warum auch nicht? Ich denke, daß ich mich hier wohlfühlen werde.<br />

4. Verle<br />

Mistress Yatzikenia bietet für diejenigen ihrer Gäste, die diese Leistung in Anspruch nehmen wollen,<br />

ein gemeinsames Abendessen an. Sie ist eine sehr gute Köchin. Heute abend habe ich die meisten der<br />

übrigen Bewohner der Pension kennengelernt.<br />

Es erscheinen mir durchgehend integere und anständige Zeitgenossen, was nicht weiter verwundert,<br />

bedenkt man das tugendhafte Wesen der Hauswirtin. Sie ist Witwe und betreibt die Pension alleine,<br />

natürlich würde sie keine Zimmer an leichtfertige Mädchen, Trunkenbolde und lärmende Burschen<br />

vergeben. Allerdings hat der im Dachgeschoß wohnende Kestril Dimitri, ein junger und kecker<br />

Geselle, eine für meinen Geschmack etwas zu spitze Zunge und eine gar zu freche Ausdrucksweise,<br />

die auf eine lockere Lebenseinstellung verweist. Er ist in den Prunk vergangener Tage gekleidet, trägt<br />

eine einstens teure, wenn auch inzwischen abgewetzte und ausgeblichene Weste und Jacke aus Samt<br />

über einem zerknitterten Rüschenhemd und für meinen Geschnack gar zu viele versteckte Dolche und<br />

Messer (die meinem Blick dennoch nicht entgangen sind). Jedoch scheint ihn die Wirtin ins Herz<br />

geschlossen zu haben und behandelt ihn wie einen großen Jungen, was nahelegt, daß es sich bei ihm<br />

zumindest um keinen Strauchdieb oder gar einen Assassinen handelt. Doch möchte ich hinzufügen,<br />

daß Mistress Yatzikenia keine Kinder hat und in ihm vielleicht so etwas wie einen Ersatzsohn sehen<br />

mag, was ihre Urteilsfähigkeit natürlich erheblich einschränkt. Bin ich zu mißtrauisch?<br />

6.Verle<br />

Die Hauswirtin, Mistress Yatzikenia Kwasazmín, ist eine resolute ältere Person, die den rechten<br />

Umgang zu wahren weiß. Sie führt ihre Pension mit strenger aber auch mütterlicher Hand. Ich mag sie<br />

und zweifle nicht daran, daß ich gut mit ihr zurechtkomme.<br />

In der letzten Zeit denke ich oft an Mutter, die ich nie richtig kennenlernte, da sie bei dem Großen<br />

Krieg in der Alten Heimat den Tod fand, als ich noch ein Säugling war. Meine Erinnerungen an sie<br />

sind nur vage und verschwommen. Vater hat mir natürlich oft von ihr erzählt, aber das ist nicht


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

dasselbe. War sie wirklich eine so beeindruckende Frau, etwas ganz Besonderes, wie Vater sie<br />

beschreibt, oder ist sein Blick nur von seiner Liebe getrübt, die auch nach über zwei Jahrzehnten nicht<br />

erloschen ist? Es ist müßig, über vergangene Dinge nachzusinnen, sich auszumalen, was gewesen<br />

wäre, wenn. Ich lebe im Hier und Jetzt.<br />

Das alte Haus hat nichts von seiner mystischen Aura verloren, und doch merke ich, daß es bereits<br />

jetzt, nach nur vier Tagen, für mich alltäglich geworden ist. So früh schon. Ich empfinde diese<br />

Erkenntnis als erschreckend, obwohl ich natürlich weiß, daß es lächerlich ist, sich über so etwas<br />

Gedanken zu machen. Ich bin eben einfach kein Kind mehr. Nur Kinder können im Zauber leben, für<br />

Erwachsene ist der Traum längst ausgeträumt. Der Alltag hat mich eingeholt.<br />

Aber was beklage ich mich? Endlich bin ich wirklich selbstständig, weder abhämgig von meinem<br />

Vater, noch von Mistress Ophelia, meiner Lehrerin und mütterlichen Freundin. Ich arbeite gerne als<br />

Erzieherin im Prinz-Schukan-Internat für höhere Töchter, dennoch bin ich froh, ausgezogen zu sein<br />

und mir eine eigene Bleibe gesucht zu haben. Ophelia ist sehr fürsorglich und aufmerksam. Sehr<br />

fürsorglich- Wie soll ich junge Mädchen erziehen, wenn ich selbst noch behandelt werde wie eine<br />

Schülerin? Eine Meisterschülerin, zugegeben. Genau das war ich ja auch, und deshalb bot mir<br />

Mistress Ophelia an, zu unterrichten, aber es wird Zeit, daß ich endlich auf eigenen Füßen stehe!<br />

Immerhin bin ich 27... Ob ich zur alten Jungfer werde? Ja, und genau das möchte ich auch. Wenn ich<br />

mir die Männer anschaue, die hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> herumlaufen, diejenigen, die sich für mich<br />

interessiert haben... aber ich werde sie schon auf Abstand halten. Das bringe ich auch meinen<br />

Schülerinnen bei: Männer sind ein notwendiges Übel, aber laßt sie niemals die Herrschaft über euer<br />

Herz erringen. Dann seid ihr ihnen hilflos ausgeliefert, während sie nur mit euch spielen, euch<br />

entmündigen, euch befehlen und doch in Wahrheit nur an eurem Körper interessiert sind.<br />

18.Verle<br />

Mittlerweile habe ich mich mit zwei jungen Frauen angefreundet, die einen Stock über mir wohnen.<br />

Shivistri Srimavo ist eine kleingewachsene zierliche Person mit dunkler Haut und intensiven<br />

schwarzen Augen, die aus dem fernen Süden stammt, aus einem Land, das auf keiner in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

erhältlichen Karte verzeichnet ist. Auf die Frage, was sie gerade in diese Stadt verschlagen hat, lächelt<br />

sie ein unergründliches Lächeln und schweigt. Ansonsten jedoch ist sie sehr höflich und<br />

zuvorkommend, und als Taomonoi habe ich sehrwohl Verständnis dafür, daß sie ihre<br />

Lebensgeschichte nicht gleich jeder Fremden erzählen möchte. Ich sitze abends öfter bei ihr auf<br />

dicken gewebten Teppichen und bestickten Seidenkissen in bunten Farben und trinke gemeinsam mit<br />

ihr grünen Tee, den sie vorzüglich zuzubereiten weiß. Sie ist hier als Schneiderin tätig, und ihre<br />

Kleider sind wirklich exquisit. Shivistri hat mir angeboten, eines für mich zu entwerfen, was ich<br />

dankbar annahm.<br />

Ihre Mitbewohnerin Eolyn Abdéru, eine blasse, aber lebenslustige junge Frau mit bernsteinfarbenem<br />

Haar und hellen strahlenden Augen, verfügt über heilende Hände. Diese Gabe ist höchst selten und<br />

verlangt dem, der sie besitzt, alles ab. Eolyn vermag selbst schwerste Wunden und tödliche Krankheit<br />

zu heilen, doch gefährdet sie damit ihr eigenes Leben. Nachdem sie einem Kranken die Hand<br />

aufgelegt hat, so berichtete mir Shivistri, schläft sie oft für Tage in tiefer Besinnungslosigkeit.<br />

Gerade erst gestern erlebte ich, daß sie sehr geschwächt, ihre Hände zitternd und alle Farbe aus dem<br />

ohnehin bleichen Gesicht gewichen, ins Zimmer kam, wo ich mit Shivistri saß, Tee trank und<br />

plauderte. Shivistri sprang sofort auf und nahm sie in die Arme, bettete sie sanft auf die weichen<br />

Kissen. Sie ist seitdem nicht wieder erwacht.<br />

25. Verle<br />

Die gemeinsamen Abendessen sind stets ein sehr angenehmer Abschluß des Tages, und nicht nur<br />

wegen der hervorragenden Kochkünste der Hauswirtin. Ich stehe mit den meisten Gästen der Pension<br />

„Lindenblatt“ auf sehr gutem Fuße, die Atmosphäre des abendlichen Beisammenseins ist gelöst und<br />

heiter. Dimitri ist ein wenig undurchsichtig und redet nicht gerne davon, womit er sein Geld verdient,<br />

bisweilen habe ich ihn auch bei offenen Lügen ertappt, so behauptete er einmal, er wäre Dichter und<br />

würde damit seinen Lebensunterhalt finanzieren, doch als ich ihn darauf ansprach, er möge mir doch<br />

einmal einen seiner Poesiebände ausleihen, da ich mich sehr für Gedichte interessiere, schien er<br />

verlegen und brachte mir schließlich ein paar lose, mit fahriger Handschrift verfaßte und vielfach<br />

korrigierte Blätter. Es sieht nicht so aus, als hätte er bislang auch nur ein einziges seiner Gedichte<br />

veröffentlicht, allerdings muß ich eingestehen, daß er sehr begabt ist, was ich ihm auch gesagt habe.


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Seine Verse sind sehr poetisch, manchmal überaus amüsant, und zeugen von einem tiefen Einblick in<br />

die menschliche Seele und Gefühlswelt. Ich habe inzwischen sowohl Liebesgedichte als auch<br />

teilweise sehr pointierte Satiren und Spottverse von ihm gelesen, die mich durchaus beeidnruckt<br />

haben. Er freute sich über mein Lob und schien förmlich aufzublühen. Seine Gesellschaft bei Tisch<br />

hält die Langeweile fern, und oft unterhält er die Runde mit Anekdoten oder amüsanten Geschichten.<br />

Störend erweist sich einzig der Umstand seines übermäßigen Alkoholkonsums bei den gemeinsamen<br />

Essen und dem darauffolgenden Plausch, andererseits erlebte ich ihn nie betrunken. Es ist<br />

erschreckend und höchst bedenklich, wieviel dieser Bursche verträgt!<br />

Ein weiterer angenehmer Gesprächspartner ist Ludomill Penhaligon, der ein Buchgeschäft in der<br />

Nähe der Pension betreibt. Er ist ein hagerer Mann, der die Mitte seines Lebens bereits überschritten<br />

hat und ebenso verstaubt und antiquiert wirkt wie die Bücher, die er verkauft, seine Anzüge sitzen<br />

schlecht und sind meistens völlig ausgeblichen, so daß die ursprüngliche Farbe kaum mehr zu<br />

erkennen ist, seinem wirren staubgrauen Haar würde die Bekanntschaft mit einem Kamm gut<br />

anstehen. Aber er ist außerordentlich gebildet, ein unglaubliches Wissen paart sich mit ruhiger,<br />

gelassener Weisheit. Ich mag normalerweise keine Männer, aber von Magister Penhaligon bin ich<br />

fasziniert (Nicht, daß ich mich in ihn verliebt hätte!).<br />

Meine Freundschaft mit Shivistri und Eolyn habe ich vertieft und empfinde im Umgang mit ihnen<br />

eine menschliche Wärme, die ich lange vermißt habe. Das Kleid, das Shivistri für mich angefertigt<br />

hat, ist übrigens wunderschön.<br />

29. Bri<br />

Shivistri ist sehr schweigsam und verschlossen. Heute abend aber hat sie mir zum ersten Mal etwas<br />

über sich erzählt. Es hat mit ihrer Religion zu tun, mit der Statuette des achtarmigen tanzenden Gottes,<br />

für die sie in einer abgeschiedenen Nische ihres Zimmers einen kleinen Altar errichtet hat und täglich<br />

Rauch- und Trankopfer darbringt. Gerne würde ich hier weiterschreiben, doch was Shivistri Srimavo<br />

mir berichtet, tat sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und ich bin keine Frau, die ihr Wort<br />

bricht. Ich werde schweigen, auch gegenüber meinem Tagebuch. Morgen werde ich ihr etwas über die<br />

Alte Heimat erzählen. Sie ist die beste Freundin, die ich je hatte.<br />

31. Bri<br />

Trotz all meiner Mühen gelang es mir nicht, die Veröffentlichung wenigstens einiger der Verse von<br />

Kestril Dimitri in die Wege zu leiten. Die reichen Männer <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s haben keinen Sinn für<br />

Poesie! Meinen Schülerinnen, denen ich bisweilen seine Gedichte vorlese, gefallen sie hingegen sehr<br />

gut. Leider hat sich Dimitri geweigert, mich einmal in das Internat zu begleiten und seine Verse selbst<br />

vorzutragen.<br />

38. Bri<br />

Shivistri begrüßt die aufgehende Sonne auf ihre eigene Weise. Ich habe ihr heute morgen, bevor ich<br />

ins Interbat ging, dabei zugesehen. Bei Einbruch des Tages vollführt sie im Innenhof der Pension<br />

Waffenübungen, die gleichzeitig die Funktion eines Rituals zu Ehren ihres achtarmigen Gottes<br />

erfüllen. Ihre Bewegungen entsprechen stets exakt einem von mehreren genau vorgezeichneten<br />

Abläufen; eine solche „Form“ dauert meistens etwa 10 Minuten. Als Waffen verwendet sie den Speer<br />

oder zwei kurze Stöcke, die sie beidhändig einsetzt. Ihr Kampfstil ähnelt einem rasch wirbelnden<br />

Tanz, ihre Bewgungen sind fließend und gleitend und von einer Schönheit, die mir ein seltsam flaues<br />

Gefühl im Magen verursacht. Shivistris Meisterschaft mit der Waffe ist einzigartig, ich weiß, daß sie<br />

besser ist als ich, und ich glaube, sie übertrifft sogar Vater.<br />

44. Bri<br />

Ich weiß nun, daß Eolyn und Shivistri ein Liebespaar sind. Am Anfang erschien mir das in höchstem<br />

Maße unmoralisch, aber andererseits, bei den Männern dieser Welt, wer kann es einer Frau dann<br />

verübeln, wenn sie sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt?<br />

13. Hamilé<br />

Mir ist inzwischen aufgefallen, daß meine letzten Eintragungen eigentlich nur noch von Shivistri<br />

Srimavo handeln. Wenn ich Shivistri sehe oder auch nur an sie denke, läuft es mir heiß und kalt den<br />

Rücken herunter. Bei Atuasi, ich fürchte, ich habe mich in sie verliebt...


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

15. Hamilé<br />

Heute nacht hatte ich verwerfliche erotische Fantasien, die ich kaum wage, meinem Tagebuch<br />

anzuvertrauen. Ich träumte mit offenen Augen davon, wie ich mich gemeinsam mit Shivistri und<br />

Eolyn heißen Liebesspielen hingebe! Bei allen Märtyrern, was ist nur mit mir geschehen? Bin ich<br />

verhext?<br />

Mein Entschluß steht fest, es ist die einzige Möglichkeit. Ich werde mich von Shivistri distanzieren<br />

und in Zukunft auch nicht mehr in meinem Tagebuch von ihr schreiben. Ich muß einen Schlußstrich<br />

ziehen, ehe mein unmoralisches Begehren mich zu einer unüberlegten Tat verleitet.<br />

Sommer der Liebe<br />

14. Mittmond (166 n.G.)<br />

Die erste Eintragung seit über einem Jahr.<br />

Ich habe mich verliebt. Nicht in Shivistri, auch wenn sie mir immer noch sehr viel bedeutet. Ich habe<br />

im Internat einen jungen Mann kennengelernt, den älteren Bruder einer Schülerin. Er ist Taominoi,<br />

allerdings von weitaus höherem Stand als ich, der Sohn eines Griondo. Sein Name ist Dan Joao de<br />

Leolo, und er wirbt um mich. Ich hätte nie gedacht, daß ich mich jemals in einen Mann verlieben<br />

könnte!<br />

Ich werde ihm ein eigenes Tagebuch widmen.<br />

30. Mittmond<br />

Seit ich Joao kenne, fühle ich mich leicht und gelöst. Ich liebe ihn. Aber für ihn kann unserer<br />

Bekanntschaft nur ein Spiel sein, und selbst, wenn er es ernst meint, er wird einmal den Titel eines<br />

Griondo erben und kann unmöglich eine niedrige Adlige ehelichen, wie ich sie bin. Ich sollte meinen<br />

Traum vom Glück solange genießen, wie er währt.<br />

38. Mittmond<br />

In der letzten Zeit habe ich das Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden. Gestern sah ich Dimitri<br />

am Fenster, als ich mich von Joao mit einem Kuß verabschiedete. Er tat so unauffällig, daß es mir<br />

sogleich auffiel.<br />

10. Oberring<br />

Jetzt bin ich mir sicher. Es ist in der Tat Kestril Dimitri, der mich regelrecht beschattet. Soll ich ihn<br />

zur Rede stellen? Nein, ich habe darüber nachgedacht, wahrscheinlich wirde er von Dan Ladrisim<br />

bezahlt, den Umgang seines Sohnes und Erben zu prüfen. Ich muß die Angelegenheit mit Würde über<br />

miche ergehen lassen.<br />

13. Oberring.<br />

Kestril Dimitri wohnt unter dem Dach, und sein beengtes Zimmer erinnert an die Studierstube eines<br />

Gelehrten. Gestern lud er mich zu einem Te ein, un ich bin der Einladung gefolgt. Der Tee schmeckte<br />

widerlich und zählt sicherlich nicht zu den Getränken, die Dimitri im Normalfall zu sich nimmt. Ich<br />

entdeckte hinter aufgetürmten Büchern und Manuskriptseiten eine rerschreckende Anzahl von leeren<br />

Weinflaschen.<br />

Die Unterhaltung verlief sehr einseitig, und ich gewann bald den Eindruck, einem Verhör unterzogen<br />

zu werden, ließ mir aber nichts anmerken. Das einzige, was ich über ihn erfuhr, war, daß er an der<br />

Universtät von Multor studiert hatte, sein Studium aber aus Geldmangel abbrechen mußte.<br />

Ausnahmsweise war das eine Geschichte, die ich ihm sogar glaubte.<br />

27.Oberring<br />

Ich habe meinerseits Nachforschungen über Dimitri angestellt, der in der Unterstadt auch unter dem<br />

Beinamen „der Student“ ein Begriff ist. Mein Informant, der Bettler Almir, wußte mir zu berichten,<br />

daß Dimitri ein stadtbekannter Urkundenfälscher ist. Manchmal arbeitet er als Spion, beschattet<br />

Personen und fertigt Dossiers über ihren Werdegang, ihr Verhalten und ihre Gewohnheiten an (so wie<br />

bei mir), aber seine Haupterwerbsquelle sind gefälschte Passierscheine. Ich werde ihn nicht bei der<br />

Stadtwache anzeigen, denn auf das Fälschen von Passierscheinen steht in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> der Tod, und<br />

ich mag ihn, obwohl ich enttäuscht bin, daß er mir so in den Rücken gefallen ist.


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

11. Talu<br />

Egal, wie Dimitris Dossier ausgefallen ist, der Griondo hat Konsequenzem gezogen und dafür gesorgt,<br />

daß Joao und ich uns nicht mehr treffen können. Joao wurde „zur Vervollkommnung seiner<br />

körperlichen und geistigen Kräfte“ zur Ausbildung nach Kasralit geschickt. Werde ich ihn je<br />

wiedersehen?<br />

6. Nirtsch<br />

Seit einigen Wochen wohnt ein neuer Gast in der Pension. Sein Name lautet Kirlian Radegast, und er<br />

will den Herbst und Winter im „Lindenblat“ verbringen, ehe er im Frühjahr wieder auf Handelsreise<br />

geht. Er handelt mit Messern aller Arten und Größen, in den warmen Monaten zieht er durchs Land<br />

und bietet überall seine Klingen feil, während er im kalten Teil des Jahres neue Ware einkauft und nur<br />

dann und wann, wenn das Glück oder sein kaufmännisches Geschick es will, ein Messer bei einer<br />

Hausfrau, einem Krieger oder bei einem Halsabschneider in der Unterstadt in bare Münze umsetzt.<br />

Schon in anderen Jahren zuvor hat er in der Pension von Mistress Yatzikenia überwintert, und viele<br />

Dauergäste kennen ihn, allerdings ist er nicht sonderlich beliebt. Radegast ist ein großer hagerer<br />

Mann, der selbst beim gemeinsamen Abendessen im Aufenthaltsraum seinen langen schwarzen<br />

Mantel und seinen breitkrempigen schwarzen Hut nicht ablegt. Die abgewetzte Ledertasche mit<br />

seinen Messern steht stets neben ihm. Er macht einen mürrischen und verschlossenen Eindruck und<br />

sondert sich von den anderen Pensionsgästen ab. Trotzdem ist sein Einfluß im „Lindenblatt“ spürbar.<br />

Mit Radegast zog der Mißmut in die Pension ein, seine Anwesenheit hemmt das Gespräch am Tisch,<br />

kaum einer hat Lust zu scherzen oder sich auch nur angeregt zu unterhalten.<br />

Hinzu kommt die Distanz, die ich gegenüber Kestril Dimitri an den Tag lege, seit er als Spion für Dan<br />

Ladrisim de Leolo tätig war, und die auch den anderen nicht verborgen bleibt, waren es doch bislang<br />

im Hauptteil wir beide, die die Gesprächsrunde in Gang gesetzt haben. Nach dem Essen und nachdem<br />

die Hauswirtin das Geschirr weggeräumt hat, zerstreut sich die Runde recht bald, und alle gehen auf<br />

ihre Zimmer. Mir ist das ganz recht, denn meine Stimmung ist ebenso düster und unerfreulich wie die<br />

des neuen Gastes, Kirlian Radegast, und ich verspüre auch wenig Bedürfnis nach unbeschwerter<br />

Konversation. Fast bin ich Radegast dankbar für sein Auftauchen, das die Geselligkeit beendet hat.<br />

Manchmal erscheint es mir so, als wäre der Schatten, der seit Joaos Abreise über mein Gemüt<br />

herabgesunken ist, nach außen gerückt und hätte sich in dem Handelsreisenden verkörpert.<br />

Ich stürze mich in die Arbeit und versuche, meinen Liebsten zu vergessen. Der Sommer geht zur<br />

Neige und mit ihm mein kurzes Glück.<br />

2. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf...<br />

Herbststürme<br />

39. Mittmond (167 n.G.)<br />

Es ist eine schwüle Sommernacht. Meine Finger sind so feucht, daß ihnen die Feder fast entgleitet,<br />

dicke Schweißtropfen fallen auf die Seiten meines Tagebuches und verwischen die Tinte zu<br />

schwarzen Farbklecksen. Bis zum Sonnenaufgang werden noch einige Stunden vergehen, aber mein<br />

Schlaf war so aufgewühlt und von schlechten Träumen begleitet, daß ich keine Ruhe mehr finde.<br />

Wahrscheinlich ist die drückende Hitze schuld daran. Schweiß verklebt mein Haar und heftet mein<br />

dünnes Kleid wie mit Leim an meinen erhitzten Körper. Schon seit einigen Tagen trage ich mich mit<br />

dem Gedanken, ohne Nachthemd ins Bett zu gehen, bisher jedoch hat mich mein Sinn für<br />

Schicklichkeit davon abgehalten. Nur leichte Mädchen schlafen nackt. Ich mag den Sommer nicht.<br />

Doch anstatt weiter zu lamentieren und Unsinn in mein Tagebuch zu kritzeln, sollte ich lieber etwas<br />

Sinnvolles tun. Ich werde ein paar Fechtübungen machen und dann meine Unterrichtsstunden für die<br />

kommende Woche vorbereiten. Wenn es nur nicht so heiß wäre!


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

12. Oberring<br />

Die Hitze hat ein wenig nachgelassen, die Astrologen sagen, daß der Herbst früh kommt, dieses Jahr.<br />

Ich hoffe, sie haben sich nicht getäuscht. Meine schlechten Träume dauern dennoch an, ich komme<br />

morgens übermüdet in die Höhere-Töchter-Schule, und Mistress Ophelia hat mich bereits gefragt, was<br />

mit mir nicht stimmen würde. Aber mit mir ist alles in Ordnung, ich träume nur schlecht. Wenn ich<br />

mich wenigstens an meine Träume erinnern könnte!<br />

15. Oberring<br />

Dieser Messerverkäufer ist mir wirklich unheimlich. Nicht daß ich eine schreckhafte Frau wäre, aber<br />

irgendetwas an ihm läßt mir eine Gänsehaut über den Rücken rieseln, jedesmal, wenn ich ihn sehe.<br />

Ich habe auch den Eindruck, daß er mich seltsam anschaut, und manchmal lächelt er so merkwürdig.<br />

Warum ist er überhaupt im „Lindenblatt“, es ist doch noch Hochsommer? Meistens kommt er erst im<br />

Spätsommer nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> (bisweilen überwintert er auch in einer anderen Stadt), kurz bevor die<br />

heftigen Regenfälle und Herbststürme einsetzen. Lief das Geschöft diesmal so gut, daß er sich eine<br />

längere Ruhepause gönnen kann? Ein bizarrer Gedanke geistert durch meinen Kopf, wobei ich keine<br />

Ahnung habe, woher er kommt: vielleicht hat er alle seine Messer an Mörder und Halsabschneider<br />

verkauft und lebt nun zufrieden von seinem Blutgeld, während seine Messer den Tod über<br />

Unschuldige bringen... Atakuela, zügele deine Fantasie! Radegast ist ein ganz normaler Vertreter,<br />

etwas mürrisch und verschlossen zwar, aber keine Inkarnation des Todes, die eine blutige Saat<br />

ausstreut!<br />

19. Oberring<br />

Dimitri der Student erhält in letzter Zeit in allerhöchstem Maße bedenklichen Besuch: ein rothaariges<br />

Mädchen, deren üppige Körperrundungen und die Art, wie sie sie offen zur Schau stellt, durch ihre<br />

Kleider eher betont als verhüllt, eine eindeutige Sprache sprechen, was ihr Gewerbe anbelangt,<br />

untermauert durch ihren reichhaltigen und aufdringlichen Goldschmuck, der bei jeder Bewegung, die<br />

sie macht, übrigens sehr aufreizende Bewegungen, die nur darauf abzielen, Männern den Verstand zu<br />

rauben, laut klimpert, und durch das erotisierende Parfum, das sie aufgelegt hat. Dimitri ist ganz<br />

vernarrt in sie, und auch die anderen Männer in der Pension werfen ihr begierliche Blicke zu, sogar<br />

der geistig zurückgebliebene Sohn des Ehepaars Feheli, der zwar aussieht, als wäre er dreißig, aber<br />

den Verstand eines Kleinkindes hat. Ich habe versucht, Dimitri ins Gewissen zu reden, aber obwohl er<br />

meinem strafenden Blick schuldbewußt ausgewichen ist, habe ich doch im Endeffekt keinen<br />

nennenswerten Erfolg erzielt. Er trifft sich weiter mit der Rothaarigen, die auf den Namen Yssa hört,<br />

überhäuft sie mit Geschenken und hofiert die Dirne, als wäre sie eine Dame. Der Fälscher und das<br />

käufliche Mädchen, ein sauberes Paar! Heute morgen beim Frühstück habe ich mit Mistress<br />

Yatzikenia gesprochen, aber sie entgegnete nur, sie mische sich nicht in die Angelegenheiten ihrer<br />

Gäste, solange diese keinen Ärger machten. Ich hatte mehr von ihr erwartet. Ihr Profit geht ihr<br />

anscheinend über die Tugend, und um ihre Gäste nicht zu vergraulen, ist sie sogar bereit, aus ihrer<br />

Pension ein Stundenhotel zu machen!<br />

22. Oberring.<br />

Heute hat es geregnet und ist merklich kühler geworden, sehr ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Ich<br />

wurde bis auf die Haut durchnäßt, während ich mich auf den Weg zu Ailanth k´irianh L´ye machte,<br />

die aufzusuchen Mistress Ophelia mir geraten hatte, weil meine schlimmen Träume nicht aufhörten,<br />

sondern vielmehr immer unangenehmer wurden. Ich kann mich nur bruchstückhaft an meine Träume<br />

erinnern, aber sie rauben mir den Schlaf. Mittlerweile sind meine Augen gerötet und mein Gesicht ist<br />

eingefallen, ich bin unkonzentriert und abgelenkt. Tropfnaß stand ich vor dem schönen, hell<br />

gestrichenen und mit bunten Ornamenten, Spiralen und geometrischen Zeichen bemalten Haus,<br />

bewundernd betrachtete ich ihre inzwischen in ganz <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> - zumindest in gebildeten Kreise -<br />

berühmte Sonnenuhr. Der Regen machte mir nichts mehr aus, so naß wie ich ohnehin schon war. Eine<br />

Dienerin, deren Gesicht hinter einem dunklen Schleier und einer Maske verborgen war, wies mir den<br />

Weg zur Herrin des Hauses, die mir gelassen und mit einem seltsam wissenden Ausdruck in ihren<br />

türkisfarbenen Augen entgegenblickte, so als hätte sie mich erwartet, obwohl ich meinen Besuch nicht<br />

angekündigt hatte. Die Dienerin brachte mir ein Handtuch, mit dem ich wenigstens die ärgste Nässe<br />

aus meinem Gesicht und meinen Haaren wischen konnte, und die Gastgeberin bot mir Tee an, den ich<br />

dankend annahm. Bevor wir zum geschäftlichen Teil übergingen, plauderten wir zunächst eine Weile


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

lang nett miteinander, wobei sich Ailanth als ruhige, aber sehr charmante Gesprächspartnerin erwies.<br />

Dann sagte mir die magere Frau mit dem silberblonden Haar und dem milchig-weißen Teint offen und<br />

unvermittelt ins Gesicht. „Ihr habt Alpträume, Denim Atakuela, die Euch den Schlaf stehlen.“<br />

Ich war bereits dabei, ihr ein Lob für ihr hellseherisches Talent auszusprechen, als Ailanth mich<br />

lächelnd unterbrach: „In erster Linie bin ich eine Gelehrte. Um Euer Problem zu erkennen, Denim,<br />

bedarf es keiner Wahrsicht. Die dunklen Ringe unter Euren roten Augen und Eure fahrigen<br />

Bewegungen sind auch von einem aufmerksam beobachtenden Laien zu interpretieren.“<br />

Ich war ehrlich beeindruckt von Ailanth, die sowohl als gelehrte Frau, als auch als Wahrsagerin und<br />

Astrologin einen guten Ruf in der Oberstadt genoß. Sie deutete mir die Sterne und legte mir die<br />

Karten, hernach schwieg sie lange und nachdenklich.<br />

„Ihr steht unter einem negativen Einfluß, Denim Atakuela,“ erklärte sie mir schließlich. Ihre Stimme<br />

klang sehr ernst und von Mitgefühl bewegt. „dessen Ursprung ich aber nicht genau ausloten kann.<br />

Eine schwarze Wolke verdunkelt Eure Zukunft. Ich lese eine Vielzahl dunkler Omen, verfaßt in einer<br />

Symbolik, in der ich nicht bewandert bin. Aber Eure Alpträume sind erst der Anfang.“ Offensichtlich<br />

ratlos drehte sie mehrere Karten in ihrer Hand. „Da gibt es den „Märtyrer“, die „Schwertdame“, die<br />

„Stimmen“ und den „Puppenmeister“. Ich weiß nicht, wie ich die einzelnen Positionen einordnen soll,<br />

denn sie werden erst zu einem Zeitpunkt offenbar, da ein... Schatten alles, was dahinter liegt, in<br />

Finsternis hüllt.“ Verwirrt und mit einem sichtlichen Gefühl des Unbehagens hielt Ailanth inne. „Ich<br />

vermag Euch nur die möglichen Bedeutungen der Karten zu enthüllen, sie wirklich interpretieren kann<br />

ich nicht.“<br />

Und so erfuhr ich Folgendes: Der „Märtyrer“ steht für ein willentlich gebrachtes Opfer, für völlige<br />

Selbstaufgabe. Die „Schwertdame“ steht für Stärke und Entschlossenheit, aber auch für Verbohrtheit,<br />

Fanatismus, eine einseitige Weltsicht. Einerseits verkörpert sie Erfolg, andererseits Blindheit und<br />

Irrtum. Sieg und Versagen liegen in dieser Karte dicht beeinander, und was sie konkret bedeutet,<br />

hängt von den Karten ab, mit denen sie korrespondiert. Die „Stimmen“ stehen für Ratgeber, für die<br />

Wahlmöglichkeit, für die Gabelung im Weg. Aber auch hier hängt es von der Gesamtkonstellation ab,<br />

ob sie zum Guten oder zum Schlechten hin weisen. Der „Puppenmeister“ schließlich steht für den<br />

überlegten Geist, den Intellekt, der sich mit Geschick und Manipulation alle anderen Karten untertan<br />

macht. Er ist die mächtigste Karte im Spiel.<br />

Ich kann nicht behaupten, daß ich jetzt sehr viel mehr weiß als zuvor, außer, daß ich einer ungewissen<br />

und sehr beunruhigenden Zukunft entgegengehe. Die Karten lassen soviel<br />

Interpretationsmöglichkeiten offen, daß es sinnlos ist, überhaupt damit anzufangen. Sie können alles<br />

bedeuten.<br />

Als ich die Wahrsagerin bezahlen wollte, schüttelte Ailanth den Kopf. „Wo ich nicht helfen kann,<br />

verlange ich auch keine Bezahlung.“ Sie reichte mir eine kleine Dose mit einem durchsichtigen,<br />

kristallinen Pulver. „Damit werdet Ihr wenigstens wieder schlafen können. Tief und traumlos.“<br />

Deprimiert kehrte ich nach Hause zurück.<br />

25. Oberring<br />

Meine Träume haben aufgehört. Durch das Pulver, das Ailanth mir gab, schlafe ich wie ein Stein.<br />

Aber ich habe den Eindruck, als würde meine innere Unruhe sich nun auf die Stunden meines<br />

Wachseins verlagern. Genau betrachtet, habe ich wenig gewonnen. Ich bin gereizt und unleidlich.<br />

Man beginnt, mir aus dem Weg zu gehen.<br />

27. Oberring<br />

Dimitri erhält immer noch Besuch von der Dirne, ohne daß es einen kümmern würde, allenfalls, daß<br />

sie ihn beneiden. Manchmal sitzt sie auch abends mit bei Tische, plaudert auf ihre anzügliche Weise<br />

mit den Hausbewohnern, flirtet und schäkert. Ob sie neue Kunden gewinnen möchte? Wird am Ende<br />

das gesamte „Lindenblatt“ mit ihr ins Bett gehen? Mistress Yatzikenia schweigt. Sie scheint die<br />

Metamorphose ihrer Pension zu einem Bordell stillschweigend zu akzeptieren. Meine Achtung vor ihr<br />

hat erheblich nachgelassen. Befremdlicherweise wirkt der Messerverkäufer aufgetaut, manchmal fast<br />

aufgedreht, obschon man ihn nie einen Tropfen Alkohol anrühren sieht. Seine Gesprächsthemen sind<br />

einseitig, zugegeben. Er führt allen Pensionsgästen seine Messer vor, egal, ob sie daran interessiert<br />

sind oder nicht. Er schwärmt von ihrer Schärfe, demonstriert sie auch, indem er damit Haare und<br />

Papier zerschneidet (wo bekommmt er so scharfe Klingen her?), preist die Qualität des Stahls und die<br />

Verarbeitung an. Eine neue Verkaufstaktik? Aber eigentlich scheint er seine Messer gar nicht


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

verkaufen zu wollen. Er ist einfach nur stolz darauf, fast wie verliebt. Mir ist der fanatische Glanz in<br />

seinen Augen aufgefallen, wenn er seine Messer aus der abgewetzten Ledertasche packt und sie<br />

präsentiert. Irgendwie beginnt mich Radegast in zunehmendem Maße zu beunruhigen.<br />

28. Oberring<br />

Heute bin ich mitten in der Nacht aufgewacht und wie von unsichtbaren Fäden gezogen zum Fenster<br />

gegangen (der „Puppenmeister“?). Im Schatten der gegenüberliegenden Häuserfront sah ich eine<br />

rotgekleidete Gestalt, die die Pension beobachtete. Dann, urplötzlich, wurden mir die Augenlider<br />

schwer, und als ich kurz blinzelte, war die rote Gestalt verschwunden. Ich fand den Rest der Nacht<br />

keinen Schlaf mehr, trotz Ailanths Wunderpulver.<br />

30. Oberring<br />

Ich habe das seltsame Gefühl, verfolgt zu werden. Dimitri? Nein, er ist viel zu beschäftigt mit seiner<br />

Hure. Außerdem, wer hätte noch Grund, mich beschatten zu lassen, jetzt, wo Joao in Kasralit ist? Ich<br />

bin keine wichtige Persönlichkeit, ich habe keinen politischen Einfluß, und reich bin ich auch nicht.<br />

Trotzdem habe ich mir angewöhnt, lieber meinen Rapier mitzunehem, wenn ich auf die Straße gehe.<br />

Vielleicht geht es ja um eine meine Schülerinnen, ein Komplott, das gegen sie geschmiedet wird, und<br />

ich bin der Köder oder irgendeine Randfigur, die miteinbezogen wird. Wieder kommen mir die Karten<br />

in den Sinn, die Ailanth mir gelegt hat. Der „Puppenmeister“...<br />

33. Oberring<br />

Die Gäste der Pension verhalten sich sehr merkwürdig in der letzten Zeit. Dimitri ist zu einem<br />

parfumierten Popanz in pseudo-schicker Kleidung degeneriert, die kein echter Aristokrat tragen<br />

würde, aus Scheu, sich lächerlich zu machen. Er macht Yssa weiterhin den Hof, und die<br />

Liebesgedichte, die er ihr vorträgt, sind das Schlechteste, was ich bislang aus seinem Munde<br />

vernommen habe, und doch schmilzt sie dahin wie Wachs. Yalno, der gestörte Sohn der Feheli,<br />

schleicht im Haus herum und ist immer da, wo man ihn am wenigsten erwartet. Mit großen leeren<br />

Augen starrt er einen an, daß man glaubt, darin zu ertrinken wie in einem bodenlosen Zwillingssee.<br />

Radegast sitzt im Aufenthaltsraum und schleift seine mörderischen Messer, erzählt jedem, der<br />

hereinkommt, wie leicht es ist, einem Menschen damit die Halsschlagader zu öffnen, schwärmt davon,<br />

daß seine Klingen Fleisch und Knochen schneiden wie Butter. Penhaligon wird fast jeden Tag von<br />

zwei jungen Männern aufgesucht, die ihn in Gespräche über Themen verwickeln, die er scheinbar<br />

lieber meiden möchte. Der dünne, wie ausgemergelt wirkende Tibidago, der immer einen hohen<br />

schwarzen Hut auf dem Kopf hat, tut sehr geheimnisvoll, während der goldhaarige Kasralit, Aramar,<br />

einen aufgeschlossenen Eindruck macht und offen mit Penhaligon spricht, ohne ein Blatt vor den<br />

Mund zu nehmen. Die Gespräche kreisen um Mystik, uralte Bücher und um Magie - was Tibidago<br />

jedoch zu kaschieren versucht. Der verstaubte Antiquar hat sich bisher geweigert, sie in seine<br />

Wohnung mitzunehmen, so daß ihre Unterhaltungen im Salon der Pension stattfinden. Aramar stört<br />

das nicht weiter, Tibidago sehrwohl. Soweit ich herauskristallisieren konnte, möchten beide junge<br />

Männer Penhaligons Schüler werden, worauf er jedoch sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen<br />

ablehnend reagiert. Ich denke, es ist an der Zeit, herauszufinden, was das alles zu bedeuten hat.<br />

35. Oberring<br />

Almir hat mir wie stets gute Auskunft erteilt. Yssa Caerdonthiel ist eine Hure aus dem „Succube“, die<br />

sich mit Dimitri „angefreundet“ hat. Aramar ist ein junger Zauberlehrling, Tibidago ein Mystiker -<br />

und von Ludomill Penhaligon heißt es, er sei ein uralter Meisterzauberer, der sich zur Ruhe gesetzt<br />

hat... Kirlian Radegast, so wußte mir der alte Bettler zu berichten, streift manchmal durch die<br />

Unterstadt, versucht Streit zu provozieren... um dann mit seinen tödlichen Messern ein Blutbad<br />

anzurichten. Mittlerweile geht man ihm in der Unterstadt aus dem Weg, denn selbst das Gesindel, das<br />

dort haust, legt sich nur ungern mit einem verrückten Mörder an, der Gefallen daran findet, Menschen<br />

sterben zu sehen, zu beobachten, wie ihr Blut über seine Hand strömt und zu Pfützen zusammenfließt.<br />

Almir erzählte mir nichts wirklich Neues, aber ich fand alle meine Verdachte bestätigt.<br />

36. Oberring


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Meine schlechten Träume sind wiedergekehrt. Ailanths Pulver wirkt nicht mehr. Im Wachen wie im<br />

Schlafen bin ich in steter Unruhe, gehetzt blicke ich über meine Schulter,<br />

ob mir nicht jemand folgt, beäuge mißtrauisch mein Umfeld. Aber, bei Atuasi, ich habe auch allen<br />

Grund für mein Mißtrauen! Ich lebe mit einem blutrünstigen Mörder unter einem Dach, mit einem<br />

Geistesgestörten (und wir alle wissen, daß solche Menschen zu Gewalttätigkeit neigen, manchmal aus<br />

einem Impuls heraus oder weil sie sich bedroht fühlen, andere Leute umbríngen!), und wer weiß,<br />

welche Rituale Penhaligon früher durchführte, bevor er sein Antiquariat eröffnete! Man denke nur an<br />

die Greueltaten von Sariel Mizgar. Was, wenn auch Penhaligon ein Diener Selefras war? Oder<br />

vielleicht ist er es immer noch, vielleicht tut er nur so, als hätte er sich zur Ruhe gesetzt... Natürlich,<br />

ich bin überspannt, übervorsichtig (in der letzten Zeit trage ich immer meinen Rapier bei mir, habe ich<br />

das schon gesagt?, auch wenn ich nur spazieren gehe, und auch - gerade dann! - wenn ich mich mit<br />

dem Gelichter, welches mit mir in der Pension zusammenlebt, zum Abendtisch begebe), aber<br />

vielleicht wäre ich bereits tot, von Radegast ermordet, um mein Blut fließen zu sehen, von Yalno<br />

geschändet und danach bei lebendigem Leib aufgefressen (ich hörte schon von Schwachsinnigen, die<br />

zu Kannibalismus neigen!), von Penhaligon Selefra geopfert, wenn ich nicht so vorsichtig wäre. Man<br />

kann nie vorsichtig genug sein. Mich kriegen sie nicht!<br />

37. Oberring<br />

Die anderen Pensionsgäste, sie blicken mich manchmal so seltsam an, unterhalten sich flüsternd hinter<br />

meinem Rücken. Manchmal verebbt das Gespräch, wenn ich den Salon betrete. Ich gewinne mehr und<br />

mehr den Eindruck, daß sie etwas vor mir verbergen wollen. Shivistri und die sanfte Eolyn sind die<br />

einzigen, denen ich noch Vertrauen schenke.<br />

Ich träumte heute nacht davon, daß der verrückte Yalno Feheli, dieser erwachsene Mann mit dem<br />

Geist eines Kindes (aber hat er auch die Bedürfnisse eines Kindes, oder nicht vielmehr die eines<br />

erwachsenen Mannes?) mich vergewaltigen würde. Schreiend und schweißgebadet schreckte ich aus<br />

dem Bett. Ich kleidete mich sofort an, nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, und klopfte an<br />

die Wohnungstür dieses unverantwortlichen Ehepaares, die ihren geisteskranken Sohn unbeaufsichtigt<br />

herumlaufen lassen, um ihnen davon zu erzählen, was ihr bestialischer Sohn mir angetan hatte. Sie<br />

versuchten mich zu beruhigen, versicherten mir, daß Yalno völlig harmlos sei, aber ich weiß es<br />

besser, ich weiß, was diese Bestie mir angetan hat! Xelesia Feheli wies mich darauf hin, daß ich nur<br />

geträumt hätte, doch ich erkannte natürlich sogleich, daß sich die Mutter nur schützend vor ihren<br />

Sohn stellte. Typisch, Mütter verzeihen ihren Kindern alles, selbst einen Mord! Ich ging Xelesia<br />

Feheli an die Kehle. Ihr Gemahl, Absidian, stellte sich dazwischen. Ich schlug ihn zu Boden. Dann<br />

verrauchte meine Wut, so rasch, wie sie gekommen war. Ich ging zurück in meine Wohnung, doch<br />

nicht, ohne Xelesia und Absidian Feheli vorher zu warnen. Beim nächsten Mal würde ich ihren<br />

geisteskranken Sohn mit meinem Rapier aufspießen wie einen Schmetterling. Danach konnte ich tief<br />

und traumlos schlafen, den Griff meiner Waffe fest in der Hand.<br />

38. Oberring<br />

Träume, Träume, einer schrecklicher als der andere! Ich sehne mich in die Zeiten zurück, da ich mit<br />

dem Erwachen meinen Nachtmahr vergaß, nur wußte, daß ich schlecht geschlafen und schlimm<br />

geträumt hatte. Jetzt erinnere ich mich an jeden einzelnen Alptraum, und es ist mir, als könnte ich nur<br />

noch schreien und nie mehr damit aufhören. Ich hielt ein Kindlein in Armen und säugte es an meiner<br />

Brust, ich liebte das Baby inniglich, denn es war mein eigenes - doch dann wuchsen ihm Zähne und<br />

Klauen, und es zerfetzte mich und verschlang mein Fleisch!<br />

Selbst hiernach war mir kein Erwachen vergönnt, vielmehr stürzte ich in einen neuerlichen<br />

Nachtmahr, in dem die schattenhaften Gestalten meiner toten Mutter und der toten Denim Atuasi,<br />

Heilsbringerin der Taominoi, düster und bedrohlich auf mich zukamen. Jeden Augenblick erwartete<br />

ich, auch sie würden sich in Monster verwandeln, doch dann verblaßten sie einfach und<br />

verschwanden. Und ich konnte endlich erwachen.<br />

39. Oberring<br />

Als ich gestern abend aus dem Internat zurückkam, sah ich eine mir vertraute Person, die mich im<br />

Salon erwartete. Für einen Augenblick war ich versucht, ins Zimmer zu stürmen und sie in liebevoller<br />

Umarmung zu umschlingen, denn es war Yesil, die Tochter des multorischen Imperators und eine<br />

meiner engsten Freundinnen. Doch dann entsann ich mich des Traumes der vergangenen Nacht. Ein


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Säugling, den ich behutsam in die Arme nehme, mein eigenes Kind... das seinen Mund aufreißt, spitze<br />

Zähne entblößt und mich verschlingt! Ich bin wachsam geworden, inzwischen, und ich weiß die Omen<br />

zu deuten. Ein Kind, das ich an meiner Brust genährt habe, Yesil, die ich erzogen und ausgebildet<br />

habe, die ich liebe wie meine leibliche Tochter. Das kann kein Zufall sein! Die Person in dem Salon<br />

ist nicht Yesil! Sie ist... irgendjemand, die sich für Yesil ausgibt. Ich werde ihr nicht ahnungslos in die<br />

Fänge laufen, mich von ihr verschlingen lassen, wie in meinem Traum. Ich bin gewarnt. Ohne, daß die<br />

falsche Yesil mich benmerkt hätte, ziehe ich mich zurück, verlasse das „Lindenblatt“. Diese Nachte<br />

werde ich im Haus meines Vaters schlafen.<br />

40. Oberring<br />

Ich habe mit Mistress Yatzikenia gesprochen, und auch mit Mistress Ophelia. Beide haben mir<br />

zugesichert, sie werden mich verleugnen, wenn das Monster in der Maske von Yesil nach mir fragt.<br />

Ich hoffe, ich kann ihnen vertrauen. Wem kann ich überhaupt noch vertrauen?<br />

42. Oberring<br />

Ich sehe die schemenhaften Gestalten meiner Mutter und der Griondés jetzt immer öfter, selbst dann,<br />

wenn ich wach bin. Stumm und düster betrachten sie mich. Sind es Trugbilder? Verkleidete<br />

Verderberinnen, die mich zu vernichten trachten? Oder Gespenster?<br />

43. Oberring<br />

Heute morgen entdeckte ich, aus dem Fenster blickend, Nicht-Yesil, die vor dem Haus auf mich<br />

wartete. Aber noch bin ich nicht bereit, mich ihr zu stellen. Ich verließ das Haus durch den<br />

Hinterausgang.<br />

1. Talu<br />

Die geisterhaften Gestalten von Denim Arpáo und Denim Atuasi sind ein vertrauter Anblick für mich<br />

geworden. Sie begleiten mich, wohin immer ich auch gehe, sie warten im Schatten auf mich,<br />

beobachten, betrachten mich mit traurigen Augen aus Nebel und Rauch. Ich bin inzwischen<br />

überzeugt, daß sie mir kein Leid zufügen wollen, sonst hätten sie es bereits getan. Das Yesil-Monster<br />

scheint seine Verfolgung aufgegeben zu haben, aber ich bin sicher, es lauert nur im Verborgenen und<br />

wartet auf seine Chance, mich in Stücke zu reißen. Ich trainiere jeden Tag mit Rapier und Parierdolch,<br />

übe die waffenlosen Techniken ein, die Shivistri mir beigebracht hat, bevor ich mich von ihr<br />

distanziert habe. Bald, Nicht-Yesil, bald. Bald bin ich dir gewachsen.<br />

5. Talu<br />

Aramar und Tibidago, sie kommen nicht mehr. Hat der alte Zaubermeister ihnen die Ausbildung<br />

verweigert, oder empfängt er sie nun an verborgenen Orten? Ich lausche manchmal an seiner<br />

Zimmertür, ob ich Stimmen darin höre. Barfuß schleiche ioch mich an und lege mein Ohr an das Holz.<br />

In Penhaligons Wohnung ist nur Schweigen... aber vielleicht trifft er sich ja an anderen Orten mit<br />

seinen Schülern, vielleicht in dunklen Grüften, auf Friedhöfen, in unterirdischen Katakomben. Ich bin<br />

mir sicher, er hat sie als seine Schüler angenommen, deshalb kommen sie nicht mehr in den Salon.<br />

Oder aber... er hat sie getötet, sie Selefra geopfert! Yalno, der Schwachsinnige, starrt mit geiferndem<br />

Blick auf meine Brüste. So als könnte er ihre wahre und unschickliche Größe erkennen, obschon ich<br />

den Fluch, den mir die Natur mitgab, stets in meinem eng geschnürten Mieder verberge. Seine Eltern,<br />

dieses ältliche, grauhaarige, unscheinbare Ehepaar, sie tun so, als wüßten sie von nichts, dabei<br />

beschützen sie ihren Sohn, verheimlichen all seine Missetaten. Wieviele Vergewaltigungen und<br />

Morde mögen sie wohl schon vertuscht haben? Manchmal höre ich Dimitri und dieses Flittchen in<br />

verderbter Lust aufstöhnen, höre ihr animalisches Ächzen und ihre Schreie, die jedem anständigen<br />

Menschen den wohlverdienten Schlaf rauben. Und der Messerverkäufer schwärmt von der Schönheit<br />

des Todes...<br />

11. Talu<br />

Yatzikenia Kwasazmín, weiß sie eigentlich nicht, was in ihrem Hause vor sich geht? Wie kann sie<br />

solches Treiben dulden? Es gibt nur eine Möglichkeit... sie gehört selbst dazu, auch sie nimmt teil<br />

an... ja, an was eigentlich?<br />

Ich bin mir inzwischen sicher, daß die anderen Bewohner des Hauses ein Geheimnis haben, das ich<br />

als Einzige nicht teile. Wenn ich in den Salon komme, verstummt oft jedes Gespräch, alle starren


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

mich an, als ob ich eine Fremde wäre - oder ein Opfer. Wenn ich aber lautlos zur Tür schleiche und<br />

lausche, dann höre ich sie sich angeregt unterhalten, sie plaudern, sie scherzen. Ich höre sie manchmal<br />

hinter meinem Rücken lachen und flüstern, sie sagen, ich wäre verrückt, dabei sind sie die<br />

Verrückten!<br />

13. Talu<br />

Endlich habe ich die Zusammenhänge durchschaut. Alle in diesem verfluchten Haus sind gegen mich,<br />

es ist eine großangelegte Verschwörung, mit dem Ziel und Zweck, mich zu vernichten. Und Mistress<br />

Yatzikenis, sie weiß davon, sie ist an allem beteiligt, von Anfang an. Möglicherweise ist sie sogar die<br />

Drahtzieherin. Die... „Puppenmeisterin“.<br />

Yssa, die Hure... sie ist mehr als das. Almir ibn Sedalesch verkaufte mir die Information für 20<br />

Silbersonnen. Yssa Caerdonthiel, Geliebte von Dimitri dem Studenten, sie ist nicht nur eine Dirne,<br />

sondern auch eine Dämonin, eine Sukkubus aus dem allertiefsten Inferno! Ich bin überzeugt, sie ist im<br />

„Lindenblatt“, um alle Bewohner zu verderben, in ihren teuflischen Bann zu ziehen. Sie und die<br />

Hauswirtin müssen Hand in Hand arbeiten, Mistress Yatzikenia lockt Gäste in ihr Haus, wie eine böse<br />

Hexe aus einer der alten Geschichten, und Yssa fängt und fesselt sie mit ihren dämonischen Reizen.<br />

Shivistri, sie ist die Einzige, die Letzte, der ich noch vertrauen kann...<br />

14. Talu<br />

Heute habe ich erfahren, daß Weiß in der Vorstellung ihres Volkes die Farbe des Todes ist. Shivistri<br />

Srimavo trägt immer Weiß... Sie trägt den Tod im Herzen. Meinen Tod? Ich kann ihr nicht mehr<br />

vertrauen, nicht einmal mehr ihr. Es ist an der Zeit, zu gehen. Morgen verlasse ich dieses Haus und<br />

ziehe zu meinem Vater. Wenigstens er ist mir treu.<br />

16. Talu<br />

Die Geisterfrauen haben zu mir gesprochen. Sie wollen mir helfen, sie sind aus dem Totenreich<br />

emporgestiegen, um mir beizustehen in meiner Not. Sie enthüllen mir viele Geheimnisse, meine<br />

Mutter und meine Herrscherin, ich fühle mich geborgen und sicher in ihrer Obhut. Ich stelle ihnen die<br />

Fragen, die mich quälen, und ich erhalte Antworten von ihnen, Antworten, denen ich glauben kann.<br />

Und doch ist es verwirrend, was sie mir mit ihren flüsternden und raunenden Stimmen offenbaren.<br />

Meine Mutter spricht zu mir:<br />

„Leg Deinen Argwohn ab. Vertraue denen, die in den Mauern dieses Hauses sind, von ihnen droht dir<br />

kein Leid. Sie sind wie du nur Marionetten, auch wenn der eine oder andere glauben mag, er wäre<br />

mehr, vielleicht sogar der Puppenspieler. Wer immer an den Fäden zieht: er naht von außen.“<br />

Ich glaube ihr.<br />

17. Talu<br />

Ich habe alle Kontakte nach Außen abgebrochen, vom Prinz-Schukan-Internat habe ich mich auf<br />

unbestimmte Frist beurlauben lassen. Hier, im „Lindenblatt“, bin ich sicher. Es ist schön, wieder<br />

jemandem vertrauen zu können. Es ist schön, Shivistri wieder vertrauen zu können. Nur einen<br />

Wermutstropfen gibt es in der süßen Verheißung der Geisterdamen: Yssa Caerdonthiel. Es<br />

widerstrebt mir in der innersten Seele, eine Lustdämonin als Verbündete, als Mitgefangene und<br />

Weggefährtin zu betrachten.<br />

19. Talu<br />

In der Nacht vom 18. auf den 19. schreckte ich gegen Mitternacht aus dem Schlaf. Ich hatte zuvor<br />

schon unruhig geträumt und mich in meinem Bett hin und her gewälzt. Als ich nun die Augen<br />

aufschlug, war meine Bettdecke durchnäßt, und mein Kopfkissen war feucht von Tränen, ohne daß<br />

ich die Erinnerung an den Traum zu fassen vermochte, der mich dazu gebracht hatte, im Schlaf zu<br />

weinen. Wirre Bilder tanzten durch meinen Kopf, Bilder unsäglichen Schreckens, die ich versuchte,<br />

einzufangen, mir auch im Wachsein bewußt zu machen, doch sie entzogen sich, fast schien es mir mit<br />

höhnischem Kichern meinem Zugriff und versanken wie Nebel in den Abgründen meines<br />

Unterbewu0tseins. Ich zitterte, und mein Nachthemd klebte auf meiner Haut, spannte über meinen<br />

Brüsten. Für eine Sekunde wähnte ich, es wäre Blut, das mein Kleid und Bett befleckte, und ich schrie<br />

laut auf, aber noch während mein eigener Schrei in meinen Ohren verhallte, erkannte ich, daß es nur


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Schweiß war. Ich ging zum Fenster, das offenstand und einen kühlen Luftzug ins Zimmer ließ, der die<br />

dunklen Vorhänge blähte. Ich beugte mich hinaus und atmete tief die frische Herbstluft, die den<br />

Geruch nach Regen und Nebel mit sich trug. Oder war es der Geruch nach Fäulnis und Verwesung?<br />

Nein!<br />

Unten auf der Straße meinte ich im Schatten der Häuser eine Gestalt auszumachen, die hinaufsah zu<br />

mir, aber nicht nur zu mir, sondern zu allen, die in dem Haus wohnten. Von irgendwoher wurde das<br />

Spiel einer Flöte an mein Ohr getragen, eine leise, einschmeichelnde Melodie, die mir die Glieder<br />

schwer werden ließ. Ich gähnte, und kaum noch glückte es mir, auch nur meine Augen aufzuhalten...<br />

Ich erwachte wieder, als mir die hellen Strahlen der Morgensonne durch die Lider stachen. Blinzelnd<br />

erhob ich mich von den Teppichen unter dem immer noch offenen Fenster, vor dem ich eingeschlafen<br />

war. Diesmal war mein Schlaf tief und traumlos gewesen, und doch fühlte ich mich erschöpft und wie<br />

ausgelaugt. Die dunkle Ahnung stahl sich in mein Bewußtsein, daß letzte Nacht irgendetwas passiert<br />

war. Etwas entsetzliches.<br />

Rasch kleidete ich mich an, nachdem ich mich nur notdürftig gewaschen hatte, und war gerade dabei,<br />

meine Haare hochzustecken, da vernahm ich einen lauten Schreckensruf aus dem Treppenhaus.<br />

Sogleich beeilte ich mich, meinen Rapier zu entblößen und durch die Tür nach draußen zu stürmen,<br />

die Ursache des Schreies zu ergründen. Ich war noch barfuß, und mein Haar hing mir wirr ins Gesicht.<br />

Es war die Hausdame, die so geschrien hatte und damit nicht nur mich alarmiert, sondern auch - so<br />

schien es - alle anderen Bewohner der Pension. Ich sah Dimitri und meine beiden Freundinnen aus<br />

dem Stock über mir, die gemeinsam mit mir die Stufen nach unten eilten, wobei wir einen<br />

Treppenabsatz passierten, wo der Boden und die Wand mit getrocknetem Blut verschmiert waren-<br />

.Mistress Yatzikenia beugte sich am Fuß der Treppe über den Körper eines Mannes, der in<br />

verkrümmter Haltung dalag; das Geländer über ihm war durchbrochen, und er war scheinbar in die<br />

Tiefe gestürzt, drei Stockwerke tief. Eine in den Boden eingetrocknete Blutlache umgab ihn.<br />

Mistress Yatzikenia hob ihr schreckensbleiches Gesicht. „Es ist Penhaligon! Aber er lebt, obwohl er<br />

viel Blut verloren hat.“<br />

Eolyn kniete sich neben ihn und befühlte seinen Körper. Sein Rückgrat schien gebrochen, und eine<br />

tiefe Wunde wie von der Klaue einer Raubkatze - oder eines Dämons...- zog sich über seinen<br />

Brustkorb, hatte allerdings aufgehört zu bluten. Die Heilerin legte ihre Hände auf seine Rücken und<br />

seine Brust und ließ ihre Kraft durch seinen geschundenen Körper strömen. Als sie sich erhob,<br />

taumelte sie, und Shivistri mußte sie stützen. Sie wirkte erschöpft, doch in noch größerem Maße von<br />

Trauer erfüllt.<br />

„Seine körperlichen Verletzungen kann ich heilen,“ sagte sie leise. „Nicht aber die Wunden in seinem<br />

Geist.“<br />

Wir sahen sie alle fragend an.<br />

„Wer ihm das angetan hat, hat nicht nur sein Fleisch getroffen. Der eigentliche Angriff galt seinem<br />

Geist. Seiner Seele. Die Wunden sind nur ein Nebeneffekt.“<br />

„Was willst du uns damit sagen, Eolyn?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort zu kennen glaubte.<br />

„Irgendetwas in Penhaligon ist... zerbrochen. Sein Geist ist nur noch eine Ruine. Ich weiß nicht, ob er<br />

daran sterben wird, vielleicht. Aber auch wenn seine fleischliche Hülle überlebt, er ist zerstört.“<br />

Mir wurde kalt, nicht nur wegen der kühlen Dielen unter meinen nackten Fußsohlen, und ein rascher<br />

Rundumblick zeigte mir, daß es den übrigen nicht anders erging.<br />

„Was ist hier vorgefallen?“ fragte die Hauswirtin hilflos.<br />

Wir alle konnten ihren ratlosen Blick nur erwidern.<br />

„Es ging nicht um den alten Mann. Er stand nur im Weg.“<br />

Die Stimme kam von einer Frau, die auf dem Treppenabsatz des fünften Stockwerkes stand und sich<br />

weit über das Geländer beugte, wobei ihre unanständig großen und zu allem Überfluß auch noch<br />

nackten Brüste auf höchst obszöne Art und Weise hin und her baumelten und gegeneinander<br />

schlugen. Sie war nackt bis auf ihr fließendes tizianrotes Haar und reichlich Goldschmuck und<br />

benahm sich doch völlig unbefangen, ungeachtet ihrer Blöße, was bei einer Kreatur ihrer Art jedoch<br />

auch nicht weiter verwundern mag.<br />

Mein Blick streifte Dimitri, allerdings hatte er in der letzten Zeit einiges von seiner Strenge eingebüßt,<br />

und so zeigte sich der leichtfertige Geselle auch nicht weiter beeindruckt.<br />

„Sie war heute nacht bei mir,“ sagte er schlicht. So, als wäre das das Natürlichste auf der Welt!<br />

Während das liederliche Geschöpf nachdenklich seine eigenen übergroßen Brüste knetete, erläuterte<br />

es wie beiläufig: „Ich nehme an, Penhaligon hat versucht, den Eindringling aufzuhalten. Ziel des


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

nächtlichen Überfalls aber war Yalno Feheli. Und wer immer es war, er hat sich geholt, was er<br />

wollte.“<br />

„Yalno? Der Schwachsinnige?“ fragte Radegast ohne jedes Taktgefühl.<br />

„Seht es euch selbst an.“<br />

Die Wohnungstür der Familie Feheli hing zerborsten und von Brandspuren gezeichnet in verbogenen<br />

Angeln, als wäre sie von einer unglaublichen Kraft nach innen gedrückt und zerschmettert worden.<br />

Der Raum dahinter war verwüstet, die Fenster zersplittert, im Dach klaffte ein breiter Riß, durch den<br />

man den blauen Morgenhimmel erkennen konnte. Die Möbel waren an die Wand gerückt, viele<br />

verbrannnt oder zerbrochen, überall lagen Holzsplitter, Bretter und Glasscherben verstreut auf den<br />

nackten Fußbodendielen, freigelegt durch die zurückgerollten Teppiche. Mehrere ineinander<br />

verschlungene Kreise und fünf- oder sechszackige Sterne sowie seltsame Muster, Symbole und<br />

Schriftzeichen, mit verschiedenfarbiger Kreide, Ruß und Blut gezeichnet, bedeckten den Boden, zu<br />

schwarzen Wachslachen zerflossene Kerzen markierten besondere Eckpunkte und Schnittstellen. Im<br />

Zentrum aller aufgemalten Symbolik lag ausgestreckt und mit verdrehtem Hals der Körper von Yalno,<br />

sein Rücken war eine einzige blutende Wunde. Absidian war an die gegenüberliegende Wand<br />

geheftet, aufgespießt von einem langen Eisennagel, der ihm durch die Stirn und den ganzen Kopf<br />

gedrungen und erst in der Wandvertäfelung steckengeblieben war. Sein Gesicht war blutverschmiert,<br />

und seine gebrochenen Augen starrten anklagend ins Leere. Er war ebenso tot wie sein Sohn. Von<br />

Xelesia Feheli fehlte jede Spur.<br />

„Hesvite sei uns gnädig!“ Mistress Yatzikenia war einer Ohnmacht nahe.<br />

Die Dämonin lachte nur verächtlich. „Hesvite könnte hier auch nicht viel ausrichten. Hier geht es um<br />

größere Kräfte als diesen kleinen Vorstadtgott.“<br />

Mir fiel auf, daß Radegast zwar kaum ein Wort sagte, schweigsam wie stets, aber als einzigem schien<br />

ihm die Szene kein Unbehagen zu bereiten, sondern vielmehr seine Fantasie anzuregen. Ich hatte den<br />

unangenehmen Eindruck, als würde er sogar genießen, was er hier sah. Auch wenn ich mir Mutters<br />

Worte in Erinnerung rief, konnten sie mein Mi0trauen gegen Kirlian Radegast doch nicht ganz zum<br />

Erlöschen bringen. Was, wenn Mutter sich getäuscht hatte?<br />

„Absidian und Xelesia... haben sie eine Dämonenbeschwörung durchgeführt?“ vermutete Dimitri.<br />

„Und dabei ihren eigenen Sohn geopfert?“ Yssa tätschelte ihm die Wange wie einem kleinen Jungen,<br />

der gerade etwas sehr dummes gesagt hatte. „Wenn Absidian Feheli von einem Dämonen getötet<br />

worden wäre, den er herbeigerufen hat und nicht zu bändigen wußte, dann lägen seine Eingeweide<br />

und abgerissenen Gliedmaßen jetzt verstreut in dem ganzen Raum. Kinder des Inferno reißen ihre<br />

Opfer in Stücke und laben sich an ihrem Blut, sie nageln sie nicht einfach an die Wand und gehen<br />

wieder. Außerdem kommen sie auch nicht durch die Tür und laufen vorher die Treppe hoch!“<br />

Auch wenn es mir widerstrebte, dieses Geschöpf persönlich anzusprechen, war mir doch bewußt, daß<br />

sie von uns allen am ehesten eine Antwort auf das geben konnte, was hier geschehen war. „Ich bin<br />

sicher, Ihr habt eine stimmigere Erklärung, Mistress Yssa Caerdonthiel.“<br />

Die Sukkubus wandte sich mir direkt zu und grínste mich dreist an, wobei sie mir so nahe kam, daß<br />

ihr Busen fast den meinen berührte. Natürlich zuckte ich zurück, und das Grinsen in ihrem<br />

diabolischen Gesicht wurde noch breiter.<br />

„Ahhh,“ säuselte sie langgezogen. „Die junge Lady für die Moral wendet sich an die Hure und fragt<br />

sie um Rat. Ob das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein könnte?“<br />

Mir wurde fast schlecht, als sie sich blitzschnell vorbeugte und mir einen ekelerregend feuchten Kuß<br />

auf die Lippen drückte. Ihre Brüste rieben gegen meine. Angewidert stieß ich sie von mir. Lachend<br />

warf Yssa ihr langes brandrotes Haar zurück, dann streckte sie ihren kleinen Fuß aus und streichelte<br />

damit über den meinen. Ihr goldenes Fußkettchen klimperte leise. Ein seltsames Prickeln stieg mein<br />

Bein hoch bis hin zu einer sehr intimen Stelle, von dort ausgehend, wo ihre warme, weiche Sohle und<br />

ihre winzigen Zehen meine nackte Haut berührt hatten. Dieses dämonische Biest spielte mit mir,<br />

vielleicht wollte es mich auch in seinen lästerlichen Bann ziehen! Ich krümmte mich leicht zusammen,<br />

als das Kribbeln meine Körpermitte erreichte.<br />

Yssa Caerdonthiel lachte noch immer. Ich war kurz davor, meine Klinge, die ich weiterhin entblößt in<br />

der Rechten trug, in ihren wie aufgeblähten Leib zu stoßen (wie konnten Männer solche Üppigkeit als<br />

anziehend empfimden?) und stellte mir vor, daß sie wahrscheinlich zerplatzen würde wie ein<br />

augeblasener Ballon. Statt dessen tupfte ich mir nur mit einem Spitzentaschentuch die besudelten<br />

Lippen ab, schob ein widerspenstige Haarsträhne, die mir wieder und wieder ins Gesicht fiel, beiseite<br />

und erprobte meinen Blick an ihr, dem sie bisher noch nie hatte standhalten können. Es gibt für alles


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

ein erstes mal. Ich kam langsam aber sicher zu der Einsicht, daß mit mir etwas entschieden nicht<br />

stimmte.<br />

„Du bist hübsch, Atakuela,“ sagte die Dämonin mit falscher Freundlichkeit. „Hast du das eigentlich<br />

jemals bemerkt? Hast du je in den Spiegel geschaut und zu dir selbst gesagt: ich sehe gut aus, ich<br />

gefalle mir?“ Sie lächelte wie eine Raubkatze. „Und besonders hübsch bist du, wenn du wütend bist.<br />

Deine Augen sprühen Blitze, und dein zerzaustes Haar scheint von eigenem Leben erfüllt. Du solltest<br />

öfter wütend sein.“<br />

„Die meisten sehen mich nur ein einziges Mal wütend. Kurz bevor ich sie töte,“ entgegnete ich mit<br />

soviel Kälte in meiner Stimme, wie ich angesichts des Kribbelsn in meiner Körpermitte aufzubringen<br />

vermochte.<br />

Sie seufzte theatralisch. „Gefährliche Frauen haben einen besonderen Reiz. Also, ich denke, im<br />

„Succube“ würden sich die Männer die Finger nach dir lecken. Und ich würde dich auch nicht von<br />

meiner Bettkante schubsen, Süße...“<br />

„Das reicht, Ys. Laß sie in Ruhe,“ hörte ich durch das Schwindelgefühl in meinem Kopf die Stimme<br />

von Kestril Dimitri, der neben die Dämonin trat und sie von mir wegzog. Sie warf ihm die Arme um<br />

den Hals und gab ihm einen wilden Kuß, wie ein geiferndes Raubtier, das ihn verschlingen wollte.<br />

„Du bist wohl eifersüchtig, mein Hübscher, hm?“ neckte sie ihn.<br />

Ich fühlte mich gedemütigt und beschmutzt. Ich hatte mich verspotten lassen wie ein eingechüchtertes<br />

Schulmädchen, hatte mir Yssas Schmähungen angehört, als wäre ich auf den Mund gefallen. Mir fiel<br />

einfach keine passende Erwiderung ein, mit dem ich das Blatt wenden und die Sukkubus so<br />

bloßstellen konnte, wie sie es mit mir tat. Es mußte an diesem verfluchten Haus liegen! Es saugte<br />

mich aus wie ein Vampir, hatte mir bereits meinen Blick gestohlen und jetzt auch meine Zunge.<br />

Verärgert wischte ich die lästige Strähne aus meinem Gesicht. „Wenn das kleine Mädchen<br />

ausreichend gespielt hat, können wir ja wieder sachlich werden,“ versuchte ich von meiner<br />

Schmähung abzulenken. „Falls du etwas Konstruktives beizutragen hast, dann tu es - oder geh nach<br />

draußen und such dir auf der Straße einen willensschwachen Knaben, mit dem du weiterspielen<br />

kannst.“<br />

Mein Tonfall schien einiges von seiner gewohnten Schärfe zurückgewonnen zu haben, denn Yssa<br />

machte zwar den Mund zu einer Entgegnung auf, schloß ihn aber wieder, ohne etwas gesagt zu haben.<br />

Zu meiner Genugtuung mußte ich feststellen, ihr den Wind aus den Segeln genommen zu haben. Und<br />

doch schämte ich mich auch dafür, zumindest vor mir selbst. Ich hatte mich auf Yssas Niveau<br />

herabgelassen und benahm mich selbst wie ein zänkisches Kind.<br />

„Hier sind Menschen gestorben,“ flüsterte die empfindsame Eolyn. Tränen schimmerten in ihren<br />

Bernsteinaugen. „Ich verstehe dich nicht, Yssa Caerdonthiel.“<br />

Die Sukkubus wirkte für einen kleinen Augenblick schuldbewußt, hatte ihr Selbstvertrauen aber<br />

sogleich wiederhergestellt. Sie setzte eine ernste Miene auf (Yssa ist eine sehr gute Schauspielerin,<br />

das muß man ihr lassen) und löste sich von Dimitri. Sie räusperte sich, straffte ihren Körper, und fast<br />

konnte man meinen, sie stehe hinter einem Rednerpult, als sie in dozierendem Tonfall zu sprechen<br />

begann.<br />

„Ihr alle habt gegen Mitternacht eine Flöte gehört, manche im Wachsein, andere im Schlaf. Nicht<br />

wahr? Und danach sankt ihr in eine tiefe Besinnungslosigkeit, die erst durch das Licht des Morgens<br />

von euch gewichen ist. Auch ich vernahm die Flöte, und obschon ich den Zauber kenne und so sehr<br />

ich mich dagegen stemmte, erlag ich ihm letztendlich doch. So konnte der unbekannte Eindringling<br />

Einlaß finden in das Haus, ohne daß ihn ein Unbeteiligter aufhielt oder bemerkte. Nur vier Personen<br />

waren nicht in den schwarzen Schlaf gesunken: Ludomill Penhaligon, der dem Flötenspieler auf den<br />

Treppen, die zur Wohnung der Fehelis hinaufführen, entgegentrat, sowie Absidian und Xelesia mit<br />

ihrem Sohn.“ Sie machte eine kurze Kunstpause und blickte aufmerksam in die Runde, ehe sie<br />

fortfuhr. Es bereitete ihr Vergnügen, daß alle ihren Worten gebannt lauschten, so als sei sie eine<br />

Professorin und keine Dirne. „Die Kreise und Sterne auf dem Boden sind mächtige Schutzzeichen,<br />

sowohl gegen einen magischen als auch einen materiellen Angriff. Ich kenne die meisten davon, und<br />

kann mit Gewißheit sagen, daß derjenige, der hindurchgebrochen ist, über eine beachtliche Macht<br />

verfügen muß. Ich hätte das nicht vermocht. Absidian und Xelesia waren fähige Zauberer. Sie müssen<br />

gewußt haben, daß in der vergangenen Nacht ihr Feind im Anmarsch war, denn es dauert viele<br />

Stunden, solche Schutzkreise zu ziehen und den darin enthaltenen Zauber zu aktivieren, Sie haben<br />

sich verschanzt und dem Kommenden geharrt. Aber der Eindringling erwies sich als stärker denn ihre


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Kraft.“ Sie deutete mit dem großen Zeh auf einige der Muster, die verwischt waren. „Er hat ihre<br />

Kreise zerstört und sich geholt, weswegen er gekommen war. Yalno.“<br />

„Aber warum gerade Yalno?“ fragte Eolyn verwirrt. „Er war doch nur ein armer Junge mit einem<br />

verwirrten Geist.“<br />

„Sein Rücken,“ sagte Shivistri, die Kriegerin, die auf den ersten Blick das Gleiche erkannt hatte, was<br />

auch mir aufgefallen war. „Ihm wurde die Haut vom Rücken geschnitten.“<br />

„Die Haut?“ Mistress Yatzikenia fing an, hysterisch zu kichern. „Er wurde ermordet, weil jemand<br />

seine Haut wollte?“<br />

„So sieht es aus, Mistress.“ Yssa nickte. „Natürlich könnte ich genaueres herausfinden, aber ich denke<br />

nicht, daß einem hier im Raum die Methode zusagt.“ Sie warf einen eindeutigen Blick in Richtung des<br />

an die Wand genagelten Absidian Feheli.<br />

Ich verstand und wurde kreidebleich. Diese Höllenbestie...<br />

Die Hauswirtin verstand nicht. Als Yssa erläuterte: „Absidian könnte uns gewiß Auskunft geben, was<br />

sich hier ereignet hat.“ - rief sie verwirrt: „Aber er ist doch tot!“<br />

Yssa Caedonthiel zuckte die Schultern. „Und? Tote können mitunter sehr gesprächig sein.“<br />

Jetzt endlich begriff Yatzikenia Kwasazmín. „Keine Nekromantie in meinem Haus!“ schrie sie erregt.<br />

„Es gäbe vielleicht noch einen anderen Weg,“ beschwichtigte die Sukkubus, nachdem sie sich<br />

genügend an dem Schrecken der Hauswirtin geweidet hatte. „Ich benötige dazu Blut von Absidian<br />

Feheli. Und von Penhaligon...“<br />

„Sollten wir nicht lieber die Stadtwache rufen?“ wandte die Hausdame ein.<br />

„Die Stadtwache versteht nichts von Zauberei, Mistress,“ widersprach Dimitri der Student. „Sie<br />

würde nur die Spuren verwischen. Außerdem können wir sie später immer noch verständigen. Lassen<br />

wir Yssa ruhig machen. Glaubt mir, Mistress, das ist das Beste.“<br />

Zögernd willigte Yatzikenia Kwasazmín ein.<br />

Nachdem ihr das Gewünschte gebracht worden war - und nachdem Dimitri, der ihre erotische<br />

Wirkung auf die anwesenden Männer wie auch den irritierenden Effekt, den ihre Nacktheit auf die<br />

Frauen ausübte, erkannte, sie dazu überredet hatte, sich anzukleiden (was anbetrachts des<br />

tiefausgeschnittenen und eng anliegenden dunkelblauen Seidenkleides allerdings einen nur<br />

theoretischen Nutzen erzielte) - sammelte Yssa Caerdonthiel das Blut in einer großen Kupferschale,<br />

die sie vor sich auf den Boden stellte, und ließ sich aus dem Stand mit bewundernswerter<br />

Geschmeidigkeit (vermaledeit, an dieser Person gab es nichts Bewundernswertes!) in einen perfekten<br />

Lotossitz sinken. Sie goß aus einer blauen Glasphiole eine glitzernde Substanz auf das getrocknete<br />

Blut, das sich zischend und dampfend zunächst verflüssigte und dann in blutroten Rauch auflöste, der<br />

wie Nebel über der Schale schwebte. Sie hob ihre nackten Arme und beschrieb damit komplizierte<br />

Muster in der Luft, wobei ihre goldenen Armreifen und Kettchen klirrten und rasselten und ihre<br />

Gesten mit einem wie gewollt wirkenden Rhytmus untermalten. Der Nebel formte sich nach ihrem<br />

Willen, und als wir, die wir um die Dämonin herumstanden, in die roten Dämpfe blickten, sahen wir<br />

darinnen Bilder der Vergangenheit. Wir sahen wie auf einer von Rauch verhangenen Bühne die<br />

Ereignisse, die sich nach Mitternacht in der Pension abgespielt hatten...<br />

...eine zierliche Frau in einem roten Rüschenkleid stand im Schatten der gegenüberliegenden Häuser<br />

und beobachtete das „Lindenblatt“. Flötenmusik erklang, doch sie kam nicht von ihr, sondern aus dem<br />

Inneren des Hauses, aus dem Dachgeschoß, aus der Wohnung der Feheli. Sie waren es, die die<br />

anderen Bewohner des Hauses einschläferten, damit keiner zwischen die Fronten geriet und dabei zu<br />

Schaden kam (in diesem Punkt hatte sich Yssa geirrt). Die Frau in Rot trat aus den Schatten und<br />

schritt in geradezu feierlich anmutender Bewegung auf das Haus zu. Eine Straßenlaterne ließ mattes<br />

Licht über ihr blasses Antlitz tanzen, das von hochgestecktem mitternachtsschwarzem Haar<br />

eingerahmt war. Sie klopfte dreimal gegen die verschlossene Eingangstür, die lautlos aufsprang, dann<br />

stieg sie langsam die Stufen nach oben. Auf dem Treppenabsatz des dritten Stockwerkes trat ihr<br />

Ludomill Penhaligon entgegen, mit ernstem Gesicht und zu allem entschlossen. Seine Stimme war<br />

hart, aber auch traurig.<br />

„Laß ab von dem Jungen, Mariannette. Er steht unter meinem Schutz.“<br />

„Du bist weich geworden auf deine alten Tage, Ludomill,“ sagte die Dame in Rot mit einem<br />

spöttischen Lächeln auf ihren blassen Lippen. „Was bedeutet er dir?“<br />

„Nichts. Und doch alles.“ Penhaligon wirkte mit einem Mal sehr alt, und sein Gesicht war fast ebenso<br />

verstaubt wie sein Anzug, so als würde ein Grauschleier nicht nur seinen Körper, sondern auch seine


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Seele überziehen. „Das verstehst du nicht, und wahrscheinlich wirst du es niemals verstehen. Ich bin<br />

müde geworden, Mariannette.“<br />

„Dann geh mir aus dem Weg, alter Mann! Deine Zeit ist vorüber,“ sagte die Rote Zauberin<br />

verächtlich.<br />

Statt einer Antwort seufzte Penhaligon nur traurig, dann trat er zurück, aber nur einen Schritt. Er hob<br />

beide Arme, die Handflächen senkrecht und gegen Mariannette gerichtet, einen Arm angewinkelt<br />

nach vorne gestreckt, den zweiten seitlich neben seinem Gesicht. Es sah so ähnlich aus wie die<br />

Grundposition einer der Kampfkünste der Chendai-Kan.<br />

Mariannette Flambertin nahm eine ähnliche Stellung ein, aber die Finger ihrer vorgestreckten linken<br />

Hand waren zu einer Klaue gekrümmt. während ihre schräg über den Kopf gehaltene Rechte zur Faust<br />

geballt war.<br />

Wortlos standen sie sich gegenüber.<br />

Das Schweigen lastete wie Blei.<br />

Minutenlang.<br />

Es schien, als würde die Zeit stillstehen.<br />

Durch die blutroten Rauchschwaden und durch den Nebel der Zeit hinweg spürten wir die gewaltigen<br />

Kräfte, die sich zwischen den beiden Menschen (?) aufbauten, welche sich hier gegenüberstanden. Es<br />

war ein stummer und lautloser Kampf, der hier stattfand, ohne pompöse Gesten, ohne Formeln, unter<br />

Verzicht auf alle Äußerlichkeiten. Zwei Mächtige rangen miteinander in einem gespenstisch stillen<br />

Zauberduell. Es war ihre schiere Macht, nicht kanalisiert in Sprüche oder in konkrete Zauber,<br />

vielmehr die pure Kraft ihres magischen Potentials, durch welche die Luft zwischen ihnen vibrierte.<br />

Die Zeit und alle Gesetze der Schöpfung waren aufgehoben. Es gab nur noch Mariannette Flambertin<br />

und Ludomill Penhaligon im Auge des von ihnen entfesselten Orkans. Für eine Zeitlang schien es so,<br />

als könnte der alte Meister (war er wirklich älter als sie, oder trog der äußere Schein?) der Dame in<br />

Rot standhalten, sie sogar besiegen... dann drängte sie ihn Schritt für Schritt zurück, bis er mit dem<br />

Rücken zur Wand stand. Plötzlich und unerwartet ging Penhaligon zum Gegenangriff über, ergriff die<br />

Offensive, ballte die rechte Faust und stieß damit in die leere Luft, richtete seine Kraft in einem<br />

gezielten Angriff auf Mariannette. Die Dame in Rot wurde zurückgeschleudert, prallte gegen die<br />

gegenüberliegende Wand und sank daran zu Boden. Glitzerndes Blut schimmerte auf ihren Lippen<br />

und tropfte auf den polierten Treppenabsatz. Hustend krümmte sie sich zusammen, und erneut spritzte<br />

Blut auf die Stufen. Doch schon sprang sie wieder hoch, ihr schmales Gesicht verzerrt wie das einer<br />

Raubkatze, und vollführte mit den gekrümmten Fingern ihrer linken Hand einen Schlag ins Leere. Ein<br />

reißendes Geräusch war zu hören, dann befleckte frisches Blut ihre bleiche Hand, und Ludomill<br />

Penhaligon brach auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenabsatzes stöhnend zusammen, sein<br />

Brustkorb zerfetzt wie durch den Prankenhieb einer großen Katze. Die rechte Faust der Dame in Rot<br />

zuckte vor, begleitet vom Geräusch berstender Knochen. Der alte Mann wurde gegen das<br />

Treppengeländer geschleudert, das durch die Wucht des Aufpralls zerbrach, und stürzte mit einem<br />

gequälten Schrei in die Tiefe.<br />

Die Dame in Rot stand vor dem durchbrochenen Geländer und blickte auf den reglos daliegenden<br />

Körper ihres Gegners, der drei Stockwerke tiefer aufgeschlagen war und unter dem sich eine rasch<br />

größer werdende Blutlache bildete.<br />

„Nicht ich werde dein Henker sein, Ludomill,“ sagte die Rote Zauberin leise „Nicht ich bin es, die<br />

dich tötet.“ Fast klang es wie eine Beschwörung, und tatsächlich kam die Blutung des zerschmetterten<br />

alten Mannes zum Stillstand. Ein Hauch von Bedauern lag auf dem Gesicht von Mariannette<br />

Flambertin, als sie sich abwandte und die restlichen zwei Stockwerke hinaufstieg.<br />

Die Wohnungstür der Feheli zerbarst in einer Stichflamme unter einem ins Leere gezielten<br />

Faustschlag. Dann war die Dame in Rot am Ziel.<br />

Absidian und Xelesia standen im Innersten Schutzkreis, und bei ihnen war ihr Sohn, auch er schlafend<br />

durch das Spiel der magischen Flöte. Es wurden keine Worte gewechselt. Mariannette und Ludomill<br />

waren vielleicht einstmals Freunde gewesen, aber was gab es zu sagen zwischen Eltern, die ihr Kind<br />

beschützten und der Frau, die es töten wollte?<br />

Das Ehepaar warf all seine Zauberkraft gegen das Rote Fräulein, und Aramar hätte seine reinste<br />

Freude daran gehabt, wenn er von der Fähigkeit der beiden unscheinbaren älteren Herrschaften<br />

gewußt hätte, denn sie waren da, wo er sich wünschte zu sein, aber noch viele Jahre (Jahrhunderte?)<br />

benötigen würde, um dorthin zu gelangen. Wo hatten sie ihre Kunst gelernt? Gewiß nicht auf


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Koatlitek, denn hier war Aramar der Erste, und seine Stunde würde erst noch kommen. Doch wo<br />

sonst? Gar an dem Orte, woher auch Yssa ihr Talent hatte?<br />

Sie sprachen Formeln, murmelten Beschwörungen, schleuderten Feuerbälle, Blitze und giftige<br />

Dämpfe gegen die Frau, die das Leben ihres Sohnes wollte. Sie kanalisierten die Kraft, und doch<br />

waren sie nur einen Bruchteil so stark wie die Urgewalt von Ludomill Penhaligon. Unbeirrbar schritt<br />

die Dame in Rot durch all ihre Zauber, verwischte einen Schutzkreis nach dem anderen. Xelesia<br />

Feheli zückte eine kleine Pfeife aus angelaufenem Silber und spielte eine schrille Melodie.<br />

Ein gräßliches Wesen erschien aus der leeren Luft direkt vor der Roten Zauberin, seine grüne,<br />

verschimmelte Haut hing ihm in Fetzen von seinem verwachsenen Körper, sein Gesicht war eine<br />

Grimasse aus Zähnen und Fäulnis, und mit einer scharfen Klaue griff er nach der Dame in Rot. Diese<br />

aber blickte ihm nur fest in die Augen, dann sprach sie ein einzelnes Wort, in dem mehr Macht lag als<br />

in allen Beschwörungen des alten Ehepaares. Das Monster verharrte, seine Kralle schwebte in der<br />

Luft. Dann wandte es sich um und schlurfte auf die Frau zu, die es gerufen hatte. Xelesia schrie<br />

angsterfüllt auf, als die Kreatur sie ergriff und gemeinsam mit ihr in einem weiteren schlurfenden<br />

Schritt im Nichts verschwand. Nur einige Tropfen Blutes fielen zu Boden, wo die Klauen ihr Fleisch<br />

zerfetzt hatten.<br />

Absidian verlor den Verstand, als er das Schicksal seiner Frau hilflos mitansehen mußte. Mit Schaum<br />

vor dem Mund und rollenden Augen stand er inmitten von Feuer, Dunkelheit und zischenden<br />

Dämpfen, rief jede Macht an, die er kannte, und schleuderte sie gegen die Dame in Rot, die<br />

unaufhaltsam Fuß vor Fuß setzte und näher und näher kam, wie die Personifikation seiner eigenen<br />

Vergänglichkeit, wie seine ganz persönliche Verdammnis. Dann hatte sie ihn erreicht.<br />

Sie hob die Hand, und ein Riß klaffte im Dach, durch den die teilnahmslos glitzernden Augen der<br />

Sterne Zeugen des Unheils wurden, das nun seinen Lauf nahm. Ein langer massiver Eisennagel löste<br />

sich aus dem Gebälk und raste wie ein Pfeil, gelenkt vom Willen der Roten Zauberin, auf Absidian<br />

Feheli zu. Das Letzte, was der besiegte Zauberer sah, war kalter Stahl, der sich knapp über seinen<br />

Augen in seine Stirn bohrte. Stechender Schmerz löschte all sein Denken aus.<br />

Eigentlich hätte die Vision nun enden müssen... aber auch wenn der Rauch dünner wurde und die<br />

Vorgänge schemenhafter, sahen wir dennoch, was weiter vor sich ging. Mariannette beugte sich über<br />

den schlafenden Yalno, legte ihm eine dünne, silberglänzende Seidenschnur um den Hals und<br />

erwürgte ihn mit einem raschen Ruck, der ihm den Kehlkopf eindrückte. Sodann sprach sie ein Wort,<br />

das sein Hemd in Rauch verwandelte, und betrachtete sich eingehend seinen nackten Rücken, der von<br />

den Schultern bis zur Hüfte bedeckt war mit einer Tätowierung aus kompliziert in sich<br />

verschlungenen Mustern und Symbolen. Schließlich nickte sie zufrieden und strich mit der<br />

Handflache über seinen Rücken, woraufhin sich seine Haut mit der Tätowierung von selbst vom<br />

Fleisch löste und sich wie eine Schriftrolle zusammenrollte.<br />

Plötzlich sah Mariannette Flambertin hoch.<br />

Sie blickte durch den Rauch und durch den Nebel der Zeit, und ich hatte das Gefühl, mein Blut würde<br />

zu Eis erstarren, als der Blick ihrer Schwefelaugen meine Augäpfel durchbohrte und in die Tiefe<br />

meiner Seele stach. Ich dachte, nun wäre es um mich geschehen. Erst als ihr Blick weiterglitt,<br />

bemerkte ich, daß ich die Luft angehalten hatte. Zischend stieß ich den Atem aus.<br />

Der Blick der Roten Zauberin streifte uns alle, die wir um die Blutschale saßen. und heftete sich<br />

schließlich auf Yssa Caerdonthiel.<br />

„Du.“<br />

Sie sagte nur dieses eine Wort, dann wurde der Rauch dunkler und die Bilder erloschen. Die roten<br />

Dämpfe formten sich zu einer nebulösen Krallenhand, die nach der Dämonin griff und sich um ihre<br />

Kehle schloß. Von irgenwoher wisperte eine Stimme:<br />

„Störe meine Kreise nicht. Nie mehr.“ Der Druck der Hand verstärkte sich, und Yssa begann zu<br />

röcheln. Sie war eine Dämonin und eine Dirne - aber in diesem Augenblick hätte ich alles gegeben,<br />

ihr beistehen zu können. Doch ich konnte nicht. Was vermochte ich schon auszurichten gegen die<br />

Dame in Rot.<br />

„Oder ich werde dein Herz verändern, daß du von Liebe erfüllt zu Rhendhul zurückkehrst und ihm für<br />

Äonen voller Hingabe die Schwanzspitze leckst,“ hauchte die körperlose Stimme voller Bosheit. „Von<br />

beiden Schwänzen...“ Mit einem diabolischen Lachen verblaßte die Geisterhand der Roten und<br />

verging wie ein Nebelstreif in der Morgensonne.<br />

Yssa brach nach Luft schnappend zusammen. Dimitri beugte sich besorgt über sie, aber sie stieß ihn<br />

weg und blickte mit zornfunkelnden Türkisaugen und wutverzerrtem Gesicht in die Runde.


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

„Wer von euch hirnlosen sterblichen Narren hat das Blut der Roten Zauberin vom Boden gekratzt?!“<br />

Ich bin müde, und meine Feder erlahmt. Nach dem Schwall an Bildern und Gefühlen, die ich aus mir<br />

herausgeschrieben, sozusagen mir von der Seele geschrieben habe, bin ich ermattet, eine eher geistige<br />

denn körperliche Erschöpfung. Ungeachtet dessen war es aber auch so ein anstrengender Tag durch<br />

die Fragen der Stadtwache, allen voran Hauptmann Larkur, der mit der Klärung dieses Falles -<br />

immerhin Mord in mindestens zwei Fällen (soviele Leichen liegen zum gegebenen Zeitpunkt vor) -<br />

beauftragt und hartnäckig bemüht ist, jede noch so geringfügige Kleinigkeit in Erfahrung zu bringen,<br />

wobei er auch nicht davor zurückschreckt, die gleichen Fragen wieder und wieder, und sei es hundet<br />

Mal, zu stellen, gemäß der Devise; „Es sind die unbeachteten Details, die am Ende einen Fall lösen.“<br />

Larkur ist ein sehr pflichtbewußter Offizier.<br />

Bevor ich mich zu Bett lege, möchte ich dennoch in Kürze die Eintragung des heutigen Tages<br />

beenden, wer weiß, welche Schrecknisse morgen (oder heute nacht) geschehen mögen, die am<br />

morgigen Abend nach Eintragung verlangen? Auch ich bin ein sehr gewissenhafter Mensch.<br />

Es war Scudor Timenis, ein unscheinbarer Mieter aus dem zweiten Stock, den ich bisher in meinem<br />

Tagebuch noch nicht erwähnt habe, der fälschlich das von Mariannette Flambertin ausgespuckte Blut<br />

auflas, da er dachte, es handele sich um das von Penhaligon. Ich glaube, wenn Shivistri und ich nicht<br />

dazwischengegangen wären, hätte Yssa den armen Mann getötet. Wie war das noch: Dämonen reißen<br />

ihre Opfer in Stücke? Yssas Hände waren bedenklich gekrümmt, als stünde sie kurz vor einer<br />

Metamorphose...<br />

Kurz nach der Beschwörung wurde die Stadtwache verständigt, der Rest des Tages bestand aus<br />

Verhören und immer den gleichen, ermüdenden Fragen.<br />

Auf Eolyns Frage, ob für Xelesia Feheli noch Hoffnung bestünde, hatte die Sukkubus verneinend den<br />

Kopf geschüttelt, daß ihre roten Haare flogen.<br />

„Wenn er sie nicht gefressen hat, dann hat er sie irgendwo zwischen den Dimensionen in einer Nische<br />

oder Falte abgesetzt, wo sie wahrscheinlich elendig verhungern wird. Falls es dort Luft gibt.<br />

Ansonsten erstickt sie vorher,“ lautete ihre zynische Antwort. Ich hatte allerdings den Eindruck, als<br />

würde sie das Ganze nicht ganz so kalt lassen, wie sie tat. Plötzlich erwacht mein Mißtrauen wieder.<br />

Weshalb setzt sie ständig neue Masken auf? Vielleicht spielt sie nur mit uns allen... Wie waren die<br />

Worte meiner Mutter?<br />

„Leg Deinen Argwohn ab. Vertraue denen, die in den Mauern dieses Hauses sind, von ihnen droht dir<br />

kein Leid. Sie sind wie du nur Marionetten, auch wenn der eine oder andere glauben mag, er wäre<br />

mehr, vielleicht sogar der Puppenspieler. Wer immer an den Fäden zieht: er naht von außen.“<br />

Oder sie.<br />

Yssa Caerdonthiel ist keine von uns!<br />

Wie hatte ich Närrin das nur übersehen können?<br />

Sie war nur zu „Besuch“ bei Dimitri dem Studenten. Vielleicht ist sie diejenige, die an den Fäden<br />

zieht. Meine Hand zittert, wenn ich daran denke.Wer soviele Masken trägt, hat etwas zu verbergen...<br />

Andererseits... Marionetten. Mariannette.<br />

Natürlich, das ergibt einen Sinn. Die Dame in Rot ist die Puppenspielerin, wir tanzen an ihren Fäden.<br />

Die Frage ist nur: Was ist mit Yssa? Tanzt sie auch an den Fäden der Roten Zauberin? Oder ist sie<br />

ihre Verbündete? Ihre Vasallin?<br />

Mutter, warum sprichst du nicht zu mir?<br />

Zeig dich!<br />

Gib mir Antworten!<br />

...<br />

Nichts. Ich werde jetzt versuchen zu schlafen.<br />

Mutter, warum hast du mich verlassen?<br />

Nacht.<br />

Ich konnte nicht schlafen, von Alpträumen gequält, deshalb habe ich mir einen Morgenmantel<br />

übergezogen und sitze nun hier beim Schein einer Kerze vor meinem Tagebuch.<br />

Ich träumte, daß Yssa, die falsche Dirne, mich verführte und ich mich mit ihr im Bett in verwerflichen<br />

Spielen wälzte, und daß ich Gefallen daran fand... dann veränderte sich mein Traum, Yesil satnd vor<br />

mir und sagte mit trügerischem Lächeln: „Endlich habe ich dich gefunden, Atakuela“, dann umarmte<br />

sie mich, und plötzlich zog sie ein Messer aus ihrem Ärmel und schnitt mir die Kehle durch. Ich starb,


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

doch im Schwindel meines Todes (oder Erwachens) sah ich noch, wie sich ihr Gesicht veränderte und<br />

zu dem von Yssa wurde. Dann zerschmolz auch das Gesicht von Yssa, und eine mir bekannte Stimme<br />

sagte voller Grausamkeit: „Sieh nun, wer ich wirklich bin!“ Fast glaubte ich, das wahre Gesicht<br />

meiner Feindin erkannt zu haben, da schreckte ich hoch aus meinem Nachtmahr, und so sehr ich auch<br />

versuchte, mich an das Gesicht und die Stimme festzuklammern, verblaßte die Erinnerung aus<br />

meinem Bewußtsein, entzog sich mir und trieb davon. Ich verkrallte meine Finger in die Bettdecke.<br />

Ich vergrub mein Gesicht in den Kissen und weinte.<br />

Wer?<br />

Warum erscheinen mir die Geister meiner Mutter und der Griondés nicht mehr?<br />

Arpáo? Atuasi?<br />

Wo seid ihr?<br />

Ich beginne an allem zu zweifeln. O Mutter, ich verzweifle!<br />

Was ist, wenn ich mir alles nur eingebildet habe? Vielleicht habe ich Arpáo und Atuasi gar nicht<br />

gesehen, vielleicht hat mir mein verwirrter Verstand das nur vorgegaukelt. Werde ich langsam aber<br />

sicher verrückt?<br />

Oder, schlimmer noch: ich sah zwei Geister, aber es waren nicht meine Mutter und meine<br />

Herrscherin, sondern andere Geister, mir feindlich gesonnen, die sich nur verkleidet hatten, um mich<br />

einzulullen, mein Mißtrauen zu umgehen und sich mit der Illusion von Vertrautheit bei mir<br />

einzuschmeicheln, um mich hernach um so besser lenken und manipulieren zu können. Ja. Was, wenn<br />

der Geist in der Maske meiner Mutter mich angelogen hat? Was, wenn es falsch war, was sie mir<br />

gesagt hat?<br />

Bei allen Märtyreren, natürlich! Ich hatte das Haus verlassen wollen, der Verschwörung entfliehen...<br />

und dann tauchte ein Gespenst auf und sagte mir, es gäbe gar keine Verschwörung, nicht in dem Haus,<br />

sondern außen. Atakuela, wie konntest du so dumm sein, so leichtgläubig! Du wolltest fliehen, da<br />

wurdest du durch verräterischen Ratschlag um so fester an den Ort deines Unheils gebunden, hältst<br />

dein Verderben gar für deine Zuflucht, vertraust gerade denen, die dich vernichen wollen...<br />

Genug! Ich habe euch durchschaut, euch alle!<br />

Sobald der Morgen graut, verlasse ich dieses Haus und kehre nimmermehr zurück!<br />

Du hast verspielt, falsche Mutter.<br />

22. Talu<br />

Ich wohne inzwischen wieder bei meinem Vater oder dem der sich für meinen Vater ausgibt ich<br />

vertraue niemandem mehr ich bin nicht so töricht den selben Fehler noch einmal zu begehen ich weiß<br />

daß jeder mein Feind sein kann alle tragen sie Masken alle haben sie etwas zu verbergen ich wünschte<br />

ich könnte hinter ihre Masken schauen aber ich kann es nicht deshalb bin ich um so vorsichtiger ich<br />

schlafe mit dem Rapier neben dem Bett und einem Dolch unter dem Kopfkissen ich bin gewappnet<br />

komm nur Yesil Noch einmal verberge ich mich nicht vor dir wenn ich dich das nächste Mals sehe<br />

werde ich dich töten es ist endlich an der Zeit das Blatt zu wenden nun gut vielleicht mag ganz <strong>Elek</strong>-<br />

<strong>Mantow</strong> an der Konspiration beteiligt sein aber ich bin auf der Hut ich bin wachsam ihr bekommt<br />

mich nicht niemals und wenn ich euch alle töten muß<br />

24. Talu<br />

Einen gibt es, dem ich vertrauen kann.<br />

Ludomill Penhaligon.<br />

Er ist ein Opfer der Verschwörung, ebenso wie ich. Da sein Geisteszustand nach seinem Erwachen,<br />

gelinde gesagt, verwirrt war, hat man ihn in die Lyzeum eingeliefert, das gleiche Schicksal, das auch<br />

mir zugedacht worden war. Mein Vater, der alte Narr, erhoffte sich von den innovativen Methoden<br />

des jungen und engagierten Geistheilers Torador Broschakal eine Besserung meines, wie er es<br />

ausdrückte, „angegriffenen Gemütszustandes“ und versicherte mir, daß ich nicht in die Hände dieses ,<br />

erneut seine Wortwahl, „Seelenmetzgers Matulek“ fallen würde. Als gäbe es da einen Unterschied!<br />

Sie alle wollen nur ihr eigenes Wohl, sei es der Geldbeutel wie bei Matulek, oder der Forscherdrang,<br />

den er an wehrlosen Patienten befriedigen will, wie Broschakal, niemals das Wohl der Kranken.<br />

Außerdem bin ich nicht krank! Vater behauptet zwar, ich litte unter Verfolgungswahn, dieser<br />

schmierige Heiler, der meine Seele ausnehmen will wie ein Angler einen Fisch, nannte es Paranoia,<br />

aber ich weiß genau, daß ich mir nicht nur einbilde, verfolgt zu werden. Ich stehe im Zentrum einer


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Verschwörung, an der auch Broschakal und der Mann beteiligt sind, der die Maske meines Vaters<br />

trägt.<br />

Masken, wohin ich blicke. Gibt es niemanden mehr in der ganzen Stadt, der sein wahres Gesicht<br />

zeigt? Und Mariannette läßt die Puppen tanzen, die maskierten Puppen der Marionettenstadt. <strong>Elek</strong>-<br />

<strong>Mantow</strong>, Stadt der Marionetten, Mariannettes Stadt.<br />

Mein Vater hätte mich niemals ins Irrenhaus eingelieftert!<br />

Aber der, der sagt, er wäre mein Vater, ist ja auch nicht mein Vater.<br />

Ich tat so, als wäre ich gefügig, habe scheinbar alles akzeptiert... doch dann, als sie dachten, sie hätten<br />

meinen Willen gebrochen, zog ich zwei Nadeln aus meiner Frisur, wobei mir diese lästige, kaum zu<br />

bändigende Strähne ins Gesicht fiel und mir fast die Sicht raubte, aber das hinderte mich nicht, den<br />

beiden Schergen, die mich davonführen wollten, die silbernen Haarnadeln durchs Auge zu stoßen, und<br />

tiefer, bis ins Gehirn. Danach nahm ich meinen Rapier, die Waffe, die mir von meinem wahren Vater<br />

geschenkt worden war, und flüchtete. Im Nachhinein wünschte ich, ich hätte auch die Maske getötet,<br />

die den Namen Gedemondas de Kuansa gestohlen hat, denn ich bin mir gewiß, es ist mehr als nur ein<br />

Dieb. Die Maske muß den echten Gedemondas ermordet haben, um in seine Rolle schlüpfen zu<br />

können. Aber, bei allen Märtyreren, ich erwische dich noch, Mörder meines Vaters, das schwöre ich<br />

dir beim Blut von Atuasi!<br />

Hernach bin ich in die Lyzeum eingedrungen und habe Penhaligon befreit, den sie wie einen Sack an<br />

eine Zimmerwand gehängt hatten, diese Schweine. Ich habe in der Anstalt mehrere Männer getötet,<br />

ich weiß nicht wen, aber es interessiert mich auch nicht. Vielleicht habe ich sogar das aufgedunsene<br />

Schwein Matulek erwischt, wenn nicht, wird die Stunde kommen, es nachzuholen.<br />

Ich schreibe diese Seiten in einer namenlosen Herberge in der Unterstadt, vielleicht hat sie auch einen<br />

Namen, aber ich habe nicht danach gefragt, es spielt ohnehin keine Rolle.<br />

Ludomill liegt im einzigen, wanzenverseuchten Bett, und seine glasigen Augen starren leer an die<br />

Decke. Ich werde wahrscheuinlich auf dem Fußboden schlafen, auf meinem Mantel. Wenn ich<br />

überhaupt schlafen kann. Die Alpträume sind zwar weg, seit ich diese unglückselige Pension der<br />

Verdammten verlassen habe, doch vielleicht kommen sie, um mich im Schlaf zu holen. Nein, ich<br />

bleibe besser wach, dann kann ich ihnen mit blankem Stahl gegenüber treten. Ich habe bereits einige<br />

von ihnen meine Klinge schmecken lassen. Sollen sie nur kommen!<br />

Meistens stammelt Ludomill nur wirres Zeug, denn die Marionettenspielerin hat seinen Verstand zu<br />

Krümeln zerbröselt, aber manchmal hat er wache Momente, und in diesen hat er mir etliches über die<br />

Verschwörung offenbaren können, deren Opfer wir beide sind. Ob es noch andere Opfer gibt? Aber<br />

wenn ja, wie soll ich sie erkennen?<br />

Das Haus, in dem das Unheil seinen Anfang nahm, steht auf einer magischen Kraftlinie, wie Ludomill<br />

es nannte, eine Linie, in der die Erdmagie konzentriert ist. Die Ballung der Erdkraft hat<br />

unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Menschen, das hängt von der individuellen<br />

Persönlichkeit ab, auf manche wirkt sie stärkend und wohltuend, auf andere zerstörerisch, beschert<br />

ihnen Alpträume und verwirrt ihren Geist. Mir ermöglichte die Erdmagie, Verbindung aufzunehmen<br />

zu Geistern, erst nur in Träumen, dann konnte ich sie auch im Wachen sehen und schließlich sogar<br />

hören, mit ihnen kommunizieren. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte die Verschwörung bereits ihren<br />

Anfang genommen und lastete wie ein Fluch auf dem Haus in der Kranichgasse, wandelte alles Gute<br />

hin zum Schlechten. Hätte ich zu anderen Zeiten wahrhaftig Kontakt herstellen können zu meiner<br />

toten Mutter und zu Denim Atuasi de Jurosa, so waren es jetzt, unter dem Bann der Roten Zauberin,<br />

die selbst eine Erdmeisterin ist und die Magie der Kraftlinie manipuliert, nurmehr falsche Geister,<br />

Trugbilder, gelenkt von der Fädenzieherin der Konspiration, die mir verräterische Gedanken und<br />

falsche Wahrheiten ins gar zu leichtfertige und gutgläubige Ohr flüsterten.<br />

Auch jetzt, wo ich dies hier schreibe, sehe ich sie in den dunklen Schatten stehen, jenseits des<br />

Lichtkreises meiner Kerze, der Wesen der Finsternis, wie sie es sind, abhält, und ich höre aus der<br />

Ecke, wo ihre schemenhaften Gestalten wogen, das Wispern und Raunen ihrer Stimmen. Doch ich<br />

höre nicht mehr auf sie, nie mehr, sie haben ausgespielt. Mögen sie der Nacht ihre Lügen erzählen, ich<br />

verschließe meine Ohren vor ihrem Murmeln.<br />

Mariannette hat die Kontrolle übernommen über das Haus in der Kranichgasse, Pension der<br />

Verlorenen Seelen, und sie hat die Konspiration ins Leben gerufen, der Ludomill und ich<br />

anheimgefallen sind. Der Geist des alten Mannes ist verwirrt, und er erkennt vieles nicht, so wie ich<br />

es erkenne, doch vor meinem inneren Auge liegt die Wahrheit offen zutage. Alle, alle sind dem<br />

unheilvollen Einfluß verfallen, oder aber sie wurden ausgetauscht. Ich bin die Letzte. Ich und die


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Ruine, die einmal ein großer Zaubermeister war. Aber Mariannette hat ihm all seine Magie<br />

genommen.<br />

Am Anfang war die lästerliche Gier des Roten Fräuleins nach Wissen und Geheimnissen, die nicht für<br />

Menschen gedacht sind, auch dann nicht, wenn sie so mächtig sind wie eine Mariannette Flambertin.<br />

Sie schuf eine neue, eine eigene und ganz persönliche Art der Magie: Zauber, die wachsen wie<br />

Früchte oder Kristalle, daß aus einem Samen etwas Großes entsteht. Um dies zu vollbringen, tätowiert<br />

sie Kindern mit einer latenten Begabung, einem schlummernden magischen Talent, einen Spruch auf<br />

den Rücken, der von sich aus bereits mächtig ist, der aber noch weiterentwickelt werden kann, oder<br />

sie tätowiert ein Kind mit Fragmenten, Gedanken und Ideen, die vielleicht zusammenwachsen und<br />

einen völlig neuen Zauber ergeben könnten. Sodann gibt sie das von ihr präparierte Kind seinen<br />

Eltern zurück, auf daß es wachse und groß werde. Aber nur der Körper wächst, nicht sein Geist. Statt<br />

dessen wächst der Zauber auf seinem Rücken, nährt sich vom geistigen Potential des<br />

Heranwachsenden, frißt seinen Verstand, wandelt ihn um in reine Magie, die sich auf seinem Rücken<br />

manifestiert, so als würde eine unsichtbare Hand Zeichen auf seine Haut schreiben, unauslöschlich<br />

eingebrannt und durch keine Magie zu tilgen, die schwächer ist als die der Dame in Rot. Durch den<br />

saugenden Vampirismus des tätowierten Zaubers verliert das Kind nicht nur die Möglichkeit, zu<br />

lernen und sich zu entwickeln, sein keimender Verstand verfällt durch die verschlingende Kraft der in<br />

seine Seele gebrannten Magie auch einem unrettbaren Wahnsinn. Allerdings ist es dem Träger der<br />

Tätowierung nicht möglich zu sterben, denn die Macht der Roten beschützt ihn vor jeder Gefahr, und<br />

sei es der Tod durch eigene Hand oder die von Menschen, die ihn lieben und erlösen wollen. So harrt<br />

er aus, Gefangener des tätowierten Zaubers, bis der Spruch vollendet ist, dann kommt die Rote Dame<br />

und tötet ihn, schneidet den Zauber von seinem Rücken und nimmt ihn mit sich, ein neuerlicher<br />

Zuwachs ihrer verderblichen Macht.<br />

Xelesia und Absidian trachteten danach, ihren Sohn zu bewahren, ihm vielleicht sogar seinen<br />

geraubten Verstand wiederzugeben, deshalb studierten sie die Magie mehrerer Welten und auch die<br />

Kräfte des Pandämoniums, und deshalb kamen sie auch in die Pension in der Kranichgasse, denn sie<br />

wußten um die Erdkraft, die hier schlummerte, vor vielen Jahren versiegelt durch einen großen<br />

Zauberer, Amlud Inglikis, der hier gewohnt hatte und sich die Erdenergie zunutze gemacht, ehe er<br />

erkannte, daß es ihm nicht gegeben war, die zerstörerische Kraft zu bändigen, die im Erdinneren<br />

brodelte und wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch stand, ihn zu verschlingen. So belegte er den Ort<br />

mit mehreren Siegeln, bannte die Strahlung bis auf ein Minimum, und dann kehrte er dem damals erst<br />

jungen <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> den Rücken und zog weiter.<br />

Xelesia und Absidian hatten die Siegel gebrochen und das Tor zur Erdmagie wieder geöffnet, in der<br />

Hoffnung, sich die Kraftquelle untertan zu machen und ihren Sohn erretten zu können. Aber damit<br />

handelten sie gerade als Marionetten ihrer Todfeindin, die ihre Macht auf die Erde gründet, und taten<br />

das Tor auf ins Verderben, das am Ende sie selbst und Ludomill Penhaligon verschlang. Das Übel,<br />

das darauf harrt, seinen Rachen auch um mich zu schließen.<br />

Welch ein Zauber war es, den Yalno auf seinem Rücken trug?<br />

Noch von anderen Dingen erzählt Ludomill, wenn die Nacht sich kurzfristig von seinem<br />

zerbrochenen Verstand erhebt. Bruchstückhaft nur vermag ich es zu fassen, was er in gemurmelter<br />

Litanei vor sich hinbrabbelt. Er hat Angst, soviel ist sicher. Irgendjemand, oder irgendetwas, lauert<br />

auf ihn, begierig ihn sich zu holen. Es ist nicht der Tod, den er fürchtet, sondern etwas, das er als weit<br />

schlimmer erachtet. Er spricht von einem Pakt, den er eingagangen ist, und davon, daß er ihn<br />

gebrochen hat. Oft höre ich ihn schreien oder angsterfüllt aufstöhnen, manchmal spricht er in fremden<br />

Sprachen, die ich noch nie zuvor vernommen habe. Es gibt einen Ausdruck - oder ist es ein Name? -<br />

der immer wiederkehrt: Yakatná. Er zittert, fleht, bettelt, wenn er dieses Wort sagt, in mir<br />

unverständlichen Zungen, fast so, als würde er um Gnade flehen oder um Vergebung.<br />

Mich würde interessiern, wie alt Ludomill ist.<br />

Meine Hände... sie sind schon wieder blutig! Ich muß gehen und sie waschen.<br />

Später, in der gleichen Nacht.<br />

Meine Hände sind immer noch blutig, so oft ich sie auch wasche. Das Blut will nicht weichen. Ein<br />

neuerlicher Fluch, der auf mir lastet. Und immer noch stehen die düsteren Gestalten zweier<br />

Gespenster abwartend im Dunkel, flüstern Worte und Lügen, auf die ich nicht länger achte.<br />

Ludomill hat mich vor einer Stunde mit bebender Stimme an sein Bett gebeten. Er ergriff mit<br />

zitternden Fingern meine Hand, redete flüsternd auf mich ein. Seine Augen waren die ganze Zeit auf


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

mich gerichtet, aber nicht immer schienen sie mich wahrzunehmen, manchmal blickten sie auch durch<br />

mich hindurch in die Unendlichkeit oder an ferne, mir unbekannte Orte. Einige Male hatte ich das<br />

Gefühl, er würde tief in mich hineinblicken, so wie es die Dame in Rot getan hatte, auf eine mir nicht<br />

verständliche Weise direkt mit meiner Seele kommunizieren. Manchmal erkannte er mich als<br />

Atakuela und nannte mich auch beim Namen, oft aber schien er auch eine andere Person in mir zu<br />

sehen, jemand, den er früher gekannt hatte. Er nannte mich Esmée, Istafel, Liko und bei anderen<br />

Namen. Der alte Mann sprach nicht immer so, daß ich ihn verstehen konnte, oft auch in fremden<br />

Sprachen, von denen ich sicher bin, daß sie nirgendwo auf Nontariell gebräuchlich sind, oder in<br />

Bildern und Metaphern, die ich nicht imstande war, zu begreifen; von Zeit zu Zeit schien er in<br />

Abgründe zu blicken jenseits jeder Vorstellungskraft, dann schwoll seine Stimme an zu einem<br />

schrillen Kreischen, oder sie verebbte zu einem Flüstern, das so leise war, daß ich mein Ohr ganz fest<br />

an seinen Mund halten mußte und doch nicht alles hörte, was er sprach. Häufig begann er auch zu<br />

stammeln, nur Bruchstücke, Satzfetzen, Wortfragmente sprudelten von seinen Lippen und ergaben für<br />

mich gar keinen oder einen nur unzureichenden Sinn. So kommt es, daß ich kaum die Hälfte von dem<br />

verstehen konnte, was er mir anvertraute, das Wenige jedoch will ich hier getreulich wiedergeben, mir<br />

selbst zur Erinnerungsstütze für künftige Tage, wenn die Verschwörung bezwungen ist und ich wieder<br />

frei bin. Oh, wann mag dies wohl sein?<br />

Es gibt ein Wesen, vielleicht ist es auch ein Prinzip, welches Ludomill als Yakatná bezeichnete,<br />

manchmal auch als Ding. Es existiert jenseits der Grenzen von Koatlitek im tiefen Abgrund zwischen<br />

den Sternen, oder, wie Ludomill es ausdrückte, „auf der anderen Seite der Nacht“. Dieser Wesenheit<br />

hat sich der alte Meister in seiner Jugend schon verschrieben, die Jahrhunderte (Jahrtausende?)<br />

zurückliegen muß, um Einsicht in Geheimnisse zu erhalten, die den Sterblichen normalerweise<br />

verborgen sind, und um Macht zu erringen, die, wenn ich seinen Worten Glauben schenken darf,<br />

größer ist als die der Götter von Koatlitek, die Ludomill Penhaligon mit der gleichen Verachtung<br />

sieht, wie man sie auch der Dame in Rot zuschreibt. Der Preis hierfür waren dunkle Riten und eine<br />

unheilige Verehrung, die Ludomill dem „Flüsterer im Abgrund“ zuteil werden ließ und mit denen er<br />

ihm kurzfristig ein Tor öffnete auf diese Welt, die ihm normalerweise verwehrt ist, geschützt durch<br />

etwas, was der alte Zauberer nur die Siegel nannte, oder die Wächter, wobei ich mir nicht sicher bin,<br />

ob er damit das Gleiche meinte oder unterschiedliche Dinge. Ich weiß nicht, welchen Nutzen ein<br />

Wesen wie Yakatná daraus zieht, Koatlitek betreten zu dürfen, doch Ludomill erging sich in langen<br />

Schilderungen der Schrecknisse, die er im Namen des „Wanderers in Dunkelheit“ vollbracht hatte und<br />

die die Übeltaten eines Sariel Mizgar als pure Kinderstreiche erscheinen lassen. Meine Hand sträubt<br />

sich, das niederzuschreiben, was Ludomill mir berichtet hat, ungeachtet meines Vorsatzes, denn<br />

gnädig wäre es, die grausigen Details zu vergessen, auch wenn ich nicht glaube, daß mir das jemals<br />

beschieden sein wird. Noch im Grab werde ich mich der Verbrechen entsinnen, von denen Mord,<br />

Schändung und Seelenraub noch die Geringsten waren, welche ich als Beichte aus dem Mund eines<br />

reuigen Mannes vernahm.<br />

Ludomill Penhaligon schien durch sein Geständnis Vergebung von mir zu erhoffen, und manche der<br />

Namen, mit denen er mich ansprach, waren, so denke ich, die seiner Opfer. Doch selbst wenn ich<br />

gewollt hätte, wie könnte ich ihm vergeben, da er mir doch nichts angetan hatte. Ich bin keine<br />

Priesterin, ihm die Absolution zu erteilen, zumal es selbst der Güte eines Yanec d´Ibrisco<br />

schwergefallen wäre, solche Greuel zu verzeihen, wie sie hier offenbart wurden. Der alte Meister liegt<br />

im Sterben, obwohl sein Körper geheilt ist, aber es ist nicht das Leben, an das er sich so verzweifelt<br />

klammert, sondern an die Illusion seines Seelenheils. Er weiß, daß selbst die Vergebung von Hesvite<br />

ihn nicht retten würde, daß es für ihn keine Hoffnung mehr gibt. Er hat Yakatná den Pakt<br />

aufgekündigt, die Riten nicht mehr durchgeführt, das Tor auf diese Welt geschlossen gehalten, weil er<br />

am Ende die Schuld nicht mehr ertragen konnte, die er wieder und wieder auf sich lud. Jetzt, wo er<br />

schwach ist, wo er im Sterben liegt, wird der „Wanderer in Dunkelheit“ kommen und ihn holen. Er<br />

wird seine Seele fressen.<br />

Der Alte schläft nun, von unruhigen Träumen geschüttelt, und erlebt vorab bereits die Ankunft seines<br />

Gottes, den er verraten hat. Er schreit im Schlaf und wimmert und flüstert immer wieder: „er kommt<br />

mich holen...“ Ludomills Verdammnis hat bereits begonnen, er trägt seine Hölle im eigenen Herzen.<br />

Angesichts seiner grausigen Beichte fällt es mir schwer, Mitleid mit ihm zu empfinden.<br />

25. Talu?


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Wo ich hier sitze und dies schreibe, erscheint mir mein eigenes Unglück gering im Vergleich zu der<br />

Verdammnis, der Ludomill anheimgefallen ist. Er war nicht unschuldig, beileibe nicht, und doch war<br />

er am Ende ein Opfer, nicht nur der Verschwörung (wenn er überhaupt jemals ein Opfer der<br />

Verschwörung war und dies nicht nur meine Interpretation der Dinge ist), vielmehr ein Opfer seiner<br />

eigenen Reue. Er starb, weil er nach Jahrtausenden sein Gewissen wiederentdeckt hat. Was in jeder<br />

Religion von Koatlitek Vergebung bringt, ihm brachte es die Verdammnis. Welch Ironie! Ludomill<br />

Penhaligon war eine tragische Gestalt.<br />

Am Abend des 24. saß er kerzengrade in seinem Bett und blickte mir mit einer erschreckenden<br />

Klarheit in den Augen fest ins Gesicht. Aller Nebel schien von seinem Geist gewichen, und selbst<br />

seine Furcht war zu einem Schatten abgeklungen. Er winkte mich an sein Bett, und zögernd folgte ich,<br />

setzte mich auf die Kante.<br />

„Es ist soweit,“ sagte er leise, aber seine Stimme klang gefaßt. Nur in der Tiefe seiner<br />

unergründlichen Augen flackerte es ganz leicht auf. „Yakatná rüttelt an den Toren dieser Welt. Er<br />

steht direkt vor Koatlitek und rennt gegen die Siegel an; nicht lange, und sie werden brechen. Mir<br />

bleibt nicht mehr viel Zeit.“<br />

Ich blickte weg, weil ich seinem Blick nicht standhalten konnte. Ludomill schüttelte traurig den Kopf.<br />

„Du brauchst mir nicht zu verzeihen, Atakuela, und du mußt auch nicht verstehen, warum ich meinen<br />

dunklen Weg eingeschlagen habe. Es war töricht von mir, von dir Absolution zu erwarten, dich als<br />

Stellvertreterin all meiner Opfer zu sehen, dich, der ich nie ein Leid zugefügt habe. Geh nun und laß<br />

mich allein. Ich will nicht auch dich noch ins Verderben reißen.“<br />

„Nein, Ludomill, ich bleibe. Ich werde dich in deiner letzten Stunde nicht allein lassen.“<br />

Ich weiß selbst nicht, warum ich das sagte, aber mein Entschluß war unumstößlich. Jetzt, wo er es<br />

nicht mehr erwartete, konnte ich ihm auf einmal verzeihen. Er war der einzige in dieser Stadt der<br />

Masken, dem ich noch vertraute, trotz allem, was er getan hatte. Das war ein anderer Mann gewesen,<br />

nicht der, den ich kannte. Ich würde ihn nicht im Stich lassen!<br />

Er lachte bitter auf. „Geh, Atakuela, Mädchen. Bitte. Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das.“<br />

„Ich kann bei dir sein.“ Ich drückte seine Hand, dann nahm ich ihn sacht in den Arm. „Niemand hat es<br />

verdient, einsam zu sterben, von allen verlassen, egal, was er getan hat.“<br />

„Du Närrin,“ sagte der alte Mann, aber er sagte es voll Dankbarkeit.<br />

Eine Weile saßen wir stumm nebeneinander. Draußen kam Sturm auf und rüttelte an dem morschen<br />

Gebälk. So, wie Yakatná an den Toren von Koatlitek rüttelte... Ich ging zum Fenster und blickte<br />

hinaus in die Nacht. Dunkle Sturmwolken waren aufgezogen und verdeckten die Sterne, ein Schleier<br />

rückte vor die Monde. Es war die dunkelste Nacht, die ich je erlebt hatte. Unnatürlich dunkel. Ein<br />

eisiger Windzug ließ den Fensterrahmen knarren und fuhr mir kalt ins Gesicht, zerzauste mein Haar<br />

und prickelte auf meiner Haut. Ich zog den Mantel enger um meine Schultern, aber die Kälte drang<br />

mir dennoch in alle Glieder. Ich sah Rauhreif, der sich auf dem Fenstersims bildete. Als ich das<br />

Fenster schließen wollte, zersplitterte die ohnehin bereits gesprungene Scheibe durch eine heftige Bö,<br />

und die scharfen Glasscherben schnitten mir in die Hand. Ich hatte das Gefühl, als würde der Sturm<br />

mich auslachen.<br />

Ludomill bat mich mit belegter Stimme: „Atakuela, bitte hole mir aus der Taverne eine Flasche Wein.<br />

Ich möchte noch einmal den Geschmack auf meiner Zunge spüren.“<br />

„Nein, Ludomill, so leicht wirst du mich nicht los. Der Sturm, das ist Yakatná, nicht wahr?“ Ich zog<br />

eine alte staubige Flasche mit süßem Likörwein aus meinem Gepäck, die ich aus dem Keller meines<br />

Vaters geholt hatte, ehe ich aufbrach, und schenkte zwei Zinnbecher voll. Einen reichte ich Ludomill.<br />

„Hier.“<br />

Der alte Mann nippte an dem samtroten Wein. Lange starrte er vor sich hin, dann sagte er so leise, daß<br />

ich es kaum hören konnte: „Ja.“<br />

Der Sturm heulte ums Haus. Frostiger Wind wehte durch das geborstene Fenster und wirbelte Staub<br />

auf vom Boden und von den Schränken. Schließlich begann Ludomill stockend zu erzählen, es war<br />

keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung, ich hatte den Eindruck, daß er einfach wollte, daß ich es<br />

wußte.<br />

„Die Pension... ich dachte, die Erdmagie würde bewirken, daß ich wieder ruhig schlafen konnte. Ich<br />

war empfänglich für die Strahlung, das wußte ich... die Bilder meiner Greuel, sie waren mir stets vor<br />

Augen, meine Opfer verfolgten mich in meinen Träumen. Als ich im „Lindenblatt“ einzog, hatte ich<br />

seit zehn Jahren nicht mehr geschlafen. Keine Stunde... Es war... ich fand mein seelisches<br />

Gleichgewicht wieder. Ich hatte Yakatná abgeschworen und wollte ein ganz normales Leben führen.


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

Als Aramar und Tibidago kamen und wünschten, daß ich ihr Lehrer werde, da wies ich sie von mir,<br />

ich schickte sie heim. Ich wollte keinen auf den dunklen Pfad führen, den ich beschritten hatte... „<br />

„Warum hast du dich der Dame in Rot entgegengestellt?“ fragte ich sanft.<br />

„Ich weiß es selbst nicht genau. Ich denke... es war der Versuch einer Wiedergutmachung. Indem ich<br />

Yalno vor Mariannette rettete, hoffte ich, mir selbst verzeihen zu können. Ich wünschte, mich hätte<br />

damals jemand aufgehalten! Ich war weit schlimmer als Mariannette...“<br />

„Wußte sie, was sie dir antat?“<br />

„Ja. Ihrer Meinung nach war für mich kein Platz mehr in der Welt. Ich hatte mich überlebt. Indem sie<br />

mich zerbrach, stellte sie die Ordnung der Dinge wieder her.“ Er nahm einen tiefen Schluck aus dem<br />

Trinkbecher.“Mehr als hundert Jahre lang hatte ich mich vor dem Wanderer in Dunkelheit versteckt,<br />

mich vor seiner Strafe verborgen. Ich hatte die Siegel gestärkt, Koatlitek vor seinem Zugriff beschützt.<br />

Aber in Wahrheit hatte ich nur mich selbst vor ihm beschützt. Nachdem Mariannette mir meinen<br />

Zauber genommen hatte, konnte Yakatná mich wittern. Er nahm meine Fährte auf...“<br />

Wie bestätigend teilte ein bläulich-gezackter Blitz den düsteren Himmel, und sein gespenstischer<br />

Widerschein irrlichterte durch das enge Herbergszimmer. Ludomills Gesicht wirkte in dem blauen<br />

Licht wie das einer Leiche.<br />

„Wart ihr Freunde? Früher. Du und die Dame in Rot...“<br />

Der alte Zaubermeister senkte den Kopf, einige Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Ich bemerkte,<br />

daß er von Erinnerungen überwältigt wurde und versucht war, mir davon zu erzählen, doch dann<br />

begnügte er sich mit einem schlichten: „Ja.“<br />

Ein tosender Donnerschlag ließ die windschiefe Herberge erzittern. Ludomill lächelte schwach. „Er<br />

ist auf dem Weg.“<br />

Lange verharrten wir in Schweigen. Weitere Blitze zuckten und erhellten mit ihrem blauen Licht<br />

unsere armselige Zuflucht. Wir beide zählten bang die immer kürzer werdende Frist, bis das<br />

Donnergrollen folgte. Das Gewitter rückte immer näher, und mit ihm Yakatná... Irgendwann setzte ein<br />

prasselnder Regen ein, der vom tosenden Sturmwind durch die geborstene Scheibe ins Innere geweht<br />

wurde und den Boden überschwemmte. Der Regen durchnäßte mein Haar und meine Kleider,<br />

durchweichte das Bett. Wassertropfen rannen über Ludomills Gesicht, als er mit weit aufgerissenen<br />

Augen ins Gewitter starrte. Nur noch wenige Sekunden lagen zwischen Blitz und Donnerschlag.<br />

Es gab soviel, was ich Ludomill hätte fragen können, über Mariannette, über die Stadt der<br />

Marionetten, über die Verschwörung... aber ich war nicht hier, um ihn auszuhorchen, um<br />

Nutznießerin seines Wissens zu sein. Ich war hier, um ihm in seiner letzten Stunde beizustehen.<br />

„Atakuela...“<br />

Ich drückte fest seine Hand.<br />

„Der tätowierte Zauber... ich verstehe ihn nicht ganz, aber ich denke, etwas Schreckliches wird<br />

geschehen. Niemand kann Mariannette aufhalten. Niemand, wenn nicht einmal ich es vermochte. Und<br />

doch... in meinem Buchladen... die Anrufung der Wächter...“<br />

Ludomill verfiel in eine fremde Sprache, oder vielleicht murmelte er auch nur unzusammenhängende<br />

Wortfetzen, die ich nicht einordnen konnte. Ich schüttelte ihn, aber er starrte durch mich hindurch.<br />

Ein blauer Widerschein, ich erstarrte in der Bewegung, zählte... nur eine Sekunde!<br />

Plötzlich waren seine Augen wieder hellwach und angefüllt mit einer solchen Furcht, wie ich sie nie<br />

zuvor bei einem Wesen erblickt hatte. „Geh, Atakuela! Flüchte, sonst holt er auch dich!“ schrillte der<br />

alte Mann in panischem Entsetzen. Fast hätte ich seine Warnung befolgt. Ich starrte zum Fenster, und<br />

nun lag Panik auch in meiner Seele.<br />

Der Himmel war taghell erleuchtet von einem zuckenden Tanz blauer Blitze, die sich wie ein Geflecht<br />

ineinander verwoben, wie ein Spinnennetz oder zuckende Tentakel. Der ohrenbetäubende Donner war<br />

allgegenwärtig, aber durch das Tosen hindurch glaubte ich eine gewaltige befehlende Stimme zu<br />

hören, die nach Ludomill rief. Wie in Trance erhob er sich vom Bett und schritt auf das Fenster zu,<br />

das mir in diesem Augenblick vorkam wie das Tor zu einer anderen Welt. Das Tor auf die andere<br />

Seite der Nacht, wo der Flüsterer aus dem Abgrund haust. Er lief, obwohl er von der Hüfte abwärts<br />

gelähmt war, stolperte schwankend zu auf sein Verderben, die Augen quollen ihm fast aus den<br />

Höhlen, ich konnte seine Furcht förmllich riechen, sein Mund brabbelte und murmelte Worte des<br />

Wahnsinns. Ich wollte ihn festhalten, zurückziehen vom Fenster in den Untergang, aber er stieß mich<br />

mit einer solchen Kraft beiseite, daß ich wie eine Spielzeugpuppe zu Boden gewirbelt wurde und<br />

halbbetäubt liegenblieb. Ich sah einen sich schlängelnden schwarzen Tentakel, der durch das Fenster<br />

nach Ludomill Penhaligon tastete, ihn um die Hüfte umschlang und mit sich hinauszerrte in die


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

blitzdurchzuckte Nacht. Ludomills gellender Schreckensschrei verhallte in der Ferne. Ich rannte zum<br />

Fenster, blickte ins tosende Inferno, wo sich schwarze Wolken zu bizarren Gebilden auftürmten, wo<br />

geflügelte, amorphe Dinge durch einen von Blitzen gespaltenen Himmel schwebten...<br />

Danach versank ich in eine bodenlose Finsternis, die mein Bewußtsein hinwegspülte uind mir<br />

gnädiges Vergessen brachte. Ich weiß nur noch, daß ich in wilder Paník flüchtete. Da waren Männer,<br />

die mich aufhalten wollten, und ich tötete sie. Ich rannte hinaus in die Nacht, während die Herberge<br />

hinter mir wie ein Kartenhaus zusammenstürzte, suchte ein Versteck vor dem Alptraum und fand es<br />

schließlich. Hier sitze ich nun, im Schatten eines Tempels (welcher Tempel? Welcher Gott wird hier<br />

angebetet? Ich habe es vergessen.), und mache diese Eintragungen in mein Tagebuch. Es ist<br />

aufgeweicht vom Regen, und viele Seiten sind unleserlich, die Tinte verwischt, aber ich schreibe<br />

dennoch weiter, wie eine Besessene. Dieses Tagebuch ist meine letzte Verbindung zur Wirklichkeit,<br />

zu der Welt, wie sie war, bevor der Alptraum begann. Erst die Verschwörung, und jetzt...<br />

Es hätte schon längst der Morgen anbrechen müssen, der 26. Talu, aber es ist immer noch Nacht. Der<br />

Sturm hat sich gelegt, der Regen und das Gewitter haben aufgehört. Der Wanderer in Dunkelheit ist<br />

mit seiner Beute heimgekehrt. Aber die Nacht, die Nacht... sie währt noch immer. Ich sehe hinauf zum<br />

Himmel und erkenne fremde Sternenkonstellationen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Bin ich<br />

überhaupt noch auf Koatlitek? Die Monde sind immer noch hinter einer Wolke verborgen. Ich warte.<br />

Ich warte. Nacht. Immer noch. Ich sehe keinen Menschen, außer mir, aber ich höre... Geräusche. Ein<br />

Flüstern und Raunen, als würde die Nacht mit sich selbst sprechen, manchmal ein Pfeifen, ganz weit<br />

weg. Meine einzige Gesellschaft sind die beiden dunklen Frauengestalten, die Gespenster, die mir<br />

vorgaukeln, sie wären Arpáo de Kuansa und Atuasi de Jurosa, aber auch die Geister schweigen. Sie<br />

sprechen nicht mehr, starren nur still vor sich hin. Ich vermisse ihre Stimmen. Warum haben sie<br />

aufgehört, zu mir zu sprechen? Haben sie erkannt, daß ich nicht länger auf ihre Lügen höre? Fast<br />

glaube ich, so etwas wie Furcht oder Erschrecken auf den schemenhaften Gesichtern der<br />

Geisterfrauen ausmachen zu können, aber das ist gewiß nur eine weitere Maske. Sie sind stumm. Nur<br />

die Nacht selbst spricht. Ich habe Angst.Vielleicht träume ich nur, vielleicht ist alles nur ein<br />

furchtbarer Nachtmahr. Vielleicht gibt es die Nacht nur in mir selbst, die endlose dunkle Nacht<br />

meiner Seele Ich klammere mich an meine Feder und an meinen Rapier, letzte Fixpunkte einer aus<br />

den Fugen geratenen Welt.<br />

Winter der Seele<br />

Immer noch 25. Talu?<br />

Hat Yakatná die Nacht mit sich gebracht, die ewige Nacht zwischen den Sternen? Oder hat die Dame<br />

in Rot sie gerufen, mit jenem Zauber, der Yalno sein Leben gekostet hat? Ich weiß es nicht. Ich weiß<br />

nur, daß die Sonne immer noch nicht aufgegangen ist, und ich zweifle inzwischen daran, daß sie<br />

jemals wieder aufgehen wird. Die Ewigkeit hat ihren Mantel über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> ausgebreitet,<br />

vielleicht über ganz Koatlitek.<br />

Ziellos irre ich durch die Finsternis. Ich bin allein, keine Menschenseele kreuzt meinen Weg. Und<br />

dennoch, ich spüre, daß ich beobachtet werde, verfolgt. Manchmal höre ich Schritte, ganz dicht hinter<br />

mir, aber wenn ich herumwirble, die Klinge gezückt, dann ist da niemand. Ab und an klingt ein<br />

hämisches Kichern in meinen Ohren, bisweilen nehme ich seltsame und unangenehme Gerüche war.<br />

Ich weiß, irgend jemand ist da, ganz nah, ganz nah... und doch kann ich ihn nicht wahrnehmen. Er<br />

versteckt sich, belauert mich, läßt mich keine Sekunde aus den Augen. Wenn ich ihn sehe, werde ich<br />

ihn töten. Wenn ich ihn sehe.<br />

Wenn ich zum Himmel schaue, bemerke ich tanzende Wolkenfetzen, die wie lebendig zucken, aus den<br />

Wolken heraus manifestieren sich bisweilen menschenähnliche Umrisse, fahle Irrlichter geistern<br />

durch die Nacht. Einmal glaubte ich aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick auf ein schreckliches<br />

Gesicht erhaschen zu können, das vom Himmel auf mich herabstarrte, aber als ich genau hinsah,<br />

waren da nur Wolken.<br />

Bin ich der letzte Mensch in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>?Bin ich der letzte Mensch auf der Welt?<br />

Nacht, immer noch<br />

Ich habe einen anderen Menschen entdeckt. Leider war er tot. Er lag mitten auf der Straße, auf dem<br />

Bauch, und als ich ihn umdrehte und ihm ins Gesicht blickte, sah ich, daß er keine Augen mehr hatte.<br />

Durch die leeren Augenhöhlen blickte ich ins Innere seines ausgehöhlten Schädels. Irgend etwas hatte


Stiefkinder des Schöpfung I: Die vier Jahreszeiten - Marc Rösel<br />

ihm durch die Augen das Gehirn aus dem Kopf gesaugt. Als ich ihn zurück in den Staub der Straße<br />

sinken ließ, schlug sein Hinterkopf hart auf den Stein und zerbrach wie eine Eierschale.<br />

Ich wirbelte blitzschnell herum, weil ich einen beobachtenden Blick auf meinem Rücken spürte, und<br />

konnte gerade noch erkennen, wie sich etwas tiefer in die Schatten eines Hauseingangs zurückzog.<br />

Doch als ich den Eingang erreichte, war er leer.<br />

Ich lasse mich einfach treiben. Dann und wann ist da Nebel oder Rauch, der an mir vorbeiweht,<br />

manchmal erahne ich ein Gesicht inmitten des nebligen Dunstes. Aber niemand spricht zu mir,<br />

niemand antwortet, nicht einmal die dunklen Geisterfrauen, die immer noch da sind, die mich stets<br />

begleiten. Ich habe den Eindruck, daß sie mich traurig anschauen.<br />

Ich habe weitere Toten gefunden. Warum bin ich noch am Leben? Wollen sie mich bis zuletzt<br />

aufsparen?<br />

Immerwährende Nacht.<br />

Endlich! Ich bin nicht mehr allein. Während ich planlos durch die ausgestorbenen Straßen irrte, hörte<br />

ich plötzlich das Weinen eines Säuglings. Sogleich verhielt ich meinen Schritt und horchte<br />

angespannt in die Nacht. Die Schreie erschollen aus einem Haus ganz in der Nähe. Die Tür stand<br />

offen, und ich stieg die Treppen hoch und fand das Kind in einer Wiege liegen. Von seinen Eltern<br />

oder anderen Bewohnern des Hauses fehlte jede Spur. Ich nahm das Kind mit mir, trage es in meinen<br />

Mantel gewickelt auf meinem Arm. Ich bin nicht mehr allein.<br />

Später.<br />

Das wird meine letzte Tagebucheintragung sein, denn mein Papier geht zur Neige. Das Büchlein ist<br />

voll, und mir bleibt nur noch, abschließende Worte hineinzuschreiben. Es ist immer noch Nacht,<br />

immer noch irre ich durch die Finsternis, den schreienden und hungrigen Säugling auf meinem Arm.<br />

Ich habe nichts, womit ich das Kind füttern könnte, wahrscheinlich wird es bald verhungert sein, und<br />

dann bin ich wieder allein. Es macht ohnehin kaum einen Unterschied. Leere Straßen, leere Häuser.<br />

Augen, die mich beobachten, ohne, daß ich sie sehen kann. Ein Flüstern und Murmeln um mich, und<br />

die stummen Gespensterdamen als meine düsteren Begleiterinnen. Verloren treibe ich durch die<br />

Nacht.<br />

Mit zittriger Schrift an den Rand der letzten Seite gekritzelt, teilweise zwischen die Zeilen der letzten<br />

Eintragung gerutscht<br />

Da ist jemand, vor mir in der Nacht. Ist es Yssa? Oder Yesil? Ich kann mich nicht an das Gesicht<br />

erinnern. Aber ich weiß, sie ist meine Feindin, sie ist an allem schuld. Ich muß sie töten. Behutsam<br />

bette ich den inzwischen verstummten Säugling auf meinen Mantel. Er schreit schon lange nicht<br />

mehr. Ist er tot? Vielleicht. Dann zücke ich den Rapier und den linkshändigen Parierdolch. In einer<br />

spiegelnden Pfütze sehe ich das Bildnis einer Frau, bin ich das? Die violetten Haare wirr im blassen<br />

und abgemagerten Gesicht, ein funkelnder Glanz in den Augen, barfuß, das schwarze Kleid zerrissen<br />

und blutbefleckt. Ich bin bereit. Jetzt wird alles enden.


Neue Besen - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Neue Besen<br />

<strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Die Stadt kehrte langsam wieder zu ihrem gewohnten Lebenswandel zurück, drehte sich aus dem<br />

Taumel des Mittjahrsfestes und der Triumviratswahl heraus. Trübsal in der Unterstadt, Genußsucht in<br />

der Oberstadt...<br />

Geral Broschakal nahm einen erneuten tiefen Atemzug der erfreulich kühlen Abendluft und wandte<br />

sich dann zu ihren Beobachtern um. Da saßen sie, zwanzig an der Zahl, und blickten sie erwartend an.<br />

„Meine Herren“, eröffnete sie ihre Rede. „Ihr werdet euch wundern, warum ich euch<br />

zusammengerufen habe! Der Grund ist ebenso peinlich wie ärgerlich.“<br />

Unruhiges Gemurmel machte sich unter den Richtern breit. Nicht nur, daß sie von einer<br />

Triumviratsangehörigen zusammengerufen wurden, einer erst vor drei Tagen gewählten, noch dazu.<br />

Nein, jetzt wollte diese ihnen auch noch etwas Unangenehmes eröffnen.<br />

´Das macht man nicht´, hatte man ihr gesagt. ´Die Richter unterstehen den gewählten Oberrichtern,<br />

nur sie können Richter ernennen und entlassen.´<br />

Aber Geral scherte sich nicht darum. Sie war Teil der Regierung und die Oberrichter waren ihr<br />

unterstellt und somit auch die Richter als solche.<br />

Nach dieser bedeutsamen Pause sprach sie weiter: „Einer von euch wurde aus verläßlichen Quellen<br />

der Bestechlichkeit, der Aufforderung zum Mord und der Unzucht beschuldigt und durch<br />

verschiedene Zeugenaussagen überführt.“<br />

Wieder machte sie eine Pause und blickte jeden einzelnen der Richter an und sah jeden einzelnen<br />

erbleichen. Jeder von ihnen ließ sich durch größere Summen davon überzeugen die Gesetze und das<br />

Rechtsempfinden ein wenig zu Gunsten der Reicheren zu beugen. Auch hatten die meisten von ihnen<br />

schon einmal den einen oder anderen unliebsamen Zeitgenossen aus dem Weg räumen lassen und<br />

einige brachten junge Dinger mit der Drohung einer Anklage dazu, sich zu ihnen zu legen. Dabei<br />

konnten sie bis jetzt darauf vertrauen, daß ihre Position als Richter sie schützte. Doch nun nicht mehr!<br />

„Ich werde ein solches Verhalten nicht dulden.“<br />

Natürlich gab es auch rechtmäßige Richter und mancher war nur ein oder zweimal der Versuchung<br />

erlegen, aber viele -zu viele- nutzten ihre Position schändlich aus. Geral würde ein Exempel<br />

statuieren.<br />

„Richter Namulet Farbelle, ihr seid mit sofortiger Wirkung unehrenhaft aus dem Amt des Richters<br />

entlassen, alle noch ausstehenden Verhandlungen werden von einem anderen Richter übernommen<br />

werden und ihr werdet euch der Gerichtsbarkeit <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s verantworten müssen. Wachen, führt<br />

ihn ab.“<br />

Ungläubigkeit strahlte aus den meisten Augen, doch in ein oder zwei Augenpaaren glaubte Geral auch<br />

Zustimmung lesen zu können. Zwei Stadtwachen packten den erbost aufgestandenen Richter an<br />

beiden Seiten und führten ihn zur Tür. Sie trugen immer noch das alte Wappen. Auch das würde sich<br />

bald ändern. Unnachgiebig führten sie den dicklichen Mann ab. Geral hatte keinen Zweifel daran<br />

gelasen daß mit unabdingbarer Härte gegen Farbelle vorgegangen werden müßte. Der Richter starrte<br />

Geral wütend an. Auch in einigen der anderen Gesichtern regte sich Unmut und Widerstand. Nun gut,<br />

dann würde der nächste Schritt doch nötig werden. Demütigung.<br />

„Moment noch.“<br />

Die Wachen hielten inne.<br />

„Bürger Farbelle, es steht euch nicht zu, die Schärpe eines Richters zu tragen. Legt sie sofort ab, sonst<br />

wird den Anklagepunkten noch Vortäuschung höheren Ranges hinzugefügt.“<br />

Sie steckte die Hand aus. Erst zögerte der ehemalige Richter noch, als er aber den harten Ausdruck in<br />

ihren Augen sah, gab er nach. Wütend riß er die Schärpe entzwei und warf sie zu Boden. Geral blickte<br />

herunter, nickte dann grimmig und drehte die offene Hand herum, schloß sie und zeigte mit dem<br />

Finger auf die Tür.<br />

„Führt ihn ab!“<br />

Als die Tür laut ins Schloß gefallen war, wandte sich die Triumviress wieder den Richtern zu: „Der<br />

vakante Posten wird von den Oberrichtern nach bekannter Vorgehensweise wieder besetzt. Ich hoffe,<br />

daß ihr übrigen eure Aufgabe weiterhin so zufriedenstellend erledigt. Ihr dürft gehen.“<br />

Geral stellte sicher, daß der Ton ihrer letzten Sätze eine nur wenig verholene und unmißverständliche<br />

Drohung enthielt. Sie würde nicht davor zurückschrecken kräftig aufzuräumen, wenn sich die Art und<br />

Weise der Richter nicht ändern würde.


Neue Besen - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Als der letzte der Würdenträger <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s den Saal verlassen hatte, ging sie wieder zum Fenster,<br />

verschränkte die Arme und blickte auf die Straße herunter. Diese Leute hier und auch die jenseits der<br />

Schlucht vertrauten ihr, oder zumindest mußten sie das erdulden, was sie entschied. Sie hoffte sie<br />

nicht zu enttäuschen.<br />

Es gab noch viel zu tun, viele schwere Schritte zu gehen. Schon jetzt, am dritten Tag ihrer Regierung<br />

hatte sie sich Feinde gemacht und auch die anderen beiden Mitglieder des Triumvirats waren nicht<br />

sehr begeistert von ihrer unkonventionellen Art. Aber wie sagte man so schön: Neue Besen kehren<br />

gut.


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Schattenspiele<br />

Claudia Wamers<br />

Die Sonne ging auf über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, der geteilten Stadt. Allerdings sah man als erdgebundener<br />

Bewohner dieser Stadt heute nicht sehr viel davon, verdeckten doch dichte graue Wolken den<br />

Himmel, aus denen es kräftig hinabregnete.<br />

In der Oberstadt begann trotz des andauernden Unwetters reges Treiben. Die wenigen Menschen, die<br />

es im Leben etwas besser getroffen hatten, erwachten gerade zu ihrem mehr oder eher weniger<br />

arbeitsreichen Tagwerk. Dahingegen war es in der Unterstadt, im sogenannten „Rattenloch“, gerade<br />

an der Zeit, daß die meisten der Aktivitäten eingestellt wurden. Hier lebten zwar auch einige ehrliche<br />

Leute, die nur viel Pech im Leben gehabt hatten, aber ehrlich - Im Licht des Tages, sei er auch noch<br />

so wolkenverhangen, ließ es sich recht schlecht Rauben und Meucheln, nicht daß das so unbedingt ein<br />

Hinderungsgrund wäre... So war nun einmal der allgemeine Gang der Dinge in dieser Stadt...<br />

... doch wenden wir uns einmal ab vom Gang der Dinge in dieser Stadt und widmen wir uns dem<br />

Gang eines Pferdes, das, wenn es denn seinen Kurs weiterverfolgte, am nächsten Morgen <strong>Elek</strong>-<br />

<strong>Mantow</strong> erreichen dürfte.<br />

Das Pferd ließ, ebenso wie sein tropfnasser Reiter, traurig den Kopf hängen. Die beiden paßten sich,<br />

so schien es, dem Regenwetter an. Der Reiter war zwar in einen schützenden Regenumhang gehüllt,<br />

doch trotzdem bis auf die Haut durchnäßt. Man hörte ihn ab und an verärgert vor sich hin murmeln.<br />

Er wischte sich mürrisch eine Strähne seines dunkelblonden Haares aus der Stirn und fluchte<br />

lautstark.<br />

„So ein Sauwetter, da schickt man doch keinen Hund vor die Türe. Und all das nur weil... „<br />

Abrupt griff der Mann in die Zügel und brachte sein Pferd zum Stehen. Hatte er da nicht einen Laut<br />

aus dem Unterholz vernommen? Er wartete einen Augenblick und spitzte die Ohren, um durch das<br />

Rauschen und Plätschern des Regens etwas zu hören. Nein, anscheinend doch nicht, es war wohl<br />

wirklich nur das Rauschen des Regens und das Prasseln der Wassertropfen auf dem ersten Grün des<br />

Jahres, das ihm die Laute vorgegaukelt hatte.<br />

Gerade als er sich mit einem Seufzer anschickte weiterzureiten, hörte er wiederum Geräusche. Da,<br />

rechts, das Knurren von Raubtieren war zu hören - das waren eindeutig Wölfe. Und sie stritten sich<br />

anscheinend um etwas. Nervös begann das Pferd zu tänzeln, es hatte wohl auch die Witterung in die<br />

Nüstern bekommen und wollte fort - ein schlaues Tier.<br />

Es war besser für jeden Reisenden, sich balgende Wölfe einfach zu ignorieren - so dachte jedenfalls<br />

der Reiter und gab seinem Pferd die Sporen.<br />

Da mischte sich unter das Knurren der Wölfe das angstvolle Wiehern eines Pferdes und der wütende<br />

Klang einer Frauenstimme.<br />

Der Reiter zügelte sein Pferd erneut, es tänzelte im Schlamm des Pfades auf der Stelle... eine Frau hier<br />

draußen, die sich mit Wölfen herumschlägt...<br />

„Ist eben Pech für das Mädel....“, murmelte der Reiter im tropfenden Regenumhang leise vor sich hin,<br />

und lenkte sein Pferd einige Schritte weiter auf dem Pfad Richtung Stadt. Dann allerdings riß der<br />

Mann doch noch das Tier herum in Richtung der Geräusche, und mit einem lauten Fluch und einem<br />

herzhaften „Verdammt noch mal!“ durchbrachen Roß und Reiter die Büsche.<br />

Nach einigen Metern durch dichtes Vorjahresgestrüpp welches der Hengst schnell durchbrach, bot<br />

sich dem Mann der Blick auf eine kleine, von Eichen umgebene Lichtung.<br />

Auf dieser Lichtung stand eine Frau, breitbeinig und abwartend vorgebeugt, den Rücken einem<br />

großen Baum zugewandt. Sie versuchte sich mit einem Säbel in der einen und einem langen Knüppel<br />

in der anderen Hand einer Meute Wölfe zu erwehren. Gerade hatte sie einem der Tiere den Knüppel<br />

kräftig auf die Schnauze gesetzt, so daß dieser sich jaulend zurückzog. Allerdings hatte sie dadurch<br />

ihre Deckung zu weit offengelassen - ein silbermähniger Wolf hing im Nu an ihrem Unterarm und<br />

bohrte seine Fänge hinein. Die Frau ließ den mit dieser Hand geführten Säbel mit einem hellen<br />

Aufschrei fallen.<br />

Da war auch schon der Reiter heran, die Hufe des Pferdes trampelten eines der Tiere mit der<br />

Schnauze voran in den Schlamm, und drosch einem der anderen Wölfe den Säbel ins Kreuz. Das<br />

getroffene Tier jaulte auf, stolperte und stürzte. Helles Blut rann durch das Fell und vermischte sich<br />

dort mit den Regentropfen. Der Mann sprang aus dem Sattel und machte sich bereit, auch den<br />

verbliebenen Wölfen kräftig eins auszuteilen. Diese Chance nutzte auch die Frau, denn noch hatte sie<br />

diesen Knüppel in der Hand! Sie setzte ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht dem silbermähnigen Wolf


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

zwischen die Ohren - dieser jaulte auf und ließ von ihr ab. Mit angelegten Ohren duckte sich<br />

Silbermähne vor ihr und ließ ein dunkles Grollen vernehmen, dann machte er auf der Stelle kehrt und<br />

die anderen Wölfe folgten ihm - auf der Suche nach einem leichteren Opfer.<br />

Der Mann blickte den flüchtenden Tieren nur kurz hinterher, steckte den Säbel weg und wandte sich<br />

der jungen Frau zu. Diese ließ sich, langsam, mit der einen Hand den verletzten Unterarm haltend, an<br />

dem Baumstamm zu Boden sinken. In Gras und Schlamm am Fuße des Stammes blieb sie nach Atem<br />

ringend sitzen.<br />

Während der Mann auf sie zutrat betrachtete er sie interessiert. Eine Strähne dunkler roter Locken fiel<br />

ihr unter der Kapuze ihres ledernen Umhanges in das blasse, erschöpft aussehende Gesicht. Die<br />

Anstrengung ließ sie älter aussehen, als sie wohl war. Man konnte sie auf etwas über zwanzig<br />

Sommer zählen. Der Reiter kniete neben ihr nieder und griff vorsichtig nach ihrem Arm, um sich die<br />

Wunde einmal anzusehen, die rot durch den Blusenärmel schimmerte.<br />

Das heißt er wollte nach dem Arm greifen, doch plötzlich, wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem<br />

Himmel, spürte er eine kleine aber ungemein scharfe Klinge unverrückbar an seiner Kehle.<br />

„Eine falsche Bewegung, mein Freund, nur eine falsche Bewegung..“, hörte er die Frau leise sagen,<br />

„dann hast Du große, große Schwierigkeiten.“<br />

Er ließ seinen Blick vorsichtig von dem verletzten Arm hochwandern, bis in ein paar klare graue<br />

Augen - und er glaubte der Frau aufs Wort. Sofort nahm er seine Hand zurück und hob<br />

beschwichtigend beide Hände. Die Frau rückte etwas von ihm ab, somit verschwand auch der Druck<br />

der scharfen Klinge.<br />

„Wenn Ihr es wollt, so kann ich gerne gehen und euch hier zurücklassen. So es euer Wunsch ist, edle<br />

Dame, kann ich auch gerne sehen, ob ich die Wölfe noch finde, die ja nicht allzuweit fort sein<br />

dürften.“ Man hörte ihm deutlich den Sarkasmus seiner Worte an, und daß sich hier jemand sehr<br />

darum bemühte, nicht aus der Haut zu fahren. Oh ja, daß der Mann hier wütend war - das war<br />

unschwer zu erkennen.<br />

Die Frau blickte ihn lange aus ihren grauen Augen an, was suchten diese Augen in den seinen?<br />

Anscheinend hatten sie gefunden was sie suchten, denn die Rothaarige seufzte, murmelte etwas wie<br />

„...wohl doch keiner von denen...“ und steckte mit einem undeutlichen Fluch den Dolch wieder zurück<br />

in die in ihrem Blusenärmel geschickt versteckte Dolchscheide.<br />

Oh, er hatte die Kleine wirklich unterschätzt. 'Dieses Luder ist unheimlich vorsichtig...und<br />

unheimlich flink mit den Fingern. Da hat sie doch, als sie scheinbar den verletzten Arm umklammert<br />

hielt, die ganze Zeit den Dolch griffbereit gehabt!', dachte der Mann.<br />

'Dumm von mir, sehr dumm - und unvorsichtig.,', sinnierte der Mann mit einem Schmunzeln, 'langsam<br />

sollte ich vielleicht etwas mehr Instinkt dafür entwickeln, sonst zieht man mich irgendwann einmal<br />

ohne einen Lebensfunken aus dem Dreck des Rattenloches heraus.'<br />

Eine Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.<br />

„Grins' nicht so dämlich, hilf mir lieber auf, Du Bauer!“ Eine behandschuhte Linke streckte sich ihm<br />

entgegen. Er griff fest zu und zog die Frau auf die Beine.<br />

Sie verzog kaum das Gesicht, unterdrückte den Schmerz in ihrem Arm, und als sie stand klopfte sie<br />

sich ein wenig den Schmutz von der Kleidung. Ein vergebliches Unterfangen, wo es doch immer noch<br />

regnete und sie auf dem Waldbogen gehockt hatte.<br />

Sie trug robustes und praktisches Leder, eine dunkelblaue, jetzt aufgeweichte und zerrissene Bluse,<br />

und, unter der Kapuze, ein dunkelblaues Haarband mit dem sie die Flut ihrer in viele kleine Zöpfe<br />

gebändigten roten Haare nach hinten zwang, mit einem großen, in regenbogenfarben schillernden<br />

Stein als Zierde.<br />

Suchend blickte sie sich um, fand ihren Säbel und den Knüppel. Wie der Mann jetzt sehen konnte,<br />

war dieser Knüppel wohl eher ein in einen Stoff eingeschlagener, schlanker Gegenstand. Sie nahm<br />

beides auf und sah sich nochmals suchend um. Dann ließ sie einen schrillen Pfiff hören. Anscheinend<br />

rief sie ihr Pferd, das vor den Wölfen wohl die Flucht ergriffen hatte.<br />

Immer noch machte die Frau keinerlei Anstalten, sich ihm vorzustellen oder sich für die Rettung vor<br />

den Wölfen zu bedanken. Abwartend stand der Mann einige Schritt von ihr weg und beobachtete die<br />

Frau aufmerksam. Sie war schon seltsam. Jetzt sah sich die Frau besorgt um, auf ihren Pfiff hin war<br />

nichts geschehen. Sie starrte in den Wald hinein, dort wo die Wölfe verschwunden waren.<br />

„Verdammte Mistbiester, haben die Wölfe wohl doch meinen treuen, alten Braunen erwischt, soll die<br />

Schlucht sie holen...“<br />

'Die Schlucht,' dachte der Mann, 'die Kleine scheint aus <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> zu sein'.


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Sie sah noch einen Moment den im Schlamm recht gut zu sehenden Hufspuren ihres Braunen nach,<br />

denen einige Wolfsfährten folgten. Dann wandte sie sich dem Mann zu.<br />

„Du reitest nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>?“ Es schien mehr eine Feststellung als eine Frage zu sein.<br />

„Ich reite nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, ja.“ gab der Mann zurück. Die Frau trat einige Schritte auf ihn zu, jetzt<br />

zuvorkommend und überaus freundlich lächelnd.<br />

„Sagt, könntet Ihr mich vielleicht mitnehmen?“, bat sie, auf einmal gar nicht mehr so unnahbar.<br />

„Das könnte ich - vielleicht.“ Natürlich war der plötzliche Stimmungswandel nicht unbemerkt<br />

geblieben. Auch die Sache mit dem Dolch im Blusenärmel lockerte sicherlich nicht gerade die<br />

Stimmung.<br />

Das Mädel hatte etwas zu verbergen, das war offensichtlich. Sie hatte es auch, wenn sie nicht einmal<br />

die Zeit aufbrachte ihr geflohenes Pferd zu suchen, daß ja vielleicht noch lebte, ganz gewiß sehr eilig,<br />

nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> zu kommen. Die junge Frau lächelte und streckte ihm eine Hand zum Gruße<br />

entgegen.<br />

„Ich heiße Shirinn, Shirinn Tayla, und ich danke für die Hilfe.“ Der Mann ergriff langsam die<br />

dargebotene Rechte, er bemerkte wohl, das die linke Hand der Frau hinter ihrem Rücken blieb, ein<br />

Dolch im Gürtel?<br />

„Mein Name ist Bercan Tibrand, und, soweit ich das bisher sagen kann, gern geschehen.“<br />

Die Frau hielt seine Hand für einen langen Augenblick fest, lächelte und sah sich dann wieder um.<br />

Wie es zuerst schien in der Hoffnung, doch noch ihr Pferd zu erblicken. Ihre grauen Augen<br />

durchbohrten förmlich das Dickicht um sie herum. Bercan Tibrand bemerkte, daß sie aufmerksam die<br />

gesamte Umgebung absuchte - nach Dingen die gewiß kleiner zu sein schienen als ein Pferd.<br />

„Bercan Tibrand ist euer Name, so so, da gab’s in der Oberstadt doch einen Fuhrunternehmer, der so<br />

hieß, Tibrand, meine ich. Hast Du mit dem zu tun? Ich bin länger nicht mehr in der Stadt gewesen.<br />

Geht es denn immer noch so wild zu in der Unterstadt?“<br />

Ihre Unterhaltung sprudelte plötzlich wie ein Wasserfall. Sie hatte ihrem Gegenüber mit Sicherheit<br />

das erwachte Mißtrauen angemerkt und tat ihr möglichstes, ihn durch ihr zwangloses Geplauder auf<br />

ganz andere Gedanken zu bringen.<br />

Dabei schritt sie jedoch recht zielstrebig auf das jetzt ruhig dastehende Pferd Bercans zu, das an<br />

einigen Halmen zupfte. Dies blieb diesem nicht verborgen, er beeilte sich ihr zu folgen. Er<br />

befürchtete, daß sie sich mit seinem Pferd aus dem Staub machen, und ihn hier vergessen könnte.<br />

Vielleicht zu Recht, vielleicht?<br />

„Ja, ich gehöre zu den Tibrandschen Fuhrleuten, das ist schon richtig.“<br />

Nun hatte er das Mädchen überholt und machte sich an den Satteltaschen zu schaffen, dabei sie im<br />

Blickfeld und das Pferd zwischen ihr und sich selbst haltend. Als er sich wieder dem Mädchen<br />

zuwandte hatte er etwas Verbandszeug in den Händen und machte eine fragende Geste. Sie nickte<br />

ergeben, scheinbar riskierte sie aus Eile lieber einen Wundbrand, als daß sie auch nur wenige Minuten<br />

verlor. Die einzelnen Kratzer und auch der Biß des silbermähnigen Wolfes waren, den Göttern sei<br />

Dank, nicht besonders gefährlich ausgefallen und schnell verbunden.<br />

Tibrand verstaute die Sachen wieder in den Taschen und stieg auf sein Pferd. Dann hielt er ihr eine<br />

hilfreiche Hand hin. Sie ergriff die Hand und schwang sich mit ihrem seltsamen Bündel hinter ihm<br />

auf. Erleichterung darüber war in ihrem Gesicht zu lesen, daß sie ja jetzt eine Möglichkeit gefunden<br />

hatte, nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> zu gelangen.<br />

Sie ritten einige Zeit durch den noch immer und unermüdlich fallenden Regen. Still ritten sie, dann<br />

brach Bercan das Schweigen.<br />

„Was führt Dich nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, man sollte meinen es sei keine Stadt, in die man gerne<br />

zurückkehrt.“, versuchte Bercan mit Shirinn ins Gespräch zu kommen, und mehr über diese seltsame<br />

Frau zu erfahren.<br />

„Hm, Geschäfte.“, murmelte sie leise.<br />

Bercan kam es vor als sei Shirinn sehr müde. Scheinbar war sie die ganze letzte Nacht, die Bercan in<br />

einem kleinen Gasthaus verbracht hatte, durchgeritten. Er merkte wie sie, und das wahrscheinlich<br />

nicht nur wegen des Wolfsbisses, zu zittern begann. Die wohl durchwachte Nacht, die Kühle des<br />

Regens, der Zwischenfall mit den Wölfen, all dies konnte die Ursache dafür sein. Bercan allerdings<br />

brauchte kein Hellseher zu sein um zu spüren, daß dieses Mädchen, Shirinn Tayla wie sie sich nannte,<br />

noch andere Gründe haben mußte, so zu zittern.


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Bercan vermutete stark, daß er sich hier mal wieder irgendwelchen Ärger aufgeladen hatte, als er sie<br />

zu sich auf das Pferd gehoben hatte. Das Mädchen hatte Probleme, und die dürften nicht allzuweit<br />

hinter ihr sein, sonst würde sie sich nicht trotz ihrer Müdigkeit andauernd so gehetzt umsehen.<br />

Unwillkürlich trieb er sein Pferd zu einer schnelleren Gangart und es gehorchte unwillig. Nur der<br />

Gedanke, daß es möglicherweise etwas schneller in einen trockenen Stall gelangen würde, ließ es<br />

doch etwas zügiger ausholen.<br />

Das Mädchen in seinem Rücken, so spürte Bercan, begab sich in eine angespannte Haltung als sie<br />

diese Änderung in der Gangart bemerkte.<br />

„Stimmt etwas nicht?“, fragte er beiläufig.<br />

„Oh, nein, nein, alles in Ordnung.“<br />

Aus dem Augenwinkel nahm Bercan wahr, wie sich Shirinn wiederum nach hinten und zu den Seiten<br />

umsah.<br />

„Wie weit ist es noch bis <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>?“<br />

„Nun, jetzt da das Pferd zwei Reiter zu tragen hat, sollten wir die Stadt in den ersten Stunden des<br />

morgigen Tages erreichen.“<br />

„Das ist zu... zu wünschen.“<br />

'Ah ja! Das ist zu... zu wünschen. Hmhm. Das ist zu spät dürfte es wohl eher treffen.', dachte Tibrand.<br />

'Was hast Du vor? Wer ist hinter Dir her?' Fragen, auf die Bercan recht bald eine Antwort zu erhalten<br />

wünschte, ansonsten könnte sie den Rest des Weges doch noch zu Fuß zurücklegen.<br />

„Verrate mir, wen Du in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> treffen willst. Ich kenne viele Geschäftsleute in der Stadt durch<br />

meinen Vater. Vielleicht kann ich Dir behilflich sein?“ Ein leises Schnauben ertönte aus seinem<br />

Rücken, nicht ganz wie ein gequältes Lachen, mehr wie eine Unmutsäußerung.<br />

„Was ist?“, fragte er seine Begleiterin.<br />

„...nichts, nichts, ich habe nur was im Hals, nichts. Vielen Dank für das Angebot, aber ich denke ich<br />

weiß genau, an wen ich mich zu wenden habe.“<br />

„Na, dann eben nicht!“<br />

Und wiederum verlief die Reise schweigsam. Bercan hatte noch genug Zeit, er würde schon noch<br />

herausfinden, was es mit diesem Mädchen auf sich hatte. Schließlich wollte er wissen, worauf er sich<br />

da eingelassen hatte, und schließlich lag noch mehr als ein halber Tag und eine ganze Nacht vor<br />

ihnen. In der Nacht, das wußte Bercan schon jetzt, würde er kein Auge schließen. Das Mädel war<br />

imstande und stahl ihm sein Pferd wo er dabei war.<br />

Kurz nach der Mittagsstunde ließ der Regen nach und die Sonne stahl sich so langsam hervor. Kurze<br />

Zeit später fand sich denn auch ein halbwegs trockenes Plätzchen, wo man eine Rast einlegen konnte.<br />

Shirinn glitt zögerlich vom Pferd, auch Bercan stieg ab und nahm einen Beutel und eine<br />

Wasserflasche vom Sattel. Shirinn sah ihn an, machte Anstalten etwas zu sagen und schwieg dann.<br />

Allerdings hielt sie nicht lange still...<br />

„Können wir nicht weiter? Ich muß wirklich dringend in die Stadt. Das Pferd sieht doch noch gut aus,<br />

das schafft das schon...“<br />

Bercan wandte sich zu ihr um, sie stand vor ihm, das längliche Bündel vor den Körper gedrückt, so als<br />

wäre es ein Schatz, und sah ihn fast flehentlich an.<br />

„Es hängt wirklich eine Menge davon ab, daß ich auf dem schnellsten Weg nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

komme.“<br />

Bercan sah sie eindringlich an.<br />

„Schluß jetzt mit dem Schauspiel. Was ist los, wer ist hinter dir her. Die Wahrheit, oder ich lasse Dich<br />

jetzt einfach hier stehen und reite weiter.“<br />

Shirinn Tayla schaute ihn ehrlich bestürzt an. Bercan erkannte es mit Erstaunen. Diese Frau war, wie<br />

er schon das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte festzustellen, nicht leicht zu überraschen, auch war<br />

sie hart im Nehmen. Sie hatte anscheinend auch schon einiges erlebt, nicht nur in den letzten Stunden,<br />

und wohl auch einige Tricks drauf - aber daß sie nicht so schnell nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> kommen könnte,<br />

brachte sie aus der Fassung.<br />

Es mußte etwas wirklich immens wichtiges sein, was sie so antrieb, und es dürfte wohl mit dem von<br />

ihr umklammerten Bündel zu tun haben.<br />

„Also, rede mit mir.“<br />

Bercan trat mit dem Brotbeutel und der Wasserflasche


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

von seinem Pferd fort und setzte sich auf einen Felsen in die langsam mutiger werdende Sonne. Er<br />

deutete auf einen weiteren Felsen vor sich. Shirinn machte einen Schritt auf ihn zu, blickte dann unter<br />

gesenkten Lidern zu dem Pferd hinüber.<br />

„Denke nicht einmal im Traum daran, Du kämest keine fünf Schritt weit, dann hätte er Dich<br />

abgeworfen.“, meinte Bercan ruhig. Das entsprach zwar nicht den Tatsachen, aber er schien wohl gut<br />

genug geblufft zu haben, denn mit einem Aufseufzen ließ sie sich auf dem ihm gegenüberliegenden<br />

Felsen nieder und blickte zwischen ihre Stiefelspitzen auf den Boden.<br />

„Ich kann beim besten Willen nicht verraten, worum es geht.“, sagte sie leise.<br />

„Dann... wirst Du wohl laufen müssen.“, entgegnete Bercan trocken.<br />

Funkelnde Augen blitzten ihn an.<br />

„Verdammt noch mal, dann lauf' ich eben! Bis hier bin ich ja auch schon gekommen. Und ich werde<br />

schon noch weiterkommen!“<br />

„Ja, aber eher noch umkommen, habe ich die Befürchtung. Komm, vielleicht besinnst Du Dich ja<br />

unterwegs noch. Laß uns weiterreiten. Nur - eine Sache gebe ich Dir zu bedenken. Wenn hier<br />

irgendwer etwas von Dir will und darum auch mich angreifen sollte - wenn ich nicht Bescheid weiß<br />

fliegst Du schneller vom Gaul 'runter, als Dir lieb sein wird, ist das klar?“<br />

Er wartete keine Antwort ab sondern drehte sich zu seinem Pferd und stieg auf. So ritten Sie denn<br />

weiter in Richtung <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>.<br />

Einige Meilen weiter war es dann Shirinn, die die Stille unterbrach. Die Sonne neigte sich bereits dem<br />

Horizont entgegen und die Schatten wurden länger. Mit den wachsenden Schatten schien auch<br />

Shirinn's Angst größer zu werden, denn häufiger als zuvor sah sie sich wieder um.<br />

„Du, Du hast Recht. Jemand läßt mich verfolgen. Aber ich habe nichts unrechtes getan - wirklich<br />

nicht.“, beteuerte sie.<br />

Bercan mußte schmunzeln und war froh, daß Shirinn es nicht sehen konnte. Nichts unrechtes getan,<br />

das war ja der Lieblingsspruch seiner Freundin Farlina - die hatte nie etwas unrechtes getan, so wie<br />

sie es sah jedenfalls, und Farlina hatte es faustdick hinter den Ohren.<br />

Bercan schwieg nur zu dieser Aussage. Sie hatte aus sich heraus mit der Erzählung angefangen, sie<br />

sollte auch von sich aus weitermachen damit.<br />

„Mein Dorf, dort wo ich jetzt lebe, ist in Schwierigkeiten. Es verschwinden mehr und mehr unserer<br />

Leute. Sie gehen auf die Felder und verschwinden, gehen in den Wald zum Holzfällen und<br />

verschwinden. Kein Unfall, keine Wegelagerer oder Tiere sind Schuld daran! Wir wissen daß ein<br />

Gelehrter in einer alten Ruine bei dem Dorf lebt, der raubt die Männer und benutzt sie für<br />

schreckliche Versuche.“<br />

„Und was hat das mit Deinem eiligen Ritt nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> zu tun? Abgesehen davon, daß ich das<br />

alles glauben soll - Versuche und Menschenraub und so?“<br />

„Dann laß es bleiben und frag' mich nicht mehr!“<br />

Sofort war wieder Ruhe. Allerdings nur was die Unterhaltung anbelangte, denn Shirinn wurde immer<br />

nervöser, je dunkler es wurde.<br />

„Du solltest jetzt wirklich ein wenig schneller reiten, die Dunkelheit ist die Welt der Kreaturen, die er<br />

sich geschaffen hat. Sie lieben die Jagd und das Spiel mit der Beute, das Spiel in den Schatten. Beeile<br />

Dich, reite die Nacht durch oder verschanze Dich an einem wirklich sicheren Ort, sonst sind wir<br />

morgen nicht mehr unter den Lebenden.“, sprach Shirinn.<br />

Nur der Ton ihrer Worte ließ Bercan wirklich glauben, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Alles<br />

Flehen war aus ihrer Stimme verschwunden und hatte Angst, echter Angst, Platz gemacht. Er gab<br />

seinem Pferd die Sporen.<br />

Langsam erschien es ihm, als würden die ihn umgebenen Schatten lebendig werden. Ließ er sich jetzt<br />

von ihrer Angst anstecken? Er richtete seine Aufmerksamkeit mehr auf die Büsche seitlich des Weges<br />

- und wirklich, huschte da nicht ein Schatten entlang des Weges? Folgte da nicht irgend etwas seinem<br />

Pferd?<br />

Bercan ließ das Tier noch schneller laufen. Jetzt war er sicher, hinter ihm liefen mehrere, nun, wie<br />

sollte man es nennen? Wesen liefen hinter ihm, schnell, sehr schnell, nicht auf dem Boden wie<br />

Vierbeiner, nein zweibeinig und doch niedrig gebückt huschten sie durch die Schatten. Mindestens<br />

fünf konnte er ausmachen - zu viele.<br />

„Da, sie sind da Bercan, ich sehe sie!“ Shirinn bestätigte seine Befürchtungen.<br />

„Ja, ja, ich seh's, ich glaub's, ja, nur fort von hier!“


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Jetzt hielt er Ausschau nach einer Deckung, nach etwas von wo aus er die Kreaturen angreifen konnte,<br />

von wo aus er sich verteidigen konnte. Wahrlich, der Wald war nicht seine Heimat, wie sehr wünschte<br />

er sich im Augenblick in die Straßen von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> - und wenn es nur die schmutzigen Gassen der<br />

Unterstadt wären...<br />

Er wußte von einigen Einsiedlern die hier in der Nähe leben sollten. Fromme und vor allem<br />

friedliebende Menschen sollten es sein, die allerdings ihr Leben hinter festen Mauern fristeten.<br />

Hoffentlich hatte er den Weg noch richtig im Gedächtnis, hoffentlich öffneten sie ihnen, hoffentlich<br />

waren sie schnell genug dort, hoffentlich...<br />

Plötzlich sirrte etwas an ihm vorbei, genau sehen konnte er nicht was es war. Noch einmal sirrte es,<br />

metallisch funkelte es kurz auf, als der letzte Sonnenstrahl die Spitze des Armbrustbolzens traf, der<br />

mit einem satten Krachen knapp neben ihm in einem Baumstamm einschlug.<br />

Kaum glaubte er, daß sein Pferd noch schneller werden konnte - doch es ging. Er war so sehr darauf<br />

konzentriert den Weg im Dunkel nicht zu verlieren, daß er gar nicht mehr merkte, wie seine Verfolger<br />

verschwanden.<br />

Als er endlich einmal darauf achtete, war es sehr ruhig um ihn herum. Natürlich, man hörte die<br />

Geräusche der Nacht, aber man hörte keinerlei Geräusche, wie sie die Verfolger, so leise sie auch<br />

gewesen waren, verursacht hatten.<br />

„Shirinn, sind sie weg?“, rief er nach hinten. Er erhielt keine richtige Antwort, nur ein unwilliges<br />

Knurren. Sie hatte den Schrecken wohl noch nicht ganz verwunden oder suchte noch die Umgebung<br />

ab, jedenfalls war dieses Knurren die einzige Reaktion. Also ging es zuerst in zügigem Tempo weiter,<br />

bis er sicher sein konnte die Verfolger verloren zu haben. Oder hatten sie einfach von ihnen<br />

abgelassen, wer wollte das sagen?<br />

Jetzt ließ er sein Pferd langsamer gehen. Es atmete schwer und Schweiß Flocke herab. Hoffentlich<br />

würde sich das treue Tier wieder aufrappeln.<br />

Jetzt spürte er, wie sich seine Begleiterin zu regen begann. Er hörte nur ein leises Stöhnen, dann,<br />

bevor er fragen oder nachsehen konnte, was denn geschehen sei, glitt Shirinn vom Pferderücken herab<br />

und stürzte auf den nächtlichen Weg.<br />

„Shirinn!“<br />

Sofort stand das Pferd und Bercan Tibrand sprang aus dem Sattel. Es war dunkel, viel Licht spendeten<br />

die Monde hier nicht, und so entdeckte er erst auf den zweiten Blick, daß nicht die Übermüdung die<br />

Frau aus dem Sattel hatte stürzen lassen.<br />

In ihrer linken Schulter stak ein Armbrustbolzen. Schwarz und tückisch schimmerte er in der<br />

Dunkelheit, kaum war Blut aus dieser Wunde ausgetreten, aber auch dieses sah schwarz aus, und, so<br />

schien es Tibrand, nicht nur weil es dunkel war. Er hob die Frau in eine sitzende Position. Schweiß<br />

stand in kleinen Perlen auf ihrer bleichen Stirn, die Lider flatterten und ihre Haut war kalt - eiskalt,<br />

wie der Tod.<br />

„Bei allen Göttern und Dämonen!“ Fassungslos starrte Bercan auf die Frau hinunter. Kein Wunder<br />

daß er nicht mehr verfolgt wurde, anscheinend hatten die jagenden Schatten ihre Aufgabe erfüllt, so<br />

wie es aussah würde Shirinn hier sterben.<br />

'Aber nicht, wenn ich noch etwas daran ändern kann. So weit ist es noch nicht, noch nicht!'<br />

Er hob die Frau sanft in den Sattel, zog sich dann auch hinauf und brachte sie in eine sicherere<br />

Position, dann ritt er vorsichtig los. Während des Rittes begann Shirinn zu fiebern, sie warf sich<br />

unruhig in seinem Arm hin und her, daß er Mühe hatte weiter zu reiten. Auch murmelte sie die ganze<br />

Zeit vor sich hin, manchmal schienen es Namen zu sein, dann schien sie jemanden zu beschimpfen,<br />

dann wieder jemanden anzuflehen. Bercan wurde schon Angst und Bange daß er es vielleicht nicht<br />

rechtzeitig schaffen würde, als er ein Licht durch die Bäume schimmern sah.<br />

Bald schon erhob sich vor ihm eine steinerne Mauer, die Umfriedung der Einsiedelei, mit einer<br />

kleinen Laterne über einer Pforte.<br />

Hier würde er die Frau in sichere Obhut geben können. Wenn man ihr hier nicht helfen konnte, bis<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, vielleicht zu Sarjana oder einem anderen ausgebildeten Heiler, würde sie es nicht mehr<br />

schaffen.<br />

Er hielt sein Pferd an und rief schon aus dem Sattel heraus nach jemandem, der die Türe öffnen sollte.<br />

Dann, mit Shirinn in den Armen, trat er auch mit dem Stiefel mehrfach kräftig gegen die Pforte.<br />

Endlich, scheinbar nach unendlich langer Zeit, wurde eine kleine Klappe in der Tür geöffnet, und man<br />

sah ein von einer Laterne schwach erleuchtetes Gesicht hindurchblicken.<br />

„Was gibt es so spät, Fremder?“ hörte Bercan die Stimme eines wohl schon älteren Mannes.


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

„Was soll es schon geben, mach die Tür auf! Die Frau braucht Hilfe, ein Überfall, sie hat einen<br />

Bolzen in der Schulter, schnell!“ Bercan dauerte alles zu lange, viel zu lange. Shirinn wurde immer<br />

stiller, murmelte auch nicht mehr vor sich hin.<br />

„Aber, mitten in der Nacht, wer seid ihr..“, der Alte wurde rüde unterbrochen.<br />

„Das ist doch wohl sch...egal, mach die verdammte Tür auf oder, ich schwöre dir, ich werde diese<br />

eure Tür eigenhändig einreißen, und erst bei eurer Hundehütte damit aufhören!“<br />

Die Klappe in der Türe wurde hart zugeschlagen - Bercan stand vor der geschlossenen Tür und wollte<br />

es nicht glauben. Dann, kurz bevor er die Türe wirklich und wahrhaftig eintreten wollte, da hörte er<br />

einen Riegel scharren und ein Spalt tat sich auf.<br />

Bercan drängte sich herein und zwischen zwei alten Männern hindurch.<br />

„Wohin?“, fragte er knapp und blickte sie fragend an.<br />

„Hier, hier entlang.“ Ein grauhaariger Mann in einem einfachen Gewand führte ihn in eine Kammer<br />

hinein. Dort legte Bercan die Frau auf eine Pritsche und trat zur Seite. Jetzt konnte er nichts mehr tun.<br />

Die Einsiedler schoben ihn aus der Kammer hinaus.<br />

Dort stand er nun vor der Türe, immer noch das Bündel in der Hand, das er Shirinn aus den<br />

verkrampften Händen gelöst hatte. Nun, die Männer dort würden hoffentlich wissen, was jetzt zu tun<br />

sei. Er ließ sich neben der Tür auf die Holzbohlen nieder und schloß die Augen. Nur für einen kurzen<br />

Moment die Augen schließen, einen kurzen Moment nachdenken über das, was geschehen war, nur<br />

einen kurzen Moment...<br />

Als man ihn weckte standen die Monde nicht mehr, es war der nächste Morgen.<br />

���<br />

Bercan schreckte auf, er war eingeschlafen und man hatte ihn, unter einer warmen Decke, einfach<br />

weiterschlafen lassen. Das konnte doch nur bedeuten... Er warf einen hoffnungsvollen Blick in das<br />

Gesicht des Einsiedlers, der ihn geweckt hatte. Dieser allerdings schüttelte den Kopf.<br />

„Ihr Zustand hat sich nicht verschlechtert - bis nun, zum Sonnenaufgang. Die Schußwunde ist wohl<br />

nicht so schlimm, aber es war etwas böses an dem Bolzen, mehr als nur Gift. Sie hat ruhig gelegen bis<br />

die ersten Strahlen der Sonne durch das Kammerfenster fielen, dann begann sie wieder zu fiebern und<br />

zu phantasieren. Darum... wecke ich euch jetzt, kommt herein in die Kammer.“<br />

Der Mann führte Bercan Tibrand in die Kammer, in der man Shirinn während der Nacht<br />

untergebracht hatte.<br />

Sie lag auf einer einfachen Pritsche auf einer gewebten, wollenen Decke. Man hatte ihr den Mantel<br />

abgenommen und auch das blaue Haarband gelöst. Der große Stein daran schimmerte viel zu bunt<br />

neben ihrer blassen schmalen Hand. Ihr Gesicht war von dunklen Schatten durchzogen und das rote<br />

Haar klebte in ihrer schweißnassen Stirn. Ihr Atem ging sehr unregelmäßig und schwer, ihre<br />

Augenlider flatterten und auch ihre Hände fuhren ziellos über die Wolldecke, als wären sie auf der<br />

Suche nach etwas.<br />

Sie schien sprechen zu wollen, Bercan trat auf die auffordernde Geste des Heilers näher heran und<br />

kniete sich neben die Lagerstatt. Er bemühte sich sehr, etwas von ihren Worten zu verstehen.<br />

„Geh..., geh nach Kar'Yatan... Versprich'... Kar'Yatan und helfen... Stab gegen ihn...“<br />

Kar'Yatan - das war das Dorf von dem sie ihm erzählt hatte, in dem die Leute verschwanden. Er sollte<br />

an ihrer Stelle zu dem Dorf, für sie? Wollte sie nicht zuerst nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> und dort irgend<br />

jemandem...<br />

„..in Acht vor Dorgen... Dorgen Achadin.... böse, hilf mir... versprich... Bring den Stab erst zu<br />

Großmutter..“, ihre Stimme wurde schwächer.<br />

Man sah ihr an wieviel Energie es sie kostete, ihre Gedanken auf ein Ziel zu richten und die Worte zu<br />

sprechen. Wieder fuhren ihre Hände über die Decke, suchend. Bercan reichte ihr seine linke Hand,<br />

unbewußt hielt er in der Rechten noch immer dieses seltsame Paket in der Hand. Das mußte der<br />

Stab...<br />

Plötzlich wurde seine Linke fest gedrückt, woher Shirinn jetzt noch diese Kraft nahm war Tibrand ein<br />

Rätsel. Sie setzte sich auf dem einfachen Lager auf, richtete den Blick ihrer vom Fieber glasigen<br />

Augen auf ihn, durchbohrte ihn fast mit diesem Blick, und drückte dabei seine Hand fest auf die<br />

Pritsche. Der Stein in ihrem Haarband darunter schnitt ihm fast in die Hand, aber das war jetzt<br />

nebensächlich. Viel wichtiger war, daß sie seinen Blick gefangen hielt, und mit fester Stimme sprach.


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

„Bercan Tibrand, schwöre mir bei allem was Dir heilig ist, daß Du für mich die Aufgabe vollenden,<br />

den Stab nach Kar'Yatan bringen und Dorgen Achadin aufhalten wirst, damit meine Freunde wieder<br />

ohne Angst leben können!“<br />

Bercan Tibrand, was war jetzt zu tun? Es sah nicht so aus, als würde sie einen nächsten<br />

Sonnenuntergang sehen, auch war die ganze Geschichte schön wirr. Noch dazu flogen hier giftige<br />

Bolzen umher - außerdem mußte er in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> so einiges erledigen. Nun, warum sollte man es<br />

ihr nicht versprechen? Er nickte also und versprach es.<br />

Shirinn schüttelte den Kopf, langsam.<br />

„Nein - schwöre es, schwöre daß Du die Aufgabe übernimmst, als würde ich dich dabei begleiten, als<br />

wäre es deine ureigene Aufgabe - schwöre!“<br />

Der alte Heiler sah verwirrt auf die beiden Menschen herunter, die Angelegenheit war ihm im ganzen<br />

nicht geheuer - magische Pfeile und besessene Frauen, er schüttelte den Kopf, machte ein Zeichen<br />

gegen böse Magie und verließ die Kammer sehr schnell und sehr leise.<br />

„Schwöre es mir, Tibrand!“<br />

Bercan kam sich äußerst seltsam vor, er ballte die Fäuste, einerseits um dieses seltsame Ding,<br />

andererseits um Shirinns kalte Hand.<br />

„Ja! Ja, ich schwör es Dir!“, rief er aus - 'damit es ein Ende hat..', hätte er beinahe noch dazu gerufen.<br />

Und es hatte ein Ende.<br />

Ein gleißend heller Blitz schien sich inmitten des Zimmers zu entladen, der Schlag ging durch Mark<br />

und Bein. Der Blitz schmetterte Bercan Tibrand zu Boden, er war unfähig auch nur seinen kleinen<br />

Finger zu bewegen. Die Luft zum Atmen wurde ihm knapp. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.<br />

Als er wieder klar sehen konnte fand er sich auf dem Boden vor der Pritsche liegend wieder. Er<br />

rappelte sich auf, eine Hand auf die Pritsche legend und sich daran hochziehend, bis er wieder an<br />

seiner alten Stelle vor der Lagerstatt kniete.<br />

Was war das für ein Blitz gewesen? Hatte denn niemand außer ihm den Blitzschlag bemerkt?<br />

Anscheinend nicht - es blieb still, sehr still - Shirinn?<br />

Er sah auf Shirinn hinab, jetzt lag sie ruhig. So ruhig lag sie da - nun hatte sie es wohl überstanden.<br />

Bercan wollte sich schon abwenden und hinaustreten um den Einsiedlern Bescheid zu geben, da<br />

bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Shirinn! Ja, sie atmete - das war ja fast<br />

unmöglich! Er trat ganz nahe heran und betrachtete sie genauer - sie atmete ganz schwach und<br />

langsam, unmöglich langsam. Er legte das Bündel beiseite, wie er merkte hatte er im Sturz das<br />

Haarband heruntergerissen - auch das hob er auf und legte es wie in Trance fort. Dann setzte er sich<br />

auf die Kante der Pritsche.<br />

Er fühlte ihre Stirn, sie war warm, nicht fiebrig oder eiskalt, auch nicht schweißnaß, nein. Shirinn sah<br />

ganz so aus, als schliefe sie nur. Bercan legte eine Hand auf ihre gesunde Schulter und versuchte<br />

vorsichtig, sie zu wecken - vergebens. Er schüttelte verwundert den Kopf, trat dann aber vor die Tür,<br />

um nach einem der Heiler zu rufen.<br />

Der Mann hörte sich das ganze an, Bercan verschwieg den Blitz geflissentlich, und trat dann mit dem<br />

Heilkundigen zurück an ihr Lager. Nichts vermochte der Mann anderes als zu sagen, als daß diese<br />

Frau schlief und nicht zu wecken war!<br />

Bercan überlegte was nun zu tun sei. Er konnte sie nicht mitnehmen, er wollte sie auch nicht<br />

mitnehmen. Er hatte in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> auch genug andere Dinge zu erledigen. Am besten sie bliebe<br />

hier...<br />

Bercan Tibrand stellte eine entsprechende Bitte an die frommen Einsiedler, die sich bereit erklärten,<br />

über den Schlaf der Frau zu wachen, bis man entsprechende Angehörige benachrichtigt hätte. Um<br />

seiner Bitte gehörigen Nachdruck zu verleihen ließ Bercan etwas Gold bei den Männern - auch<br />

Einsiedler müssen schließlich Leben.<br />

Bevor er die Kammer verließ um abzureisen warf er nochmals einen Blick zurück auf die Frau. Neben<br />

ihr lag noch immer das lange Bündel - der Stab aus ihrer Rede? Sie hatte das Bündel die ganze Zeit<br />

umklammert wie einen Schatz - das mußte der Stab sein.<br />

Bercan trat wieder an das Lager. Er würde es, wenn er an einem anderen und ruhigeren Ort war,<br />

einmal näher in Augenschein nehmen. Er ergriff das Bündel und nahm es an sich. Neben dem Bündel<br />

erblickte er das Haarband mit dem regenbogenbunten Stein. Er hätte niemandem erklären können<br />

wieso, aber aus einem Impuls heraus nahm er auch das Band an sich, vielleicht als eine Erinnerung,<br />

und schob es in seine Tasche.


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Dann verabschiedete er sich von den Einsiedlern und machte sich, ohne einen Blick zurück zu werfen,<br />

auf den Weg nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>.<br />

Gegen Mittag machte er an einem Bachlauf Rast. Er war nun schon um einiges zu spät dran, da<br />

machte diese Stunde auch nichts mehr aus.<br />

Er vergewisserte sich daß keine anderen Reisenden in der Nähe waren und nahm das lange Bündel<br />

vom Sattel seines Pferdes hinunter, wo er es in der Decke eingerollt befestigt hatte.<br />

Er setzte sich, nahm das Bündel auf seine Knie und begann, den Stoff darum zu lösen. Er konnte<br />

schnell fühlen, daß sich darunter ein geschnitzter Stab befinden mußte.<br />

Als die letzte Stoffalte entfernt war lag auf seinen Knien ein kunstvoll gearbeiteter Stab aus<br />

Elfenbein, wohl etwas über drei Tritt lang, der über und über mit allerkunstvollsten Tierfiguren<br />

übersät war. Vom Fuß des Stabes sah er Schlangen sich empor winden, die Körper der schuppigen<br />

Schlangen verschwanden zwischen denen von Fischen, Raubkatzen und Wölfen, galoppierenden<br />

Pferden und Stieren. Bären erkannte er auch, und viele Tiere, deren Namen er nicht kannte. Selbst<br />

Drachen waren zu erkennen, so glaubte er, an der Spitze des Stabes - noch über einer Gruppe von<br />

Greifen und Adlern. Jede Einzelheit der Tiere war ausgearbeitet, Fell, Hufe, Krallen, Federn. Ganz<br />

oben an der Spitze des Stabes befand sich ein Kristall, der im hellen Licht der Mittagssonne funkelte,<br />

als sei er ein Stück derselben. Schnell hatte Bercan wieder das Tuch darüber geworfen. Der<br />

Lichtschein mußte weit, sehr weit zu sehen sein, selbst am hellichten Tag.<br />

Was hatte er hier in der Hand? Es war natürlich der Stab, den Shirinn gemeint hatte. Und was war das<br />

für ein Stab? Wohl der Stab eines Magiers, das würde auch das leichte Vibrieren erklären, das Bercan<br />

seit entfernen des Tuches durch seine Finger aufnehmen konnte. Wie sollte nun so ein Stab ein Dorf<br />

retten? Es gehörte doch immer noch der entsprechende Magier zu solch einem Stab! Bring den Stab<br />

Großmutter, daß hatte Shirinn gesagt.<br />

'Shirinn - Du hättest mehr verraten müssen!', dachte Bercan.<br />

Er wickelte den Stab wieder ein und machte sich, nun ohne größere Unterbrechungen, zurück auf den<br />

Weg nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>.<br />

���<br />

Gegen Abend lag die Stadt vor ihm, <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Wen hatte Shirinn in dieser Stadt aufsuchen<br />

wollen? Er zerbrach sich schon geraume Zeit den Kopf darüber, ob er nicht irgend etwas überhört<br />

haben konnte, als Shirinn am Vortage endlich zu erzählen begonnen hatte - vergebens.<br />

Er durchritt zügig das Nordtor und die gepflasterte Straße bis zum Haus des Fuhrunternehmens<br />

Tibrand. Er ließ den Burschen Jolver sein Pferd versorgen und brachte sein Bündel - und das<br />

besondere Bündel - auf sein Zimmer, ohne daß er von jemandem aufgehalten worden wäre. Dann erst<br />

nahm er die Dokumente, die er transportiert hatte, und begab sich in das Kontor seines Vaters. Von<br />

diesem, Mirtan Tibrand, wurde er schon längst erwartet.<br />

Nachdem er seine Unterlagen abgegeben und seinen Reisebericht vorgetragen hatte, begab er sich zu<br />

einem kurzen Nachtmahl in die Küche und danach sofort wieder auf seine Kammer. Im Nachhinein<br />

wunderte sich Bercan doch sehr darüber, daß er seine verspätete Ankunft nur durch den Regen erklärt<br />

hatte. Den Zwischenfall mit den Wölfen und der jungen Frau hatte er seinem Vater vollständig<br />

verschwiegen!<br />

Bercan lief in seiner Kammer auf und ab wie ein Tier im Käfig. Wieso beschäftigte ihn die Sache<br />

eigentlich noch so?<br />

Er war den jagenden Schatten doch sicher entkommen, die Frau würde wohl nicht mehr aufwachen,<br />

Stab und Stein wären eine hübsche Erinnerung und das Dorf? Ja, das Dorf...<br />

Shirinn war wohl am besten aufgehoben, wo sie jetzt war. Und wie sollte er auch diese Großmutter<br />

finden, in einer Stadt wie <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Gesetzt den Fall sie gab es wirklich, so wäre sie<br />

wahrscheinlich im Rattenloch zu finden - wenn sie jemals zu finden war.<br />

Er konnte immerhin einfach zu diesem Dorf reiten, so weit weg war es gar nicht, es war an einem Tag<br />

zu erreichen. Und wenn er dort war? Nun, dann ging er einfach zu diesem Dorgen Achadin hin und<br />

verbat ihm, arglose Dörfler zu Ungeheuern zu verarbeiten. Der Mann würde ihm wahrscheinlich<br />

etwas anderes erzählen - wahrscheinlich würde er sich mit Erzählen nicht aufhalten. Die Verfolger der<br />

letzten Nacht waren zu real gewesen - Achadin, wenn er wirklich der Schöpfer dieser Wesen war, war<br />

ein gefährlicher Irrer und irre gefährlich. Allein wäre das sowieso nicht zu machen.


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Nun denn, Bercan hielt diesen Tag erst einmal für beendet - überhaupt hielt er dieses Problem, was<br />

seine Person anbelangte, für abgeschlossen, und ging zu Bett.<br />

���<br />

Wind in Bäumen, Schrecken in Träumen...<br />

Freiheit, Freiheit - wie komme ich frei?<br />

Schatten die Klagen, Schatten die Jagen...<br />

Freiheit, Freiheit - wo komme ich frei?<br />

Scharfe Krallen, tödliche Fallen...<br />

Freiheit, Freiheit - wann komme ich frei?<br />

FREIHEIT, FREIHEIT - WIE KOMME ICH FREI!!!!!<br />

���<br />

Schweißgebadet schreckte Bercan Tibrand auf, ein seltsamer Traum hatte ihn geweckt, mitten in der<br />

Nacht.<br />

Was war das noch? Schatten? Krallen? Das Gefühl, gefangen zu sein an einem unheimlichen Ort?<br />

Shirinn, sie war auch irgendwie dabei gewesen - nun, kein Wunder daß er von den Ereignissen<br />

Alpträume bekam, die Jagd durch die Nacht war ja auch gespenstisch gewesen. Und dann der<br />

Anschlag auf Shirinn, dieser Blitz in der Kammer, der Stab...<br />

Nun denn, es war jetzt nur ein Traum gewesen, morgen würde man weiter sehen. Er drehte sich<br />

wieder in seine Decken ein. Nur, der ruhige Schlaf wollte sich in dieser Nacht einfach nicht mehr<br />

einstellen, und so fand der nächste Morgen einen recht übernächtigten Bercan Tibrand vor.<br />

���<br />

Was ging hier vor? Wieso konnte sie nichts sehen, wieso war es hier so dunkel? Nur ab und zu sah sie<br />

bunte Lichter vor sich, auf die sie zuzugehen versuchte. Immer wieder stieß sie irgendwie an eine<br />

Barriere, glatt und kalt. Jetzt rief sie um Hilfe, konnte sie den keiner hören? Wollte Sie denn keiner<br />

hören?<br />

Hiiiilfeeeee!<br />

Ich will hier raus, ich will meine Freiheit!<br />

���<br />

Bercan Tibrand lag auf seinem Bett, müde und wie erschlagen. Er hatte elend schlecht geschlafen -<br />

fast gar nicht. Irgendwie war er die ganze Nacht in seinen Träumen umhergeirrt, von seltsamen<br />

Schemen gejagt, immer wieder an spiegelglatte Wände stoßend von denen er wußte, daß dahinter die<br />

Freiheit war. Bercan hatte das dumpfe Gefühl, daß die ganze Sache mit dem Dorf, dem Stab und<br />

Shirinn wohl noch nicht ausgestanden sei.<br />

Ja, ja, das ist immer eine heikle Sache mit Schwüren, Bercan Tibrand, eine heikle Sache.<br />

Immer noch in Grübelei versunken hörte Bercan ein Klopfen an der Tür, leise. Er antwortete nicht.<br />

Ein kaum hörbares Knarzen verriet das Öffnen der Tür. Katzengleiche Schritte huschten an das Bett,<br />

dann Stille. Bercan wußte genau, was.... ufffh!<br />

Farlina Finaq! Ja, das war Farlina Finaq, die zu ihm auf das Bett gesprungen war, um den<br />

Langschläfer auf ihre unnachahmliche Art auf die Beine zu bringen. Farlina knuffte ihm spielerisch<br />

die Faust auf die Brust, was war denn mit dem Langweiler los heute morgen? Normalerweise<br />

reagierte er schon etwas anders, wenn sie ihn so weckte!<br />

„Heh, Bercan, aufstehen! Los. komm schon, 'raus aus den Federn!“, flüsterte Farlina ihm ins Ohr -<br />

keine großartige Reaktion!<br />

Farlina blickte Bercan aus großen Augen erstaunt an, was hatte er nur? Müde sah er aus, und<br />

irgendwie so schrecklich nachdenklich und besorgt.


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Ihr kam die Idee, daß sie ihn wohl jetzt besser alleine lassen sollte. Sie krabbelte wieder vom Bett<br />

herunter und wandte sich leisen Schrittes der Tür zu, als Bercan sie anrief. Ihm war eine absurde Idee<br />

gekommen, aber gerade die absurden Ideen verdienen oft größere Aufmerksamkeit.<br />

„Farlina, eine ganz dumme Frage - Du kennst dich doch im Rattenloch gut aus. Ist Dir da jemals<br />

jemand untergekommen, den man einfach nur Großmutter genannt hat?“<br />

Farlina mußte sich schon schwer beherrschen, Bercan nicht mit großen Augen anzustarren. Natürlich<br />

kannte sie jemanden, den man einfach nur Großmutter nannte - das war die schwarze Jakla, die<br />

Großmutter aller „Schatten“, der Straßenkinder der Unterstadt <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s. Es gab einmal eine<br />

Zeit, da hatte auch Farlina zu diesen Kindern gehört. Das war, bevor Bercan sie aus dem Dreck des<br />

Rattenloches herausgezogen, und ihr die Arbeit bei den Tibrands beschafft hatte. Nur, woher hatte<br />

Bercan den Namen?<br />

Irgendwie mußte ihr Erstaunen doch Zugang zu ihrem Gesicht gefunden haben, denn Bercan bezog es<br />

auf seine Frage und machte eine resignierende Handbewegung.<br />

„Na, laß mal. War ja auch nur 'ne Idee.“ Dann schwang er sich aus dem Bett, um doch endlich<br />

aufzustehen.<br />

„Nun, ich könnte mich ja mal umhören, wenn Du möchtest. Vielleicht finde ich ja diese Großmutter<br />

für Dich. Ich habe da ja immer noch so meine Kontakte, wenn Du weißt, was ich meine.“<br />

Bercan dachte nach, Farlina war nun sowieso schon halb in der Sache drin, und er kannte ihre<br />

notorische Neugier. Sie hatte einmal Interesse gefunden, sie würde wahrscheinlich alles aus ihm<br />

herausbekommen, was sie wissen wollte. Nun gut...<br />

„Nun gut... pflege Deine Kontakte - aber unauffällig. Ich will nicht, daß außer Dir noch jemand etwas<br />

davon erfährt, ja?“<br />

„Aber - Großmutter, wenn sie denn existiert, darf es doch wohl erfahren, oder?“ Farlina wartete ab.<br />

„Ich weiß nicht so genau, ob Großmutter es erfahren darf, daß jemand nach ihr sucht. Versuche sie zu<br />

finden, sage mir wer es sein könnte, und dann sehen wir weiter.“<br />

Bercan war sich wirklich nicht sicher, weshalb Shirinn Großmutter hatte finden wollen. Sie sollte den<br />

Stab bekommen, nun gut - dazu mußte man sie zuerst finden.<br />

Farlina huschte aus der Kammer und überließ Bercan seinen Gedanken. Was hatte sich der Junge<br />

denn jetzt wieder eingehandelt? Was konnte er nur von der schwarzen Jakla wollen? Nun denn, sie<br />

würde einfach einmal Oma fragen, es gab keinen in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, so war jedenfalls Farlinas<br />

Meinung, der soviel wußte wie die schwarze Jakla. Manchmal war es schon fast unheimlich, was sie<br />

alles wußte...<br />

Nun denn, da war die Brücke, da war der Wachposten, und da... war der bevorzugte Überweg der<br />

Schatten, der nicht ein bißchen Silber kosten würde. Farlina verschwand gekonnt unter der Brücke<br />

und tauchte wenig später unter in den Gassen des Rattenloches. Niemand hatte sie gesehen...<br />

Währenddessen ging Bercan Tibrand seinen leidigen alltäglichen Verpflichtungen nach. Den Stab<br />

hatte er wieder in das Tuch eingewickelt und unter dem Bett verborgen. Das Haarband mit dem Stein<br />

trug er bei sich, eine stetige Erinnerung an einen gegebenen Schwur, der so leicht nicht in<br />

Vergessenheit geraten wollte.<br />

An diesem Tage ließen Bercan die Verpflichtungen im Fuhrunternehmen keine Zeit, sich mit seinem<br />

Problem zu beschäftigen. Futtermittel mußten kontrolliert und nachgekauft, und eine Sendung für den<br />

nächsten Tag zusammengestellt werden. Zwar drängten sich den ganzen Tag über seltsame Gedanken<br />

in den Vordergrund, immer irgend etwas von bunten Lichtern, die ab und zu auftauchten, aber erst<br />

gegen Abend hatte er genügend Muße, wieder intensiv an das Dorf und Shirinn Tayla zu denken.<br />

Während er grübelte holte er den Stein hervor und drehte ihn gedankenverloren in den Händen.<br />

Plötzlich war es ihm, als wäre er im wachen Zustand wieder in seinen letzten Traum verfallen. Unter<br />

seinen Händen und Füßen schien es ihm, als fühle er nur Glas - eigentlich überall um ihn herum war<br />

nur glatte Fläche. Um ihn herum funkelte auch wieder buntes Licht - nur hinter ihm schien es etwas<br />

dunkler zu sein. Aus dieser Dunkelheit hörte er bedrohliches Knurren, das aber mit einer Spur von<br />

Trauer und Schmerz unterlegt war. Langsam drängte sich aus der Dunkelheit ein Gesicht hervor, von<br />

bunten Lichtern ab und zu gestreift, welches ihn voller Furcht ansah. Es war das Gesicht von Shirinn.<br />

Er glaubte fast, er würde sie schreien hören. Es kostete ihn ziemliche Überwindung, den Stein einfach<br />

fortzulegen. Als er es geschafft hatte, waren auch diese seltsamen Visionen vorbei.<br />

Er sah sich den auf dem Bett liegenden Stein genau an, ohne ihn zu berühren. Er sah sich den Stein<br />

ganz genau an. Dann nahm er ihn wieder in die Hand und drehte ihn vor der Flamme der Kerze hin<br />

und her. Er sah bunte Lichter funkeln - das Gefühl in den Traum zurück zu gleiten wurde wieder


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

intensiver. Der Stein! Sofort legte er den Stein wieder fort. In dem Augenblick als er den Stein aus der<br />

Hand legte glaubte er, einen erstaunten Aufschrei gehört zu haben und drehte sich um - nichts, hinter<br />

ihm war niemand. Irgend etwas war mit dem Stein offensichtlich nicht ganz geheuer. Bercan war sich<br />

mittlerweile nicht mehr sicher, ob er den Stein nur einfach so eingesteckt hatte, als er Shirinn bei den<br />

Einsiedlern zurückließ.<br />

Er dachte weiter über die Angelegenheit und mögliche Konsequenzen nach. War es gut gewesen,<br />

Farlina in die Sache hinein zu ziehen?<br />

Er hätte besser nichts gesagt, nun denn, jetzt war es zu spät dafür - Farlina war unterwegs. Er<br />

überlegte fieberhaft, wie sollte er nun also hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> EINE Großmutter finden? Farlina<br />

suchte schon, hoffentlich vorsichtig, aber natürlich mußte er auch selber weitersuchen.<br />

Selber, sel... Sell! Ja, Sell würde ihm möglicherweise helfen können. Für genügend „Ansporn“ sollte<br />

Sell wohl jemanden finden, der eine Oma, einen Zauberstab und einen Wolfswesen produzierenden<br />

Gelehrten unter einen Hut bringen könnte. Er faßte den Stab in seiner Stoffhülle, dann steckte er sich<br />

auch noch entschlossen das Stirnband mit dem seltsamen Stein ein und griff, ohne zu zögern, nach<br />

seiner Klinge.<br />

Bercan machte sich bereit, einen kleinen Ausflug ins Rattenloch zu unternehmen... Für seine Arbeit in<br />

der Oberstadt, die Kontakte zu den anderen Händlern und seine Ausflüge in die feineren Lokale, da<br />

trug er gute und teure Kleidung mit Stickerei und Pelz versehen. Jetzt aber trug er derbe und einfache<br />

Kleidung, so daß man in ihm einen Tagedieb und Herumtreiber sehen mochte. An seiner Seite trug er<br />

einen gut gearbeiteten Degen, der ihm seinerzeit auch schon gegen die Wölfe gute Dienste geleistet<br />

hatte.<br />

���<br />

Farlina lief hinüber zu der Stelle des Grabens, an dem die kleinen wackligen Stiegen in die Tiefe<br />

führten. Hier hausten IHRE Großeltern. Die schwarze Jakla und der alte Wingart wohnten hier in<br />

einer kleinen Hütte über der tiefen Spalte, in der sie allen nur möglichen Krimskrams zu einem<br />

verwinkelten und windschiefen Heim zusammengebastelt hatten.<br />

Vor gar nicht langer Zeit war dies hier auch noch ihr Heim gewesen, bis Bercan seinerzeit... nun ja,<br />

das war vorbei. Es war schon recht spät am Tage, Wingarts alter Karren stand, schön ordentlich<br />

abgeräumt, oben am Rande der Spalte. Farlina huschte die Stiegen in die Tiefe, da war die kleine<br />

Bruchbude, ihr „Schwalbennest“. Aus den kleinen, mit Decken verhangenen Fensterchen drang durch<br />

einige Risse im Stoff Kerzenlicht heraus, leise hörte man Hämmern hinter der Tür. Wingart arbeitete<br />

wohl wieder. Farlina klopfte leise und huschte hinein. Sofort umfing Sie der Duft von Kräutern, Tee<br />

und Holz.<br />

Jakla saß in ihrem Schaukelstuhl und hatte eine junge Katze auf dem Schoß, der sie gerade eine Pfote<br />

verband. Farlina mußte an Tin Erzfeld denken, bah - und Wingart saß am Tisch und versuchte eine<br />

metallene Schüssel ein wenig auszubeulen.<br />

Jakla blickte nur kurz hoch, lächelte kurz und meinte dann nur, Farlina solle sich setzen und warten,<br />

bis sie fertig sei mit dem Tierchen. Wingart brummelte ebenfalls einen Gruß, viele Wort machte er<br />

nie, aber wenn er lächelte genügte das den Kindern auch. Geduldig wartete Farlina, bis Jakla das<br />

Kätzchen in einen kleinen Korb entließ.<br />

„Was gibt es, Kleine? Irgendwelche Schwierigkeiten in der Oberstadt, bei den Fuhrleuten?<br />

Irgendwelche Sorgen wegen... Bercan?“ Grüne Augen blickten aus dem wettergegerbten Gesicht zu<br />

Farlina hinüber. Zwar waren sie umgeben von kleinen Lachfältchen, doch blickten sie im Augenblick<br />

sehr ernst. Ja, dies waren die Momente, die Farlina meinte. Die Momente, in denen ihr die<br />

Großmutter doch sehr unheimlich war.<br />

„Wieso... woher weißt Du, daß es mit Bercan zu tun hat?“, fragte sie verdutzt.<br />

„Nun, das ist doch nicht so schwer, Mädchen. Du lebst jetzt bei den Tibrands, außerdem kommst Du<br />

doch fast nur noch herunter, wenn Du mit Bercan irgendwelchen Unsinn angestellt hast. Was sollte<br />

ich denn da noch anderes vermuten? Selbst wenn ich zaubern könnte, dazu braucht man es noch nicht<br />

einmal zu können, dazu braucht man Dir nur ins Gesicht zu sehen.“ Jakla sah Farlina aufmunternd an,<br />

„Nun?“<br />

„Bercan ist gestern von einem Botenritt zurück gekommen und ist seitdem sehr still und unruhig.<br />

Außerdem hat er etwas in seinem Zimmer versteckt, daß habe ich gemerkt. Ich weiß zwar noch nicht<br />

was, aber das werde ich auch noch herausfinden!“


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Jakla schmunzelte. Wenn Farlina sich so etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde sie es wohl<br />

auch tun.<br />

„Also, er hat mich gerade gefragt ob ich eine GROSSMUTTER kennen würde. So wie er es gesagt<br />

hat, meinte er nicht irgendeine Großmutter. Kannst Du Dir da einen Reim darauf machen?“, schloß<br />

Farlina.<br />

Jakla grübelte. Sollte Bercan wirklich sie suchen? Zu welchem Zweck denn nur? Einen Gegenstand<br />

hatte er wohl versteckt, hmm. Wirklich, sie hatte in den letzten Tagen etwas schlechter geschlafen als<br />

sonst. Beinahe hätte sie es auf ihre alten Knochen geschoben, aber man kann seine Kräfte, manchmal<br />

mehr Fluch als Segen, eben nicht gänzlich verleugnen, so sehr man sie auch zu unterdrücken versucht.<br />

Oft schon hatte sie geglaubt, daß ihre Magie nun vollends überwunden und eingeschlafen war, aber<br />

die Kraft ließ sich nicht so einfach in den Schlaf wiegen. Es stimmte allerdings, irgend etwas schien<br />

sich <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> zu nähern, war dabei, sich hier aufzubauen. Die Kräfte konzentrierten sich, hier<br />

würde bald etwas geschehen. Vielleicht hatte diese Sache mit Bercan etwas damit zu tun, vielleicht<br />

auch nicht.<br />

„Nun, wir werden uns einfach Bercan einmal anhören müssen, kannst Du ihn herholen lassen? Bis an<br />

die Spalte dürfte reichen, ich werde mich mit ihm wohl oben am Wagen unterhalten, er braucht ja<br />

auch nicht zu wissen, mit wem er redet. Ich möchte ihn nicht auch noch immer hier unten haben!“,<br />

brummelte die schwarze Jakla.<br />

Natürlich meinte sie es nicht so, aber wenn einer erst einmal den Sprung heraus geschafft hatte aus<br />

den Schatten, dann stand er auf eigenen Beinen - oder fiel.<br />

„Geh’ hinunter zu den Anderen, bitte die Kinder Bercan zu suchen, er ist bestimmt nicht mehr in der<br />

Oberstadt, und lasse ihn zu dem Wagen geleiten. Und sorge dafür, daß er nicht sieht wo es hingeht.<br />

Ich werde dann kommen und mir die Angelegenheit anhören. Los, beeile Dich, wir haben nicht viel<br />

Zeit, geh!“<br />

Jakla schob Farlina zur Türe. Schnell verschwand sie im Dunkel, um die anderen Schatten, die<br />

Straßenkinder der Unterstadt, die in den alten Minengängen unter den Häusern hausten, zu<br />

alarmieren.<br />

���<br />

Bercan verließ den relativ sicheren Boden der Oberstadt mit den gepflasterten Straßen, der<br />

nächtlichen Beleuchtung und den privaten Wachleuten um, in das Rattenloch einzusteigen. Hier<br />

waren all die Dinge an der Tagesordnung, die einem wohlerzogenen jungen Mädchen der Oberstadt<br />

die Schamesröte aufsteigen ließen - falls sie nicht sowieso sofort vor Schreck in Ohnmacht fiel.<br />

Der junge Tibrand arbeitet sich durch die dunkeln Gassen, die nur hier und da spärlich erleuchtet<br />

wurden durch die Lichtbahnen, die aus den geöffneten Wirtshaustüren auf die schlammigen und von<br />

Unrat übersäten Straße fielen. Er nahm sich die einschlägigen Spelunken vor, in denen man schon mal<br />

auf Sell treffen konnte, aber irgendwie war heute nicht sein Tag.<br />

Corwin Dery drückte sich in den Schatten eines Hauseinganges - da war er doch, der Mann, der ein<br />

Geschäft für ihn haben sollte. Er kannte ihn auch, es war jemand gewesen, mit dem er vor gar nicht<br />

langer Zeit einmal ein kleines Geschäftchen gemacht hatte. Gerade wollte er sich in dessen Nähe<br />

begeben um den Mann anzusprechen, um vielleicht ein weiteres kleines Geschäftchen anzuleiern, als<br />

ihm ausnahmsweise einmal genau einfiel, welcher Art die zurückliegende Transaktion gewesen war.<br />

Ups - hatte er nicht den jungen Herrn da vorne an Jyran Vannalt verraten? War danach nicht die Rede<br />

gewesen von einer Degenstecherei in finsteren Gassen? Öhm, vielleicht sollte er sich dann doch lieber<br />

verdrücken. Corwin zog es vor, für den Rest des Abends „Frei zu nehmen“.<br />

Bercan wurde langsam aber sicher sauer. Jeder wollte Sell heute abend schon gesehen haben, aber<br />

immer war er ihm gerade einige Lokale voraus. Und seit ein paar Spelunken hatte man ihn gar nicht<br />

mehr gesehen - einfach grandios. Brummelnd zog Bercan die Gasse entlang, immer im Schutz einer<br />

Häuserwand, die Hand immer am Griff der Klinge. Hier im Rattenloch seinen Rücken ohne Deckung<br />

zu lassen war so gut wie ein Todesurteil. Man konnte ja auch gleich die Arme ausbreiten, und sich in<br />

die Spalte stürzen.<br />

Und wirklich - wie er dort so einige Minuten stand und wartete, breitete sich vor ihm das reichhaltige<br />

Spektrum des Lebens in der Unterstadt aus. Er sah wie zwei Dirnen einen Betrunkenen leicht und<br />

beinahe spielerisch um seine letzten Sonnen brachten - dabei durfte der Kerl den beiden Weibern<br />

eigentlich dankbar sein, dachte Bercan bitter. Sie retteten ihm wahrscheinlich das Leben, hier gab es


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

zahlreiche Gestalten, daß wußte Bercan aus eigener Erfahrung, die nicht so zimperlich waren und den<br />

Mann einfach getötet hätten, und sei es nur für ein paar Schuhe. Jetzt hatte er wenigstens nichts mehr<br />

an sich, das die Mühe eines Überfalles lohnte...<br />

Bercan drückte sich noch etwas weiter an die Wand, in den Schatten eines überhängenden Daches, als<br />

er hinter sich eine leichte Berührung verspürte. Schnell hatte er seine Hand in etwas Weichem<br />

vergraben und zog ein Mädchen hinter sich hervor. Er hatte die Kleine noch nie gesehen, aber das<br />

wollte wirklich nichts heißen....<br />

Die Straßen des Rattenloches wimmelten nur so von herrenlosen Kindern. Man setzte sie einfach aus,<br />

weil man schon genügend Mäuler zu stopfen hatte.<br />

Irgendwann würden sie lernen für sich selber zu sorgen - oder sie würden früh sterben, sehr früh. Und<br />

auch wenn sie gelernt hatten für sich selber zu sorgen waren sie noch nicht außer Gefahr - im<br />

Rattenloch für sich selber zu sorgen hieß nämlich nur im aller seltensten Fall, sich eine sogenannte<br />

ehrbare Arbeit zu suchen. Meist wurde das schnelle Gold gesucht durch Diebstahl, Raub und<br />

käufliche Liebe.<br />

Die Kleine vor ihm, die übrigens wider erwarten weder heftig schimpfte noch kratzte, um sich trat<br />

oder biß, schien unter all ihrer Schmutzigkeit vielleicht acht oder neun Sommer zu verbergen. Sie sah<br />

ihn aus dunklen Knopfaugen abwartend an.<br />

„Suchst Du Dreckspatz meinen Geldbeutel? Soll ich Dir...“ Bercan schüttelte das Häufchen Lumpen<br />

und wuscheliges Haar vor ihm.<br />

„Suchst Du Geldsack Großmutter?“, fragte das Kind herausfordernd, „dann laß mich gefälligst los<br />

und binde Dir mal hübsch die Augen zu. Kannst mich Mitarra nennen - Übrigens, wenn ich ganz auf<br />

eigene Faust unterwegs wäre, dann hättest Du deine nächste Zeche nicht mehr bezahlen können - hier,<br />

dein Geldbeutel!“<br />

Die Kleine grinste ihn breit an und hielt ihm doch in der Tat den eigenen Geldbeutel unter die Nase.<br />

Nicht daß er hier, im Rattenloch, viel mit sich herumtrüge, aber...<br />

„Nu mach schon hin, Großmutter wartet nich ewig, nur weil Du mit Deiner Kledage nich<br />

klarkommst.“<br />

Bercan band sich sein Halstuch vor die Augen - es war einfach lächerlich, was sich hier abspielte!<br />

Und schon spürte er zwei entschlossene kleine Hände an seinem Arm und fühlte sich die Gassen<br />

entlanggezogen. Nur mühsam konnte er den nicht gerade seltenen Hindernissen auf dem Weg<br />

ausweichen, häufig stolperte er, konnte sich aber immer wider fangen.<br />

Nun hörte er ein leises Kichern, irgend etwas mußte das Mädchen, das ihn voranzog, köstlich<br />

amüsieren. Er wurde hin und her, kreuz und quer, durch die Gassen gezogen. Wieder kicherte sie,<br />

Bercan mochte es glauben, er mußte einen selten dämlichen Anblick liefern, wie er so... und da fing<br />

das Mädchen an, aus Leibeskräften zu jammern. Bercan zuckte richtig zusammen.<br />

„Habt Erbarmen, Hilfe für ein Kind und sein armen, blinden Onkel, habt Erbarmen. Gebt einem<br />

Blinden, ein Almosen, eine milde Gabe...“<br />

Bercan blieb wie angewurzelt stehen, jetzt war aber langsam Schluß mit den albernen Spielchen!<br />

„Gut, gut, wollte doch nur sehn, ob’s klappt und so’n paar Idioten ein paar Sonnen abdrücken würden.<br />

Hier, sind gleich da.“ Von nun an verhielt sich Mitarra ruhig. Und wirklich, es dauerte nicht mehr<br />

lange und diese Göre Mitarra meinte, sie seien am Ziel.<br />

Bercan wußte seit langem nicht mehr, wo genau im Rattenloch er sich befand. Aber so sehr die Kleine<br />

ihn auch in die Irre hatte führen wollen, daß er an der Spalte, direkt über der Spalte stand, daß konnte<br />

er spüren und riechen.<br />

Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, bis die Kinderhand ihn losließ und er die Finger auf<br />

den hölzernen Rahmen eines Wagens legen konnte. An dem Rand des Wagens empfing ihn eine<br />

andere Hand - Farlina.<br />

„Hallo, Bercan. Halt! Komme bitte noch ein paar Schritte vor, so, setz Dich hier auf den Tritt. In dem<br />

Wagen hier sitzt jemand, der Dir vielleicht zu Großmutter etwas sagen kann.“<br />

Bercan bewegte seine Hand zu seinem Kopf hinauf, er wollte die Augenbinde abnehmen und sich<br />

umsehen. „Behalte die Augenbinde bitte auf, hier gibt es nichts für Dich zu sehen.“, hörte er Farlina<br />

einwerfen.<br />

Er faßte sich in Geduld und wartete. Dann hörte er eine alte Stimme sprechen, eine alte aber warme<br />

Stimme, eben die Stimme einer Großmutter. Hier mußte er richtig sein.<br />

„Bercan Tibrand, kann es sein, daß ihr mich sucht?“


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

Bercan drehte seinen Kopf in Richtung der Stimme. „Wenn man euch im allgemeinen schon einmal<br />

Großmutter nennt, und wenn ihr vielleicht eine junge Frau kennt, die man Shirinn nennt - dann könnte<br />

es sein, daß ihr diejenige seid, die ich suche.“<br />

Shirinn, Shirinn Tayla, vor Jaklas Augen tauchte ein Gesicht auf, ein munteres Gesicht von langen<br />

roten Haaren eingerahmt, die alle in Zöpfchen geflochten waren. Shirinn war schon länger nicht mehr<br />

in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, sie lebte jetzt wohl in einem kleinen Dörfchen außerhalb der Stadt.<br />

„Ich kenne eine Frau, ein Mädchen Namens Shirinn Tayla mit rotem Haar.“, bestätigte Jakla.<br />

„Wenn diese Frau sehr energisch und kratzbürstig war und sich für die Leute einsetzen konnte, die ihr<br />

nahe standen, dann dürfte es sich hier um ein und dieselbe Frau gehandelt haben.“<br />

Bercan spürte, wie sich in dem Wagen jemand ruckartig bewegte und...<br />

„Haben.... Ist sie tot? Ich ahnte so etwas, daß etwas geschehen würde in den nächsten Tagen... Nun<br />

sagt schon, was ist passiert!“, ehrliche Sorge, ja fast Angst schwangen darin mit.<br />

„Sie befindet sich in einer Einsiedelei vor der Stadt, sie lebt... sie schläft... keine Ahnung, wie man es<br />

nennen will. Ich halte es für böse Magie und kann nichts dazu sagen. Die Einsiedler dort haben mir<br />

versprochen, ein wachsames Auge auf die Kleine zu haben.“<br />

Er horchte auf den Wagen und die Frau, die darin sitzen mußte. Er hörte das Schaben von Stoff auf<br />

dem Holz des Kutschbockes, als sich die alte Frau beunruhigt hin und her bewegte, dann schließlich<br />

seufzte.<br />

„Nun denn, man hatte mir gesagt, daß ihr etwas zu mir bringen solltet. Kann ich es sehen?“<br />

Bercan nahm den verpackten Stab und reichte ihn blind nach oben. Er spürte eine Hand, die den Stab<br />

entgegen nahm, er spürte Falten, Schwielen und - Wärme.<br />

Er hörte wie das Tuch zurückgeschlagen wurde, die alte Frau scharf die Luft einzog und einige Worte<br />

in einer fremden Sprache murmelte. Es schien ihm als würde daraufhin die abendliche Luft um ihn<br />

herum noch etwas kälter, eine Gänsehaut huschte ihm über den Rücken, doch schnell war dieser<br />

Eindruck wieder vorbei, seltsam.<br />

���<br />

Da... diese Stimme... das war doch GROSSMUTTER!<br />

GROSSMUTTER, GROSSMUTTER! Warum kann mich denn keiner höööööööören!<br />

���<br />

Für einen Augenblick glaubte er, neben der flüsternden Stimme der alten Frau jemanden rufen zu<br />

hören. Er lauschte, doch da war nichts mehr.<br />

Leise hörte Bercan dann die alte Frau wieder etwas murmeln: „Shirinn, Shirinn, wo hast Du Dich<br />

denn nun wieder herumgetrieben? Hast Du wieder einmal etwas angefaßt, das Dir die Finger versengt<br />

hat?“<br />

Bercan wurde hellhörig.<br />

„Der Stab, was ist damit?“, fragte er aufgeregt.<br />

Lange Zeit hörte er gar nichts, nur Farlina war da, die ihm einmal fest die Hand drückte um ihn etwas<br />

zu beruhigen. Sie konnte ja sehen wie nervös die „Großmutter“ war, scheinbar sehr nervös, denn<br />

irgendwie schien das auf Farlina abzufärben.<br />

„Woher hat sie diesen Stab? Was hat euch Shirinn zu diesem Stab gesagt, Bercan Tibrand?“, fragte<br />

die alte Stimme.<br />

„Nicht viel, nur daß ich.....“, so erzählte Bercan die gesamte Geschichte ein weiteres Mal....<br />

Allerdings, die Sache mit dem Schwur, und was überhaupt zum Schluß in der Kammer geschehen<br />

war, das verheimlichte er noch.<br />

„So... ein Gelehrter, der Menschen in Monster verwandelt. Und der soll in einem Dorf hier in der<br />

Nähe leben? Und Shirinn hat diesen Stab hergebracht, weil er gegen den Gelehrten eingesetzt werden<br />

können soll? Und ich sollte dies tun?“ Fragen über Fragen, auf die Bercan Tibrand natürlich keine<br />

Antworten kannte außer denen, die Shirin auch schon angedeutet hatte.<br />

Was Bercan, und auch Farlina, nicht wußten war, daß Großmutter, die schwarze Jakla, wie man sie im<br />

Allgemeinen im Rattenloch nannte, früher womöglich die richtige Person gewesen war. Ja, es war<br />

schon viele, viele Jahre her, da hatte Jakla sich Sibrinnid von den Schlangen genannt - und sie war,<br />

nicht hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, eine bekannte Magierin gewesen.... Ach ja, früher...<br />

„Nun ja, was soll ich noch lange erzählen, Junge, dieser Stab, und auch ich, können euch nicht helfen,<br />

nicht mehr.“


Schattenspiele - Claudia Wamers<br />

„Aber was bedeutet...“, wollte Bercan einwerfen.<br />

„Kein aber, Junge, ich kenne diesen Stab, kenne ihn gut. Derjenige, dem er einmal gehört hat, war ein<br />

fähiger Mann der arkanen Künste. Mit der Magie der Verwandlungen hatte er sich lange Zeit befaßt,<br />

auch mit der Gegenmagie, die dem guten Zwecke dienen soll, da kannte Dalaker von Tolan sich aus.<br />

Dieser Stab war einmal der Seinige und unterstützte ihn in seiner Kraft.“<br />

Bercan nickte, der Stab, mit all seinen Schnitzereien von sich ständig zu verändern scheinenden<br />

Tierformen unterstrich dies, aber wieso sollte der Stab dann nicht mehr helfen können?<br />

„Wie ich es verstehe ist also in dem Stab ein Teil der Kraft gespeichert, die dem Magus damals<br />

half?“, fragte er hoffnungsvoll. Er hoffte auf eine positive Antwort, er konnte sie gebrauchen.<br />

Einige Zeit hörte er nichts mehr von der alten Frau, die scheinbar so viel über diese Dinge wußte.<br />

Dann...<br />

„Leider.... nein! Ich kannte den Stab vor langer Zeit, machtvoll war er, doch nun? Dalaker selbst ist<br />

bereits längere Zeit tot, der Stab war als immer noch zauberkräftig bekannt, daran kann es also nicht<br />

liegen, aber etwas hat ihn seiner arkanen Macht beraubt, er ist fast ohne jede Spur von seiner früheren<br />

Stärke. Dieser Stab nützt euch nichts. Gebt ihn zurück, hängt ihn euch über den Kamin, werft ihn in<br />

die Spalte... es ist alles eins.“<br />

Bercan schwieg. Wunderbar, dachte er, wunderbar. Bercan war fast der Verzweiflung nahe. Jetzt<br />

hänge ich hier mit Stimmen im Kopf und wirren Träumen, mit einem Schwur der mich plagt, einem<br />

verrückten Gelehrten der mir möglicherweise seine Kreaturen nachschickt, einem nutzlosen Stab und<br />

einer alten Frau, die mir nichts neues sagen kann.<br />

„Das will ich nicht behaupten...“, hörte er die alte Stimme vom Wagen herab sprechen. Bercan blieb<br />

der Mund offen stehen, las die Alte seine Gedanken?<br />

„Farlina?“ Die angesprochene bewegte sich leise.<br />

„Ja, Großmutter?“<br />

„Bitte, geh’ mir doch mal meinen Schal aus der Hütte holen, die Nachtluft wird doch etwas zu kühl<br />

für meine alten Knochen.“<br />

„Aber...“ Farlina stutzte, Jakla hatte doch ihren Schal schon... ah so!<br />

„Ist gut, ich verschwinde ja schon - aber nur unter Protest!“<br />

„Farlina!“<br />

Bercan hörte den Tonfall der Stimme, und wie Farlina auf dem Absatz kehrt zu machen schien. Bei<br />

Gelegenheit mußte er Großmutter einmal darum bitten ihm zu erzählen, wie sie das schaffte. Er<br />

brauchte immer eine Ewigkeit, Farlina zu etwas zu bringen, daß sie gerade nicht tun wollte.<br />

Farlina verschwand in der Nacht, leise verklangen ihre Schritte. Die alte Frau wartete einen Moment,<br />

dann sprach sie wieder.<br />

„Bercan Tibrand, jetzt erzähle mir bitte die ganze Geschichte.“<br />

„Die... die ganze Geschichte?“, fragte Tibrand unsicher. Die Frau war ihm unheimlich.<br />

„Die ganze Geschichte, alles was in der Einsiedelei vorgefallen ist - alles!“<br />

Bercan holte tief Luft, dann berichtete er auch von dem Schwur, von dem Blitz und von seinen<br />

seltsamen Träumen.<br />

Die alte Frau schwieg. Dann hörte er sie leise murmeln, na - fluchte sie da etwa?<br />

„Gebt mir das Band mit dem Stein, Bercan Tibrand, und dann seid schön ruhig und still und geduldet<br />

euch ein wenig. Ich muß mich mit dem Stein befassen....“<br />

Bercan tat, wie ihm geheißen.<br />

Jakla nahm den Stein in beide Hände, jaaa, hier waren mächtige Kräfte am Werk - das spürte sie<br />

bereits ohne Konzentration. Dann schloß sie ihre Augen und erinnerte sie sich an die alten Worte,<br />

welche den Geist stärken und für die feineren Gewebe schärfen sollten. Sodann versuchte sie mit der<br />

Kraft des Steines Kontakt aufzunehmen.... „Großmutter!“<br />

Eine ihr nur zu bekannte Stimme ertönte. Jakla öffnete ihre Augen einen winzigen Spalt, unter fast<br />

geschlossenen Lidern, durch die Wimpern hindurch, konnte sie viele flackernde Schatten<br />

wahrnehmen. Zwischen diesen Schatten tanzte ein größerer Schatten aufgeregt hin und her, so als<br />

hätte er keinen Punkt, an den er gebunden war. Immer näher kam der Schatten, als Jakla ihn zu sich<br />

rief. „Großmutter!“<br />

Ja, genau, es war die Stimme von Shirinn. Jetzt konnte Jakla auch etwas genaueres erkennen, es war<br />

nicht nur ihre Stimme - es war Shirinn. Sie war in dem Kristall gefangen!<br />

Fortsetzung folgt...


Schatten - Robert Symons<br />

Schatten<br />

Robert Symons<br />

1.<br />

Schmerzen... Gitter... Peitschen... Kämpfen, jeden Tag , immer und immer wieder... Blut, Schweiß<br />

und die Schreie der Sterbenden...<br />

Gruhl öffnete die Augen. Seine Umgebung war ihm fremd. Gehetzt setzte er sich auf. Der<br />

Schwindelanfall und die tanzenden Punkte vor seinen Augen machten ihm schnell klar, daß dies keine<br />

gute Idee gewesen war. Er ließ sich zurückfallen und stellte verwundert fest, daß er nicht auf kaltem<br />

Stein sondern auf einem Lager aus sauberem Leinen lag. Dann setzte der Schmerz wieder ein. Gruhl<br />

schloß seine Augen wieder und biß die Zähne zusammen. Er konzentrierte sich auf sein Gehör, das<br />

mit wölfischer Schärfe durch das leise Prasseln eines Herdfeuers und das Knarren alten Gebälks die<br />

tiefen, ruhigen Atemzüge rechts von ihm aufnahm. Langsam tauchten die Erinnerungen aus einem See<br />

von Schmerzen auf.<br />

Die Arena. Als die Wachen seinen Halsring von der Kette lösten hatte er, die Hiebe mit den<br />

Stachelpeitschen ignorierend, einen der Wächter mit seinen Krallen getötet, den anderen mit dessen<br />

eigenem Dolch. Dann war er durch die Katakomben der Selefra-Arena geflohen. Fast bis zur Brücke<br />

über die Kluft war er gekommen, als ihn die Wächter wieder einholten. Beim Versuch die schmale<br />

Plankenbrücke zu überqueren hatte ihn ein Wächter gestellt. Er konnte Gruhl einige tiefe Wunden<br />

zufügen, bevor er sein Ende am Boden der Schlucht fand. Dann die Flucht durch die Tunnel bis zu<br />

dem Aufgang, der zu einem kleinen Haus am Rande der Unterstadt, die sie das Rattenloch nannten,<br />

führte. Weiter durch die stinkenden Straßen des Rattenlochs, im dichten Nebel, die Verfolger<br />

dichtauf. Der Blutverlust. Gruhls Kräfte verließen ihn mit Strömen seines Blutes. Eine Gestalt im<br />

Nebel, ein letzter Kraftaufwand, ein letztes gekeuchtes Word, „Hilfe!“. Dann Schwärze. Gruhl tastete<br />

mit seinem unverletzten linken Arm an seinen Hals. Ja. Da war noch immer der verhaßte eiserne Ring,<br />

den man benutzt hatte, um ihn in seiner Zelle an die Wand zu Ketten. Gruhl konnte ein leises Knurren<br />

ob der Erinnerung nicht unterdrücken.<br />

Das ungewohnte Geräusch weckte Taliësin. Das Öffnen der Augen war ein Reflex, sie hätte sie<br />

genausogut geschlossen lassen können, denn Taliësin war blind. Der Fremde mußte aufgewacht sein.<br />

Sie saß in ihrem Lehnstuhl neben dem Bett, sie hatte den Schlaf des Fremden überwacht, nach dem<br />

die schwarze Jakla, die Taliësin hatte rufen lassen, wieder nach Hause gegangen war. Die alte Frau<br />

hatte die Wunden versorgt, nachdem sie zuerst etwas erstaunt vor sich hin gemurmelt hatte.<br />

„Paß auf, mein Kind,“, hatte sie gesagt.<br />

„Was Du da von der Straße aufgelesen hast ist ein Charach, ein Wolfmann. Bleib besser wach, denn<br />

niemand weiß was er tun wird, wenn er aufwacht. Auch wenn der hier zu schwach ist, um Dir<br />

ernsthaft Schaden zu können. Ich werde in den nächsten Tagen wieder vorbeischauen um die<br />

Verbände zu wechseln. Er hat Glück daß er tatsächlich die Widerstandskraft eines Wolfes hat, in ein<br />

paar Wochen wird er wieder vollständig bei Kräften sein.“<br />

Dann war sie gegangen und Taliësin war, ziemlich besorgt, zurückgeblieben. Sie hatte sich in den<br />

Lehnstuhl gesetzt und versucht, wachzubleiben. Irgendwann mußte sie trotz der Warnung der alten<br />

Frau eingenickt sein.<br />

Taliësin lauschte auf die gepreßten, von Schmerz kündenden Atemzüge des Fremden. Dann hörte sie<br />

zum ersten Mal die Stimme des Fremden, eine tiefe, kehlige Stimme, die mit einem merkwürdigen<br />

Akzent sprach.<br />

„Wo bin ich?“, fragte Gruhl und öffnete seine bernsteinfarbenen Augen wieder. Er blickte sich zum<br />

ersten Mal um und gewahrte ein kleines, gemütlich eingerichtetes Zimmer, an dessen einer Wand in<br />

einem kleinen Kamin ein Feuer prasselte. Eine uralte, wurmzerfressene Standuhr tickte in einer Ecke<br />

ruhig vor sich hin, unbeeindruckt von den beiden überraschten Personen, die sich im Zimmer vor ihr<br />

befanden. Das Bett, in dem Gruhl lag, befand sich gegenüber einem alten Eichenschrank, der leise vor<br />

sich hin knarrte. Neben dem Bett stand ein großer Lehnstuhl, in dem eine junge Frau saß, die Gruhl<br />

erschrocken zu mustern schien.<br />

„Ihr, Ihr seid in meinem Haus.“, sagte sie.


Schatten - Robert Symons<br />

„Ihr seid verletzt... Ich... Ich brachte euch hierher, um euch versorgen zu lassen.“ Gruhl atmete tief<br />

durch und setzte sich trotz der Schmerzen und des zunehmenden Schwindelgefühls auf.<br />

„Ihr habt viel Blut verloren, Herr, Ihr solltet besser liegenbleiben.“ Die junge Frau stand auf und legte<br />

eine Hand tastend auf Gruhls Schulter. Gruhl widerstand dem Reflex, sie anzuknurren, und ließ sich<br />

von ihr langsam wieder in die Kissen zurück drücken.<br />

Langsam musterte er die junge Frau noch einmal. Sie war etwas über drei Tritt groß. Ihre Haut wies<br />

die leicht rötliche Färbung der Nushq'quai auf. Ihr langes schwarzes Haar hing in wilden Locken über<br />

ihren Rücken bis zur Hüfte hinab. Ihre Gesichtszüge waren weich und freundlich, wenn auch<br />

momentan besorgt. Ihre Figur war, für menschliche Maßstäbe, wohlgeformt, Schlank aber nicht dünn,<br />

mit den richtigen Rundungen an den richtigen Stellen. Ihre hellgrünen Augen scheinen ihn immer<br />

noch zu mustern. Aber da war etwas in der Art ihres Blicks... Langsam hob Gruhl die unverletzte<br />

linke Hand und bewegte sie vor den Augen des Mädchens, was ein Lächeln bei ihr hervorrief.<br />

„Spart euch die Mühe, Herr. Ich kann sie nicht sehen, ich bin blind.“<br />

„Aber wie...“, setzte Gruhl an.<br />

„Ich höre sehr gut, und ich kann eure Bewegungen aufgrund der Geräusche ahnen.“, antwortete sie.<br />

Gruhl spürte, wie die Schmerzen sich verstärkten. Langsam drückten sie ihn zurück in die samtene<br />

Schwärze der Bewußtlosigkeit.<br />

„Wie... ist Dein... Name?“, brachte er hervor.<br />

„Taliësin, Herr.“, antwortete das Mädchen. Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.<br />

„Kann ich euch irgendwie helfen?“ Gruhl atmete tief ein und versuchte die schwarzen Schleier vor<br />

seinen Augen zurückzudrängen.<br />

„Taliësin,“, stieß er zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor, „Dir verdanke ich... mein Leben<br />

und... meine Freiheit... Ich... danke... Dir.“ Bei den letzten Worten umfingen ihn die Schleier der<br />

Bewußtlosigkeit wieder mit bleierner Schwere.<br />

Taliësin war verwirrt. Sie hatte mit vielem gerechnet, Zornesausbrüche oder Schmerzensschreie, aber<br />

nicht mit diesem schlichten Dank. Und warum seine Freiheit? Dann tat sie etwas, das sie vorher noch<br />

nicht gewagt hatte. Sie hatte den Fremden durch die Straßen zu ihrem Haus geschleppt, was keine<br />

einfache Arbeit war, denn er war über einen Sprung groß und mußte gut zwanzig Stein wiegen. Dabei<br />

hatte sie bereits ertastet, daß der Fremde über ein dichtes, wolfsartiges Fell verfügte. Jetzt jedoch<br />

tasteten ihre Hände über seine verbundene Brust zu seinem Gesicht. Im Bereich des Halses wurde das<br />

Fell länger und weicher, bildete eine Art Mähne, in die ab und zu einige dünne Zöpfe eingeflochten<br />

waren. Dann stieß sie auf etwas schmales metallenes... ein Halsring, wie ihn Sklaven zu tragen hatten.<br />

Das also hatte er mit seiner Bemerkung über seine Freiheit gemeint! Langsam tastete sie sich weiter<br />

vor. Ein dichter Backenbart, eine pelzige Wolfsschnauze und schließlich spitze Wolfsohren oben am<br />

Kopf, von denen eines, es trug einen Ohrring, leicht zerrissen schien.<br />

Erstaunt ließ sich Taliësin wieder in ihren Lehnstuhl fallen. Was hatte sie nur bewogen, den Fremden<br />

hierher zu bringen? Er hätte statt eines entflohenen Sklaven auch ein Räuber oder Mörder sein<br />

können, der von der Wache gejagt wurde. Ihre Gedanken wurden unterbrochen durch die Glocke der<br />

Standuhr, die die fünfte Stunde schlug. Bald würde sie zur Arbeit gehen müssen. Lady Victoria würde<br />

sich Sorgen machen, wenn sie zu spät oder überhaupt nicht käme.<br />

2.<br />

„Ihr habt was?!?“, brüllte Chattar Kan, Leiter der Arena.<br />

„Wir verloren ihn im Nebel, Herr.“, antwortete der ziemlich eingeschüchterte Wächter.<br />

„Er hat Lankh und Manra in der Zelle getötet und Khullram von der Brücke geworfen. Dann floh er<br />

ins Rattenloch und wir verloren seine Spur im Nebel.“ Die Antwort des Wächters war nicht dazu<br />

angetan, die Laune seines Vorgesetzten zu bessern.<br />

„Ihr unfähigen Stümper!“, ereiferte sich Kan, eine beeindruckende Gestalt in roten Gewändern, über<br />

fünf Tritt hoch, mit der blauen Haut der Kasraliten. Seine regenbogenfarbenen Augen schienen vor<br />

Zorn Funken zu sprühen.<br />

„Fünfzehn meiner besten Leute sind nicht im Stande, einen einzelnen entflohenen Gladiator zu<br />

fangen?“, schnauzte er weiter.<br />

„Ich bin anscheinend nur von Schwachköpfen und Amateuren umgeben! Er ist verletzt, weit kann er<br />

nicht gekommen sein. Und nun lauf und such ihn, bevor ich Dir eigenhändig den Hals umdrehe, Du


Schatten - Robert Symons<br />

Sohn einer Rattenlochhure!“ Eiligst gehorchte der eingeschüchterte Wächter dem Befehl seines<br />

Vorgesetzten.<br />

Chattar lehnte sich an die Wand seines Arbeitszimmers und massierte seinen Nasenrücken mit<br />

Daumen und Zeigefinger. Er mußte das flohzerfressene Fellbündel wieder herbeischaffen. Wenn der<br />

Hohepriester von diesem Zwischenfall erfuhr, war Chattar nur noch ein verdammt großer Haufen<br />

totes Fleisch. Aber es gab ja auch noch andere Möglichkeiten, als es diesen hirnlosen Trotteln, aus<br />

denen seine Wachmannschaft bestand, zu überlassen, den Wolfsmann zu finden...<br />

���<br />

Es war schon spät, und der Nebel hatte einem ungemütlichen <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>-Dauerregen Platz<br />

gemacht. Vermillion strich gelangweilt durch die Straßen des Rattenlochs. Nichts Aufregendes war<br />

irgendwo zu finden, die Leute hatten sich ob des Regens in die Häuser geflüchtet und die, die noch<br />

unterwegs waren, ließen nicht auf gute Beute hoffen.<br />

Seit sie Shahtar entwischt war, hatte sie sich im Rattenloch herumgetrieben, aber heute war gar nichts<br />

los. Gerade überlegte sie, ob sie zurück zum Treffpunkt der Schatten gehen sollte oder vielleicht zu<br />

Rominas Ramschladen, als sie, einige Schritte entfernt, eine ihr bekannte Person sah.<br />

„Hallo, Taliësin!“, rief sie. Die junge Frau drehte sich zu ihr um.<br />

„Hallo, meine Kleine.“, sagte sie und versuchte zu Lächeln, aber ihr Gesicht schien besorgt. Die<br />

meisten von Hesvites Schatten kannten Taliësin. sie war eine der wenigen Großen, von denen man<br />

nicht verjagt oder gar geschlagen wurde. Oft kamen die Kinder zu Taliësins Haus um ihrem Gesang<br />

und Lautenspiel zu Lauschen und Taliësin freute sich immer über die kleinen Zuhörer, die andächtig<br />

ihren Liedern zuhörten. Vermillion stutzte. Trotz des Lächelns in ihrem Gesicht schien Taliësin<br />

Sorgen zu haben.<br />

„Was ist mit Dir, hast Du Kummer?“; fragte sie.<br />

„Oh... es... es ist nichts!“, antwortete Taliësin, „Ich muß jetzt weiter, die Arbeit, weißt Du? Mach's gut<br />

und komm doch mal wieder bei mir vorbei, ja?“ Damit drehte sich Taliësin um und eilte die Straße<br />

weiter, die verdutzte Vermillion zurücklassend.<br />

Normalerweise war Taliësin doch nicht so kurz angebunden! Vermillion wollte gerade hinter ihr<br />

herlaufen, da bemerkte sie etwas Interessantes. Vermillion stand hinter einem alten Wagen, der<br />

achtlos auf der Straße stehen gelassen worden war. Von dort aus beobachtete sie, wie aus einer<br />

Seitengasse eine Person hervorschoß. Die Person, die offensichtlich von jemandem verfolgt wurde,<br />

war schlank, drahtig, und etwas so groß wie Vermillions Bruder Shahtar. Das war jedoch noch nichts<br />

besonderes. Daß Straßenkinder von Irgend jemandem, dem sie Irgend etwas gestohlen hatten, verfolgt<br />

wurden war keine Seltenheit. Besonders war hierbei nur, daß das Straßenkind ein dichtes graubraunes<br />

Fell, einen Wolfskopf und einen Wolfsschwanz hatte.<br />

„Dort ist er! Greift ihn euch!“, tönte es aus der Gasse hinter dem Wolfskind und schwere Stiefeltritte<br />

kamen rasch näher. Gehetzt blickte sich das Wolfswesen um.<br />

„Psst!“, machte Vermillion. Die dunkelblauen Augen des Wesens richteten sich auf das Mädchen mit<br />

der zinnoberroten Mähne.<br />

„Hier lang!“, zischte Vermillion. Das Wesen überlegte einen Sekundenbruchteil, bevor es der<br />

Aufforderung nachkam.<br />

Sechs Gestalten stürmten aus der schmalen Gasse. Sie waren durch schwere, wollene Kapuzenmäntel<br />

verhüllt, doch klirrte und rasselte es darunter verdächtig. Der, der wohl der Anführer der Gruppe zu<br />

sein schien, blickte sich rasch um. Nun war ihnen doch schon wieder so ein Wolfsvieh entwischt.<br />

Wenn schon der Schwarze nicht mehr aufzutreiben war, so hätte er Meister Kan wenigstens dies<br />

kleiner Fellbündel anbieten können, um dessen Zorn wenigstens etwas zu bremsen.<br />

„Ihr zwei geht da lang, ihr zwei nach links und Du kommst mit mir, weit kann er noch nicht<br />

gekommen sein!“, schnauzte der Anführer. Die Sechsergruppe teilte sich in drei Zweiergruppen und<br />

die Söldner hasteten die Straßen entlang. Einer der Söldner verharrte kurz an dem alten Wagen, der<br />

am Straßenrand stand, und stocherte mit seinem Schwert darunter herum.<br />

„komm schon, sonst verlieren wir ihn noch!“, rief ihm sein Kollege zu. Der Söldner erhob sich rasch<br />

und folgte ihm in die Dunkelheit. Als die Schritte in der Dunkelheit verklungen waren hörte man ein<br />

zweifaches Plumpsen unter dem alten Wagen, als Vermillion und das Wolfswesen sich von den


Schatten - Robert Symons<br />

Achsen fallen ließen, an denen sie sich festgehalten hatten. Das Schwert des Söldners war ihnen<br />

gefährlich nahe gekommen, doch sie hatten Glück gehabt. Das Wolfskind atmete hörbar aus.<br />

Vermillion grinste.<br />

„Das war knapp, was?“, sagte sie. Das Wolfswesen nickte.<br />

„Danke,“, sagte es, „ohne Dich hätten sie mich bestimmt erwischt. Ich bin Shatt, wie heißt Du?“<br />

„Ich bin Vermillion, komm schon! Ich kann's kaum erwarten, Dich den Anderen zu zeigen!“<br />

���<br />

Taliësin näherte sich der Tür ihres Arbeitsplatzes, des „Succube“. Sie war dort angestellt, um die<br />

Gäste zu unterhalten, wenn sie noch ein Gläschen trinken wollten, bevor sie die Gastfreundschaft der<br />

Mädchen auf ihren Zimmern in Anspruch nahmen. Sie klopfte an die Tür des großen Hauses. Sie<br />

hörte, wie die kleine Sichtluke in der Tür aufgeschoben wurde, und kurz darauf ertönte die vertraute<br />

Stimme von Jangrit, der Türsteherin des Etablissements.<br />

„Ah, Taliësin, Du bist's! Komm' rein.“ Die Tür wurde entriegelt und geöffnet und Taliësin trat über<br />

die Schwelle.<br />

„Guten Abend, Jangrit.“, begrüßte sie die hünenhafte Hallakine hinter der Tür. Jangrit lächelte.<br />

„Ich freue mich schon auf Deine Musik, Taliësin.“, sagte sie. Taliësin rang sich ebenfalls ein Lächeln<br />

ab. Jangrit war eine Kriegerin, aber eine gute Seele. Lady Victoria pflegte zu sagen 'Jangrit ist wie ein<br />

großer Hund. Wenn man friedlich mit ihr umgeht, ist sie eine gute Freundin. Sucht man aber Streit,<br />

dann zeigt sie einem, daß sie auch Zähne hat!'<br />

„Geh nur durch,“, sagte Jangrit, „Lady Victoria ist noch da.“ Taliësin nickte und betrat das Atrium<br />

des Succube, während Jangrit sich wieder zur Tür wandte.<br />

Kaum hatte Taliësin das Atrium betreten, hörte sie die melodische Stimme von Lady Victoria, der<br />

Herrin dieses Etablissements.<br />

„Taliësin, mein Kind, ich freue mich, Dich zu sehen.“<br />

„Guten Abend, Mylady.“, sagte Taliësin. Lady Victoria stutzte, so förmlich zu sein war nicht<br />

Taliësins Art.<br />

„Ist etwas, mein Kind?“, Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.<br />

„Oh... es... es ist nichts, Mylady.“, antwortete Taliësin und senkte den Kopf.<br />

„Ach, komm!“, rief Victoria mit gespielter Entrüstung, „Glaubst Du, Du kannst mir etwas<br />

vormachen? Komm, wir setzen uns und Du erzählst mir, was los ist.“ Mit sanfter Gewalt zog sie<br />

Taliësin auf einen in der Nähe stehenden Diwan. Taliësin wußte, daß sie Lady Victoria nichts<br />

vorenthalten konnte. Früher oder später würde sie es doch aus ihr herausholen. Also berichtete sie die<br />

Geschichte, soweit sie sie kannte.<br />

„Ich weiß nicht was ich tun soll, Mylady!“, schloß sie ihre Geschichte.<br />

„Ich habe Angst weil ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll, oder wie er sich verhalten wird!“<br />

Lady Victoria überlegte.<br />

„Ein entflohener Sklave, sagst Du? Das ist ernst. Sklaverei ist in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> und den anderen<br />

Ostlanden verboten. Ich habe immer geargwöhnt, daß sich auch hier einige Leute nicht um dieses<br />

Verbot scheren, aber bisher habe ich nie konkrete Beweise gefunden. Was Deine übrigen Sorgen<br />

angeht, ich werde Dich nach Hause begleiten und mir Dein 'Problemchen' mal ansehen. Dann sehen<br />

wir weiter.“<br />

Taliësin nickte.<br />

„Danke, Mylady.“, sagte sie.<br />

Eine kurze Zeit später fanden sich Taliësin und ihre Arbeitgeberin in dem kleinen Haus ein, das der<br />

blinden Bardin gehörte. Bald darauf, als sie das Schlafzimmer im oberen Stockwerk betraten, zog<br />

Lady Victoria erstaunt eine Augenbraue hoch.<br />

Gruhl fühlte sich besser. Zwar fühlte er sich immer noch elend schwach und die Wunden schmerzten<br />

höllisch, aber die Übelkeit, das Schwindelgefühl und die tanzenden Punkte waren nach seinem tiefen<br />

Schlaf der Erschöpfung zurückgegangen. Er hatte sich gerade wieder aufgesetzt, als er den Schlüssel<br />

sich in der Haustür drehen hörte. Er hörte Schritte. Zwei Personen. Verdammt! Wenn nun seine<br />

'Retterin' einen der Wächter geholt hatte? In seinem Zustand würde einer bereits ausreichen, um ihn<br />

zu überwältigen. Aber... sie hatte so ehrlich besorgt geklungen. Gruhl glaubte nicht, daß sie zu einem


Schatten - Robert Symons<br />

solchen Verrat fähig wäre. Immerhin hatte sie ihn bis hierher gebracht und dafür gesorgt, daß er<br />

behandelt wurde. Dennoch... ein toter Sklave war schließlich wertlos und Gruhl konnte es nicht darauf<br />

ankommen lassen. Lieber würde er hier und jetzt sterben, als in das Höllenloch der Arena<br />

zurückzukehren. Seine letzten Reserven an Willenskraft zusammenkratzend raffte er sich vom Bett<br />

auf. Prompt stellten sich der Schwindel und die tanzenden Punkte wieder ein. Gruhl fluchte innerlich<br />

über seine Schwäche. Er brachte sich in Sprungposition, um einem potentiellen Gegner sofort an die<br />

Gurgel zu gehen. Das einzige Problem dabei war, daß sich alles in seinem Kopf drehte, seine Sicht<br />

trübe war und seine Knie vor Schwäche zitterten. Doch jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken.<br />

Die Tür öffnete sich und zwei Gestalten betraten den Raum.<br />

Victoria betrachtete den Wolfsmann, der, anscheinend sprungbereit, neben dem Bett stand. Er schaute<br />

sie ebenfalls einen Moment lang verwirrt an. Dann entspannte er sich etwas und versuchte sich<br />

aufzurichten, was sich als fataler Fehler entpuppte, denn sein Gleichgewichtssinn suchte sich just<br />

diesen Moment aus, um sich zu verabschieden. Er taumelte, vergeblich versuchend, wieder ins<br />

Gleichgewicht zu kommen, und kippte dann langsam nach vorne um. Hastig sprang Victoria nach<br />

vorne und fing den fallenden Wolfsmenschen ab. Langsam bugsierte sie ihn wieder auf das Bett,<br />

begleitet von den leisen Flüchen des Charach in der Sprache seines Volkes. Dann stellte Victoria sich<br />

neben das Bett und betrachtete Gruhl kritisch.<br />

„Ihr solltet vorsichtiger sein, Wolfmann. Aufzustehen war leider keine so gute Idee in eurem<br />

Zustand.“, sagte sie schließlich. Gruhl schnaubte verächtlich.<br />

„Glaub' mir Frau, wärst Du in meiner Lage, hättest Du es auch versucht.“, knurrte er. Dann wandte er<br />

sich an Taliësin, die sich verwirrt in den großen Lehnstuhl gesetzt hatte.<br />

„Verzeih' mir, Taliësin. Ich habe Dir nicht vertraut.“, bat er.<br />

„Ich verstehe euch, Herr.“, antwortete Taliësin. „In eurer Lage ist Vertrauen sicher nicht eine der<br />

hervorstechendsten Eigenschaften.“ Sie lächelte.<br />

„Die Frau an eurer Seite ist übrigens meine Arbeitgeberin und gute Freundin Lady Victoria, die<br />

Besitzerin des 'Succube'.“, Victoria nickte kurz, „Doch euren Namen habt ihr uns bisher noch nicht<br />

genannt.“ Gruhl nickte, ungeachtet dessen, daß Taliësin die Geste nicht sehen konnte.<br />

„Ich bin Gruhl, in der Sprache meines Volkes heißt das 'der Schatten'.“, sagte er.<br />

„Nun, Gruhl,“, sagte Lady Victoria lächelnd, „Ihr braucht noch Ruhe und solltet euch schonen. Was<br />

Dich betrifft, mein Kind,“, wandte sie sich an Taliësin, „so will ich Dir, ungeachtet der Enttäuschung,<br />

die meine Kunden empfinden werden, so lange frei geben, bis dieser müde Krieger wieder halbwegs<br />

bei Kräften ist. Laß mich wissen, wann Du wieder zur Arbeit kommst. Nun werde ich gehen, es gibt<br />

noch viel für mich zu tun. Auf Wiedersehen.“ Sie wandte sich zum Gehen, als sie von Taliësins<br />

Stimme noch einmal zurückgehalten wurde.<br />

„Victoria?“<br />

„Ja?“<br />

„Danke.“<br />

„Nicht der Rede wert.“ Damit verließ Lady Victoria das Zimmer und das Haus der blinden Bardin.<br />

���<br />

„Shahtar! He, Shahtar!“ Vermillions Stimme tönte durch das Versteck von Hesvites Schatten.<br />

Shahtar, der gelangweilt mit seinem Stilett gespielt hatte, blickte auf.<br />

„Vermillion, wo bist Du schon wieder...“, begann er, doch dann blieb ihm der Mund offen stehen.<br />

Tjinsha, der in einer anderen Ecke des Raumes saß, grinste.<br />

„He, Shahtar, was ist los, Hast Du 'n Geist gesehen?“ Im nächsten Moment riß auch Tjinsha erstaunt<br />

die Augen auf. Die beiden sahen nicht gerade intelligent aus als Vermillion, drei Wolfsmenschen im<br />

Schlepptau, den Raum betrat.<br />

„Shahtar, schau mal, was ich gefunden habe!“, rief Vermillion. Dann bemerkte sie den wenig<br />

intelligenten Gesichtsausdruck ihres Bruders und seines Lieblingsrivalen. Sie verschränkte die Arme<br />

vor der Brust, legte den Kopf schief und sagte, „Shahtar, mach den Mund zu, es zieht.“ Das brachte<br />

sowohl Shahtar als auch Tjinsha wieder zur Besinnung. Hörbar klappten die beiden ihre Futterluke<br />

wieder zu. Shahtar räusperte sich.<br />

„Äh,...“, begann er hochgeistig, „Was ist das denn?“ Tjinsha nickte zustimmend.


Schatten - Robert Symons<br />

Das größte der drei Wolfswesen trat einen Schritt vor. Es war gut zwei Kopf größer als Shahtar, hatte<br />

ein dunkelgraues Fell und durchdringende grüne Augen. Um seine Hüften war ein einfacher, ziemlich<br />

abgenutzter Lendenschurz geschlungen, in dem ein, scheinbar aus Stein gefertigtes, Messer steckte. Er<br />

blickte Shahtar durchdringend an und sagte dann: „Ich bin Jarl. Das hier sind Shatt und Rehl, meine<br />

Brudersöhne.“<br />

Man sah deutlich, wie es in Shahtars Gehirn arbeitete.<br />

„Brudersöhne?“, sagte er schließlich, „Du meinst Neffen?“<br />

„So sagt man wohl bei euch, ja.“, antwortete Jarl. Er sprach <strong>Mantow</strong>in, wenn auch mit einem<br />

schweren, rollenden Akzent.<br />

„Aber was...“, mischte sich Tjinsha nun ein. Einer der kleineren Wolfsmenschen blickte Tjinsha mit<br />

seinen tiefblauen Augen an und entblößte sein Gebiß. Tjinsha schluckte, stellte dann jedoch fest, daß<br />

die Geste wohl ein Lächeln darstellen sollte.<br />

„Wir sind Charach, falls Du das meinst.“, grinste Rehl. Sein Akzent war weniger ausgeprägt als der<br />

seines Onkels, aber dennoch deutlich vernehmbar.<br />

„So...“, sagte Tjinsha, dem keine intelligentere Entgegnung einfiel.<br />

„IchabShattgetroffenalsergeradevonirgendwelchenLeutenverfolgtwurdeundwirhabenunsverstecktundd<br />

annhatermichzudenanderengebrachtundsielebenschondreiJahrehierunddahabichgedachtichbringsiemal<br />

mitundvielleichtkönnensieauchSchattenseindaswärdochtolloder?“, plapperte Vermillion. Shahtar war<br />

immer wieder erstaunt über die Fähigkeit seiner kleinen Schwester, so lange Sätze von sich zu geben<br />

ohne Luft zu holen.<br />

„Tja,“, meinte er und sah Tjinsha an. Tjinsha zuckte mit den Schultern.<br />

„Warum nicht?“, meinte er. „Zeigen wir sie erst mal Andoja und den anderen Falken.“<br />

Wenig später an diesem Tag sah man, allerdings nur wenn man gut hinsah, eine Gruppe Kinder, unter<br />

ihnen Andoja, Gutram, Shahtar, Tjinsha, Vermillion und natürlich Jarl, Shatt und Rehl, unter der<br />

Brücke hervorkommen und wieder ins Rattenloch laufen. Alle waren guter Dinge, Jarl, Shatt und Rehl<br />

hatten ihre Aufnahmeprüfung gut bestanden. Dabei hatte sich gezeigt, daß die drei ein gut<br />

eingespieltes Team waren. Zu dritt waren sie in ein größeres Haus eingestiegen und hatten, die<br />

Wachen überlistend, einige hübsche Schmuckstücke an sich gebracht.<br />

Nicht weit von der Brücke entfernt verschwanden sie dann in einer Seitengasse hinter dem 'Succube',<br />

in dem der Eingang zu einem Kohlenkeller lag, der in Tjinsha und Shahtar einige Erinnerungen<br />

wachrief... Die beiden grinsten sich verschwörerisch zu.<br />

-<br />

Eines Abends kehrte Jangrit sehr schnell von ihrem üblichen Freien-Abend-im-Schwert-einen-<br />

Trinken-gehen-Ausflug ins ‘Succube’ zurück, einen Fetzen Papier in einer Faust schwenkend, und<br />

einen finsteren Ausdruck im Gesicht.<br />

„Victoria, schau Dir das an!“, bellte sie schon vom Eingang her.<br />

„Nanu, Jangrit, schon wieder da? Was gibt es denn?“, antwortete Lady Victoria von der Treppe her.<br />

Wortlos stürmte Jangrit auf sie zu, und hielt ihr den Fetzen Papier unter die Nase. Victoria las den<br />

Steckbrief, denn das war es, und runzelte die Stirn.<br />

„Dreißig Goldsonnen für die lebendige Ergreifung eines schwarzen Charach. So, so. Da will sich<br />

jemand den guten Gruhl eine Menge Geld kosten lassen. Ich wüßte zu gern, wer wohl dahinter<br />

steckt.“ Sie schien kurz nachzudenken.<br />

„Brauchst Du das noch, Jangrit?“, fragte sie dann.<br />

„Nein, behalt’s!“, knurrte Jangrit verärgert. Victoria nahm den Zettel in die Hand, und kurz darauf<br />

löste er sich in einem grellen Flammenblitz auf.<br />

„Ach ja, solltest Du zufällig herausfinden, wer dafür verantwortlich ist...“, begann sie...<br />

„Werde ich ihm mit Freuden den Hals umdrehen.“, unterbrach Jangrit sie liebenswürdig. Victoria<br />

lächelte.<br />

„Ich dachte mir, daß Du es so sehen würdest.“<br />

���


Schatten - Robert Symons<br />

Taliësin und Gruhl saßen am Kamin in Taliësins Haus, Gruhl wie üblich auf dem Boden und Taliësin<br />

in ihrem Lehnstuhl.<br />

„Dreißig Goldsonnen,“, knurrte Gruhl, „das ist wohl recht viel, was?“<br />

„Das ist etwa so viel, wie die Mädchen im ‘Succube’ im Monat einnehmen, und die gehören schon<br />

zur oberen Verdienstklasse in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>.“, antwortete Taliësin. Sie seufzte. Längst schon war<br />

Gruhl kein Fremder mehr für sie. In den gut fünf Wochen, die er nun schon unter ihrem Dach lebte,<br />

und in denen sie ihn teilweise aufopfernd gepflegt hatte, war zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft<br />

gewachsen. Sie war überrascht gewesen, in dem pelzigen „Wilden“ eine so einfühlsame und<br />

verletzliche Seele zu entdecken. Er liebte es zum Beispiel, Taliësin beim musizieren zu lauschen. Sie<br />

hatte ihm auch versprochen, im baldmöglichst eine Rohrflöte zu besorgen, das Instrument, das er in<br />

seiner Jugend spielen gelernt hatte. Aber auch in seinen Angstphasen, wenn er Nachts aufwachte und<br />

nicht mehr wußte wo er war, hatte sie sich um ihn bemüht. So bald er wieder aufstehen konnte, hatte<br />

er sich im Haus nützlich gemacht. Er hatte zwar keine große Erfahrung in Haushaltung, aber er<br />

bemühte sich redlich und lernte schnell, obwohl er immer noch ein lausiger Koch war. Er stand auf<br />

dem Standpunkt, gekochtes Fleisch zu essen sei, wie Aas zu fressen...<br />

Auch Gruhl hing seinen Gedanken nach. Er mochte das schwarzhaarige Menschenmädchen.<br />

Vielleicht mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Oft schon hatte sie ihn beruhigt und getröstet,<br />

wenn ihn seine Alpträume in den Horror der Arena zurückversetzt hatten, und er völlig desorientiert<br />

aufgewacht war. Wie hatte sie für ihn gesorgt, als er verletzt und bewegungsunfähig gewesen war.<br />

Nur ihre Ansicht über die abscheuliche Sitte, Fleisch zu kochen, störte ihn noch etwas...<br />

Gruhl fühlte sich, trotz aller Bemühungen Taliësins, eingesperrt, und Taliësin wußte das auch. Er war<br />

einfach nicht dazu geschaffen, tagelang an ein und demselben Ort eingesperrt zu sein, und in der<br />

Arena hatte man ihm das schon viel zu lange angetan. So wunderte es Taliësin keineswegs, als Gruhl<br />

eines Tages sagte: „Ich muß hier raus, Taliësin. Es tut mir leid, Du tust Dein Bestes, um es mir hier<br />

angenehm zu machen, aber ich ertrage es nicht mehr, hier jeden Tag eingesperrt zu sein.“ Taliësin<br />

nickte.<br />

„Ich verstehe Dich. Aber bitte... sei vorsichtig, ja?“ Er lächelte und strich ihr mit einer pelzigen Hand<br />

über die Wange.<br />

„Natürlich.“, sagte er.<br />

Gegen Einbruch der Nacht kehrte Gruhl ins Rattenloch zurück. Der Weg aus der Stadt hatte sich als<br />

einfacher erwiesen als Gruhl gedacht hatte. Seine Ausbildung als Jäger hatte ihm sehr geholfen. Fast<br />

den ganzen Tag hatte er in der freien Natur verbracht, hatte sich aus Stein, wie es der Tradition seines<br />

Volkes entsprach, einen Speer und einen Dolch gefertigt. Dann hatte er noch ein wenig gejagt, und so<br />

kam es, daß an seinem Lendenschurz baumelten, als er sich leise und auf Schleichwegen Taliësins<br />

Haus näherte. Gerade dachte er, es müsse jetzt gerade die Zeit sein, da Taliësin das Haus verließ um<br />

zur Arbeit zu gehen, als er Taliësin schreien hörte. Alle Vorsicht hinter sich lassend jagte Gruhl auf<br />

das Geräusch zu. Als er schließlich um die Ecke bog, sah er eine Gruppe von fünf Männern, die<br />

Taliësin teils festhielten, teils befingerten, und einer von ihnen hatte bereits sein Beinkleid herunter<br />

gelassen.<br />

Irgend etwas in Gruhls Inneren machte laut ‘Klick’. Seine Sicht schaltete auf messerscharfes<br />

Schwarz/Weiß, sein Blut rauschte und donnerte in seinen Ohren und sein Zeitgefühl begann, sich<br />

auszudehnen. Er knurrte, ein wildes, bösartiges Geräusch. Einer der Männer, es war der mit den<br />

runtergelassenen Hosen, begann sich umzudrehen, unendlich langsam so schien es. Er brachte die<br />

Drehung nie zu Ende; Gruhls Speer fuhr ihm in den Brustkorb und trat zur anderen Seite zum Teil<br />

wieder aus. Der Mann spuckte einen Schwall Blut und kippte dann langsam um. Noch bevor er den<br />

Boden berührte, war Gruhl bereits bei seinem Nachbarn, der verzweifelt versuchte, rechtzeitig an sein<br />

Kurzschwert zu kommen. Gruhl zerfetzte mit einem Prankenhieb den Kehlkopf, und der Mann sank in<br />

einem Schauer aus Blutstropfen in sich zusammen. Die anderen schienen sich nun gefangen zu haben.<br />

Zwei versuchten, Gruhl mit ihren Dolchen zu treffen, der Dritte floh.<br />

Gruhl, dessen Berserkerwahn noch anhielt, griff einfach mit beiden Händen in die weichen Bäuche<br />

seiner Angreifer und riß heraus, was er greifen konnte. Die ausgeweideten Leichen fielen wie nasse<br />

Säcke auf die inzwischen blutrote Straße. Dann bemerkte Gruhl die Flucht des Dritten. Mit einem<br />

Satz sprang er dem Mann in den Rücken und biß ihm mit einem feuchten Knirschen das Genick<br />

durch. Dann hastete er zurück zu Taliësin, das Blutbad, das er angerichtet hatte, völlig ignorierend.


Schatten - Robert Symons<br />

Der Anblick der blinden Bardin, wie sie auf dem Pflaster lag, reglos und still, brachte ihn wieder zur<br />

Besinnung. Hilfe, dachte er, sie braucht Hilfe. Plötzlich kam ihm der Gedanke. Hatte Taliësin nicht<br />

gesagt, sie arbeite in einem großen Haus, nicht weit von dem ihrigen entfernt? Dort würde er auch<br />

ihre Arbeitgeberin finden, die große blonde Frau, die sie einige Male besucht hatte, seit er bei Taliësin<br />

war. Sie würde helfen können.<br />

Gruhl nahm Taliësin auf die Arme und hastete auf das nächstegelegene größere Gebäude zu. An der<br />

Südseite fand er eine schwere, festverschlossene Tür, die mit einem Sichtfenster versehen war. Mit<br />

dem Fuß hämmerte er mehrmals gegen die Tür. Das Fensterchen öffnete sich, ein paar blauer Augen<br />

und ein blonder Haarschopf erschienen darin. Das mußte Jangrit sein, von der Taliësin oft erzählt<br />

hatte.<br />

„Was gibt’s...“, begann Jangrit.<br />

„Schnell, ich bringe Taliësin, sie braucht Hilfe!“, unterbrach Gruhl sie barsch. Im Bruchteil eines<br />

Augenblicks war die Tür entriegelt und geöffnet.<br />

„Schnell rein mit euch!“, schnappte Jangrit.<br />

���<br />

Gruhl lag im Bett neben Taliësin und lauschte ihren ruhigen und regelmäßigen Atemzügen. Was war<br />

nur geschehen? Es hatte sich bald herausgestellt, daß Taliësin mit dem Schrecken davongekommen<br />

war. Sie war unverletzt und lediglich vor Schreck in Ohnmacht gefallen. Bald, nachdem man sie<br />

wieder hergestellt und Gruhl vom Blut gereinigt hatte, brachte Jangrit Gruhl und Taliësin, die von<br />

Gruhl gestützt wurde, nach Hause. Dort hatte Gruhl Taliësin getröstet und beruhigt. So weit alles ganz<br />

normal.<br />

Doch dann war aus dem Trösten mehr geworden. Gruhl verstand noch immer nicht ganz, wie genau<br />

das alles hatte geschehen können. Diese Frau besaß kein Fell, sie war kleiner als eine Charach, ihre<br />

Ohren waren klein und rund, sie besaß nur zwei Brüste und keinen Schweif. Dennoch hatten sie sich<br />

geliebt. Es war eine merkwürdiges Gefühl gewesen. Ihre kleine rosa Zunge in seinem Maul, seine<br />

Zunge auf ihrem nackten haarlosen Körper, ihre krallenlose Hand, die ihn hinter den Ohren kraulte.<br />

Nun lagen sie da, Taliësin war erschöpft und glücklich eingeschlafen, sich eng an Gruhl schmiegend,<br />

und Gruhl dachte nach.<br />

Wie auch immer es dazu gekommen sein mochte, er bereute es nicht. Er liebte dieses<br />

Menschenmädchen.<br />

„Aber gekochtes Fleisch esse ich trotzdem nicht.“, murmelte er zu sich selbst und lächelte. Er leckte<br />

Taliësin noch einmal zärtlich über die Wange, was diese mit einem zufriedenen Seufzen im Schlaf<br />

quittierte. Dann verlagerte Gruhl seine Position etwas und fiel ebenfalls in tiefen Schlaf.<br />

���<br />

Chattar Kan schritt langsam vor der illustren Versammlung von Kopfgeldjägern hin und her.<br />

„Dreißig Goldsonnen, meine Herren. Unter der Bedingung natürlich, daß ihr ihn mir lebend bringt.<br />

Ein stolzer Preis, meint ihr nicht auch?“ Seine Stimme klang mühsam beherrscht, ein Zeichen für die<br />

Strapazen der letzten Tage. Dieser Charach machte ihm mehr Ärger, als ein Mann in seiner Position<br />

sich leisten konnte.<br />

„Is’ in Ordnung, Meister,“, grunzte ein breiter Hallakine von der Tür her, „für dreißich Gold kriegste<br />

von mir sogar’n Brenner lebendich ausgehändicht.“<br />

Die Gruppe lachte, bis auf zwei. Einer davon war Chattar Kann, der es gar nicht lustig fand, mit<br />

‘Meister’ angesprochen zu werden, und sichtlich Mähe hatte, diese Bemerkung wegzustecken. Der<br />

andere war ein hochgewachsener Rekschat, der generell als schweigsam galt.<br />

„Das wäre es dann, meine Herren!“, knurrte Chattar Kann in einem Ton, der die Söldlinge und<br />

Kopfgeldjäger eilends das Weite suchen ließ.<br />

Fortsetzung folgt


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

Eine Art von Nacht<br />

Jaenette Kaz<br />

„Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein!“<br />

Airan stemmte die Arme in die wohlgerundeten Hüften und starrte ungläubig den ausgeschwemmten<br />

Pfad hinab, der sich zu einer geteilten Stadt hinabwandt. Ungeduldig rammte sie den Wanderstab<br />

gegen den festgetretenen Boden. Ein wolliger Kopf schob sich unter ihrem ausgestellten Ellenbogen<br />

hindurch. Samtige Lippen versuchten, in den bauchigen aufgenähten Taschen ihres Gewandes<br />

irgendeine Leckerei aufzustöbern. Airan schob den Kopf des Esels unwirsch zur Seite und sah zu<br />

seiner Reiterin auf.<br />

„Wo liegt Dein Problem, kleine Schwester?“<br />

„Dieses … na, ja … dieses bessere Dorf liegt am Ende der Welt! Und sieh' Dir bloß an, wie<br />

heruntergekommen das Nest ist!“<br />

„Airan, Airan, Du hast Deine Lektionen vernachlässigt. Zunächst einmal ist <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> kein Dorf<br />

sondern ein wichtiger Handelsknoten. Zum anderen siehst Du im Augenblick hauptsächlich die<br />

Unterstadt, das Armenviertel, wenn Du so willst - warte nur ab, bis Du die Oberstadt gesehen hast.<br />

Und zum Dritten …“, sie klopfte Airan mit einer unterarmlangen, geschmeidigen Gerte auf die<br />

Schulter, „stellen wir die Entscheidungen des Mutterhauses nicht in Frage.“ Die kleine Schwester<br />

preßte die Lippen zusammen und wandte sich ab. Gelassen folgte ihr der Blick der Mutter Oberin, als<br />

sie, Verwünschungen vor sich hinmurmelnd, weiter voranstapfte.<br />

Ein Wagen kam neben der kleinen Frau auf dem Esel knirschend zum Stehen. Es war nur der erste<br />

von fünfen, aber dieser wurde nicht von einem Mietknecht geführt, sondern von Rain, der<br />

Bibliothekarin und Archivarin des neuen Hauses. Einen Augenblick musterte Viril sie und seufzte<br />

innerlich. Zu jung, dachte sie, viel zu jung eigentlich … Aber, nun ja. Rain erwiderte stoisch ihren<br />

Blick und zog nur leicht eine fast weiße Augenbraue hoch, um zu fragen, was dieser kleine Disput zu<br />

bedeuten hatte. Als die Mutter Oberin keine Anstalten machte, sich dazu zu äußern, zuckte sie die<br />

Schultern und trieb das Ochsengespann mit einem Schnalzen wieder in seinen zockelnden Schritt.<br />

Viril ließ die Wagen passieren, obwohl das hieß, das sie ihnen später in einer großen Staubwolke<br />

würde folgen müssen. Aber dies war der erste Blick, den sie auf die Stadt <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> werfen<br />

konnte, der erste Blick auf den neuen Nährboden, in den die Mütter ein schwächliches Samenkorn<br />

pflanzen wollten. Was mochte sie veranlaßt haben, gerade diesen Flecken auszuwählen? Nun, ja,<br />

sicherlich waren die Städte der gefürchteten Nordfaust nicht geeignet für den Orden der kleinen<br />

Schwestern - wo Frauen ein so eisernes Regiment führten, war kein Bedarf für eine Zuflucht, und an<br />

Ausbildungsstätten und anderen Notwendigkeiten mangelte es dort auch nicht. Die Multorier … Viril<br />

seufzte leise. Genug Arbeit und genug Bedarf für unsere Dienste in anderer Hinsicht, aber …<br />

sicherlich hatten die Mütter recht, wenn sie nicht gerade dieses Land für die ersten, schüchternen<br />

Ausbreitungsversuche des Ordens wählten. Militaristen bewegten sich in zu engen Toleranzgrenzen.<br />

Aber sicherlich, eines Tages …<br />

Mit etwas wie Wehmut dachte Viril an Hale zurück. Dort kannte jedermann die kleinen Schwestern,<br />

sie gehörten zum Straßenbild selbst des kleinsten Dorfes und niemand stellte ihr Dasein in Frage.<br />

Aber, wie die Mütter sagten, Hale war klein. Klein und schwach. Es war Zeit, die Arme auszustrecken<br />

und zu wachsen.<br />

���<br />

„Was glotzt Du so?“ fauchte Airan den jungen Wachsoldaten an. Er zuckte zurück und hob<br />

beschwichtigend die Hand. Die kleine Schwester schnaubte und wandte sich ab. Sie war sich sicher,<br />

daß die Stadtwachen hinter ihrem Rücken wieder grinsten und die steifen - aber nun staubbedeckten -<br />

Flügelhauben der kleinen Schwestern bewitzelten. Süßes Hale, dachte Airan, hoffentlich dauern die<br />

Formalitäten nicht zu lange!<br />

Hinter ihr entstand Aufregung und Durcheinander. Rain, die Archivarin, hob nicht einmal die Nase<br />

aus ihrem Buch sondern lümmelte weiter auf dem Kutschbock. Aber Airan wandte sich neugierig um.<br />

Die Wachsoldaten beeilten sich, die Zügel eines großen, schwarzen Pferdes zu übernehmen, das leicht<br />

tänzelte nachdem sein Reiter es verlassen hatte. Der Mann war recht groß, stellte Airan fest, und<br />

schien noch relativ jung zu sein. Sie zwinkerte, als sie feststellte, daß sein Haar schlohweiß war. Was<br />

konnte einen so jungen Mann ergrauen lassen? So wie die Wachen um ihn herumscharwenzelten,


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

mußte er wohl irgendein hohes Tier sein - vielleicht war er doch älter? Der Mann warf einen<br />

prüfenden Blick zu ihr und den Wagen hinüber, verzog aber keine Miene. Airan straffte sich, als er<br />

einen Schritt in ihre Richtung machte, doch einer seiner Männer hielt ihn zurück und wies auf das<br />

Gebäude, in dem Viril auf jemanden wartete, mit dem sie die Zukunft des Ordens besprechen konnte.<br />

Larkur faltete im Gehen sorgfältig seine Reithandschuhe und steckte sie in den Gürtel. Er grübelte.<br />

Hatte er schon einmal etwas von so seltsam gewandeten Frauen gehört? Priesterinnen vielleicht?<br />

Wenn ja, welchen Gottes? Götter hatten sie nun wirklich genug, hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> - auch wenn sie<br />

sich herzlich wenig um ihre Gläubigen zu scheren schienen.<br />

Viril zuckte zusammen, als die Tür aufgestoßen wurde. Sie musterte den Mann, registrierte seine<br />

Jugend, sein Haar und die gefrorenen Züge. Erleichterung machte sich in ihr breit. Dieser Mann war<br />

nicht einfach, sicherlich, aber er war ein guter Mann. Sie nickte ihm zu.<br />

Winzig, dachte Larkur, aber mit Autorität. Dieses Nicken war auch mit sehr viel Wohlwollen nicht als<br />

Verbeugung zu betrachten. Die scharfen, grauen Augen der kleinen Frau musterten ihn flüchtig, ohne<br />

daß der schmallippige Mund irgendeine Regung erkennen ließ. Als er sich nicht rührte, schnalzte die<br />

Frau kurz mit einer Gerte gegen ihren Rock. „Ihr seid“, begann sie, „vermutlich der Zuständige - hm -<br />

Beamte?“<br />

„Hauptmann der Stadtwache, ah …Dame.“ Etwas wie ein Funkeln huschte über die hellen Augen der<br />

Frau - lächelte sie heimlich? „Mutter Oberin, Hauptmann, Mutter Oberin.“ Sie wies einladend auf den<br />

zerschrammten Schreibtisch. „Nachdem wir nun korrekterweise unsere Titel ausgetauscht haben<br />

können wir vielleicht mit den Verhandlungen beginnen?“ Scheucht mich in meinem eigenen Büro<br />

herum, fuhr es Larkur durch den Kopf und: Ich beneide die zwei anderen da draußen nicht. Ich wette,<br />

sie benutzt diese Gerte nicht nur, um ihr Reittier anzutreiben. „Sicherlich, hm, … Mutter Oberin.<br />

Nehmt Platz.“<br />

Eine kleine Staubwolke stieg von ihren Gewändern auf, als sie sich niederließ. „Ah. Das tut gut. Ihr<br />

habt nicht zufällig etwas zu trinken hier?“<br />

„Dame… Mutter Oberin. Dies ist eine Einrichtung, um Reisende zu registrieren, so die Anwesenheit<br />

des Hauptmanns erforderlich ist. Eine Durchgangsstation, keine Schenke.“ Damit ließ sich Larkur auf<br />

der anderen Seite des Tisches nieder. Sie möchte alt genug sein, um seine Mutter zu sein und<br />

vielleicht auch die beiden Mädchen draußen im Hof herumkommandieren, mit ihm würde ihr das<br />

nicht gelingen. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er sich innerlich gegen einen Tadel wappnete.<br />

Aber die Frau lächelte, Falten sprangen von ihren Augenwinkeln bis zum eckigen Kinn. „Sicherlich,<br />

Ihr habt Recht. Es war ungehörig von mir, zumal es sein kann, daß Eure Untergebenen Euch ganz<br />

unnötig hierher geholt haben.“<br />

„Nun, wenn Ihr mir Euer Anliegen mitteilen wolltet, könnten wir das ganz schnell entscheiden -<br />

Mutter Oberin.“<br />

Umständlich kramte sie unter ihrem Überwurf und förderte schließlich eine versiegelte Papierrolle zu<br />

Tage. „Dies ist ein Beglaubigungsschreiben unseres Mutterhauses sowie des Gilderates in Hale. Wir -<br />

das heißt, unser Orden - würden gerne eines unserer Häuser in Eurer Stadt öffnen.“<br />

„Dürfte das nicht eher eine Sache sein, die Ihr mit unserer Priesterschaft zu regeln habt?“<br />

„Hauptmann, wir sind kein religiöser Orden. Wir hoffen, daß <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> keine Einwände gegen ein<br />

paar kleine Schwestern haben wird, die sich hier hauptsächlich der Wohltätigkeit und dem<br />

Bildungswesen widmen möchten - wie Ihr der Akkredition entnehmen werdet. Und selbstverständlich<br />

erwarten wir keine Geschenke von Eurer Stadt. Dies,“ sie warf einen schweren Beutel auf den Tisch,<br />

„sollte wohl genügen, eine angemessene Wohnstatt für uns zu finden.“<br />

Scharf beobachtete Viril das Gesicht des jungen Mannes. Aber er zuckte mit keiner Wimper, obwohl<br />

diese Eröffnung ihn überraschen mußte. „Wenn Ihr diese Akkredition lesen wollt, werdet Ihr<br />

vielleicht verstehen …“<br />

Larkur griff zögernd nach dem versiegelten Schreiben und drehte es unschlüssig in der Hand. Sollte<br />

dies nicht eher eine Sache des Triumvirats sein? Andererseits konnte er das nicht entscheiden, so<br />

lange er nicht wußte, was diese Frauen waren … Entschlossen brach er das Siegel.<br />

���<br />

Airan fluchte vor sich hin, während sie Arme voll Unrat durch den schlecht beleuchteten Flur<br />

schleifte. „Ich wußte es, wußte es, wußte es. Vom ersten Augenblick an, als ich dieses Dreckloch sah<br />

…“ Sie wollte gar nicht wissen, was das im Einzelnen war, was sie da aus dem Haus trug. Rain kam


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

ihr entgegen, genauso verschmutzt und verschwitzt. „Halt den Mund, kleine Schwester.“ warf sie ihr<br />

im Vorbeigehen zu. Großäugig sah Airan ihr nach. Rain sagte überhaupt selten etwas, schon garnicht<br />

in so einfachen Worten. Etwas krabbelte über ihre Hand, und sie schauderte. Schnell ging sie weiter,<br />

hoffte, daß das Etwas nicht in ihren Ärmel kriechen würde und warf den Schmutz auf den schnell<br />

wachsenden Haufen vor dem Haus. Wenigstens würden sie nicht allzu weit laufen müssen, um diesen<br />

uralten Überbleibsel ihrer Vorgänger zu entsorgen. Die tiefe Spalte, die <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> teilte, begann in<br />

Sichtweite.<br />

Abends rückten die kleinen Schwestern eng zusammen um den kleinen, schlecht ziehenden und halb<br />

verfallenen Kamin. Rain verteilte, gelassen wie immer, die letzten Reste ihres Reiseproviants, denn<br />

eine Kochmöglichkeit hatten sie in diesem Haus noch nicht. Sie aßen schweigend. Schließlich, als<br />

auch der letzte Rest Fladenbrot verschwunden war, lehnte Viril sich zurück. „Morgen in aller Frühe<br />

werden die Handwerker kommen. Richtet Euch darauf ein.“ Gleichmütig begann sie, ihre Decken<br />

aufzurollen.<br />

Eine Weile herrschte Schweigen, dann explodierte Airan. „Das ist doch kein Haus, das ist eine Ruine!<br />

Es wird Monate dauern, bevor es auch nur halbwegs bewohnbar ist! Selbst falls - und ich sage falls,<br />

nicht wenn! - die Handwerker wirklich morgen früh mit der Arbeit beginnen. Außerdem ist es … es<br />

ist … es ist ….“<br />

„Nicht das Gildenhaus in Hale, meinst Du? Keine luftigen Flure und Dienstmädchen, die Dir die<br />

Dreckarbeit abnehmen, damit Du Dir nur ja nicht die kostbaren Pfoten schmutzig machst?“ Viril hob<br />

nicht einmal die Stimme, ließ der Chirurgin aber auch keine Zeit, ein passende Antwort zu finden.<br />

„Hör' mir jetzt gut zu, denn ich werde das nicht wiederholen. Seit wir diese Stadt das erste Mal<br />

gesehen haben, war von Dir nichts Anderes zu hören als Gemaule über dies und über jenes. Wir alle<br />

wissen, daß Du nicht freiwillig hier bist, aber Dir wurde die freie Wahl gelassen: uns zu folgen oder<br />

den Orden zu verlassen. Ich erwarte morgen früh, daß Du entweder Deine Sachen packst, den Habit<br />

ablegst und uns verläßt, oder aber, daß Du Dich morgen damit beschäftigst den Raum links von der<br />

Tür, den mit den vielen Fenstern, zu Deinem Arbeitsraum zu machen. Weiterhin wirst Du Dich dann -<br />

und zwar noch vor Mittag, denn bis dahin sollte Dein Zimmer vorerst eingerichtet sein - in die Stadt<br />

begeben und Dich nach Arbeit umsehen. Noch Fragen?“<br />

„Aber, Mutter Oberin, ich …“ Aus der Dunkelheit schnalzte die Gerte auf sie zu. „Wenn und falls Du<br />

Dich entscheidest, hier zu bleiben, kleine Schwester, dann erinnere Dich auch an die Disziplin in<br />

diesem Haus.“ Airan betastete vorsichtig den bereits anschwellenden Striemen auf ihrem Unterarm.<br />

„Ja, Mutter Oberin.“ Und mehr wurde nicht gesprochen an diesem Abend.<br />

���<br />

Rain zupfte ungemütlich an ihrer steifen Leinenhaube, während sie zusah, wie ein Schreiner aus der<br />

Oberstadt Reihen um Reihen von verschiedenen Regalen in das Dachgeschoß des Hauses einpaßte.<br />

Regale für Bücher, Regale für Schriftrollen, Regale für verschiedene Schreibtafeln. Ein bißchen<br />

wehmütig ließ sie die Finger über das Papier streichen, das auf ihrem Tisch gestapelt war. Es war<br />

nicht einmal ein Bruchteil dessen, was ihnen in Hale zur Verfügung gestanden hätte, und es würde<br />

auch nur einen kleinen Teil der Regale füllen. Aber, rief sie sich energisch zur Ordnung, es würde der<br />

Tag kommen, da der Platz hier unter dem - mittlerweile wieder dichten - Dach nicht mehr ausreichen<br />

würde, um die Archive der kleinen Schwestern in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> zu halten. Und sie würde alles tun,<br />

damit dieser Tag in nicht allzu ferner Zukunft lag.<br />

Der Schreiner lehnte ihr Angebot eines kühlen Apfelmosts ab und so kletterte sie vorsichtig die<br />

schmale Holzstiege hinunter, die in den zweiten Stock führte. Das ganze Haus roch nach frischer<br />

Farbe. Rain grinste. Die Reperaturarbeiten waren größtenteils Maskerade, das Haus war und blieb<br />

baufällig - aber man sah es jetzt nicht mehr so deutlich. Rasch warf sie nochmal einen Blick in eine<br />

der zehn winzigen Kammern, die die Mutter Oberin im zweiten Stock hatte einrichten lassen. Sicher,<br />

die Einrichtung war spartanisch: ein schmales Bett, unter dem man die Waschschüssel verstaut hatte,<br />

ein kleines Tischchen und ein Holzstuhl, ein schmaler, schmuckloser Schrank. Rain lächelte ein<br />

bißchen. Aber es würde Platz genug sein, damit die Kinder sich nachts die gepolsterten Notbetten<br />

ausrollen und bei ihren Müttern schlafen konnten. Die Kinder …, die vermißte sie vor allem seit Hale.<br />

Das Haus war still, viel zu still! Und Kinder, die die Hilfe der kleinen Schwestern gebrauchen<br />

konnten, hatte sie hier in der Unterstadt schon zur Genüge gesehen - der Haken war nur, daß die<br />

wahrscheinlich keine Mütter hatten, bei denen sie schlafen könnten. Aber zweifellos hatte die Mutter


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

Oberin recht gehabt, als sie den Rat des Hauptmanns, sich ein passendes Gebäude in der Oberstadt zu<br />

suchen, abgelehnt hatte. Wenn es Arbeit für die kleinen Schwestern gab, dann hier!<br />

Viril versuchte seufzend - und vergeblich - auf der harten Holzbank eine bequeme Lage zu finden. Sie<br />

saß nun schon seit dem frühen morgen hier, irgendwo in den Irrgängen der Feste desTriumvirats, und<br />

wartete, daß der zuständige Beamte Zeit für sie hätte. Als sie vor Monaten <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> durch das<br />

Haupttor betraten, hatte der Hauptmann … wie hieß er doch gleich? Jedenfalls hatte er ihr - und nur<br />

ihr - einen beschränkten Passierschein ausgestellt. Es konnte aber auf die Dauer nicht angehen, daß<br />

ihre Mitschwestern auf die Unterstadt beschränkt blieben. Man hatte ihr schon vor Wochen zugesagt,<br />

daß sie die Passierscheine erhalten würden, aber bis heute war nichts geschehen.<br />

„Die Wahlen, gute Frau, die Wahlen. Wir haben keine Zeit! Schließlich, wer weiß schon, was danach<br />

an Regelungen umgeworfen oder gar ins Gegenteil verkehrt wird? Habt Geduld, gute Frau, habt<br />

Geduld.“ Das war das ewig gleiche Lied, das sie gehört hatte, wann immer es ihr überhaupt gelang,<br />

mit dem zuständigen Mann persönlich zu sprechen. Sie hatte auch die vage Vermutung, daß es<br />

diesesmal nicht anders sein würde, sofern sie nicht die kleine Börse ins Spiel brachte, die sie<br />

mittlerweile unangenehm drückte.<br />

„Süßes Hale! Ich hab' Dir doch gesagt, Du sollst ihn festhalten!“ Airan fluchte, untersuchte die<br />

Wunde und stellte erleichtert fest, daß sie nicht abgerutscht war. Der Mann, der ihr beinahe das<br />

eigenwillig geformte Messer aus der Hand geschlagen hätte, stöhnte und wand sich auf dem Tisch.<br />

Sie legte es zur Seite und atmete tief durch. Dann sprang sie den riesigen Mann an, der wie ein<br />

Haufen Gelee zitterte, als sie ihn gegen die Brust stieß. „Verflucht, Harl! Es ist doch nicht so, daß Du<br />

noch nie Blut gesehen hättest! Schlimm genug, daß ich an ihm arbeiten muß, wo hier alles … ah,<br />

bah!“ Sie steckte ihre bloßen Arme nochmals bis zu den Ellebogen in die Schüssel mit dem bereits<br />

blutigen Wasser und seifte sie verbissen ein. Der Wirt des „Totenkopf“ wischte sich den Schweiß von<br />

der Stirn. „Das ist es ja nicht, aber Du … Du steckst bis über die Handgelenke in seinen verdammten<br />

Eingeweiden!“ Airan hob den Kopf und funkelte ihn an. „Deshalb hast Du mich doch holen lassen,<br />

oder? Die Quacksalberin, die Dir sonst Deine Gäste wieder zusammenflickt hat ihn doch schon<br />

aufgegeben, schon vergessen?“ Ihre Hände und Arme waren rot und brannten von der scharfen Seife,<br />

aber das ließ sich nicht vermeiden, wenn der Mann auf dem Tisch überhaupt noch eine Chance haben<br />

sollte.<br />

Airan wußte nicht, wer er war, und wollte es auch nicht wissen. In jedem Fall hatte er eine<br />

Entzündung im Leib, die man von außen nicht sehen konnte. Und weil man sie nicht sehen konnte,<br />

hatte er sie so lange mit sich herumgeschleppt, bis er in Harls Kneipe frühmorgens<br />

zusammengebrochen war. Aus dem gleichen Grund hatte es auch bis mittag gedauert, bis der Wirt<br />

nach ihr rufen ließ. Zuerst hatte er den Mann einfach vor die Tür geworfen, wie er das mit<br />

hoffnungslos betrunkenen Gästen wohl tat, aber als er am morgen immer noch dort lag - ohne auch<br />

nur eine einzige Münze oder einen sonstigen Wertgegenstand mehr am Leib - süßes Hale, nicht<br />

einmal die Stiefel hatten sie ihm gelassen! -, stöhnend, und außerstande zu gehen, da hatte Harl nach<br />

einer Heilerin gerufen. Möglichst einer, die so gut wie nichts für ihre Dienste verlangte. Und als die<br />

nur die Schultern zuckte, da hatte er sich an sie, Airan, erinnert. Nicht weil ihr der Ruf einer<br />

gesegneten Heilerin vorausgeeilt war, natürlich. Vielmehr, weil man mittlerweile wußte, daß die<br />

kleinen Schwestern immer halfen, wenn sie gebraucht wurden, notfalls auch, wenn nicht mit der<br />

geringsten Gegenleistung zu rechnen war. Schön dumm, dachte sich Airan, in einer Stadt wie dieser<br />

…<br />

Schließlich war es ihr gelungen, daß entzündete Stück Eingeweide zu entfernen und den Mann wieder<br />

zuzunähen. Sie kippte nochmal einen Schwung von dem scharfen Fusel, den Harl für besondere Gäste<br />

zur Seite stellte, über die Wunde. „Gib' ihm den Rest aus der Flasche!“ Damit drückte sie dem fetten<br />

Mann die fast leere Flasche in die Hand. „Aber … das ist mein bester Schnaps!“<br />

„Interessiert mich nicht. Du hast mich gerufen, ich hab' ihn zusammengeflickt, und ich habe keine<br />

Lust, ihn jetzt schon aufwachen zu lassen, weil wir ihn noch durch die halbe Unterstadt tragen<br />

müssen.“ Airan tauchte ihre Arme ein letztes Mal in die lauwarme Brühe auf dem Nebentisch. Hinter<br />

dem Tresen standen zwei von Harls Knechten und starrten neugierig herüber. „Ihr beide! Besorgt ein<br />

Brett! Wir müssen ihn in unser Haus bringen.“<br />

Mit einen Knall stellte Harl die Schnapsflasche auf den Holztisch. „Was soll das! Du verschwendest<br />

meinen Selbstgebrannten und jetzt kommandierst Du auch noch meine Leute herum! Wer glaubst Du,<br />

wer Du …“ Blitzartig griff sich Airan das blutverschmierte Messer, daß neben dem Kranken auf dem


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

Tisch lag und fuchtelte damit vor Harls Nase herum. Der Wirt zuckte zurück, denn er hatte gerade mit<br />

eigenen Augen gesehen, daß diese kleine, seltsam geformte Klinge durch Haut und Fleisch schnitt, als<br />

wäre es Butter. „Du!“, fauchte Airan, „großer Klumpen wabbeligen Fleisches! Glaubst Du, ich weiß<br />

nicht, daß der Mann nur deshalb noch am Leben ist, weil Du Angst hattest, sein Fieber rühre von<br />

einer Krankheit her, mit der er Dich angesteckt haben könnte? Nett von Dir, daß ich ihn in Deiner<br />

Schmuddelkaschemme aufschneiden durfte!“ Ein paar Sekunden lang sah Harl nur eine silberne Spur<br />

in der Luft, so schnell bewegte sie das Messer. Er rührte sich nicht, denn nach allem, was er gesehen<br />

hatte, war klar, daß sie ihn nicht aus Ungeschicklichkeit verfehlte. Genauso plötzlich, wie sie<br />

aufgebraust war, beruhigte sie sich auch wieder. Seufzend warf sie das Messer in die Waschschüssel.<br />

„Was ist los?“ Rain steckte den Kopf durch die Dachluke, die in das neue Archiv führte. „Ich brauche<br />

eines unserer Zimmer.“ antwortete Airan und weiter, zu Harls Knechten: „Süßes Hale! Wenn Ihr das<br />

Brett weiter so hin- und herschaukelt, brauche ich nicht darauf zu warten, daß er an einer Entzündung<br />

stirbt, dann wird er jetzt und hier an seiner Kotze ersticken! Seid vorsichtig, verflucht nochmal.“<br />

„Airan!“<br />

„Ach, sei still, Du bücherlesende Betschwester. Was wir hier haben ist ein echter, atmender,<br />

totkranker Mann. Das ist ein bißchen anders als Deine staubigen Papiere!“ Sie wandte sich wieder den<br />

Trägern zu: „Hier hinein … Nein, lauft nicht so schnell weg, Ihr müßt mir noch helfen, ihn auf's Bett<br />

zu packen … VORSICHTIG habe ich ich gesagt!“<br />

Kopfschüttelnd hörte Rain die Chirurgin im zweiten Stock weiter zetern und rumoren. Aber sie zog<br />

trotzdem eine ganz bestimmte Kassette mit kleinen Wachstafeln hervor, die erste, die sie hier in <strong>Elek</strong>-<br />

<strong>Mantow</strong> angelegt hatte. Auf den Täfelchen standen die Namen, Tätigkeiten und Aufenthaltsorte von<br />

Personen, die für das Haus der kleinen Schwestern vielleicht wichtig werden konnten. Und eine davon<br />

war der von Sarjana, der Gattin des Hauptmanns der Stadtwache. Rain hatte die Personen, die auf der<br />

kleinen Tafel genannt wurden, hauptsächlich danach ausgesucht, wieviele übereinstimmende<br />

Gerüchte sie über sie hörte - und die über Sarjana waren besonders interessant gewesen. Falls Airans<br />

Künste bei ihrem neuesten Patienten versagen würden, war es vielleicht gut, eine Frau hinzuzuziehen,<br />

deren Begabung die rein handwerklichen Künste der Chirurgin überstieg. Die Bibliothekarin seufzte.<br />

So, wie sie Airan kannte, müßte der Mann an der Schwelle des Todes stehen, ehe sie es zuließ daß<br />

eine eingetragene Heilerin Hand an ihn legte. Sie hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen „diesen<br />

Hokuspokus“, wie sie das nannte. Rain runzelte die Stirn. Es wäre vielleicht interessant, in Airans<br />

Papieren nachzulesen, ob es für ihre Sturheit in dieser Beziehung irgendeinen handfesten Grund gab.<br />

Ein Luftzug aus der Dachluke weckte sie aus ihren Gedanken. Sie sah hinaus. Vereinzelt sah man<br />

bereits Fackeln oder Laternen über die Schlucht blinken. Es wurde Nacht über <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> - und die<br />

Mutter Oberin war noch nicht zurück.<br />

Viril zog ärgerlich ihren Mantel enger zusammen und blinzelte verwirrt, als sie die Feste des<br />

Magistrats verließ. Die Dämmerung war hereingebrochen. Sie schnaubte ärgerlich und zählte<br />

innerlich die siebzehn goldenen Regeln der kleinen Schwestern auf, damit sie sich nicht auf dem<br />

Absatz umdrehte und den kleinen Blutsauger von einem Schreiber oder was er auch sein mochte an<br />

den Ohren hinter seinem Schreibpult hervorzerrte. Da hatte sie nun den ganzen Tag in diesem<br />

entsetzlichen Gebäude verbracht, nur um die beiden begrenzten Passierscheine für die beiden<br />

Mädchen zu bekommen - von dem Beutel mit Silbersonnen, den der Schreiber mit ausdruckslosem<br />

Gesicht in den Tiefen seiner Kleidung verschwinden ließ, gar nicht zu reden. Sie blinzelte wieder. Die<br />

Nacht sank hier schnell. Schon konnte sie die Häuser auf der anderen Straßenseite nur noch als<br />

undeutliche Schatten ausmachen. Und natürlich hatte sie keine Laterne mitgebracht! Süßes Hale! Viril<br />

straffte die Schultern. Dann mußte es eben gehen, wie es ging: immer an der Wand lang. Es konnte ja<br />

nicht so schwer sein, die Brücke zu finden - alle Wege führten früher oder später dorthin.<br />

Tatsächlich jedoch ging Viril einige Male in die Irre, ehe sie endlich den Übergang über die Schlucht<br />

fand. Als sie den Wachen ihren Passierschein zeigte, sah sie den grauhaarigen Offizier, der sie damals<br />

in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> begrüßt hatte, aus dem Wachhaus treten. „Hauptmann!“ Der Mann zögerte einen<br />

Augenblick und reichte ihr dann die Hand. „Dame. Ihr seid spät unterwegs.“ „Mutter Oberin,<br />

Hauptmann, bitte. Und ja, es ist später, als ich erwartet hatte - aber ich denke, Ihr wißt selbst wie<br />

langwierig Angelegenheiten sich in der Triumviratsfeste gestalten können.“


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

Erstaunlich! Viril schmunzelte, denn da war tatsächlich so etwas wie ein flüchtiges Lächeln über sein<br />

Gesicht geglitten. Nun, eigentlich war es mehr ein leichtes Zucken der Mundwinkel gewesen. „Ihr und<br />

Eure Schutzbefohlenen haben sich gut eingelebt, nehme ich an?“<br />

„Ja, sehr gut. Nicht zuletzt dank Eurer Empfehlung. Hat Euch der Wein gemundet?“<br />

„Der Wein?“<br />

„Oh, wir hatten an die Garnison eine kleine Kiste mit Wein aus Hale gesandt, als kleine<br />

Gegenleistung für die Empfehlung des Maklers. Immerhin hatten wir durch Eure Hilfe gleich am<br />

ersten Abend ein Dach über dem Kopf.“<br />

Larkur zögerte. Diese Kiste hatte nie den Weg zu ihm gefunden. Nun, er würde das zu gegebener Zeit<br />

mit dem Lagerhalter klären. „Sicherlich ein erlesener Tropfen. Ich muß mich entschuldigen, daß Ihr<br />

nichts mehr von mir gehört habt, aber … nun, es ist eher ungewöhnlich, daß dem Hauptmann der<br />

Stadtwache persönliche Geschenke auf dem … nun, dem offiziellen Weg zugestellt werden.“ Viril<br />

blinzelte irritiert, nickte dann aber. „Ich verstehe. Ich hoffe, Ihr und Eure Familie seid ebenfalls<br />

wohlauf?“<br />

„Meine …?“<br />

„Man kann ein Haus wie unseres nicht führen, ohne sich zu informieren, Hauptmann. Bestellt Eurer<br />

Gattin meine besten Grüße. Wir würden uns freuen, wenn sie unser Haus bei Gelegenheit einmal<br />

besuchen würde. Ich bin sicher, sie hätte viel Gesprächsstoff, wenn sie sich ein wenig mit unserer<br />

Chirurgin unterhält.“ „Das … das werde ich ihr ausrichten, Mutter Oberin. Ich bin sicher, Sarjana<br />

wird sich freuen mit einer Kollegin … nun, … zu fachsimpeln.“<br />

Viril sah, wie der Hauptmann unruhig wurde und tätschelte seinen Arm. „Immer wenn wir uns treffen<br />

halte ich Euch auf. Ich bin sicher, es wartet viel Arbeit auf Euch.“ „So ist es.“ Die Erleichterung stand<br />

ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Konversation war nunmal nicht seine Sache. „Kommt gut nach<br />

Hause, Mutter Oberin.“<br />

„Auch Euch einen ereignislosen Abend, Hauptmann.“ Viril steckte die Hände in die Ärmel, lächelte<br />

ihm nochmal zu und schritt zügig am Wachhaus vorbei. Larkur zögerte. Sollte er den Wachhabenden<br />

rügen, weil er sie passieren ließ? Aber dann wandte er sich ab. Es war schon richtig, er hatte die<br />

schwarzweißgekleideten Schwestern nicht mehr gesehen, seit sie angekommen waren. Aber er hatte<br />

von ihnen gehört. Zwar machten die Frauen offenbar keinen Unterschied, wenn es darum ging,<br />

jemandem zu helfen - aber im großen und ganzen war wohl kaum Ärger von ihnen zu erwarten.<br />

Eilig überquerte Viril die Brücke und wandte sich dann gleich nach links, wo sie von fern bereits die<br />

freundlich beleuchteten Fenster des Ordenshauses sehen konnte. Vor der Haustür angekommen<br />

streckte sie sich. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie sich auf dem langen Weg durch die Dunkelheit<br />

verkrampft hatte. Unruhig sah sie sich zum Rand der Schlucht um, als könnte etwas über den Rand<br />

heraufkriechen. Es war aber auch eine eigenartige Nacht heute. Sie grub in ihrem Beutel nach dem<br />

großen Schlüssel zur Eingangstür, fand ihn und schob ihn ins Schloß. Aber ehe sie die Tür hinter sich<br />

zuzog, sah sie noch einmal hinaus. Es war die Stille. Eine ungewöhnliche Stille für diese Zeit in der<br />

Unterstadt von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>.<br />

���<br />

Airan schreckte auf. Verwirrt sah sie sich in der stockdunklen Kammer um und streckte ihre<br />

schmerzenden Glieder. Einen Augenblick fragte sie sich, was sie hier tat. Dann fiel ihr der kranke<br />

Mann wieder ein. Aber es war so dunkel … die Kerze war offenbar von einem Luftzug gelöscht<br />

worden. War sie bei der Krankenwache eingeschlafen? Mußte wohl so sein. „Süßes Hale! Ich hätte<br />

uns das Dach über dem Kopf anzünden können!“ Langsam tastete sie um sich: Wo hatte sie nur die<br />

verflixte Kerze hingestellt? Sie berührte im Dunkeln den Arm des Mannes und zuckte mit einem<br />

Fluch zurück. Er glühte vor Fieber. „Verdammt, verdammt, verdammt. Ich habe so gehofft, wir hätten<br />

es geschafft.“<br />

Sie suchte noch hektischer nach dem tönernen Kerzenhalter und erinnerte sich schließlich, daß sie ihn<br />

auf dem Tisch abgestellt hatte. Dort war er auch. Aber … Airan zögerte. Wann bin ich<br />

heraufgestiegen, um Krankenwache zu halten? Es mußte schon ziemlich spät gewesen sein, wir haben<br />

erst gegessen, als Viril aus der Oberstadt zurückkam, und danach haben wir noch ewig geredet …<br />

Vorsichtig tastete sie über den Tisch hinweg bis zum Fenster, entriegelte es und öffnete die Läden. Es<br />

blieb jedoch unverändert dunkel wie zuvor: Sie starrte hinaus in eine finstere, sternenlose Nacht.<br />

„Unmöglich!“ dachte Airan und tastete nochmals zurück zu ihrer Kerze. Aber sie hatte sich nicht


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

getäuscht. Die Kerze war nicht von einem Luftzug gelöscht worden. Sie war bis in die tönerne<br />

Halterung hinein heruntergebrannt. Mehr noch. Das Wachs war bereits kalt. Etwas wie ein kalter<br />

Luftzug fuhr durch das Fenster herein, und Airan schloß mit klammen Fingern die Läden.<br />

Der Mann auf dem Bett stöhnte, und Airan schüttelte wild den Kopf. Nacht oder nicht Nacht, sie<br />

mußte ihm helfen. Immerhin war dieses Haus nicht so groß, daß sie nicht ohne Licht nach unten fand.<br />

In ihrem Zimmer befanden sich nicht nur die notwendigen Kräuter, Pasten und Tinkturen sondern<br />

auch frische Kerzen.<br />

Es dauerte jedoch einige Zeit, bis sie eine ausreichende Anzahl von Kerzen gefunden hatte, um ihren<br />

Arbeitsraum ausreichend zu beleuchten. „Verdammt, verdammt, verdammt!“ fluchte Arian leise.<br />

Hätte sie nur die Lieferung, die das Mutterhaus geschickt hatte, schon gestern ausgepackt! Statt<br />

dessen mühte sie sich jetzt, im flackernden Kerzenschein die spinnwebfeine Tintenbeschriftung zu<br />

entziffern, die die einzelnen Päckchen kennzeichnete. Glücklicherweise war die hölzerne Kiste<br />

sorgsam mit Wachstuch ausgeschlagen, um zu verhindern, daß die Sendung Feuchtigkeit zog - und die<br />

Beschriftung nicht verwischte.<br />

„Weidenrinde, Weidenrinde, Weidenrinde. Die können doch nicht vergessen haben, mir Weidenrinde<br />

zu schicken!“ Airan wühlte tiefer in der Kiste. „Ringelblume - auch nicht schlecht. Aber erst einmal<br />

brauche ich … Was ist das hier? Hm … gelbe Schlüsselblumen … nein, das ist jetzt nicht das richtige<br />

…“ und das Päckchen landete in der Ecke des Raums. „Oh, fantastisch, Holunderblüten … und hier,<br />

Johanniskraut … Wo ist nur die dreifachgehämmerte Weidenrinde?“<br />

„Was tust Du denn da?“<br />

Airan fuhr herum. In der Tür stand Rain, bereits gewaschen und geschniegelt, wie es aussah. Sie trug<br />

unglaublicherweise sogar ihre Flügelhaube. „Dem Mann geht es schlechter. Ich brauche dringend die<br />

Weidenrinde, die ich beim Mutterhaus bestellt habe und kann sie nicht finden!“ Hektisch wühlte<br />

Airan weiter, mittlerweile mußte sie sich bis zur Leibesmitte in der Holzkiste beugen. Rain seufzte,<br />

nahm sich eine der vielen Kerzen vom Tisch und beugte sich zu den verstreut herumliegenden<br />

Päckchen hinunter. Beim Aufsammeln sortierte sie diejenigen zusammen, die mit gleichen<br />

Markierungen versehen waren. Dann stutzte sie.<br />

„Weidenrinde, Airan. Hier sind zwei … nein, drei Päckchen davon. Du mußt sie übersehen haben.“<br />

„Süßes Hale! Entschuldige, ja, ich weiß ja, 'Ordnung ist das halbe Leben' und so weiter, aber ich habe<br />

es fürchterlich eilig …“ Rain faßte sie am Arm. „Du wirst doch sicherlich noch andere Dinge für<br />

seine Behandlung brauchen, nicht?“<br />

„Ja, bestimmt. Aber er hat fürchterlich hohes Fieber - das muß von der entzündeten Wunde kommen.<br />

Also muß ich das zuerst tun …“ Sie schnappte sich das Päckchen aus Rains Hand und war schon auf<br />

halbem Weg zur Tür, bis die Bibliothekarin sie zu fassen bekam. „Halt doch einen Augenblick still!<br />

Süßes Hale, glaubst Du ich kann weiter nichts als Lesen und Schreiben? Sag' mir, was mit dieser<br />

Rinde geschehen soll, und ich kümmere mich darum, während Du zubereitest, was Du sonst noch<br />

brauchst.“ Airan sank einen Moment gegen sie, holte tief Luft und nickte dann. „Du hast recht. Ich<br />

habe das alles schon hundertmal getan, ich weiß gar nicht, warum ich jetzt so in Panik gerate …“<br />

„Es ist immer noch stockdunkel draußen. Hast Du das gemerkt?“<br />

„Ja, sicherlich, aber ich muß zuerst diesem Mann helfen …“<br />

„Natürlich. Selbstverständlich hat dieser Umstand auch nichts damit zu tun, daß Du hier<br />

herumspringst wie ein Huhn ohne Kopf, oder?“ Sie faßte nach Airans Arm und führte sie zu einem<br />

kleinen Hocker, der in der Ecke stand. „Jetzt setzt Du Dich zwei Minuten hin und erklärst mir, was<br />

ich zu tun habe. Ich werde alles genau so machen, wie Du es mir sagst, während Du fertigmachst, was<br />

immer dir nützlich erscheint. Und dann werden wir uns mit Viril in die Küche setzen und über diesen<br />

unglaublich dunklen Tag reden. In Ordnung?“<br />

Airan holte tief Luft. Sie streckte ihre Hand aus und erschrak über das starke Zittern. Langsam, dachte<br />

sie und zwang sich, ihre Atmung zu kontrollieren. Ganz langsam. Ein - aus. Nochmal. Ein - aus.<br />

Besser, viel besser, so. „Also gut“, sagte sie, „Du brauchst … laß' sehen … Weidenrinde natürlich,<br />

aber auch das Paket mit Holunderblüten, daß dort drüben auf dem Tisch liegt. Und … ja, wenn wir<br />

noch Wacholderbeeren in der Küche haben, dann die auch. Dann bringst Du … sagen wir, zwei von<br />

den großen Waschkannen voll Wasser zum kochen und wirfst alles hinein - für … für“, sie rieb sich<br />

die Augenbrauen, „ach, eben bis das Wasser eine kräftige Färbung angenommen hat. Wenn Du alles<br />

durch ein Tuch geseiht hast, habe ich wenigstens schonmal den fiebersenkenden Tee.“


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

Rain drückte nochmal leicht ihren Arm. „Sehr gut. Ich werde mich darum kümmern.“ Schützend hob<br />

sie die Hand vor die Kerzenflamme, als sie mit schnellen Schritten durch die Tür ging. Airan fuhr sich<br />

über die Stirn. Vielleicht hatte sie sich in Rain getäuscht. Jedenfalls hatte sie gerade eben nicht wie<br />

der weltfremde Bücherwurm reagiert, für den sie sie gehalten hatte. „Johanniskraut. Johanniskraut.<br />

Ringelblumen. Schafgarbe, wenn ich welche finden kann. Frühlingsteufelsauge wäre eine feine Sache,<br />

aber ich glaube … doch! Ich habe noch irgendwo ein Bündel … Wenn ich diese Entzündung nicht in<br />

den Griff bekomme, wird sein Herz jede Unterstützung brauchen, die es kriegen kann …“ Sie sprang<br />

auf und begann mit der Arbeit.<br />

���<br />

„Wie geht es ihm?“ Viril sah mit Besorgnis, wie blaß die Chirurgin um die Nase war. „Nicht gut,<br />

Mutter Oberin. Gar nicht gut. Wir haben ihm den Tee eingeflößt, der sollte sein Fieber ein wenig<br />

senken, wenigstens für kurze Zeit. Im Augenblick versuche ich, ob ich die Entzündung seiner Wunde<br />

mit einem Breiumschlag eindämmen kann. Außerdem hilft mir Rain dabei, ihn immer, ihn kühl zu<br />

halten. Wenn das alles nicht hilft …“ Sie sank am Waschtrog in der Küche ein wenig in sich<br />

zusammen. „… wenn das nicht hilft, dann … dann werde ich ihn nochmal aufschneiden müssen.“<br />

„Setz' Dich jetzt erstmal, Kind. Wenn Du vor Müdigkeit zusammenklappst, bist Du dem Mann keine<br />

große Hilfe.“<br />

Rain stellte eine dampfende Tasse Tee vor Airan auf den Tisch. „Apropos Hilfe. Denkst Du nicht,<br />

Airan, Du könntest ebenfalls etwas Hilfe gebrauchen? Professionelle Hilfe, meine ich?“ Müde sah die<br />

Chirurgin zu ihr auf. „Was meinst Du damit?“ Vorsichtig jetzt, dachte Rain. „Nun … vier Hände sind<br />

besser als zwei und zwei Köpfe haben mehr Ideen als einer.“ Airan funkelte sie über den dicken<br />

Steingutrand ihrer Tasse an und setzte sie dann mit einem scharfen Knall auf den Tisch. „Eine<br />

Heilerin, meinst Du, ja? Eine Hokuspokus-Tante? Und Du denkst ernsthaft, ich würde so einer<br />

erlauben, sich an einem meiner Patienten zu vergreifen?“<br />

„Airan,“ Viril griff nach ihrer Hand, „beruhige Dich. Es gibt sehr tüchtige Heilerinnen. Es mag sogar<br />

sein, daß Dir die eine oder andere etwas voraus hat.“ „Ich habe bei den besten Ärzten von Hale<br />

gelernt! Niemand hat seine Ausbildung so schnell abgeschlossen wie ich!“<br />

„Das meinte ich nicht, Kind. Manche von den Heilerinnen haben … nun, besondere Kräfte.“<br />

„Ach ja? Hast Du schonmal eine getroffen? Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ Sie fuhr zu Rain<br />

herum. „Wenn Du helfen willst, bleib' mir mit Deinen gutgemeinten Ratschlägen vom Leib und hilf<br />

mir lieber, wenn ich den Mann nochmal operieren muß!“<br />

Mit wehenden Gewändern rauschte sie durch die Tür. Viril seufzte. Rain zuckte die Schultern. „Ich<br />

mußte es doch versuchen, oder, Mutter?“ Viril nahm einen Schluck Tee. „Vielleicht kommt sie zur<br />

Vernunft. Versuch' es später nochmal.“<br />

���<br />

Rain starrte nach draußen. Es war so still. Man sollte meinen, wenn der Tag zur Nacht wird, müßte<br />

man panische Menschen hören, die mit Laternen durch die Gassen laufen, oder den Marschtritt der<br />

ausrückenden Stadtgarde. Schließlich, für die - nun, nicht so seriöse Einwohnerschaft von <strong>Elek</strong>-<br />

<strong>Mantow</strong> sollte die Finsternis die idealen Arbeitsbedingungen bieten. Aber es war still. So still, als<br />

wären sie allein hier zurückgeblieben. Sie wollte einen der Fensterläden öffnen, um hinauszusehen, in<br />

der Hoffnung, vielleicht die Lichter der Kaserne sehen zu können - das wäre eine Beruhigung. Aber<br />

ihre Finger zögerten und verkrampften sich um die Riegel. Einen Augenblick blieb sie so stehen und<br />

schauderte. Sie brachte es nicht über sich. Dies war wahrhaftig eine schwarze Nacht.<br />

Ein Hämmern an der Tür riß sie aus ihren morbiden Gedanken. Sie lief in den Flur und wollte schon<br />

öffnen, als Virils Stimme sie zurückhielt. „Warte!“ Die Mutter Oberin schritt an ihr vorbei, in der<br />

Hand hielt sie eines der großen Fleischmesser aus der Küche. Sie hat recht, dachte Rain verkrampft.<br />

Sie hat recht. Wer weiß, was da aus der Nacht heraus zu uns hinein will. „Wer ist da?“<br />

„Öffnet, äh, Dame. Hauptmann Larkur schickt uns auf Patrouille und trug uns auf, nach Euch zu<br />

sehen.“ Viril öffnete die Tür. Schattenhaft waren die Umrisse zweier Stadtgardisten zu sehen. „Ist bei<br />

Euch alles in Ordnung, Damen?“ „Ja, Soldat. Alles ist gut, bei uns. Aber wie steht es mit dem Rest<br />

der Stadt?“ Der Gardist trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Nicht sicher für Euch, Damen.<br />

Viel Arbeit für uns. Bitte bleibt im Haus, hier wird Euch am wenigsten geschehen. Nehmen wir an.“


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

„In Ordnung Soldat. Und sendet dem Hauptmann unseren Dank für seine Besorgnis. Und auch Euch<br />

unseren Dank. Wir haben Tee, wollt Ihr…?“<br />

„Nein, Danke, Dame. Wir müssen weiter. Gebt acht und haltet die Läden geschlossen.“<br />

„Das werden wir tun. Viel Glück.“ Sorgfältig verriegelte Viril die Tür. „Sind alle Fensterläden<br />

geschlossen? Auch die bei Dir auf dem Dachboden?“ Rain nickte.<br />

���<br />

„Airan!“ Viril stieß die Tür zum Arbeitsraum der Chirurgin auf. Ungeduldig schlug die Gerte an ihren<br />

Rock. Die kleine Schwester sah von dem Mörser auf, in dem sie irgendetwas zerstieß. Innerlich<br />

erschrak Viril über die tiefen Ringe unter den Augen des Mädchens. Die Haut sah selbst in goldenen<br />

Kerzenlicht staubgrau aus. „Was tust Du da?“ „Arnika zerstossen. Sehr viel Arnika. Es wird nicht<br />

besser, das Fieber geht nicht 'runter. Ich muß, ich muß …“<br />

Sie schluckte. „Du willst ihn nochmal operieren? In Deinem Zustand? Süßes Hale, Du mußt von allen<br />

guten Geistern verlassen sein! Wie lange hast Du nicht mehr geschlafen?“<br />

Airan fuhr herum und schrie: „Das weiß ich nicht - wie auch, wo es doch einfach nicht mehr Tag<br />

werden will! Verstehst Du nicht? Ich, ich habe ihn aufgeschnitten in diesem Dreckloch! Und weil ich<br />

nicht Verstand genug hatte, das Risiko einzugehen und ihn hierher zu bringen wird er jetzt vielleicht<br />

sterben!“<br />

„Still!“ Virils Stimme peitschte durch den Raum und die Chirurgin zuckte zusammen, als habe sie ein<br />

körperlicher Hieb getroffen. „Die Frage ist: Wird er es noch ein paar Stunden durchstehen, oder mußt<br />

Du das Risiko eingehen in aufzuschneiden, wenn Du kaum gerade stehen, geschweige denn die Hände<br />

lange genug ruhig halten kannst, um einen geraden Schnitt anzusetzen?“ Airan wandte sich ab. „Ich<br />

weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht. Sicherlich wird er in den nächsten paar Stunden nicht sterben,<br />

aber vielleicht wird er zu schwach für eine neue Operation sein. Vielleicht auch nicht.“<br />

„So. Du weißt es nicht. Dann werde ich Dir zumindest diese Entscheidung abnehmen. Ich werde jetzt<br />

neben Dir stehen bleiben und nicht weichen, bevor Du Dir nicht selbst ein angemessenes Schlafmittel<br />

zubereitet hast. Dann werde ich überwachen, wie Du Dich in Deinem eigenen Bett zur Ruhe legst und<br />

Dich einschließen. Und dann wirst Du so lange schlafen, bis wir Dich wecken. Und das kannst Du als<br />

Befehl betrachten.“<br />

„Mutter Oberin…“<br />

„Keine Widerrede. Ich selbst werde bei Deinem Patienten Wache halten. Du kannst unbesorgt sein,<br />

sollte sich an seinem Zustand etwas verändern, werde ich Dich wecken. Also, los.“<br />

Airan wälzte sich unruhig auf ihrem Bett hin und her. Schließlich setzte sie sich auf. Jeder Muskel tat<br />

ihr weh, und sie hatte ein Gefühl, als seien Ihre Augen mit Watte ausgestopft. Zögernd griff sie nach<br />

der Wachstafel, die Rain wohl auf ihren Nachtisch gelegt hatte. Dort stand nur ein Name. Aber Airan<br />

wußte, wer das war. „Vier Hände sind besser als zwei. Zwei Köpfe haben mehr Ideen als einer.“ Sie<br />

hörte Rains ruhige Stimme nochmal. Die Frau, deren Name hier stand, und auch, wie sie zu finden<br />

war, war das Weib des Hauptmanns. Er hatte den kleinen Schwestern nur Gutes getan. Konnte seine<br />

Frau eine Quacksalberin sein, die mit dem Leben ihrer Patienten spielte? Airan umklammerte das<br />

Täfelchen so fest, daß ihre Finger sich in das gehärtete Wachs gruben. „Vier Hände … zwei Köpfe<br />

…“ unaufhörlich hallten Rains Worte durch Airans leergefegtes Hirn. „Vier Hände … zwei Köpfe<br />

…“ „Was kann es schaden?“ flüsterte ein verräterisches Stimmchen in ihrem Hinterkopf, „was kann<br />

noch verdorben werden?“ Ja, was?<br />

���<br />

Viril stieß die Läden auf. Es war noch immer dunkel. Rain rieb sich müde die Augen. Sie hatte die<br />

Wundhaken gehalten, während Airan arbeitete, als hinge ihr Leben davon ab.<br />

Ihr Magen schmerzte vor Hunger, aber sie brachte keinen Bissen über die Lippen. Zu deutlich sah sie<br />

noch das Bild vor sich, wie Airan den Leib des Mannes geöffnet hatte, den gelb-grünen Eiter, der<br />

ihnen entgegensuppte. So viel davon, daß Airan einen Teil mit einem kleinen Löffel ausschöpfte.<br />

Aber das war bei weitem nicht das schlimmste gewesen. Die Wunde lag nahe bei den Eingeweiden<br />

und roch entsprechend. Und, so hatte Airan ihr gepreßt erklärt, es reichte nicht, die<br />

entzündungshemmende Lösung aus Arnika und Alkohol überall zu verstreichen. Zuvor mußte der<br />

Eiter beseitigt werden, oder die Entzündung würde in wenigen Stunden wieder durchbrechen. Rain


Eine Art von Nacht - Jeanette Kaz<br />

schüttelte sich, konnte aber nicht verhindern, daß sie vor ihrem inneren Auge immer wieder von<br />

neuem sah, wie die Chirurgin ein Röhrchen nahm, es in die Wunde schob, dorthin, wohin sie weder<br />

mit dem Löffel noch mit dem alkoholgetränkten Leinenstück gelangen konnte, und vorsichtig zu<br />

saugen begann. Es hatte Rain all ihre Kraft gekostet, in diesem Augenblick nicht die Wundhaken<br />

fahren zu lassen und sich zu übergeben.<br />

Viril seufzte. „Geh' ins Bett, Rain.“<br />

„Ja. Das sollte ich wohl.“ Eine Weile schwiegen die beiden Frauen.<br />

„Wo ist sie?“ fragte Viril schließlich. Rain fuhr sich über die Stirn. „Ich weiß nicht.“<br />

„Das ist nicht gut,“ murmelte Viril vor sich hin, „gar nicht gut.“<br />

Airan stand dicht am Rand der Schlucht und sah hinuntern. Wie immer, wenn sich eine solche Tiefe<br />

vor ihr auftat, fühlte sie ein saugendes, wirbelndes Gefühl, daß von ihrem Sonnengeflecht einen<br />

Strang dort hinabwob, an dem es sich wunderbar hinabgleiten lassen müßte. Der Wind kühlte ihren<br />

feuchtgeschwitzten Nacken. Einen Augenblick schwankte sie am Rande der bodenlossen Schlucht, die<br />

sich in scharfzähnigen Abbrüchen vor ihr auftat. Langsam, ganz langsam, ließ sie sich zurückfallen<br />

und setzte sich.<br />

Sie legte den Kopf in den Nacken, kniff die Augen zusammen und sah zu einrt Fackel auf der anderen<br />

Seite der Schlucht hinüber. Sie streckte den rechten Arm aus und formte aus Zeigefinger und Daumen<br />

einen Kreis, sah hindurch auf das Licht der Fackel. „Wenn ich auf Rain gehört hätte, Himmel, wenn<br />

ich auf sie gehört und nach der Frau des Hauptmanns gesucht hätte … Wenn ich sie also gesucht<br />

hätte, Licht, wenn ich sie gesucht und gefunden hätte im Entsetzen dieser unirdischen Nacht, Flamme,<br />

wäre er dann am Leben geblieben?


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

Der Ruf der Falken<br />

Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

Die Frau verhielt ihr Pferd und sah sich um. Dankend klopfte sie der Stute, die sie scheinbar ohne<br />

Mühen bis hierher getragen hatte, den Hals. Es war kein wirklich beschwerlicher Aufstieg bis in die<br />

Berge gewesen. Wie sollte es denn auch, es war ja Frühling, sogar schon Hamilé, die schönste Zeit im<br />

Jahreslauf - alles erblühte, wuchs und gedieh, um die junge Frau pulsierte das Leben. Und so ein<br />

schöner Morgen war es, wie sehr hatte sie sich schon während ihres Rittes erfreut an dem Anblick<br />

sprudelnder Quellen und grünender Wiesen.<br />

Es knackte mehrmals hinter ihr im Unterholz. Ein Hirsch trat mit seinem Harem neben ihr aus dem<br />

Hochwald heraus. Sie sandte ihm einen stillen Gruß. Das Tier senkte sein majestätisches Haupt wie in<br />

Antwort ihr zu und passierte die Reiterin, die ihm und seinen Damen mit deren Jungtieren, alle ohne<br />

jede Scheu, nachblickte.<br />

Sie ließ ihren Blick schweifen über die umliegenden Gipfel. Viele waren noch schneegekrönt, viele<br />

würden es das ganze Jahr über bleiben, das wußte sie. Ihr Blick wanderte weiter, bis zu der gewaltigen<br />

Spalte die die Landschaft hier zerteilte, zu der trutzigen Brücke die die Spalte überspannte und zu den<br />

darumliegenden Häusern. Ja, sechs Jahre war es nun schon her, sechs lange Jahre, seit sie zu Fuß, als<br />

mittellose Waise, mit wenig mehr als einem Bündel, die schmutzigen Gassen der sich ihren Blicken<br />

darbietenden Stadt verlassen hatte - <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>.<br />

Als sie ihrem Pferd bedeutete die Richtung der Stadt einzuschlagen, da wußte sie genau, was sie dort<br />

finden würde - auch nach sechs Jahren. Sie würde Armut, Schmutz, Gewalt und Ungerechtigkeit<br />

begegnen, hoffentlich aber auch die Menschen, mit denen sie vor diesen Jahren Armut, Schmutz,<br />

Gewalt und Ungerechtigkeit gemeinsam getrotzt hatte.<br />

Alles würde sich finden... alles fließt... der Wandel ist unaufhaltsam...<br />

Sie fragte sich, was in aller Welt sie dazu hatte bringen können, hierher zurück zu kommen. Irgend<br />

etwas hatte sie in eine innere Unruhe versetzt, die erst mit abnehmender Entfernung zu <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

geringer wurde. Es war ihr, als hätte sie den Ruf eines jagenden Falken vernommen, der sie hierher<br />

befahl.<br />

Sie lenkte ihr schwarzes Pferd auf die Häuser zu. Sie blieb diesseits der großen Spalte, die die Stadt<br />

unabänderlich in eine südliche und eine nördliche Hälfte trennte. Die natürlich gegebene Trennung<br />

konnte sie ja noch hinnehmen, aber was sich durch die Spalte nicht hätte ergeben dürfen war die<br />

vorhandene Trennung in eine elitäre Oberschicht und den Bodensatz der Gesellschaft, wie es die<br />

Oberschicht gerne formulierte.<br />

���<br />

„Herrje, ist das heiß!“, dachte die junge Frau, „ich hatte ganz vergessen, wie warm es hier schon im<br />

Hamilé werden kann.“ Na ja, kein Wunder! Sechs Jahre waren nunmehr vergangen, seit sie <strong>Elek</strong>-<br />

<strong>Mantow</strong> verlassen hatte - eigentlich für immer, wie sie damals gehofft hatte. Denn so schön manche<br />

Erinnerung an Freunde und Erlebnisse aus Kindheit und Jugend auch sein mochte - den Beinamen<br />

„Das Rattenloch“ trug die Südstadt, vom reicheren Teil <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s durch eine schier bodenlose<br />

Erdspalte getrennt, nicht von ungefähr. Aus der Zeit, als sie zusammen mit den anderen Kindern die<br />

Straße unsicher gemacht hatte, waren genug Narben auf Leib und Seele geblieben. Es war<br />

unwahrscheinlich, daß sich während ihrer Abwesenheit auch nur das geringste an den Zuständen dort<br />

verändert hatte - eher würde ein Kasralit bei einer Größe von zwei Tritt aufhören zu wachsen, als daß<br />

sich im Rattenloch etwas zum besseren hin wenden würde. Und trotzdem war sie zurückgekehrt, und<br />

sie hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, was sie so urplötzlich hierhin getrieben hatte. Es war ihr<br />

allerdings, als hätte sie den Ruf eines jagenden Falken vernommen, der sie hierher befahl.<br />

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Selbst für Hamilé, dem an sich wärmsten und schönsten<br />

Monat des ganzen Frühjahres, war es extrem warm. Sie verhielt den Schimmel, der in den letzen<br />

Jahren ihre treuer Begleiter geworden war - ein wahrhaft königliches Geschenk! -, um den langen<br />

Umhang zusammenzurollen und in die Satteltaschen zu stopfen - zu ihrer übrigen Winterkleidung aus<br />

Fellen von Silberwolf, Eisbär und Schneehase. Ein Glück, daß die Ärmel der roten Tunika, die sie<br />

unter ihrem Lamellenpanzer trug, abnehmbar waren. Der Anblick, der sich einem heimlichen<br />

Beobachter geboten hätte, war in der Tat beeindruckend: Eine schlanke und doch muskulöse junge<br />

Frau, mit hüftlangem schwarzen Haar, zu einem nach vorn über die rechte Schulter hängenden Zopf


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

geflochten, grüne Augen und leicht gebräunter Teint. Dazu erblickte man, neben dem<br />

Lamellenpanzer, auch mehrere Waffen, die einen durchaus gepflegten, aber auch benutzten Eindruck<br />

machten<br />

���<br />

Selten war der Bergmeister so überrascht gewesen. Gestern Abend hatte die junge Frau die Höhle<br />

betreten, und sich einfach nahe des Eingangs zur Ruhe gebettet - ohne irgendwelche<br />

Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, geschweige denn, die Höhle überhaupt genauer in Augenschein zu<br />

nehmen. Ihr schien es nur darauf anzukommen, wettergeschützt nächtigen zu können - über<br />

irgendwelche nächtlichen Zwischenfälle schien sie sich nicht einmal Gedanken zu machen. Ihr Pferd,<br />

ein aschgrauer Hengst, hatte ebenso friedlich am Eingang übernachtet, und da die junge Frau - nach<br />

dem Ermessen des Bergmeisters - weder weiter in die Höhle vordringen zu wollen schien, noch daß<br />

ihn ihre Anwesenheit störte, hatte er beschlossen, sie dort in Ruhe schlafen zu lassen.<br />

Es waren die zweiten Sonnenstrahlen des vierten Hamilé, die durch ein Loch in der Höhlendecke auf<br />

das Gesicht der am Höhleneingang liegenden jungen Frau fielen. Sie blinzelte erst einmal, räkelte sich<br />

ausgiebig und stand schließlich auf. Als sie aus der Höhle trat, bot sich ihr ein grandioser Anblick:<br />

Die Sonne mehr oder weniger im Rücken, hatte sie von ihrer leicht erhöhten Position aus einen<br />

Ausblick auf <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> - die Stadt, die sie nun nach sechs Jahren der Abwesenheit wiedersehen<br />

würde. Drei Jahre war sie zur Akademie gegangen, zwei weitere auf Wanderschaft gewesen, wie es<br />

das Protokoll verlangte, und eines letztendlich hatte ihr dann die erstrebte Meisterprüfung beschert,<br />

welche sie mit Bravour, wenn auch nicht ohne Komplikationen bestanden hatte. Jetzt hatte sie irgend<br />

etwas dazu veranlaßt, hierher zurückzukehren - ja, es war, als habe sie den Ruf eines jagenden Falken<br />

vernommen, der sie hierher befahl.<br />

���<br />

Die junge Frau saß auf einem Felsvorsprung und schaute durch ein Fernrohr. Da lag es also, getaucht<br />

in die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings - <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Zufrieden grinsend steckte sie das<br />

Fernrohr wieder ein und sah sich weiter um. Aus ihrer Perspektive war die Spitze des Felsvorsprungs<br />

durch ihre Beine verdeckt, so daß es aussah, als schwebe sie in der Luft. Lange betrachtete sie die<br />

Stadt noch einmal ohne Fernrohr. Viel hatte sich nicht verändert in den letzten zwei Jahren. Das<br />

Rattenloch war immer noch dasselbe, eine wilde Zusammenstellung von schmutzigen und<br />

windschiefen Hütten und Häusern. Die eine oder andere Hütte mochte verschwunden oder dazu<br />

gekommen sein, aber im Rattenloch machte das keinen großen Unterschied.<br />

„Na dann!“, sagte die junge Frau zu sich selbst. Sie sprang von dem Felsvorsprung einige Tritt in die<br />

Tiefe , direkt in den Sattel ihrer Fuchsstute und ließ das Tier zügig antraben.<br />

Seltsam, dachte sie während sie ritt, wie kommt es nur, daß ich hierher zurückkehre nach all dem?<br />

Nun ja, eine so schlechte Zeit hatte sie hier ja auch nicht gehabt, aber dennoch... die merkwürdige<br />

Unruhe, die sie getrieben hatte zurückzukehren wunderte sie. Es war ihr, als hätte sie den Ruf eines<br />

jagenden Falken vernommen, der sie hierher befahl.<br />

���<br />

Die junge Frau mit dem schwarzen, in zwei langen Zöpfen gebändigten Haar, und den grünen Augen<br />

ritt von Südwesten ein in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Hier gab es keine Stadttore, keine Stadtmauern. Wen scherte<br />

es denn schon, wenn hier die kleinen Häuser und Hütten schutzlos standen, oder die Winterstürme mit<br />

ungebremster Wucht durch die schmutzigen Gassen stürmen konnten, um die Bettler vor sich hin zu<br />

treiben. Das Leben war schwer hier in der Unterstadt, dem Rattenloch. Vielleicht...<br />

Es war später Vormittag, als sie die ersten Hütten links und rechts neben sich zurück ließ. Das<br />

Rattenloch sah aus wie an dem Tag, an dem sie die Stadt verlassen hatte - und doch war es auch<br />

wieder ein gänzlich anderes Bild. Hütten wurden aufgebaut, umgebaut, abgerissen und anderweitig<br />

neu errichtet, das Rattenloch war ein ungeordneter Haufen - aber es war lebendig. Die junge<br />

Schwarzhaarige suchte nach weiteren Zeichen, suchte sie überall, und wurde fündig. Dort sah sie eine<br />

junge Frau mit einem kleinen Kind spielen, ein alter Mann pflegte seinen mageren Garten, eine andere


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

Frau saß vor der Tür ihrer Hütte und webte einen bunten Stoff, während zwei rothaarige Jungen,<br />

Zwillinge, sie im Spiel umtobten. An einer anderen Stelle sah sie die Ruine einer abgebrannten<br />

Holzhütte. Auch hier Leben, in ihren Trümmern hatte sich ein junges Bäumchen angesiedelt, Gräser<br />

reckten sich empor, eine Eidechse sonnte sich in den ersten warmen Strahlen des Tages.<br />

Immer tiefer trug ihre Rappstute sie durch winklige Gassen in die Unterstadt, tief hinein in das Herz<br />

des Rattenlochs, und verwunderte Blicke sandte man ihr nach. Die junge Frau, hoch zu Roß, in<br />

sauberen weißen, grünen und blauen Gewändern, gänzlich unbewaffnet bis auf einen mit einer<br />

seltsamen Zierde versehenen, langen Wanderstab, war scheinbar ohne jede Furcht. Sie störte sich<br />

nicht an den Blicken der Passanten und ließ ihre grünen Augen ruhig wandern. Sie führte einfach ihre<br />

schwarze Stute durch die Gassen, lenkte sie, mehr unbewußt als mit Absicht, mitten durch das<br />

Rattenloch - an den kleinen Läden und den verkommenen Kaschemmen vorbei auf den östlichen Rand<br />

der Spalte zu.<br />

Auf ihrem Weg passierte sie auch das „Zweischneidige Schwert“, sie erkannte das Söldlingslokal aus<br />

ihrer Jugendzeit. Neben der Türe saß ein Bettler, ein alter Mann, früher wohl selbst einmal ein<br />

käuflicher Krieger, der in einem letzten Kampf sein rechtes Bein hatte einbüßen müssen. Der Mann<br />

saß ruhig dort, auf eine Gabe seiner Kameraden von einst hoffend. Gerade in dem Augenblick da die<br />

junge Frau sich näherte, traten zwei „Überbleibsel“ der vergangenen Nacht auf die Straße heraus, sich<br />

gegenseitig stützend, einen Bierkrug schwenkend. Der Veteran war nicht in der Lage, diesen<br />

torkelnden Gestalten schnell genug auszuweichen und so kam es, wie es kommen mußte. Einer der<br />

beiden stolperte, der andere wurde mitgerissen. Die beiden Betrunkenen nahmen dies zum<br />

willkommenen Anlaß, ein wenig herumzupöbeln und den fast wehrlosen Mann zwischen sich<br />

herumzuschubsen, und mit Bier zu besudeln. Die Frau brachte ihre Rappstute zum stehen, das<br />

Geplänkel versperrte ihr den weiteren Weg. Die beiden Söldner beachteten die Reiterin nicht, bis...<br />

„Werte Herren, hättet ihr wohl die Güte, mich passieren und den Mann in Frieden zu lassen?“ ertönte<br />

eine ruhige Stimme, die trotz des Gelächters der beiden Betrunkenen bis in den letzten Winkel der<br />

Straße zu tragen schien. Die beiden Männer ließen ab von dem Alten, der sich schnell auf seinen<br />

Krücken, in eine Gasse humpelnd, in Sicherheit brachte. Dies war das Rattenloch, wenn die junge<br />

Frau dort sich unbedingt einmischen wollte, so war es ihm Recht - er war durch sie nochmals<br />

davongekommen. Aber er hatte nicht das Bedürfnis sich auch noch anzusehen, was diese Kerle nun<br />

mit ihr machen würden. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an das schwarzhaarige<br />

Mädel.<br />

Verdutzt blickten sich die Männer an, eine junge Frau auf einem schwarzen Pferd hatte die Stirn, sie<br />

derart anzureden. Nun, so dachte sich der eine, hübsch war das Mädchen, von ihr würde er sich<br />

eigentlich ganz gerne einmal stören lassen. Ein Grinsen dämonischer Vorfreude stahl sich in sein<br />

Gesicht, als er seinen Kameraden anknuffte. Zwei Blicke, ein Nicken, von jeweils rechts und links der<br />

Gasse näherten sich die Männer der jungen Frau, die immer noch ruhig dort verharrte.<br />

„Habt Dank für das freundliche Erfüllen meiner Bitte.“, sagte die Frau mit ihrer sanften Stimme. Sie<br />

machte Anstalten, das Pferd zum Weitergehen zu veranlassen, aber von jeweils links und rechts<br />

packten kräftige Männerhände ihr in das Zaumzeug, so daß die Stute nervös zu Tänzeln begann.<br />

„Hüb..hübscher Schwarzzopf, nich soo eilig, wo möchdess Du denn hin?“, fragte der eine lallend, der<br />

eine Narbe auf der Wange trug. Eklige Branntweinschwaden schlugen der Schwarzhaarigen entgegen,<br />

der Geruch nahm ihr fast den Atem.<br />

„Komm, steig ab, Du hast uns unseren Spaß gekostet, dafür möchten wir entschädigt werden.“, sprach<br />

der zweite, der noch lange nicht so betrunken schien, wie es sein Kumpan wohl war, und das machte<br />

ihn besonders gefährlich.<br />

„Du siehst noch dazu so aus, als könntest Du einen Mann besonders nett trösten - oder bist Du Dir in<br />

Deinen feinen Kleidern zu schade?“ Die letzten Worte kamen kalt, drohend, und der Mann begann,<br />

seine freie Hand unter den Rock der Frau wandern zu lassen.<br />

„Ich lege im Augenblick wirklich keinen Wert darauf, eure Gesellschaft zu teilen. Im Interesse eurer<br />

eigenen Gesundheit, werter Herr, rate ich euch, mein Pferd und mich in Frieden ziehen zu lassen.“<br />

Plötzlich hatte die Stimme des Mädchens eine ganz andere Qualität angenommen, scharf klang sie<br />

und scharf blickten auch die klaren, grünen Augen auf den Mann herunter. Der Narbige ließ sofort die<br />

Zügel fahren, irgendwie hatte er trotz seines schnapsschwadigen Hirns die Botschaft sofort


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verstanden. Er legte auf einmal mehr Wert auf ein Bett, in dem er seinen Rausch ausschlafen konnte -<br />

Allein.<br />

Irritiert blickte der andere seinem Kumpan nach, der sanft torkelnd entschwand. Um so besser für<br />

mich, war sein einziger Gedanke, um so besser, das Mädel gehört mir ganz allein. Unter dem Stoff des<br />

Rockes hatte er das Bein des Mädchens ertastet. Er wollte sie mit einem kräftigen Ruck aus dem<br />

Sattel und in seine Arme ziehen, doch weit gefehlt. Bevor er diesen Gedanken auch nur halb gedachte<br />

hatte, fand er sich in einem Misthaufen an einer Häuserecke wieder. Der Kerl wollte sich aufrappeln,<br />

doch dazu fehlte ihm die Luft. Plötzlich sah er funkelnde Sternchen vor seinen Augen und es überkam<br />

ihn eine Übelkeit, die nicht allein vom Bier und Schnaps stammen konnte. Wieder versuchte er<br />

aufzustehen, doch nicht nur daß er fast wie gelähmt dalag, die Schmerzen, die von seinem Unterleib<br />

ausstrahlten, wurden nur noch schlimmer. Mit den Augen, zumindest diese konnte er ohne Schmerzen<br />

bewegen, suchte er die Reiterin. Sie saß, immer noch wie er sie das letzte Mal erblickt hatte,<br />

regungslos auf ihrem Pferd und sah ihn an. Sie schien sich nicht bewegt zu haben. Als sein Blick den<br />

ihren traf, da lächelte sie sogar. Sie setzte ihre schwarze Stute in Bewegung und ritt auf ihn zu.<br />

„Ich denke Dein Benehmen gegenüber Damen wird sich in absehbarer Zeit merklich verbessern, mein<br />

Freund. Ach, und die Schmerzen, keine Sorge, sie dürften Dich nicht besonders lange plagen - aber<br />

sie sind dazu geeignet, daß man sich lange daran erinnert. Gehabt euch wohl.“ Sprach sie, nun wieder<br />

mit dieser herrlichen, sanften Stimme, und immer noch lächelnd lenkte sie die Stute um die nächste<br />

Häuserecke.<br />

Die schwarze Gestalt ließ den wurfbereiten Dolch mit einem schadenfrohen Schmunzeln zurück<br />

gleiten an seinen angestammten Platz. Es war schon lange her, daß er jemanden so schnell hatte mit<br />

einem Kampfstab umgehen sehen, noch dazu von einem Pferderücken aus. Shamino drückte sich<br />

wieder tiefer in die Schatten des Hauseinganges. Eigentlich hatte er dem Mädchen schon zu Hilfe<br />

kommen wollen - ihr Verhalten war ja mehr als nur sträflich leichtsinnig gewesen. Doch irgend etwas<br />

an ihr, ihre Haltung, ihr Aussehen und Gebaren hatte ihn davon abgehalten vorschnell einzugreifen.<br />

Sie war wie eine Wölfin, sie kannte ihre eigenen Fähigkeiten, und somit ihre Grenzen, und verwies<br />

die anderen in die ihrigen. Wölfin...er kannte diese Frau, das schwarze Haar, die grünen Augen, es<br />

war schon einige Jahre her...die Wölfin! Shamino schüttelte den Kopf und verschwand mit einem<br />

ungläubigen Lächeln in den Gassen der Unterstadt.<br />

���<br />

Die Frau hatte inzwischen den Reitumhang verstaut und den Schimmel zur Kuppe eines Hügels<br />

gelenkt, von dem sie freie Sicht auf die mittlerweile sehr nah vor ihr liegende Stadt hatte. Wenn sie<br />

sich ein wenig beeilte, würde sie noch vor Mittag in der Oberstadt sein. Der Gedanke, durch die<br />

Straßen der Oberstadt zu reiten und dabei die geifernden Blicke vor allem der männlichen<br />

Bevölkerung auf sich zu ziehen, behagte ihr gar nicht. Nicht, daß sie sich nicht problemlos etwaige<br />

„Verehrer“ hätte vom Hals halten können, aber sie hatte Angst, daß ihr Temperament ihr einen Streich<br />

spielen könnte und sie einem der Schnösel eine Abfuhr erteilen würde, die auf mehr als ein blaues<br />

Auge hinausliefe. Hinzu kam der Zoll, den sie würde bezahlen müssen, um über die einzige Brücke<br />

von der Oberstadt in die Unterstadt zu gelangen. Der heimliche Verbindungsgang wäre zu eng für sie<br />

und ihr Pferd. Andererseits hatte sie auch keine Lust, die Stadt zu umreiten und dadurch unnötig Zeit<br />

zu verlieren. Also: Durch die Oberstadt, Heimstatt der verhaßten Brut, die dadurch immer reicher und<br />

reicher wurde, daß sie die arme Bevölkerung dazu zwang, quasi für nichts in den umliegenden<br />

Erzstollen zu schuften. Wie sie diese Bastarde haßte! - Nein, nicht hassen: Sie zu hassen, hieße ihnen<br />

tausendmal mehr Aufmerksamkeit schenken, als sie verdienten. Verachten oder auch Nichtachten<br />

brachte es besser auf den Punkt.<br />

Nun hatten Sie und ihr Schimmel das Stadttor erreicht, und gegen die „geringe Gebühr“ von einer<br />

Goldsonne auch passiert. Sie folgten der Torstraße grade nach Süden, bogen einmal links und einmal<br />

rechts ab und waren auch schon auf der Brücke in die Unterstadt. Das Wachhaus am nördlichen Ende<br />

passierten Sie ohne Probleme. Erst am südlichen Tor, daß mit einer Mauer und einer Wachgarnison<br />

bestückt war, stellte sich der erwartete Ärger ein...


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„Naaaaaa, was will denn ein soo schönes Kind mit einem soo schönen Pferd in soo einem häßlichen<br />

Ort?“ Der Wärter betonte dabei daß „o“ in „soo“ und das „ä“ in „häßlich“ so, daß die junge Frau sich<br />

schon versucht fühlte zu fragen: „Und was will so ein süüüßes Bürschchen denn bei diesen harten<br />

Männern?“ Statt dessen antwortete Sie nur: „Freundschaftsbesuch.“<br />

„So so, Freundschaftsbesuch. Na, das macht dann nur drei Goldsonnen, weil ich heute meinen guten<br />

Tag habe und weil Ihr es seid.“ Sie wäre beinahe vom Pferd gefallen ob dieser Unverschämtheit.<br />

„Drei Goldsonnen? Werter Mann, vor sechs Jahren hättet Ihr keine acht Silbersonnen verlangt!“ „Nun<br />

ja, die Preise ändern sich halt, wie zum Beispiel just in diesem Moment: Vier Goldsonnen bitte!“ Das<br />

war zuviel für die junge Kämpferin. Ein Schenkeldruck, ein kurzer Ruf, und der Schimmel stieg auf<br />

die Hinterhufe und schlug mit den Vorderhufen dem Wachmann die Zähne aus. Seine Herrin zog das<br />

Schwert und preschte dann auf die Unterstadt zu. Ein Satz, dabei noch einer Wache das Schwert für<br />

eine schöne Narbe übers Gesicht gezogen, danach nichts wie in die Gassen des Rattenlochs! Da traute<br />

sich keine Wache hin, außer im Verband von 20 Mann aufwärts.<br />

Nach einer kurzen Flucht durch die Gassen hielt das Gespann aus Frau und Roß an und verschnaufte<br />

erst einmal. Verdammt, kaum zurück in diesem Kaff, und schon überkommen einen wieder die alten<br />

Gewohnheiten. Schon als Zwölfjährige hatte sie sich einen recht durchschlagenden Ruf verdient, als<br />

sich kein Junge (und auch kein Mädchen), der nicht mindestens vier Jahre älter und zwei Köpfe<br />

größer war, mehr traute, sich mit ihr auf eine Rauferei einzulassen - nur um sich von ihr binnen<br />

kürzester Zeit auf dem Boden festnageln zu lassen (Wobei sich für sie im Alter von 15/16 Jahren<br />

schon einmal das Problem ergab, daß sich wohl einige Jungen nur zu gern von ihr festnageln lassen<br />

wollten).<br />

Nun denn, jetzt, im Rattenloch angekommen, hieß es sich westwärts halten, dem Haus ihrer Zieheltern<br />

entgegen.<br />

���<br />

Sie wischte sich eine widerspenstige Strähne ihres langen, schwarzen Haares aus dem Gesicht, nur,<br />

damit ihr diese direkt wieder ins Gesicht fiel. Nun würde sie also wieder ihre Heimatstadt<br />

wiedersehen, mit all ihren liebenswerten Kleinigkeiten - ob sie wohl einige der Menschen, die ihr<br />

damals so viel bedeutet hatten, wiedertreffen würde? Sie stieg auf ihr Pferd, und richtete ihren Blick<br />

wieder auf <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Stieg dort vorne nicht Rauch auf? Und da waren auch einige Planwagen zu<br />

erkennen... sollten etwa - nein, es konnten nur Nushq´qai sein, die dort am südöstlichen Rand der<br />

Stadt lagerten, genau die Richtung, aus der sie kam. Sie lächelte. Was für eine angenehme<br />

Überraschung; sie mochte die Nushq´qai, hatte sie doch oft in ihren Jahren der Wanderschaft an ihren<br />

Lagerfeuern Platz nehmen dürfen, und dabei eine Menge Spaß gehabt. Sie versuchte, die<br />

widerspenstige Haarsträhne unter ihr leuchtend grünes Stirnband zu schieben, was allerdings<br />

ebenfalls mißlang. Egal, diese Strähne sollte wohl ihr Markenzeichen werden - und irgendwie, hatte<br />

sie das Gefühl, paßte das sogar zu ihr. Und außerdem konnte sie ihre Neugier auf das, was sich in der<br />

Stadt so getan hatte, kaum noch bändigen. Entschlossen, dem Abhilfe zu schaffen, beschleunigte sie<br />

das graue Temperamentsbündel, auf dem sie saß, in Richtung Stadt.<br />

Der Weg war schnell zurückgelegt; ihr Pferd hatte keine Probleme mit dem Gelände, und schon<br />

konnte sie aus der Ferne einige Pferde der Nushq´qai erkennen - kleine, schwarze Zotteltiere mit<br />

kuschelig weichem Fell, daran erinnerte sie sich noch gut. Sie hielt noch einmal an und blickte sich<br />

um. Schön war es hier, eine Wiese am Stadtrand, die von bunten Blumen übersät war. Bestimmt ein<br />

Dutzend Schmetterlinge flatterten hier herum - schöner hätte sie sich ihre Rückkehr kaum wünschen<br />

können. Sie atmete noch einmal tief durch, hier, wo die Luft noch angenehm sauber war - wenn sie<br />

erst mal die Südstadt von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, die ihren Beinamen „Rattenloch“ nicht zu Unrecht hatte,<br />

betreten hätte, wäre der Geruch bestimmt um einiges unangenehmer. Sie setzte ihr Pferd wieder in<br />

Bewegung, und ritt weiter auf die Stadt zu.<br />

'Eine interessante Erscheinung' hatte sich Sion gedacht, als die junge Frau die Lichtung betreten hatte.<br />

Ihre langen, offenen schwarzen Haare wehten im Wind, und ihre - wenn auch in harmonischer<br />

Farbabfolge - relativ bunte Kleidung bildete einen ziemlichen Kontrast zu dem grauen Pferd, das sie<br />

ritt. Ihr leuchtend grünes Stirnband, das farblich ihren Augen gleichkam, der feuerrote Umhang, und<br />

auch ihre Gewandung selbst, die Farbtöne von Purpur bis leuchtend Grün vereinte, hoben ihre


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Erscheinung schon recht deutlich hervor. Sion wunderte sich noch, was sie wohl in der Stadt wollte,<br />

als sie auch schon in ihre ursprüngliche Richtung weiterritt.<br />

Kurz vor dem Lagerplatz der Nushq´qai brachte sie ihr Pferd noch einmal zum stehen. Da war doch<br />

eine Bewegung im Unterholz zu ihrer linken gewesen...? Langsam und vorsichtig drehte sie den Kopf<br />

in die Richtung, aus der sie etwas vernommen zu haben glaubte, und wirklich, sie wurde beobachtet,<br />

von - einem Fuchs. „Du solltest dich eigentlich am wenigsten darüber wundern, daß ich noch lebe,<br />

werter Namensvetter.“ Der Fuchs blickte sie verständnislos an. Die junge Frau lachte. „Ach, wenn du<br />

mich verstehen könntest, das wäre schon was... du könntest mir vielleicht erzählen, was hier so in der<br />

Gegend passiert ist, seit ich nicht mehr als die Füchsin durch die Straßen des Rattenlochs gestreift<br />

bin... ach, jetzt schwelge ich schon wieder in Erinnerungen... wollen doch mal sehen, ob sich die nicht<br />

auffrischen lassen... mach´s gut, Gevatter Fuchs! Hüa!“ Und mit diesen Worten lenkte sie ihr Pferd im<br />

leichten Trab auf das Nushq´qailager zu. Zurück blieb ein etwas irritierter Fuchs, der sich wünschte,<br />

das, was er eben gehört hatte doch verstehen zu können. Es war ihm zwar noch nie passiert, daß ihn<br />

eins dieser großen Menschenwesen angesprochen hatte, aber dieses hatte offensichtlich seinen Spaß<br />

daran gehabt... Seltsam.<br />

Das Lager der Nushq´qai war auch nicht anders als die, die sie bisher gesehen hatte: Eine Wagenburg<br />

um ein großes Lagerfeuer herum, und jede Menge reges Treiben zu jeder Tages- und Nachtzeit, wie<br />

auch jetzt. Ein junger Mann saß beim Feuer und schnitzte etwas, wobei ihm eine junge Frau<br />

aufmerksam über die Schulter schaute; einige Kinder spielten Fangen; eine ältere Frau flocht gerade<br />

einen Korb. Es war schon über ein Jahr her, daß sie in einem Nushq´qailager zu Gast gewesen war,<br />

aber in diesem Moment kam es ihr wie gestern vor. Ein junger Mann kam auf sie zu, um sie zu<br />

begrüßen. „Seid gegrüßt, werte Dame. Kann ich euch vielleicht irgendwie behilflich sein?“ Die junge<br />

Frau mußte lächeln. Sie hatte diese Floskel mittlerweile schon ein paar mal gehört, und<br />

glücklicherweise hatte sie die 'richtige' Antwort im Gedächtnis behalten. „T´sh´awna d´jomé,<br />

Rjallek.“ Sie mußte kichern. Der Nushq´qai, der sie noch soeben forsch angesprochen hatte, mußte<br />

erst einmal seine Kinnlade wieder vom Boden aufsammeln. Eine Antwort in seiner Sprache hatte er<br />

wohl nicht erwartet, noch dazu die, die als Kennungsantwort der Freunde der Nushq´qai nur eben<br />

diesen bekannt war. Nachdem er wieder einen klaren Gedanken gefaßt hatte, wollte er sofort in<br />

Richtung eines der Wagen losspurten, wurde aber von der jungen Frau davon abgehalten. „Jark.<br />

Bw´temwe. Sh´houri temwe bw´fwlla, al sh´himbli zlat prjat.“ Der Nushq´qai drehte sich zu ihr um,<br />

zuckte mit den Achseln, nickte ihr dann zu und winkte ihr noch hinterher, als sie ihren Weg in die<br />

Südstadt <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s fortsetzte.<br />

Die 'Straßen' der Südstadt, wenn man sie denn als so etwas bezeichnen konnte, hatten sich nur in einer<br />

Hinsicht verändert: Sie waren noch schmutziger geworden und stanken noch bestialischer, so<br />

empfand sie es zumindest, was vielleicht aber auch daran lag, daß sie sechs Jahre keinen Fuß mehr in<br />

dieses Rattenloch gesetzt hatte. Einige kleine Gestalten huschten um eine Ecke - ja, an die Zeit, als sie<br />

noch genauso wie diese Kinder hier in der Südstadt auf der Straße gelebt hatte, daran konnte sie sich<br />

noch gut erinnern. Bei diesem Gedanken fiel ihr auf, daß ihre Kleidung für diesen Teil der Stadt ein<br />

wenig unpassend erscheinen mochte, aber das war ihr jetzt erst mal egal, schließlich war sie hier im<br />

Rattenloch aufgewachsen, also würde sie auch hier hindurch reiten, und außerdem hatte sie die<br />

arroganten Oberstädter noch nie gut genug ausstehen können, um freiwillig durch die Oberstadt zu<br />

flanieren; zumal, es hätte von dort aus sogar noch Brückenzoll gekostet, ihr Ziel zu erreichen, und<br />

wenn sie auch in der Lage gewesen wäre, diesen zu entrichten, so wäre sie sicherlich nicht dazu bereit<br />

gewesen. Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als plötzlich eine kleine, rothaarige Gestalt<br />

direkt vor ihr aus einer Seitengasse geschossen kam und auf der anderen Seite wieder im 'Dickicht'<br />

des Rattenloches verschwand. Und schon konnte sie die offensichtliche Ursache für dieses hohe<br />

Tempo hören: „Halt! Diebe!“ tönte es aus der Seitengasse, und ein korpulenter, glatzköpfiger<br />

Oberstädter stolperte heran. Es hatte sich also wirklich nichts geändert... die junge Frau überlegte<br />

einen Moment, blickte dann auf den Boden zu den Füßen des Oberstädters, der gerade die Straße<br />

erreicht hatte, und blinzelte. Der Oberstädter fiel sowohl unfreiwillig als auch nicht gerade elegant auf<br />

die Nase. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, wandte er sich an sie: „Habt ihr ein kleines, freches<br />

Gör mit meiner Geldbörse hier entlang laufen sehen?“ „Hier entlang?“ entgegnete die junge Frau,<br />

„Nein, hier ist niemand vorbeigekommen.“ Sie mußte sich schwer beherrschen, nicht zu grinsen. Es<br />

war wie in alten Zeiten.


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���<br />

Als sie sich den ersten Häusern näherte, bekam sie einen noch deutlicheren Blick auf die Gebäude der<br />

Unterstadt, als selbst durch das Fernrohr. Während ihrer Abwesenheit von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> war sie<br />

schon in einigen üblen Drecknestern gewesen, aber das Rattenloch schoß eindeutig immer noch den<br />

Vogel ab.<br />

Dennoch war ihr durch das Rattenloch einzureiten immer noch lieber, als durch die, mit blasierten<br />

Geldsäcken vollgestopften, Straßen der Oberstadt zu reiten. Dorthin konnte sie noch früh genug<br />

gehen, um einige der mit Geld beladenen Herrschaften etwas zu erleichtern... Außerdem war dieser<br />

Weg zweckmäßiger, um an ihr Ziel am Nordrand der Unterstadt zu kommen.<br />

Es war später Vormittag als sie die ersten Häuser erreichte. Hier war der Gestank der Straßen noch<br />

nicht so stark, wenn auch von Nordwesten die wenig lieblichen Düfte der Gerberei schwach<br />

herüberwehten. Doch dieser Gestank wurde erfolgreich von einem anderen Duft vertrieben, der aus<br />

dem kleinen Doppelhaus am Südrand des Rattenlochs strömte. Es war ein Geruch von Weihrauch,<br />

dem verschiedene andere aromatische Essenzen beigemischt waren. Es schien, als habe man hier<br />

einen Tempel eingerichtet. Aus dem Gebäude gegenüber drang eifriges Hämmern. Ein Schmied<br />

schien dort seine Werkstätte eingerichtet zu haben. Beide Gebäude waren bei ihrem Abschied vor<br />

zwei Jahren leer gewesen. So änderten sich die Zeiten. Die junge Frau schüttelte die in einen<br />

Pferdeschwanz gebundenen schwarzen Haare und lächelte. Ihre grünen Augen musterten die<br />

Umgebung weiter aufmerksam. So war das Rattenloch - immer in Bewegung und doch ständig<br />

stillstehend.<br />

Vor dem kleinen Doppelhaus dösten einige Katzen in der Frühlingssonne. Die junge Frau grinste.<br />

Von heute an würde es eine Katze mehr in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> geben. Die Katze... Wie lange hatte sie<br />

diesen Beinamen nicht mehr gehört? Sechs Jahre lang. Lachend ließ sie die Fuchsstute weitertraben.<br />

Als sie ihr Pferd an einer Reihe von kleinen Häusern und Hütten entlang lenkte, bemerkte sie, daß sie<br />

beobachtet wurde. Unauffällig blickte sie sich um. Ein kleiner, dreckiger Mann, ein Rekschat<br />

vermutlich, blickte sie finster an. Über seinem rechten Auge befand sich eine breite Binde. Er spielte<br />

mit einem Kurzschwert. Dieses Gesicht... wo hatte sie diesen Mann schon gesehen? Langsam zog sie<br />

mit der rechten Hand ihren dunkelblauen Mantel über ihre rechte Schulter, um den Griff ihres Rapiers<br />

frei zu bekommen. Der Mann bewegte sich auf sie zu, das Schwert drohend in der rechten Faust<br />

schwenkend.<br />

„Du!“, fauchte er, „Du hast wahrlich Mut, Dein Gesicht hier noch mal zu zeigen.“ Als die junge Frau<br />

die Stimme hörte, kehrte ihre Erinnerung zurück. Ihr Grinsen verstärkte sich.<br />

„Rashad! Ich hätte Dich fast nicht erkannt mit dieser kleidsamen Binde.“<br />

„Du bist schuld, daß ich dieses Ding trage, und dafür werde ich Dich töten!“, fauchte der Gauner<br />

zurück.<br />

„Du lernst nicht schnell, was? Sei froh, daß Dich unsere erste Begegnung nur Dein Auge, und nicht<br />

Dein Leben gekostet hat.“, erwiderte die junge Frau mit einem liebenswürdigen Lächeln. Ihre linke<br />

Hand ruhte entspannt auf dem Griff ihres Rapiers.<br />

Der Rekschat schnaufte wütend und musterte die junge Frau in den Lederstiefeln, der Lederhose, dem<br />

einfachen weißen Hemd, dem bunten Kopftuch und dem nachtblauen Mantel scharf. Dann hob er sein<br />

Kurzschwert und machte einen entschlossenen Schritt vorwärts. Ein kurzes Sirren erfüllte die<br />

stinkende Luft der Straße. Der Mann taumelte zurück und starrte entsetzt auf sein abgetrenntes linkes<br />

Ohr, das vor ihm auf der Straße lag, und auf den tiefen Schnitt auf seinem rechten Handrücken. Dann<br />

schaute er hoch und sah die Spitze eines sauber ausgeschliffenen Rapiers keinen halben Tritt vor<br />

seiner Nasenspitze schweben.<br />

„Hast Du vielleicht noch irgendwelche überflüssige Körperteile, von denen ich Dich befreien<br />

könnte?“, grinste die junge Frau. Rashad drehte sich herum und rannte in Windeseile davon.<br />

Zufrieden steckte die junge Frau ihr Rapier wieder weg und ließ ihre Fuchsstute wieder antraben.<br />

Ein paar gelbgrüne Augen musterte die siegreich gebliebene Frau, als sie rasch zwischen den Häusern<br />

verschwand. Judith hatte von ihrer Haustür aus das Geschehen beobachtet. Dieses Mädchen... ihre


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Bewegungen glichen denen einer Katze. Ein bemerkenswerter Mensch... jemand, mit dem man sich<br />

definitiv einmal näher beschäftigen sollte. Doch vorerst gab es andere Dinge zu tun. Judith sandte<br />

noch einen Blick nach dem in der Ferne leuchtenden Kopftuch, drehte sich dann elegant um und ging<br />

zurück in ihr Haus.<br />

���<br />

Da vorne, da kam die Spalte in Sichtweite, und dort war auch der kleine Abstieg zu Jakla und Wingart<br />

und ihrer kleinen Hütte. Und da war... eine junge Frau mit langem schwarzem Haar auf einem<br />

Rappen, hmmm.<br />

���<br />

So, bald würde sie ihre OMA und ihren OPA wiedersehen, nach so vielen Jahren, ob sie sich wohl<br />

sehr verändert hatten? Nein... Sie würde die beiden auch in Jahrzehnten wieder erkennen... So wie sie<br />

auch die Reiterin auf dem grauen Pferd dort mit großer Freude und Verwunderung wiedererkannte.<br />

���<br />

Jetzt würde sich Jakla aber wundern, was sie alles zu erzählen haben würde, schade nur daß sie nicht<br />

alle dort antreffen würde, die... na, aber, das war doch, diesen Fuchs dort ritt doch... nein!<br />

���<br />

Ja, da vorne ging es in die Spalte hinab, zu einem kleinen gemütlichen Häuschen mit duftendem Tee<br />

und zwei Menschen, die man schon lange vermißt hatte... Vermißt, so wie die Frau auf dem<br />

Schimmel, die dort vorne ritt!<br />

���<br />

Wingart schob seinen kleinen Krämerkarren an den Rand des Spaltenweges. Jetzt war erst einmal<br />

Mittagspause für ihn, er hatte sie sich verdient, so meinte Wingart. Bisher war kein guter Tag für ihn<br />

gewesen, er hatte nur mühsam den Karren durch die schmutzigen Gassen geschoben, aber bislang<br />

keinen Topf geflickt, kein Messer geschliffen. Dabei, so dachte sich der alte Mann zynisch, dürften<br />

gerade die Messer hier in der Unterstadt rege in Gebrauch sein. Er seufzte, wie gut, daß bei ihnen<br />

beiden nichts zu holen war, so lebten er und Jakla hier, in der kleinen Hütte am Rande der Spalte,<br />

ruhig und zufrieden. Wingart schmunzelte - so ruhig und zufrieden wie man leben konnte, wenn man<br />

für so an die zwanzig, dreißig Rangen quasi Oma und Opa spielte.<br />

Gerade als Wingart sich vorsichtig die Stiege in die Spalte hinabbegeben wollte, sie führten auf einen<br />

kleinen Felsvorsprung, wo ihre Hütte - die Kinder nannten sie „Schwalbennest“ - klebte, hörte er<br />

hinter sich die Hufe von mehreren Pferden.<br />

Ob vielleicht doch noch jemand einen Auftrag hatte, den er schnell noch vor dem Essen erledigen<br />

konnte? So schnell es seine müden Knochen zuließen drehte er sich um, ein freudiges, diensteifriges<br />

Lächeln auf den Lippen.<br />

Wingart starrte die Ankömmlinge, es waren vier Reiterinnen, mit weit geöffneten ungläubigen Augen<br />

an. Sollten ihm seine alten Augen denn einen so bösen Streich spielen? Immer noch schweigend<br />

machte er ein, zwei Schritte auf die Berittenen zu...murmelte dann etwas... leise und ungläubig.<br />

„Lissa...Lanni...Li...Zho...“<br />

Dann machte er, welche Flinkheit in den alten Knochen, eine Kehrtwendung und huschte nach Jakla<br />

rufend die Treppchen zu der alten Hütte hinunter.<br />

„Jakla, Jakla... sie sind wieder da, die Mädchen, sie sind wieder da, alle vier...Jakla!“<br />

Aus dem Eingang der Hütte trat eine alte, gebeugte Frau in schwarzen Kleidern, unter ihrem Schal<br />

ragte eine ungebärdige, weiße Haarsträhne hervor und ihre grünen Augen blitzten amüsiert.<br />

„Wingart, nun schrei doch nicht so, ich bin alt, aber nicht tot und taub. Und dann geh' wieder zurück<br />

und bitte die Kinder herein, schließlich warte ich schon längst mit dem Essen auf euch, jawohl, auf


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euch alle!“, sprach die immer für eine Überraschung gute Jakla, und trat wieder in das Halbdunkel der<br />

Hütte zurück.<br />

Wingart starrte ihr, nur noch mehr verwirrt und überrascht, nach - nur um dann sofort wieder die<br />

Stiege empor zu eilen. Jakla, dachte er, sie hatte wohl wieder eine ihrer seltsamen Ahnungen gehabt,<br />

hatte es wohl wieder „wahrgeträumt“, daß heute etwas geschah. Und wieder hatte sie es, wie meistens<br />

wenn so etwas geschah, nicht für nötig gehalten, ihm etwas zu sagen - versteh' einer die Frauen, die<br />

Alten und die Kauzigen...<br />

Bei diesen Gedanken angelangt stand Wingart wieder vor den vier Reiterinnen. Was war nur aus<br />

‘seinen Findelkindern’ geworden? Große Frauen! Diese waren inzwischen abgestiegen, hatten sich<br />

links und rechts und hier noch einmal lautstark begrüßt, sich umarmt und gedrückt. Schließlich hatte<br />

man sich sechs Jahre nicht gesehen - und eine wahrlich seltsame Fügung des Schicksals hatte sie nun<br />

alle an diesem einen Tage wieder nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> gebracht. Wingart mußte sich mehrmals<br />

lautstark räuspern, es war schließlich schon eine wilde Unterhaltung im Gange. Als Wingart dann<br />

endlich bemerkt wurde, da war es auch schon um ihn geschehen. Die vier Frauen stürzten auf ihn zu<br />

und begrüßten ihn überschwenglich.<br />

Mittlerweile hatte sich um diese seltsame Gruppe bereits eine ebenso seltsame Zuschauerschar<br />

angesammelt. Es waren nicht die „normalen“ Bewohner der Unterstadt, die Halsabschneider, Huren,<br />

Söldner, Bettler oder Diebe - die sahen zwar auch aufmerksam zu, aber sie zeigten sich nicht so offen<br />

dabei.<br />

Vielmehr handelte sich um eine beträchtliche Zahl von Kindern, die hinter Häuserecken, Regentonnen<br />

und Wagenrädern hervor, von Dächern herunter und aus Mauerdurchbrüchen herausschauten auf die<br />

„Großen“, die da bei IHREN Großeltern Jakla und Wingart angekommen waren. Es mußte ja jemand<br />

wichtiges sein, wenn der Großvater sich so sehr freute, daß er sogar Tränen in den Augen hatte.<br />

Immer mehr Kinder kamen neugierig näher, bis eine dichte Traube von schmutzigen Gesichtern und<br />

dünnen Ärmchen in zerlumpten Gewändern die ungewöhnliche Gruppe umringte.<br />

Die vier jungen Frauen bemerkten dies wohl und grinsten sich wissend an - kannten sie das nicht von<br />

irgendwo? Aber Wingart war nun erst einmal viel wichtiger, viel, viel wichtiger.<br />

„Ja was ist denn das hier für ein Affenzirkus?“, tönte eine Stimme von Richtung der Spalte. Die<br />

Kinder spritzten bei Ertönen dieser Stimme in alle Himmelsrichtungen davon, Jakla tauchte an der<br />

Stiege auf, beide Hände in die Hüften gestemmt. Vielleicht hatte sich ihre Stimme etwas resolut<br />

angehört, aber aus allen Fältchen, und besonders aus ihren leuchtenden Augen, lachte die<br />

Wiedersehensfreude.<br />

„Jantara, Shahtar, hiergeblieben!“, befahl Jakla. Die beiden angesprochenen Kinder blieben wie auf<br />

der Stelle festgenagelt stehen und drehten sich um.<br />

„Kümmert euch darum, daß niemand an die Pferde geht. Und ihr fünf,“, dabei blickte sie wieder<br />

Wingart und die vier Frauen an, „und ihr fünf macht, daß ihr die Stiegen runter kommt ins<br />

Schwalbennest, das Essen wird kalt!“ Plötzlich milderte sich ihr Befehlston merklich.<br />

„Und überhaupt, ich bin schon eine alte Frau, und soviel, wie ihr zu erzählen haben werdet, will ich<br />

mir nicht hier vor der Türe im Stehen anhören müssen. Meine Knochen sind auch nicht mehr jung.<br />

Kinder, kommt endlich rein.“ Alle lachten sie, und begaben sich die klapprige Stiege hinunter.<br />

Währenddessen wurden die vier Pferde von zahlreichen Kindern neugierig beäugt. Nicht lange, und es<br />

saßen schon ein paar von ihnen in den Sätteln, das heißt, soweit sich die Tiere diese Bekletterei<br />

gefallen ließen. Ebenso neugierig wurden die Gepäckstücke der Gäste beäugt, aber nicht eine kleine<br />

Hand wanderte in die Packtaschen oder Beutel - oh nein, so sehr sie es auch juckte, mehr über die<br />

Großen zu erfahren, wenn das Freunde von Oma und Opa waren, blieb man mit den Fingern von den<br />

Klamotten - das war Schattenehre! Allerdings - Lauschen war ja nicht verboten - also schlichen das<br />

ein oder andere der Kinder schon zum Lauschen die Stiege hinab.<br />

Das Schwalbennest! Den Mädchen kam es vor, als sei es in den sechs Jahren noch kleiner geworden.<br />

Viel konnten sie nicht unbedingt wiedererkennen, Wingart verbesserte laufend die kleine Hütte - hier<br />

ein neues Brett, da ein besseres Regal - aber der alte, große Eichentisch und Jaklas Schaukelstuhl vor<br />

dem gekachelten Herd, diese Stücke waren unverwüstlich und vor allem unvergeßlich. Wie als wären


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sie niemals fort gewesen nahm eine jede ihren alten Sitzplatz an dem großen Tisch ein, der früher<br />

wohl einmal in einem Herrenhaus gestanden haben mußte. Wie als wären sie niemals fort gewesen<br />

nahm Jakla die Tonschalen, Holzlöffel und Becher für alle aus dem buntbemalten Regal, und wie als<br />

wären sie niemals fort gewesen hing das würzige Duftgemisch von Eintopf, frisch gebackenem Brot<br />

und getrockneten Kräutern in der Luft.<br />

Kaum eines der Mädchen, und erst recht nicht die immer vorlaute Lianna, konnte das Ende der<br />

Mahlzeit abwarten, und doch geduldeten sie sich. Aber sobald sich Wingart nach dem Essen sein<br />

obligatorisches Pfeifchen gestopft, und Jakla sich in den Schaukelstuhl gesetzt hatte, da begannen die<br />

Mädchen, von ihrer Reisezeit zu berichten. Und tatsächlich war es Lianna, die als erste zu erzählen<br />

begann...<br />

„Der Abschied von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> fiel mir ehrlich gesagt nicht allzu schwer. Anders war es da schon<br />

mit euch. Ich habe euch sehr vermißt in den letzten sechs Jahren. Aber ich schweife ab. Ich zog also<br />

los und schaute mir die Welt an. Mit der Zeit gefiel mir das Wanderleben, in dem mir die Talente, die<br />

ich mir hier aneignen konnte, sehr nützlich waren. Ich lebte von dem, was ich auf den Bauernhöfen<br />

am Rande des Weges stehlen konnte. Da ich als Waise, noch dazu als arme Waise, sowieso keine<br />

Chance gehabt hätte, irgendwo etwas vernünftiges zu lernen, perfektionierte ich meine<br />

Diebstahlstechniken.<br />

Nach einigen Monaten kam ich in Darista, im Multorischen Reich, an. Eine wirklich große Stadt. Ich<br />

war überrascht von den Massen von Menschen, die sich durch die Straßen wälzten. Später habe ich<br />

noch größere Städte gesehen, aber das war die erste wirklich große Stadt, die ich sah. Die<br />

verwinkelten Gassen, die großen Basare, die bunten Waren und das ständige geschäftige Treiben in<br />

den Straßen erstaunten mich. Gegen das hier war <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, selbst die Oberstadt, armselig.“<br />

Lianna machte eine kleine Pause um einen Schluck zu trinken und den Eindruck auf ihre Schwestern<br />

wirken zu lassen. Dann fuhr sie fort.<br />

„Eine Weile lang ging es mir recht gut, ich hatte meinen Spaß daran, die reichen Geldsäcke kräftig<br />

auszunehmen und mich später den jungen Männern der Stadt zu widmen.“ Zhoreenas dreistes Grinsen<br />

sagte eine Menge über diese Art der ‘Widmung’ aus. Auch Lianna grinste für einen Moment, bevor<br />

sie ihre Erklärung fortsetzte.<br />

„Wie dem auch sei, die Stadtwache dort war nicht nur zahlreicher, sondern auch besser organisiert<br />

und trainiert als die hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. So fand ich mich eines Tages mit brummendem Schädel<br />

und einem kräftigen Bluterguß an der Schläfe in den städtischen Kerkern wieder. Genaugenommen<br />

wurde ich an den Schultern geschüttelt und jemand sagte: ‘Wach’ auf, Mädchen, wir müssen gehen!’<br />

Ich brauchte einige Momente, um mich zu orientieren. Als ich dann aufblickte war ich sofort<br />

verloren.“ Liannas Augen nahmen einen schwärmerischen Glanz an. Zho feixte offen, Leandra und<br />

Caerlissa begnügten sich damit, nachsichtig zu lächeln. Nur Jakla machte einen nachdenklichen<br />

Eindruck.<br />

„Die tiefblauesten Augen, die ich euch vorstellen könnt, ein ebenmäßiges, freundliches Gesicht mit<br />

Lachfältchen um die Augen und schulterlanges, strohblondes Haar. Er war eines der hohen Tiere in<br />

der Diebesgilde der Stadt und in das Gefängnis geschleust worden, um einen Ausbruch zu<br />

organisieren. In der Zeit, in der ich bewußtlos war, waren die Vorbereitungen schon getroffen worden.<br />

Die Wachen waren bestochen oder tot, der Fluchtweg war abgesichert und alles lief reibungslos. Wir<br />

wurden in ein Haus gebracht, das dem Gildenhochmeister gehörte. Dort kümmerte man sich um die<br />

riesige Beule an meinem Kopf und erklärte mir das System der Gilde.<br />

Die Diebe, Beutelschneider und Räuber der Stadt treten regelmäßig einen Teil ihres ‘Einkommens’ an<br />

die Gilde ab, die, im Gegenzug, dafür sorgt, daß Leute, die gefaßt werden, wieder auf freien Fuß<br />

kommen. Das geschieht teilweise durch Bestechung, teils durch Gewaltmaßnahmen. Außerdem sorgte<br />

die Gilde dafür, daß die Leute gleichmäßig über die Stadt verteilt wurden und sich nicht gegenseitig<br />

Konkurrenz machten.<br />

Später gab es etwas zu essen und ich wurde offiziell in die Gilde der Diebe und Beutelschneider von<br />

Darista aufgenommen.<br />

Noch am selben Abend begann ich, Jagd auf meinen blonden Prinzen zu machen. Mit der<br />

Mitleidsmasche habe ich ihn dann nach etwa drei Stunden ‘rumgekriegt. Ich hatte ja noch den<br />

Bluterguß an der Schläfe, und ich überzeugte ihn recht schnell davon, daß er mich trösten sollte.“


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

An dieser Stelle wurde die Erzählung von dem Gelächter der Schwestern unterbrochen. Sie alle<br />

kannten Lianna gut genug, um zu wissen, daß kaum ein Mann ihr gewachsen war.<br />

„Er hieß Leored. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir zogen zusammen und er bildete mich aus. Er<br />

brachte mir alles bei, was man als Dieb und Assassine wissen muß, und er lehrte mich auch, mit<br />

diesem hier umzugehen.“ Dabei zog sie halb ihr Rapier. Dann lehnte sie sich zurück, und ließ den<br />

Blick in die Runde schweifen.<br />

„Tja, und drei Monate nachdem wir uns kennengelernt hatten, haben wir geheiratet.“<br />

Verblüfftes Schweigen herrschte in dem kleinen Raum. Li’s Schwestern trauten ihren Ohren nicht.<br />

Ihre Schwester Lianna, das wildeste und unabhängigste Mädchen von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, hatte geheiratet?<br />

Das hätte man von Lissa erwartet, aber doch nicht von...<br />

„Lianna, Du hast was!?!“, brachte Zho schließlich heraus.<br />

„Ich habe ihn geheiratet, Zhoreena, hörst Du schwer?“ grinste Lianna. Sie liebte es, ihre Schwestern<br />

zu verblüffen. Jakla betrachtete das Geschehen. Die Mädchen, zumindest drei von ihnen, ahnten zwar<br />

noch nichts davon, aber da war noch etwas anderes, das noch kommen würde, etwas schmerzvolles,<br />

das spürte sie in jedem ihrer alten Knochen. Lianna betrachtete einen Ring, den sie an einer Kette um<br />

den Hals trug.<br />

„Den hat Lored mir geschenkt, als er um meine Hand anhielt.“ Sie seufzte.<br />

„Es war eine himmlische Zeit. Wir unternahmen alles zusammen, von Einbrüchen bis hin zu<br />

Trinkgelagen. Er schenkte mir oft hübsche Kleinigkeiten und machte mir Komplimente, bis...“ Sie<br />

stockte und man sah, daß sie mit sich kämpfte. Aha, dachte Jakla, jetzt geht es los.<br />

„Bis zu dem Tag, als wir bei diesem fetten Händler einstiegen. Durch einen dummen Zufall wurde<br />

Leored ertappt. Bei einem der Wächtern hatte aus irgend einem Grund das Schlafgift im Wein nicht<br />

gewirkt. Er weckte die anderen und sie konnten Leored überwältigen. Ich entkam und konnte mich<br />

verstecken, fest in dem Glauben, sie würden die Stadtwache rufen, um meinen Mann abführen zu<br />

lassen. Doch der Händler hatte andere Methoden. Vor meinen Augen wurde Leored... in einen<br />

Zwinger voller Multorischer Kriegshunde gestoßen.“ Lianna war bei der Erinnerung leichenblaß<br />

geworden und Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie schluchzte nicht, jedoch ließen die<br />

gelegentlichen Pausen in ihrer Rede darauf schließen, daß sie mit sich kämpfte. Auch die Schwestern<br />

waren erbleicht. Jede von ihnen hatte zumindest von den Multorischen Kriegshunden gehört, wenn<br />

nicht gar selber welche in Aktion gesehen. Es waren riesige graue Bestien, dreimal so groß wie ein<br />

Wolf, mit Zähnen wie Dolche, Tiere, die nur zum Töten gezüchtet und erzogen wurden, und die selbst<br />

einem Krieger im Kettenhemd den Arm mit einem Biß abtrennen konnten.<br />

Caerlissa legte einen Arm um ihre ‘kleine’ Schwester und drückte sie an sich, während Zhoreena und<br />

Leandra je eine Hand Liannas ergriffen. Nach einer Weile hatte Lianna sich wieder gefangen. Als sie<br />

wieder aufblickte brannte etwas kaltes, gefährliches in ihren Augen.<br />

„Der Fettsack hat die nächste Nacht nicht überlebt. Als ich zur Gilde kam, und man endlich zwischen<br />

meinen Tränen heraushören konnte, was geschehen war, herrschte eine große Wut und Betroffenheit.<br />

Niemand legt sich ungestraft mit der Gilde an, und so stürmte ich am nächsten Abend mit zwanzig der<br />

besten Meuchler der Gilde das Haus des Händlers. Die zehn Wachen waren tot, bevor sie überhaupt<br />

gemerkt hatten, was los war. Den fetten Händler jagte ich auf den Hof, und ließ die Hunde auf ihn los.<br />

Er schaffte knappe vier Sprung, bevor die Hunde ihn erreichten.“<br />

Ein betretenes Schweigen füllte den Raum fast spürbar aus. Dann fuhr Lianna fort zu berichten.<br />

„Ich hatte die Trümmer meines Lebens vor Augen. In dieser Stadt wollte ich nicht länger bleiben. Ich<br />

packte also meine Sachen und machte mich auf den Weg. Ich wollte weg von dort. Eigentlich war es<br />

mir egal, wohin mich der Weg führte - ich nahm meine Umgebung kaum wahr.<br />

Tage und Wochen zog ich dahin, immer dem Weg folgend, den mein Pferd gerade nahm. So war ich<br />

eines Tages ziemlich erstaunt, als ich wieder vor dem Rattenloch von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> stand. Ich hatte<br />

nur wenig gegessen und daher stark abgenommen. Ich besaß keine müde Sonne mehr, und am Stehlen<br />

hatte ich fürs erste die Lust verloren.“ Lianna schlug die Augen nieder.<br />

„So verdingte ich mich in dem Hurenhaus oben an der Spalte.“<br />

Caerlissa blickte entsetzt, Zhoreena zog eine Augenbraue hoch und Leandra blickte Lianna erstaunt<br />

an. Jakla begnügte sich damit, die Szene mit einem gewissen Ernst zu beobachten.


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

„Ein paar Wochen ‘arbeitete’ ich dort. Dann las mich Lady Victoria auf. Sie streift manchmal dort<br />

herum, um neue ‘Talente’ für ihr Haus, das ‘Succube’ zu suchen. Sie holte mich dorthin.“<br />

Zhoreena grinste plötzlich wieder. Das war ja zu erwarten gewesen. Wenn ihre ‘kleine’ Schwester<br />

schon ins Horizontale Gewerbe einstieg, dann natürlich auch sofort im nobelsten Haus der Umgegend.<br />

„Victoria ist ein Schatz. Sie kümmerte sich um mich und half mir, über meinen desolaten Zustand<br />

hinwegzukommen. Ich arbeitete einige Zeit dort, bis ich ein wenig Geld zur Seite gelegt hatte. Dann<br />

überkam mich wieder die Unrast. Mit dem, was ich mir durch meine ‘Arbeit’ und meine mit der Zeit<br />

wiedergekehrte Lust am Stehlen angesammelt hatte, zog ich nach Kasra. Dort bezahlte ich für eine<br />

Ausbildung im Lesen und Schreiben. Außerdem arbeitete ich in meinen alten Berufen weiter.“ Lianna<br />

lächelte wieder. Die Erinnerung an ihre Zeit im ‘Succube’ schien ihren Schmerz verdrängt zu haben.<br />

„Na ja, und dann war mir plötzlich, als müßte ich so schnell wie möglich hierher zurückkehren. Und<br />

da bin ich nun. Ich habe Shentala, meine Fuchsstute, die ich einem Händler auf dem Weg gestohlen<br />

habe, ziemlich strapaziert - um so schnell wie möglich hier zu sein, wißt ihr?“<br />

Als nun Lianna ihre Erzählung zu einem vorläufigen Ende gebracht hatte, war es an der Reihe von<br />

Zhoreena, ihre Erfahrungen weiterzugeben. Zhoreena hatte es kaum erwarten können. So interessant<br />

Liannas Geschichte auch war, so sehr hatte sie auch darauf gebrannt, ihren Schwestern kundzutun,<br />

was ihr in den vergangenen sechs Jahren widerfahren war. Also begann sie ihre Geschichte:<br />

„Irgendwie hatte es wohl so kommen müssen - du hast es ja immer gewußt, nicht wahr, Jakla? Ich<br />

erinnere mich nur zu gut, wie entsetzt du damals warst, als ich in diesem Buch geschmökert hatte, das<br />

du auf dem Tisch hattest liegenlassen - Ich konnte einen vollen Tag lang kaum sitzen, aber die Tracht<br />

war es wert gewesen, zumal ihr ja alle wißt, wie neugierig ich doch bin... Ja, die Füchsin hatten sie<br />

mich damals nicht umsonst genannt, und ich hatte mir damals schon kaum die Frage verkneifen<br />

können, woher du diesen alten Wälzer wohl haben mochtest... Nun, nach dem, was ich in den letzten<br />

Jahren so erlebt habe, wundert es mich nicht mehr, warum du mich damals nicht mit dieser ach so<br />

interessanten Materie „Magie“ in Berührung hast kommen lassen wollen - Nun guck doch nicht gleich<br />

so beunruhigt, Jakla!“ Der Blick ihrer „Oma“ war ein wenig streng geworden. Zhoreena setzte wieder<br />

an.<br />

„Nun ja, dieses Thema wollte mir einfach nicht aus dem Kopf, wenn ich es auch - auf dein Geheiß<br />

hin, Jakla - so gut wie möglich unterdrückt habe, solange ich noch in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> weilte. Kaum daß<br />

wir aber die Falken wie auch die Stadt verließen, gab es für mich kein Halten mehr. Ich mußte einfach<br />

mehr über das erfahren, was ich in deinem Buch entdeckt hatte. Und glaubt mir, allein die Suche nach<br />

einer Quelle derartigen Wissens war schon ein Abenteuer für sich - wie seltsam doch manche Leute<br />

reagieren, wenn man sie auf Magie anspricht! Manche liefen weg, als hätten sie einen Geist gesehen,<br />

andere versuchten, mich anzugreifen - nur sehr wenige konnten mir wirklich weiterhelfen. Aber nach<br />

einigem hin und her und so allerhand Kapriolen landete ich dann in Chrystykk.“<br />

„Wo liegt DAS denn?“ unterbrach Lianna, glücklicherweise gerade dann, als Zhoreena gerade einmal<br />

einen Schluck zu trinken zu sich nahm.<br />

„Nun übe dich mal ein bißchen in Geduld, kleine Schwester“ wurde sie von Caerlissa<br />

zurechtgewiesen, „Wir haben dir schließlich auch zugehört, Li, und Zho wird uns sicher noch<br />

erzählen, wo das ist, oder?“<br />

„Sicher, Lissa... wenn das immer so einfach wäre, dann wäre Chrystykk bestimmt schon hoffnungslos<br />

überfüllt. Als ich es zum ersten mal gefunden habe, war das am vorderen Vantí, gleich am Lauf des<br />

Jabajii - das ist ein Berg im Süden des Multorischen Reiches, der nahe an der Quelle des Flusses<br />

Jabajii liegt. Ich sage ganz bewußt zum ersten mal, weil ich dorthin später noch einmal zurückgekehrt<br />

bin, und da lag es kurz vor Regthil.“ Zhoreena grinste voller Genugtuung über die erstaunten<br />

Gesichter ihrer Schwestern.<br />

„Ja,“ setzte sie fort, Chrystykk ist nie am selben Ort, wenn man es findet - und noch lange nicht jeder<br />

wird es überhaupt je finden. Wenn man aber gerade einen Grund hat, es finden zu müssen, dann ist es<br />

meist ganz in der Nähe.“ Ihre Schwestern schauten jetzt noch verblüffter als zuvor.<br />

„Nun sagt nicht, daß ihr das nicht versteht - die Universität von Chrystykk ist immer nur dann von<br />

jemandem zu finden, wenn dieser jemand sie auch finden soll - und das kann überall sein. Jedenfalls<br />

unterrichtet man dort die hohe Kunst der Magie, und zwar in allen ihren Formen...“ sie blickte ein<br />

wenig unruhig zu Jakla hinüber, aber diese nickte ihr jetzt wohlwollend zu, worauf Zhoreena<br />

weitererzählte.


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

„Nun, ich gelangte also nach Chrystykk, und die Pforten der wandernden Universität wurden mir<br />

geöffnet. Zuerst wußte ich noch nicht, wie ich mich dort verhalten sollte, aber dann überwog doch die<br />

Neugier gegenüber der Vorsicht, und ich stürzte mich mit vollem Eifer in die Studien. Zuerst belegte<br />

ich wirklich jeden Kurs, den man nur belegen konnte...“, sie spürte den Blick von Jakla geradezu, wie<br />

er wieder ein wenig... nun, nennen wir es mal 'warnend' wurde. „, aber gewisse Fachgebiete habe ich<br />

sehr schnell wieder aus meinen Studien ausgeschlossen, Jakla, keine Angst... selten hat mich etwas so<br />

abgeschreckt wie Nekromantie oder Dämonologie.“ Jakla lehnte sich wieder etwas beruhigter in<br />

ihrem Schaukelstuhl zurück, und auch Caerlissa atmete sichtlich auf.<br />

„Glücklicherweise lassen es die Statuten von Chrystykk zu, die Magierprüfung in beliebigen<br />

Teilbereichen der Magie abzulegen, und insofern habe ich mich insbesondere in das Studium der<br />

Elementaranrufung, der Transmutation, der Manipulation und der Ortsveränderung hineingekniet -<br />

dieser ganze Beschwörungskrempel war nicht so ganz mein Fall. Das ganze dauerte schon so an die<br />

drei Jahre, als eines Tages Magister Taurik auf mich zukam, und mir zu verstehen gab, daß ich mir<br />

nun genügend Grundwissen in der Magie angeeignet habe, um, wie das in Chrystykk so üblich ist,<br />

einige Zeit auf Wanderschaft zu gehen, um mir so noch mehr Wissen aus anderen Quellen<br />

anzueignen. Wenn ich dort genug gelernt hätte, so sagte er, würde ich schon von ganz alleine nach<br />

Chrystykk zurückfinden. Ich war ehrlich gesagt ein wenig überrascht über diese neue Perspektive,<br />

aber kurzum packte ich mein Hab und Gut, was zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzuviel mehr war,<br />

als ich damals <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> verlassen hatte, zusammen, und machte mich auf den Weg, Nontariell<br />

nach weiteren Quellen des arkanen Wissens zu erforschen.“ Zhoreena nahm wieder einen tiefen<br />

Schluck aus ihrem Becher. Währenddessen beobachtete sie ihr 'Publikum' - alle hörten ihr angespannt<br />

zu, nicht einmal Lianna machte Anstalten, sie zu unterbrechen.<br />

„Wieder herausgekommen aus Chrystykk bin ich irgendwo im Westen des Multorischen Reiches -<br />

und dann war die Universität auch schon weg. Na ja - ich bin erst mal einfach losgegangen, ohne groß<br />

darüber nachzudenken. Ehe ich mich versah wurde es dunkel, und ich habe mir am Waldrand eine<br />

windgeschützte Stelle gesucht, wo ich dann auch prompt eingeschlafen bin. Ich sage euch, das war ein<br />

tolles Gefühl endlich mal wieder nach drei Jahren Studierzimmer unter freiem Himmel schlafen zu<br />

können - ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, was mir hätte passieren können, aber zum<br />

Glück blieb diese Unachtsamkeit ohne Folgen. Geweckt hat mich jedenfalls glücklicherweise die<br />

Morgensonne und kein hungriges Tier.<br />

Ich packe also meine wenigen Habseligkeiten, und suche mir erst mal eine Wasserstelle. Während ich<br />

so durch den Wald gehe, denke ich plötzlich, daß mir jemand folgt, aber gesehen habe ich niemanden.<br />

Nur eben so dieses blöde Gefühl, daß da eben doch jemand ist. Aber auch nachdem ich überall<br />

nachgeschaut hatte, und nichts ungewöhnliches bemerkt hatte, wollte dieses Gefühl einfach nicht<br />

weggehen. Na gut, denke ich, und gehe erst mal weiter. Und etwas später habe ich dann auch einen<br />

ruhigen, kleinen See gefunden. Das Wasser war klar, die Umgebung sah freundlich aus, die Sonne<br />

schien durch die Blätter der nahen Bäume - einfach idyllisch. Vermutlich hatte ich deswegen auch das<br />

dumme Gefühl von vorher vergessen. Das Wasser war außerdem gar nicht so kühl, wie es aussah -<br />

irgendwas hat mich dazu bewogen, ein Bad zu nehmen. Also legte ich mein Gepäck und meine<br />

Kleidung ans Ufer und watete in den See. Angenehm, diese Abwechslung... solche Möglichkeiten<br />

hatte ich in Chrystykk nicht gehabt... ihr könnt euch das sicher selbst gut vorstellen, viel brauche ich<br />

da wohl nicht zu erzählen. Aber als ich einmal kurz untergetaucht war und dann wieder nach oben<br />

kam, da war doch tatsächlich irgend jemand gerade dabei, in meinen Sachen herumzuwühlen! Ich<br />

habe gedacht ´Bevor der was klaut - schnapp ihn dir´, und schwimme so schnell ich kann zum Ufer<br />

zurück. Dummerweise hat der Kerl das gemerkt, sieht mich näherkommen, schnappt sich meinen<br />

Kram und rennt weg. Ich sage euch, schnell war der! Und zwei Büsche weiter habe ich ihn auch schon<br />

nicht mehr gesehen.“ Zhoreena nahm wieder einen Schluck, und dann setzte sie fort:<br />

„Also renne ich diesem Halunken erst einmal hinterher - er hatte sowieso nichts liegengelassen, und<br />

außerdem - was sollte ich sonst machen? Nun ja, so dreieinhalb Zwischenspurts und mißlungene<br />

Orientierungsversuche später wußte ich dann nicht mehr weiter. Da stehe ich also mutterseelenallein,<br />

splitterfasernackt, pitschnaß und ohne irgendeinen Durchblick in einem Stück Wald, das ich nicht im<br />

geringsten kenne. ´Schöner Mist in den du dich da mal wieder reingeritten hast´ denk ich noch so, da -<br />

grins nicht so dämlich, Li!“ Zhoreena warf ihrer kleinen Schwester einen wütenden Blick zu, worauf<br />

diese mal wieder eines ihrer ´Ich? Ich hab doch gar nichts gemacht - Gesichter´ aufsetzte.<br />

„Sonderlich lustig fand ich diese Situation wirklich nicht. Jedenfalls hör ich da plötzlich Stimmen.<br />

Noch etwas weiter weg, aber so ein paar Worte auf Multor konnte ich schon verstehen... irgendwas


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

von entlaufener Sklavin... ich sage euch, da wird einem in so einer Situation ganz anders... vor allem,<br />

wenn man dann auch noch das Knurren eines großen Hundes vernimmt... Ehe ich überhaupt wußte,<br />

wo der herkam, stand diese Bestie von einem Hund auch schon vor mir. Riesig groß war dieses Viech<br />

- sein Kopf ging mir bestimmt bis zur Hüfte. Und Hunger schien es zu haben - es hat mich angestarrt<br />

als wollte es mich jeden Augenblick fressen. Aber es drängte mich nur an einen Baum und blieb dann<br />

ganz dicht vor mir stehen. Ich konnte seinen heißen Atem auf der Haut spüren, so nah war dieses<br />

Untier, und es wollte mich wohl keine Sekunde aus seinen blutunterlaufenen Augen lassen. Und<br />

unaufhörlich hörte ich diese Multorier immer näher kommen, die wohl gemerkt hatten, daß ihr Hund<br />

jemanden gefunden hatte. Wie verrückt versuchte ich einen Ausweg zu finden, da flatterte die Lösung<br />

im wahrsten Sinne des Wortes vorbei.“<br />

„Wie - vorbeiflattern? Du hast wohl eher das große Flattern gekriegt, was?“<br />

„Lianna!“ Caerlissa hatte nicht üble Lust, ihrer Schwester mal wieder eine pädagogische Ohrfeige zu<br />

verpassen.<br />

„Los, Zho, erzähl schon weiter, es ist so spannend - und DU unterbrichst sie nicht mehr, KLEINE,<br />

klar?“ Lianna zog eine Grimasse.<br />

„Also, was ist denn nun vorbeigeflattert?“ versuchte nun Leandra die Geschichte wieder in Gang zu<br />

setzen.<br />

„Ein Eichelhäher!“ verkündete Zhoreena mit einem Grinsen.<br />

„Wieso war DER denn bitte die Lösung?“ wollte jetzt auch Caerlissa wissen.<br />

„Nun ja, mit einer gewissen Spielart der Magie habe ich gelernt, mich in alle möglichen Tiere zu<br />

verwandeln - Hauptsache, ich kann ein Exemplar der jeweiligen Tierart sehen.“ erklärte Zhoreena.<br />

„Also kam dieser Eichelhäher wie gerufen. Ich blickte ihm kurz hinterher, und dann konzentrierte ich<br />

mich auf den Zauber. Ich schloß die Augen, und fühlte die Energie der Natur in meinen Körper<br />

eindringen - ich kannte zwar ein ähnliches Gefühl von meinen ersten Zauberversuchen an der<br />

Universität, aber dieses Gefühl war verglichen damit einfach überwältigend. Um so leichter fiel mir<br />

die Verwandlung - ich fühlte das vertraute Kribbeln, wenn auch viel intensiver, in Beinen, Armen und<br />

Brust... als ich meine Augen wieder öffnete, flatterte ich in der Luft über diesem Monstrum von einem<br />

Hund - glücklicherweise hoch genug, daß er mich nicht erreichen konnte. Nun ja, ich machte erst mal,<br />

daß ich nach oben kam - von oben betrachtet sah das ganze doch gleich viel weniger gefährlich aus.<br />

Und offensichtlich war meine Flucht noch gerade rechtzeitig gelungen, denn kurze Zeit später kamen<br />

zwei bewaffnete Multorier durchs Gebüsch. Jetzt konnte ich wenigstens genauer verstehen, worüber<br />

sie sich eigentlich unterhielten - ihnen war wohl jemand entwischt, nach dem, was ich so hörte,<br />

offensichtlich eine Rekschat, die sie gefangennehmen wollten. Dementsprechend reagierten sie<br />

ziemlich enttäuscht darüber, daß ihr Hund ´nur so einen komischen Vogel´ aufgestöbert hatte. Vorerst<br />

hatte ich genug gehört, und machte mich auf, nach dem Dieb von vorher zu suchen - solange ich noch<br />

in dieser Form war, mochte das um einiges einfacher sein. Allerdings fand ich zuerst jemand anderen:<br />

Ein Stück weiter hatte sich eine Frau hinter einigen großen Büschen versteckt. Vermutlich war das<br />

das arme Wesen, nach dem die beiden suchten. Ihre Kleidung hatte einige derbe Risse, vermutlich von<br />

einer hastigen Flucht in den Wald. Und an sie klammerte sich noch ein Kind - nun, es mochte so vier,<br />

fünf Jahre alt gewesen sein. An und für sich wäre ihr Versteck ja ganz günstig gewesen, aber die<br />

Multorier hatten ja leider den Hund dabei. Und zu allem Unglück kamen sie auch noch genau in ihre<br />

Richtung - das Tier schien sie gewittert zu haben. Jetzt hatten sie den Hund angeleint, damit er sie<br />

auch direkt an der Fährte, die er verfolgte, entlang führen konnte. Und er war auf dem richtigen Weg,<br />

genau auf die Rekschat zu... es kam mir vor als würde die Zeit nur so vorbei rasen, als ich nach einem<br />

Ausweg für die Frau und ihr Kind suchte - und plötzlich blieb mein Blick an einem Bienenstock<br />

hängen, der an einem Ast hing. Und wie es aussah, würden die Multorier genau darunter<br />

hindurchgehen... Also bin ich auf den zugehörigen Ast geflogen, und hab gewartet, bis sie darunter<br />

waren... Mensch, war das lustig! Die beiden Kerle haben mitsamt Hund das Weite gesucht, verfolgt<br />

von einem Schwarm wütender Bienen. Na gut, vielleicht glaubt die Rekschat jetzt an Wunder, aber<br />

egal. Jetzt war es mir erst mal wichtiger, den Strolch zu finden, der meine Sachen geklaut hatte.<br />

Und kaum fliege ich mal etwas höher, sehe ich ihn auch schon am Waldrand. Allerdings war er nicht<br />

allein - da waren noch mehrere Menschen seiner Rasse, die hier wohl eine Wagenburg<br />

zusammengestellt hatten. Bunt sah das Treiben dort aus, und eigentlich ganz freundlich. Ich wunderte<br />

mich schon, wieso ausgerechnet so einer sich an meinem Gepäck vergreifen würde, aber dann klärte<br />

sich diese Frage von selbst. Er fing an, ziemlich große Reden zu schwingen - wenn ich auch kein Wort<br />

von dem, was er so sagte, verstand, konnte ich mir doch den Inhalt seines Sermons an seiner Gestik


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

ausrechnen. Angegeben hat der - wem er das alles abgenommen hätte, und wie einfach das gewesen<br />

sei, und wie hübsch ich wohl gewesen sein müsse, und was er mit mir nicht alles angestellt hätte - na<br />

warte, Bursche, dachte ich mir, so nicht auf meine Kosten - und bin im Sturzflug auf ihn zu. Himmel,<br />

muß das ausgesehen haben! Das ganze Lager fing schallend zu lachen an, aber es ist ja auch<br />

ungewöhnlich, daß ein Angeber aus heiterem Himmel von einem Eichelhäher angegriffen wird. Noch<br />

alberner war allerdings, daß ausgerechnet jetzt die Zauberwirkung nachließ... jedenfalls stand ich<br />

plötzlich wieder als Mensch mitten im Lager der - wie sich später herausstellte - Nushq´qai.“<br />

Zhoreena legte wieder eine kurze Pause ein, um etwas zu trinken.<br />

„Na da bin ich ja mal gespannt, wie du dich da wieder herausgeredet hast“ warf Lianna ein.<br />

„Herausgeredet? Das war eigentlich gar nicht nötig“ entgegnete Zhoreena.<br />

„Eigentlich hat sich das meiste von ganz alleine geklärt - eine der anwesenden Damen hat<br />

einigermaßen verstanden, was passiert war und dem angeberischen Frechdachs verbal auf die Finger<br />

geklopft - und anschließend haben mich die Nushq´qai quasi als Entschuldigung zum Abendessen<br />

eingeladen. Übrigens, sehr lecker, so was, und amüsant. Müßt ihr unbedingt mal... Moment! Ich habe<br />

heute ein Nushq´qailager am Stadtrand gesehen, da muß ich euch unbedingt mal mit hinnehmen.“<br />

„Ha ha ha! Amüsant! Kann ich mir gut vorstellen, wenn du da so ganz ohne Klamotten...“<br />

„Lianna! Jetzt reicht’s aber!“ Mittlerweile wirkte Caerlissa sichtlich genervt davon, ihre kleine<br />

Schwester zu maßregeln.<br />

„Damit du endlich Ruhe gibst - die haben sie mir direkt wiedergegeben. Aber trotzdem hat es jede<br />

Menge Spaß gegeben. Allerdings wurde der dann ziemlich plötzlich unterbrochen - als nämlich die<br />

Rekschat, die ich vorher gesehen hatte, ins Lager gelaufen war. Offensichtlich hatte der Hund der<br />

Multorier ihre Fährte wieder aufgenommen - jedenfalls bat sie die Nushq´qai, sie zu verstecken. Nun,<br />

Nushq´qai halten im Normalfall so ziemlich genau nichts von Sklaverei, und dementsprechend<br />

gewährten sie ihr erst einmal Unterschlupf - mir übrigens auch. Und ich bin noch eine ganze Weile<br />

mit den Nushq´qai herumgezogen. Aber das, wovon ich euch jetzt erzählen will, geschah am nächsten<br />

Morgen, oder besser gesagt, noch in der selben Nacht.<br />

Die Rekschat, die sich übrigens als Gorretani vorgestellt hatte, saß die ganze Zeit wach am<br />

Lagerfeuer, und wenn man genau hinhörte, konnte man sie leise schluchzen hören. Natürlich wollte<br />

ich den Grund für ihre Trauer herausfinden, und die Auskunft, die sie mir auf meine Frage gab, war<br />

erschütternd: Ihr Mann, der Vater des Kindes, das nun friedlich in ihrem Arm schlummerte, war Tags<br />

zuvor von den Multoriern gefangengenommen worden. Und natürlich gab es für sie kaum Hoffnung,<br />

ihn je wiederzusehen. Da mußte ich doch einfach helfen. Eine Idee hatte ich auch schon, nur wußte<br />

ich noch nicht, wie ich sie umsetzen konnte. Aber glücklicherweise hatte ein Nushq´qai namens<br />

Kendric uns zugehört, und bot seine Hilfe an - und wie sich herausstellte, war er genau derjenige, den<br />

ich für meinen Plan gebrauchen konnte... Kendric ist mit Abstand der beste Fälscher, den ich je<br />

gesehen habe. Also schrieb ich eine Notiz und ein möglichst wichtig aussehendes Dokument, er<br />

versiegelte beides mit dem ´königlich multorischen Siegel´ und außerdem fertigte er mir die<br />

Fälschung der Abzeichen eines königlichen Sonderbeauftragten an.“<br />

„Was sollte das denn?“ fragte diesmal Leandra. „Ich dachte, du wolltest den Rekschat befreien...“<br />

„Sicher“, erwiderte Zhoreena, „aber das geht auch anders als einfach mit dem Schwert ab durch die<br />

Mitte. Hör einfach weiter zu. Ich habe mir noch von einem Nushq´qai die Uniform eines<br />

hochrangigen multorischen Offiziers beschreiben lassen, und dann konnte es auch schon losgehen -<br />

was ein Glück, daß ich auf der Universität auch Multor gelernt hatte. Ich verwandelte meine Kleidung<br />

zeitweise in eine multorische Offiziersuniform, eines der Nushq´qaipferdchen in ein schnelles<br />

Streitroß, und verdunkelte meine Hautfarbe passend. Es war überhaupt nicht schwer, das<br />

Nushq´qailager war mit soviel magischer Energie geladen, wie ich es kaum erwartet hatte. Um so<br />

besser, denn in der Garnison hätte ich wohl kaum darauf zu hoffen brauchen. Gorretani hatte mir<br />

genau beschrieben, wo die Garnison lag, in der ihr Mann gefangengehalten wurde. Und schon konnte<br />

der eigentliche Spaß losgehen.<br />

Ich reite also zur Garnison, und mache mich erst mal am Tor bemerkbar: ´Öffnet das Tor! Callorra sen<br />

Rensey, Sonderbeauftragte seiner Majestät König Critschaks, verlangt augenblicklich Einlaß! Und<br />

zwar ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf! Sonst gibt es eine Meldung an höherer Stelle, dann<br />

macht euch der Heerführer mal Beine, ihr faules Pack!´ Ich glaube, die kleine Reitpeitsche, wie sie<br />

Offiziere eben so dabei haben, um ihren Befehlen Nachdruck zu verleihen, tat den Rest dazu - die<br />

haben mir das vollkommen abgekauft, diese Deppen! Jedenfalls haben sie mich zum Kommandanten<br />

geführt, und dem habe ich dann das Dokument vorgelegt - es sah auch wirklich offiziell und wichtig


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aus, mit ´original´ königlichem Siegel, hi hi! Auf jeden Fall hat er geglaubt, was darin stand - nämlich,<br />

daß ich im direkten Auftrag des Königs handele, und entsprechende Privilegien hätte. Nicht einmal<br />

als ich verlangte, das der ´frisch eingefangene´ Sklave in meinen persönlichen Dienst überstellt<br />

werden sollte, hat er widersprochen! Es ist schon erstaunlich, wie übertrieben diese Militärs<br />

katzbuckeln können, wenn mal ein hohes Tier auftaucht - der wäre meinem Pferd in den Arsch<br />

gekrochen, wenn ich das verlangt hätte. Ich habe mich jedenfalls königlich amüsiert, mir einmal den<br />

kompletten Luxus eines halben Tages Ehrengastversorgung geleistet, inklusive heißem Bad, genug<br />

edelster Verpflegung für die ´ach so lange Rückreise´, wie auch ein Packpferd, das dann im Endeffekt<br />

bei den Nushq´qai geblieben ist - zum Schluß habe ich diesem hoch dekorierten Vollidioten noch die<br />

versiegelte Notiz zur Vorlage bei seinem direkten Vorgesetzten überreicht, mit dem Kommentar, daß<br />

er wegen besonderer Verdienste bestimmt bald zu einem interessanteren Aufgabengebiet versetzt<br />

würde. Und am Abend gab es dann eine große Wiedersehensfeier im Nushq´qailager, natürlich mit all<br />

dem Proviant, den ich mir für ´unterwegs ´ habe mitgeben lassen.“<br />

„Was hatte eigentlich auf der Notiz gestanden?“ wollte diesmal Caerlissa wissen.<br />

„Nun ja, ich mußte ja irgendwie sichergehen, daß die Multorier mein Versprechen an den<br />

Kommandanten wahrmachten - ´Angeschmiert - und deine Mutter treibt es mit Grantken, du Trottel!´“<br />

Diesmal war es sogar Jakla, die ein wenig lachen mußte. „Was auch sonst... das ist mal wieder<br />

typisch, aber wenigstens hat es den richtigen erwischt...“<br />

„Ja, nicht? Das hatte ich mir auch gedacht“ erwiderte Zhoreena mit einem breiten Grinsen.<br />

„Und was ist dir sonst noch so passiert?“ Lianna schien gar nicht genug bekommen zu können.<br />

„Ach, so spannend wie der Anfang meiner Wanderschaft war der Rest kaum“ entgegnete Zhoreena.<br />

„Sicher, ich bin einer Menge Leute begegnet, einer Menge interessanter Leute, hauptsächlich<br />

Rekschat und Nushq´qai, und ich habe auch nicht nur einige neue Zaubertechniken, sondern auch<br />

Sprachen gelernt. So etwas ist nützlich - vor allem wenn man sich als etwas ausgeben will, was man<br />

nicht ist.“<br />

„Na, das weißt du ja aus Erfahrung“, warf Leandra ein.<br />

„Stimmt. Und ich habe diese Erfahrungen nicht nur einmal wieder genutzt. Aber was den weiteren<br />

Verlauf meiner Reisezeit angeht - ich will euch nicht mit Magietheorie langweilen, aber ich habe<br />

mich natürlich gemäß meiner Aufgabe meinen Studien gewidmet. Und das war auch ganz gut so, denn<br />

sonst wäre ich der Prüfung die mich in der Universität erwartete, bestimmt nicht gewachsen gewesen.<br />

Allerdings haben sich auch die ein oder andere Fertigkeit nichtmagischer Natur, die ich mir unterwegs<br />

angeeignet hatte, in Krisensituationen bewährt. Was dabei so rausgekommen ist, werdet ihr noch früh<br />

genug merken, liebe Schwestern.“<br />

„Das war ja zu befürchten“ meinte Lianna, nur um dann laut schreiend und sich das Hinterteil haltend<br />

aufzuspringen.<br />

„Aua! Wer war das?“ Diesmal war es Zhoreena, die das ´Ich? Ich hab doch gar nichts gemacht -<br />

Gesicht´ aufsetzte.<br />

Als sich nun das allgemeine Gelächter in der kleinen Stube gelegt hatte machte Leandra, die<br />

Zweitälteste, Anstalten, ihren Werdegang zu berichten. Wie viele Fragen würden die Schwestern wohl<br />

einander zu stellen haben, wenn eine jede ihre Geschichte zum Besten gegeben hatte? Sie konnten<br />

sich jetzt ja schon kaum beherrschen...<br />

„Tja, Schwestern, ich habe auch einiges erlebt“, sprach nun Leandra, worauf die anderen, allen voran<br />

Lianna, sie bestürmten: „Nun erzähl schon“ - „Genau, du bist dran“ - „Wir sind schon gespannt!“ -<br />

„Ist ja gut, ist ja gut!“, wehrte Leandra den Ansturm ab, „ich erzähl’ ja schon!“<br />

„Tja, Leute, ob ihr es glaubt oder nicht: Ich bin mittlerweile verheiratet und Mutter eines erwachsenen<br />

Sohnes!“ Diese Nachricht schlug wie ein Blitz ein! „Ja wie, wieso und weshalb und überhaupt? ...“<br />

Das Stimmengewirr hätte auf einem Markt nicht schlimmer sein können, bis sich Jakla einschaltete:<br />

„Schluß jetzt! Laßt Leandra von Anfang bis Ende erzählen.“ Und dann, zu Leandra gewandt: „Dein<br />

Stiefsohn war hier und hat auch Grüße bestellt! Ich nehme an, die Hintergründe dieser Angelegenheit<br />

sind Gegenstand deiner Geschichte?“ - „Richtig, Mutter. Ich fange am besten bei unserer Abreise<br />

an...“


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„Also, ich bin ja, wie ihr auch, vor sechs Jahren von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> aufgebrochen, um praktisch ein<br />

neues Leben anzufangen. Da ich von der Hitze und dem daraus resultierenden Gestank während<br />

Frühling, Sommer und Herbst im wahrsten Sinne die Nase voll hatte, beschloß ich, meinen Schritt gen<br />

Norden zu lenken, wenn ich erst aus der Stadt ‘raus wäre. Ich verließ also <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> am Westende<br />

der Spalte und wandte mich in Richtung Hallakinisches Imperium. Eine alte Karte, die ich<br />

irgendwann während eines Ausflugs in die Oberstadt gefunden hatte, beschrieb dabei einen Weg, der<br />

zunächst nicht nach Norden, sondern nach Westen durch das Multorische Reich führte und der erst<br />

später einen Bogen zum Hallakinischen Imperium schlug. Ich beschloß, mich an diesen Pfad -<br />

offenbar eine uralte Handelsstraße - zu halten. Dabei ließ es sich leider nicht vermeiden, daß ich an<br />

diversen Schauplätzen des Krieges zwischen den Multoriern und den Rekschat vorbeikam.“ Dabei<br />

schaute sie Caerlissa an: „ Schade, daß wir uns da nicht begegnet sind! Na egal, weiter im Text...<br />

Auf einem solchen Schlachtfeld - offenbar einer kleineren, aber ziemlich heftigen Schlacht - fand ich<br />

einen älteren Multorischen Offizier, der noch lebte. Ich klaubte das Wissen, was Du, Mutter, uns allen<br />

ein wenig vermitteln konntest, zusammen und verpaßte dem Mann einen ganz passablen Feldverband.<br />

Danach schleppte ich ihn vom Schlachtfeld in den Wald. Zum Glück fand ich dort eine kleine, zu der<br />

Zeit unbewohnte Hütte. Dort pflegte ich den Fremden gesund - zum Glück entzündete die Wunde sich<br />

nicht, und er wurde auch sonst nicht fiebrig. Als er wieder gesund war und fragte, wie er es<br />

gutmachen könnte, daß ich ihn gerettet hätte, bat ich um Unterricht im bewaffneten Kampf. Wie ihr ja<br />

wahrscheinlich noch wißt, hat mich das Leben der Söldlinge und Reisigen immer fasziniert. Daß ich<br />

mit diesem Wunsch im übertragenen Sinn auf eine Goldader gestoßen war, konnte ich zu dem<br />

Zeitpunkt ja noch nicht wissen. Es stellte sich heraus, daß die Schlacht, wo er verwundet worden war,<br />

gar keine Schlacht im eigentlichen Sinne gewesen war. Er hatte vielmehr mit einem Trupp Rekruten<br />

eine Feldübung durchführen wollen. Dabei wurden sie von einem Rekschatkommando entdeckt und<br />

wortwörtlich abgeschlachtet. Die Tatsache, daß sich Vlad - so sein Name: Weibel Vlad Jugatin -<br />

ziemlich schuldig für den Tod seiner Schützlinge fühlte, gab mir die Gelegenheit, eine erstklassige<br />

Ausbildung im Schwertkampf zu erwerben. Er nahm mich bei sich zu Hause auf und unterrichtete<br />

mich im Kampf mit Dolch, Schwert und Lanze. Ich erhielt die wohl gründlichste militärische<br />

Ausbildung, die es je gegeben hat, denn ich war seine einzige Schülerin, und Unterricht war jeden<br />

Tag acht Stunden! Nach etwas mehr als einem Jahr trat Vlad mit mir zusammen vor eine Kommission<br />

der Multorischen Armee, und aufgrund meines Könnens wurden mir Fähigkeiten attestiert, die sonst<br />

einem Leutnant oder Hauptmann ausmachten. Mir wurde sogar eine Art „Offizierspatent ehrenhalber“<br />

verliehen. Wenn ihr es sehen wollt, ich hab’ es in meinen Satteltaschen.<br />

Danach zog es mich weiter in Richtung meines ursprünglichen Zieles. Ich verabschiedete mich also<br />

von Vlad - der mir zum Abschied übrigens dieses Schwert schenkte - und brach wieder in Richtung<br />

Imperium auf, diesmal direkt nach Norden.<br />

Nach zwei Jahren war es dann soweit: Ich überquerte die unsichtbare Grenze zum Hallakinischen<br />

Imperium. Nach vier Monaten Wanderschaft durchs Multorische Reich, 16 Monaten beim alten Vlad<br />

und weiteren vier Monaten Reise nach Norden hatte ich die kalten Steppen des Nordens erreicht. Es<br />

war herrlich! Der Frühlingswind wehte über das Land, das goldgelb im Steppengras vor mir lag.<br />

Weiter im Norden und Nordosten sah ich Wälder, im Nordwesten und Westen schien das Land eben<br />

zu bleiben. Ich entschloß mich, die Wälder anzusteuern und ging Richtung Nordosten. Die Luft war<br />

kristallklar und so rein, wie ich sie noch nie gerochen hatte. Sie roch trotz der relativen Kühle frisch<br />

und lebendig, ich kann es gar nicht beschreiben.<br />

An Nahrung fehlte es nicht, es gibt dort im Norden reichlich Hasen und Kaninchen und andere<br />

jagdbare Kleintiere, ebenso wie Beerensträucher, die teilweise sogar das ganze Jahr über blühen und<br />

Früchte tragen. Wasser gibt es auch genug, das Land ist durchdrungen von vielen kleinen Flüssen und<br />

Bachläufen, und das Wasser schmeckt so klar und frisch und gut wie die Luft riecht. Mir war, als<br />

wäre ich gerade neu geboren worden. Die Einsamkeit, die mich während der vier Monate vor und der<br />

vier Monate nach dem Aufenthalt bei Vlad stets begleitet hatte, war mir mehr als willkommen, und<br />

hier mochte ich frei sein wie der Wind. Ich wanderte ungefähr ein halbes Jahr lang durch die<br />

Nordländer, und sogar die Kälte, die mir in die Wangen biß, bereitete mir Freude - ich war lebendig<br />

wie lange nicht mehr!


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Dann eines Tages hatte ich meine erste Begegnung mit anderen Menschen. Ich hatte zwar vorher<br />

immer schon einmal Leute in weiter Ferne vorbeiziehen sehen, aber ein Zusammentreffen stets<br />

vermieden. Zuerst hörte ich Kampflärm - Metall auf Metall, Schreie usw..<br />

Ich zog mein Schwert und lief in die Richtung, aus welcher der Lärm kam. Kurz darauf sah ich, wie<br />

drei Leute einen vierten bedrängten, während ein fünfter sich an den Satteltaschen eines Pferdes zu<br />

schaffen machte. Da ich unfaire Kämpfe noch nie ausstehen konnte, warf ich mich dazwischen. Der<br />

einzelne, offenbar ein junger Mann, wenn auch von seltsamen Aussehen, hatte schon einen Gegner<br />

mit dem Schwert erschlagen. Mit Gebrüll warf ich mich auf einen der anderen beiden Angreifer und -<br />

wie ich stolz sagen kann - machte ihn mit einigen kurzen Streichen so fertig, daß er die Flucht ergriff.<br />

Der Dritte Angreifer setzte währenddessen dem Jungen weiter zu, der sich aber noch tapfer hielt. Der<br />

Fremde, welcher sich zunächst um den Inhalt der Satteltaschen gekümmert hatte, wandte sich nun mir<br />

zu. Er war nur ein kleiner Dieb, bei weitem nicht in der Lage, auch nur daran zu denken mit unserem<br />

Kätzchen zu spielen. Der Verlust seines rechten Unterarmes bewegte ihn recht rasch dazu, seinem<br />

Kumpel gleich das Heil in der Flucht zu suchen. Beinahe zu spät, denn der letzte Angreifer hatte den<br />

Jungen gerade zu Boden gestoßen und hob nun an, ihm das Schwert in den Brustkasten zu rammen.<br />

Ich kam ihm mit der gleichen Aktion zuvor, nur das es sein Brustkasten war, den ich durchbohrte.<br />

Nachdem ich ihm das Schwert aus dem Leib gezogen hatte und er daraufhin zusammengebrochen<br />

war, hatte ich Zeit, mich um den Jungen zu kümmern. Er war doch stärker mitgenommen, als ich<br />

zuerst vermutet hatte. Ein Glückstreffer eines der Banditen mußte zwischen die Lamellen seiner<br />

Rüstung geraten sein und hatte eine ziemlich tiefe Wunde gerissen. Dazu zwei größere Kopftreffer<br />

und natürlich jede Menge Prellungen.<br />

Hatte ich während des Kampfes die Lehren Vlads so richtig schätzen gelernt, erinnerte ich mich nun<br />

ein zweites Mal seit meinem Aufbruch von hier deiner Lehren, Mutter, und verarztete den Jungen so<br />

gut ich konnte. Zum Glück fanden sich in meinem Gepäck mittlerweile Bandagen und Alkohol sowie<br />

ein paar Salben und Kräuter, die ich von einem multorischen Heiler erworben hatte, und von dem ich<br />

auch noch einiges über deren Anwendung gelernt hatte. Während ich ihn also versorgte, hatte ich<br />

Gelegenheit, ihn näher zu betrachten: Seine Haut war straff und fest und von dunkelbrauner Farbe,<br />

fast wie Leder, wenn auch weicher und angenehmer zu berühren. Seine Schultern, seine Stirn die<br />

Oberarme wiesen einen starken Knochenbau auf, die fast wie eine natürliche Rüstung wirkten. Sein<br />

volles, pechschwarzes Haar fiel bis auf die Schultern und war zu einem Pferdeschwanz gebunden.<br />

Sein Körper war recht athletisch, wenn auch nicht sehr muskulös. Bis auf die Festigkeit der Haut und<br />

die Verhärtungen an Stirn, Schultern und Armen war er von menschlicher Gestalt. Zumindest dachte<br />

ich das, bis ich sein Gebiß sah: Seine Eck- und die Schneidezähne waren wahrlich wölfisch. Wenn<br />

man allerdings bedenkt, daß die Nahrung der Kai - so nennen sich diese Leute - zu vier Fünfteln aus<br />

Fleisch besteht, daß auch öfters roh verspeist wird, weiß man solche Reißer durchaus zu schätzen.<br />

Der Junge hatte mich während der ganzen Zeit, in der ich ihn untersuchte und verband, mit großen<br />

Augen angeschaut. Als ich fertig war, deutete er auf sich und sagte nur ‘Torg’. Ich zeigte auf mich<br />

und nannte meinen Namen, worauf er lächelte. Trotz der Reißzähne ein durchaus charmantes,<br />

jungenhaftes Lächeln. Ich mußte auch lächeln. Ich fragte ihn auf multorisch, wo er denn zu Hause sei.<br />

Er schien mich verstanden zu haben, denn er sagte irgend etwas in einer recht kehligen Sprache und<br />

deutete nach Nordosten. Ich lud ihn also auf sein Pferd, stopfte seinen Kram wieder in die<br />

Satteltaschen und führte das Pferd am Zügel in die Richtung, die er angedeutet hatte. Kurz darauf<br />

wurde er ohnmächtig. Zu meinem Glück hatte er dem Pferd vorher deutlich machen können, daß es<br />

mich die Zügel nehmen ließ. Ich glaube, ohne dies hätte mich das Tierchen nicht an sich heran<br />

gelassen. Der Räuber, der sich an den Taschen zu schaffen gemacht hatte, konnte von Glück reden,<br />

daß das Pferd schon angehobbelt war, als er mit seinen Kumpanen Torg überfiel. Es hätte ihn mit<br />

Sicherheit die Zähne und unter Umständen die Fähigkeit, aufrecht zu gehen gekostet.<br />

Nachdem wir etwa vier Stunden gegangen waren, konnte ich in einiger Entfernung Rauch ausmachen.<br />

Eine Viertelstunde später waren wir von sechs von Torgs Stammesbrüdern umgeben, die uns in ein<br />

Zeltdorf führten. Wir gelangten ins Zentrum des Dorfes, einen runden Platz von etwa 20 Metern<br />

Durchmesser, dessen Rand von zehn Zelten gebildet wurde. Hier hoben ein junger Mann und eine<br />

junge Frau Torg vom Pferd und brachten ihn in das kleinste Zelt, welches am Kreis stand. Keiner<br />

machte Anstalten, mir meine Waffen oder etwas anderes wegzunehmen, aber es war auch klar, daß<br />

ich mich nicht von der Stelle rühren sollte. Kurz nachdem der Junge ins Zelt gebracht worden war,<br />

lief einer der sechs, die uns ins Dorf geführt hatten und die mich nun, wie soll ich sagen, bewachten,


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vom Zentralplatz weg und kam nicht ganz zwei Minuten später mit einem Mann zurück. Dieser sah<br />

aus wie eine ältere Version von Torg - und war, wie sich bewahrheiten sollte, dessen Vater.<br />

Er trat in den Kreis und betrachtete mich eingehend, prüfend. Nicht, wie manche menschlichen Kerle<br />

einen mit den Blicken ausziehen, sondern eher aus absolut ehrlichem und offenem Interesse. Nachdem<br />

er mich so gemustert hatte, setzte er sich vor mich im Schneidersitz hin. Ich tat es ihm gleich, und wie<br />

wir uns gegenüber saßen, musterte er mich erneut, als wolle er nur durch Blickkontakt herausfinden,<br />

was er von mir zu halten hatte. Ich imitierte sein Gebaren, indem ich ihn meinerseits eingehend<br />

studierte. Abgesehen von den schon beschriebenen Äußerlichkeiten, die schon seinen Sohn<br />

kennzeichneten besaß er tiefgrüne Augen, hohe Wangenknochen und einen Schnauz- und einen<br />

Kinnbart, die ihm etwas verwegenes verliehen, ihn aber gleichzeitig mit seinem restlichen Äußeren<br />

und seiner Haltung aristokratisch wirken ließen. Als er meinen Blick bemerkte, lächelte er. Dabei<br />

konnte ich erkennen, daß dieser Mann es war, von dem Torg sein Lächeln hatte. Er ergriff meine<br />

rechte Hand und massierte sie leicht, strich mit den Fingerspitzen über meine Handfläche und die<br />

Innenseite der Finger, daß mir Schauer über den Rücken liefen. Diese großen und offenbar starken<br />

Hände besaßen die Leichtigkeit eines Schmetterlingsflügels. Dann zeigte er auf mein Schwert, und als<br />

ich die Arme anhob, zog er es aus der Scheide. Nachdem er auch dieses begutachtet hatte, nickte er<br />

zufrieden und gab es mir zurück.<br />

Währenddessen war neben uns Holz aufgeschichtet und angezündet worden. Wie auf ein geheimes<br />

Signal hin trat aus dem kleinen Zelt, in welches Torg gebracht worden war, eine alte Frau mit langem,<br />

fast bis zum Boden reichendem weißem Haar und auf einen knorrigen Stock gestützt. Der Stock war<br />

aber offenbar mehr Accessoire als Notwendigkeit, denn sie bewegte sich mit einer geradezu<br />

jugendlichen Eleganz. Sie stellte sich hinter meinen Gegenüber, beugte sich zu ihm hinunter und<br />

flüsterte ihm etwas zu. Daraufhin erhob er sich und ging in das kleine Zelt, während die Frau seinen<br />

Platz mir gegenüber einnahm. Sie deutete mit dem Zeige- und dem Mittelfinger ihrer linken Hand auf<br />

ihre Augen und bewegte die Fingerspitzen nach unten. Ich schloß meine Augen und fühlte sogleich,<br />

wie zwei Hände meine Schläfen berührten. Zuerst gab es in meinem Kopf eine Art Blitz, und ich<br />

schreckte zurück. Doch dann überließ ich mich der alten Frau. Eigentlich hätte ich ja wahrscheinlich<br />

Angst haben müssen, aber irgendwie wußte ich, mir würde kein Leid geschehen. Ich spürte, wie der<br />

Geist der Alten in mich drang, und ich hatte auf einmal das Gefühl, mit der Frau allein auf einer<br />

weiten, schneebedeckten Hochebene zu sitzen, über uns nur der Himmel.<br />

‘Habe keine Angst, mein Mädchen’ sagte sie, und obwohl ich wußte, die Sprache nie zuvor gehört zu<br />

haben, verstand ich sie auf Anhieb.<br />

‘Du bist jetzt bei den Molekkai, einem Stamm vom großen Volke der Kai. Ich weiß von Torg, was<br />

passiert ist, und heiße dich als Freundin willkommen. Auch Torrik, Torgs Vater, ist offenbar sehr<br />

beeindruckt von dir. Er war, wie du wahrscheinlich schon vermutest, der Mann, der dir eben noch<br />

gegenüber saß.’ Ich fragte, wie ich sie auf einmal verstehen könnte und wo wir denn überhaupt wären,<br />

denn trotz der Kälte, die ganz offensichtlich an diesem Ort herrschte, fror ich nicht im Geringsten.“<br />

Zhoreena’s Ohren hatten bei diesen Worten zumindest im übertragenen Sinne die Ausmaße von<br />

Rhabarberblättern angenommen, und Caerlissa lauschte auch sehr fasziniert. Sogar die sonst extrem<br />

lebhafte und zu Unterbrechungen neigenden Lianna hörte gebannt zu. Jakla kannte die groben Züge<br />

dieser Geschichte zwar schon durch Torg, der in der Tat rund ein Jahr zuvor bei ihr zu Besuch<br />

gewesen war. Aber dennoch war sie teils gefesselt, teils erschrocken, diese ihr bisher unbekannten<br />

Facetten der Geschichte zu erfahren. Und so hütete auch sie sich, Leandra zu unterbrechen. Der alte<br />

Wingart saß nur da, scheinbar ungerührt, obwohl auch seine Ohren allmählich zu wachsen schienen.<br />

Leandra fuhr fort: „‘Wir sind hier in der Geisterwelt, auf der Ebene der Klarheit. An diesem Ort<br />

frieren nur Lügner und Böse Kreaturen. Die anderen werden durch ihre Wahrhaftigkeit und<br />

Aufrichtigkeit gewärmt. Daß du mich verstehst, gehört zum einen zu den Gesetzen dieser Welt: Hier<br />

gibt es nur eine Sprache, die Sprache des Herzens. Zum anderen bin ich gerade dabei, deinem<br />

Bewußtsein unsere Sprache einzugliedern. Wenn du hier bleibst - was man nebenbei von dir erwarten<br />

wird, zumindest für die nächsten drei Monde - wirst du unsere Sprache kennen müssen’ Daraufhin<br />

zog sich die Frau wieder aus meinem Geist zurück, und ich erwachte wie aus einer Trance.<br />

Inzwischen war es abend geworden, mehrere Feuer brannten ringsum her, und es duftete bereits nach<br />

frisch geröstetem Fleisch. Torg war wieder auf den Beinen und ließ es sich nicht nehmen, mich<br />

persönlich zu bedienen. Anschließend setzten er und Torrik sich zu mir, und da ich das Kai durch die


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Zauberkraft der Schamanin - sie heißt übrigens Rash’yira, Spricht-mit-Geistern - mittlerweile so gut<br />

kannte, als hätte ich fünf Jahre bei einem Kai gelernt, unterhielten wir uns recht angeregt. Ich erzählte<br />

von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, von meiner Kindheit und meiner Jugend hier, von euch und den Falken. Torrik<br />

erzählte mir von der Geschichte der Kai im allgemeinen und der Molekkai im speziellen, von den hin<br />

und wieder auftretenden Scharmützeln mit den Hallakinen und vom Leben in den kalten Steppen und<br />

im ewigen Eis des Nordens. Und weil wir alle so aufgekratzt waren und partout nicht müde wurden,<br />

erzählten wir bis in die frühen Morgenstunden. Dabei erfuhr ich auch, daß Torrik zum damaligen<br />

Zeitpunkt seit zwölf Jahren Witwer war - die Kai leben zwar zum größten Teil recht freizügig auch in<br />

familiären Angelegenheiten, aber wenn zwei Liebende Nachwuchs zeugen, entsteht ein Bund, der<br />

noch tiefer geht als eine Ehe zwischen zwei Menschen und der dann wirklich ein Leben lang hält.<br />

Torgs Mutter Valima war zwei Jahre nach seiner Geburt bei einem Überfall Hallakinischer Räuber<br />

von einem vergifteten Pfeil in den Rücken getroffen worden und starb binnen Sekunden. Seitdem<br />

hatte Torrik keine Gefährtin mehr gehabt, und er widmete sich ganz seinem Sohn. Die Gefühle, die<br />

bei dieser Erzählung in Torriks Stimme mitschwangen, trafen mich wie ein Schlag. Soviel unendliche<br />

Liebe für seine verstorbene Gefährtin und seinen Sohn, von einer geradezu kindlich-naiven Reinheit.<br />

Ich glaube, von dem Moment liebte ich Torrik. Plötzlich ergriff er meine Hand, Torg war inzwischen<br />

am Feuer eingeschlafen, und führte mich zu einer Pferdekoppel.<br />

‘Ich habe mich noch gar nicht richtig für das Leben meines Sohnes bedankt’ sagte er und führte mich<br />

weiter zu einem dreijährigen Fohlen, einem herrlichen Schimmelhengst.<br />

‘Das ist der Sohn meiner besten Stute Sutra. Er soll dein sein!’ Damit führte er das Fohlen zu mir.<br />

Danach erlebte ich zum zweiten Mal in kurzer Zeit die Macht der Magie: Der junge Hengst trat an<br />

mich heran und legte seine Stirn an meine - und wieder verspürte ich diesen Blitz, wie bei der<br />

Gedankenverschmelzung mit Rash’yira.<br />

‘Nun seid ihr auf ewig miteinander verbunden. Wisse, Leandra, daß die Pferde der Kai so etwas wie<br />

ihre spirituellen Brüder sind, die selbst der Tod des einen nur solange trennen kann, wie der andere<br />

noch lebt. Treffen sich beide im Reich der Toten wieder, so verschmelzen sie zu einem Wesen, wie<br />

Zentauren. Daher stammen auch die Legenden von diesen Mann-Pferden, die ab und an in den<br />

Träumen auch der Menschen auftreten. Nun gib ihm einen Namen, und zwar den ersten, der dir<br />

einfällt, jetzt wo die Verbindung noch neu ist!’<br />

Ich konnte nur sagen ‘Morlan’, und ich hörte in meinem Geist ‘Leandra’. Seitdem verstehe ich mich<br />

mit Morlan, als wären wir ein Wesen.“ Mit einem Seitenblick auf Jakla: „Die Geschichten von den<br />

Zentauren, die ich als Kind so sehr liebte, haben doch mehr Substanz, als wir damals glaubten!“<br />

Leandra goß sich von dem Wein nach, denn ihren Becher hatte sie Verlaufe der Geschichte ganz<br />

ausgetrunken.<br />

„Und? Wie war das mit dir, deinem Ehemann und deinem Sohn?“ platzte Lianna heraus. „Scht,<br />

Kätzchen“ zischte Wingart, „laß Leandra erstmal einen Schluck nehmen!“<br />

„Eben“, erzählte Leandra weiter, „dazu komme ich jetzt! Dieses Geschenk von Torrik war das<br />

schönste, was mir je passiert ist - und das gilt auch jetzt noch. Als er direkt danach zu seinem Zelt<br />

zurückging, folgte ich ihm. Er hatte gerade Torg hineingetragen und zugedeckt, als ich eintrat. ‘Das ist<br />

das schönste, was mir je passiert ist. Danke, Torrik!’ sagte ich. Als er etwas erwidern wollte, legte ich<br />

ihm die Hand auf den Mund und umarmte ihn dann. Dabei legte ich meinen Kopf an seine Brust - er<br />

ist immerhin einen Kopf größer als ich - und drückte ihn. Irgendwie war mir so seltsam zumute, und<br />

es erschien mir nur natürlich, ihn zu umarmen. Wie von selbst schlossen sich auch seine Arme um<br />

mich, und wir standen vielleicht eine halbe Stunde einfach nur da und genossen dieses warme, zarte<br />

Gefühl. Irgendwann fragte ich ihn, ob man bei den Kai sich auch küssen würde, und als Antwort legte<br />

er seine Lippen auf meine und küßte mich, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Was wahrscheinlich<br />

daran lag, daß Torrik reifer und erfahrener als alle meine früheren Freunde war - guck nicht so,<br />

Mutter! Ja, ich war, als ich <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> verließ, schon nicht mehr Jungfrau! Deinem Blick nach zu<br />

urteilen, weißt du scheinbar auch, warum ich das bisher verschwiegen habe.<br />

Wo war ich - ach ja! Nicht einmal sein Wolfsgebiß schmälerte diesen süßen Augenblick. Wir konnten<br />

gar nicht mehr aufhören, uns zu küssen, und dann sanken wir schließlich auf Torriks Lager und -<br />

nachdem wir uns von unseren lästigen Kleidern befreit hatten - liebten uns, bis wir bei Sonnenaufgang<br />

einschliefen, uns immer noch in den Armen haltend. Ich weiß auch nicht, irgendwie war diese


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Liebesnacht etwas kostbares, ja heiliges, woran ich immer mit größter Glücklichkeit zurückdenken<br />

werde.<br />

Ich blieb also bei den Molekkai - und nicht nur drei Monate. Torrik und ich kamen uns auch im<br />

Alltagsleben immer näher, und nach einem halben Jahr bat er mich, seine Gefährtin zu werden. Torg<br />

bat mich heimlich ebenfalls darum - so froh war sein Vater selten gewesen. Da meine Liebe zu Torrik<br />

inzwischen sogar stärker geworden war - und ich glaube, das beruhte (und beruht heute noch) auf<br />

Gegenseitigkeit - willigte ich ein. Auch Rash’yira war froh und rief den Segen der Götter auf uns<br />

herab, während sie mit dem Crys, dem klassischen Dolch der Kai, Torriks und meine Pulsadern<br />

anschnitt und uns zu ‘Gefährten im Blut’ machte. Denn so sanft und zartfühlend die Kai euch auch<br />

erscheinen mögen - sie sind Krieger bzw. Kriegerinnen, die ihren Gegnern absolut gnadenlos<br />

gegenüber sind, vor allem, wenn sie diese für unwürdig halten. Blut spielt in ihren Mythen fast immer<br />

eine zentrale Rolle; doch das kann ich euch ein ander’ Mal erzählen.<br />

Auf jeden Fall: Seitdem bin ich Ehefrau und Mutter - zumindest Stiefmutter. Ich bin froh, das Torg<br />

hier war, das beruhigt mich, denn er ist wirklich wie ein Sohn für mich. Und wer weiß, wenn ich erst<br />

einmal wieder zu Hause bin - seid bitte nicht traurig, aber ich bin mittlerweile bei den Molekkai zu<br />

Hause - , vielleicht werden Torrik und ich noch ein Kind haben. So weit ich weiß, können Kai und<br />

Menschen Kinder haben, die sogar selbst Kinder zeugen können. Die Kai haben dabei jedoch die<br />

Fähigkeit, eine Zeugung zu verhindern: Eine Zeugung findet nur statt, wenn beide es wollen. In<br />

unserem Fall müßte Torrik es also wollen. Schau’n wir mal. Auf der Hochzeit erhielt ich auch meinen<br />

Kai-Namen, den ich mir mittlerweile durch diverse Kämpfe gegen Hallakine und auf der Jagd<br />

verdient hatte: Valkris, zusammengesetzt aus den Worten ‘Val’ - Frau und ‘Crys’ - Klinge, Klaue.<br />

Sinngemäß eine weibliche Kriegerin, und eine ruhmreiche dazu. Das Messer an meiner Seite ist ein<br />

solches Crys. Der Stamm hat es mir zur Hochzeit geschenkt. Seht ihr: Seine Klinge endet in einer<br />

Raute, und hier vor dem Heft sind zwei Sporne, die durch einen Knopfdruck ausklappen. Und obwohl<br />

die Klinge nicht mehr als 16 cm lang ist, ist das Crys eine furchtbare Waffe, in der Hand des<br />

Kundigen tödlich wie ein Zweihänder.<br />

Tja, nach der Hochzeit war ich noch zweieinviertel Jahre bei den Molekkai, bis mich dieser<br />

widernatürliche Drang überfiel, hierhin zurückzukehren. Ich hoffe,“ mit einem leicht böse gefärbten<br />

Blick zu Jakla, „es gibt einen wirklich verdammt guten Grund für mein hiersein. Denn dort oben war<br />

ich glücklich!“<br />

Nicht einmal die Andeutung eines Lächelns und auch nicht die Andeutung einer Erklärung erhielt<br />

man daraufhin von Jakla. Sie überhörte diese Andeutung geflissentlich - alles zu seiner Zeit, und gab<br />

keine Auskunft.<br />

Statt dessen schaltete sich jetzt Caerlissa ein, um ihre Geschichte zu erzählen... Sie erzählte ihren<br />

Schwestern, wie es dazu kam, daß sie nun die Tracht einer Priesterin trug.<br />

„Es war im Winter vor fünf Jahren, es war ein kühler Morgen und ich öffnete die Augen, sah mich<br />

irritiert um - ich wußte zuerst nicht, wo ich war... Helle Stoffbahnen eines Zeltes waren um mich<br />

herum, ein Feldlager! Von draußen vernahm ich geschäftiges Laufen, das Klirren von Waffen und das<br />

Schnauben von Pferden.<br />

Langsam versuchte ich mich aufzurichten und umzusehen. Erst den einen Arm aufstützen, so... dann<br />

den anderen...ahh. Urplötzlich verspürte ich Schmerzen tief in meinem Rücken, ich vermochte mich<br />

kaum zu rühren, auch die rechte Schulter schmerzte jetzt unangenehm, aber das war gerade noch<br />

auszuhalten. Ich blickte mich also um, ich war im Lazarettzelt. Aber - wie kam ich hierher?<br />

Ich ließ mich auf das harte Feldbett zurücksinken, ja, wie war ich überhaupt hierher gekommen? Ich<br />

lag da, ruhte mich aus und versuchte mich an die Zeit vor vielen Monaten zu erinnern, wo die<br />

Ereignisse, die mich hierher gebracht hatten, eigentlich wirklich ihren Anfang gefunden hatten.<br />

Ich dachte an euch alle, war ich doch zu diesem Zeitpunkt nun schon eine geraume Zeit fort von <strong>Elek</strong>-<br />

<strong>Mantow</strong>, etwas über ein Jahr. Vielleicht sechs Monaten zuvor war ich noch auf ungezielter<br />

Wanderschaft gewesen. Auf der Wanderschaft, ein barfüßiges Mädchen, eine Waise, die ihre Eltern


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

nie gesehen hatte, die nicht einmal wußte, wer ihre Eltern, und wo somit ihr rechter Platz im Leben<br />

war. Ich war, wie ihr auch, ohne Hab und Gut und scheinbar ohne jede Zukunft.<br />

Ich hatte mich auf dem Weg bereits an vielen Heilerschulen, überhaupt erst einmal an einer Schule,<br />

beworben, um etwas Rechtes zu erlernen. Aber ein Kind aus dem Rattenloch, aus der untersten<br />

Unterschicht, ohne Geld um für die Lehre zu bezahlen, ohne namhafte Fürsprecher um für den<br />

Lehrling zu bürgen? Das hatte keinen Wert, nirgendwo auf Nontariell. Aber ich würde nicht aufgeben,<br />

ich nicht, ich würde mich durchbeißen, dessen war ich mir sicher. Bislang hatte ich mir meinen<br />

Lebensunterhalt mit dem verdient, was ich von dir, Jakla, erlernt hatte. Ich konnte Lesen und auch<br />

Schreiben, noch nicht sehr gut, wir Schwestern hatten ja immer andere Dinge im Kopf gehabt, aber es<br />

war ausreichend.“ Zho und Li steckten die Köpfe zusammen und lachten, sie wußten genau, welche<br />

Art Ablenkung ihre Schwester meinte. Allerdings dürfte es da so einige Dinge geben, über die auch<br />

Caerlissa nicht unbedingt Bescheid wußte. Aber nun gut, ihrer aller große Schwester setzte in ihrer<br />

Erzählung fort.<br />

„Also, ab und zu konnte ich mir mit Lesen und Schreiben etwas Brot verdienen. Noch dazu hatte ich<br />

irgendwie eine Befähigung zur Heilkunst, was Du ja schon früh gespürt und gefördert hast.“ Jakla<br />

nickte wissend, das hatte sie sehr wohl erkannt, freudig begrüßt und fleißig gefördert. Jakla dachte<br />

daran, wie Caerlissa schon früher an jedem Vogel, der seinen gebrochenen Flügel auskuriert hatte und<br />

an jeder Blume, die sich durch den Dreck der Unterstadt gekämpft hatte, Freude empfunden hatte. Oh<br />

ja, und das Kämpfen, kämpfen ums Überleben, das konnten sie alle auch, Jakla erinnerte sich nur zu<br />

gut daran. Auch daran, wieviele Jungs von Caerlissa dafür schon mal den ein oder anderen Schlag<br />

kassiert hatten, weil sie ihre Finger nicht bei sich behalten konnten. Nun, Caerlissa berichtete weiter.<br />

„Ich wanderte also weiter, zu jener Zeit gerade durch die Länder der Kasraliten. Es war nicht leicht,<br />

sich als allein reisende Frau zu behaupten in diesem Land, das zu häufig von Kriegen mit den<br />

Waslaranern verwüstet wurde. Ich wanderte weiter im Vertrauen auf das, was ich im Rattenloch<br />

erlernt hatte und dachte an meinen Wanderstab - es war ja wohl eher ein veritabler Kampfstab. Nicht<br />

umsonst hat man mich schon sehr früh „Wölfin“ genannt.<br />

Wie ihr wohl noch wißt, wann immer jemand die Kinder in den Gassen des Rattenloches drangsalierte<br />

und ich in der Nähe war, wann immer jemand ein Fieber bekam und Jakla etwas dagegen tat, dann<br />

kämpfte ich wie eine Wölfin um ihre Jungen für den Erfolg. Bei dem Gedanken an meinen<br />

Spitznamen mußte ich auch wieder an euch denken, auch ihr, Leandra, Zhoreena und Lianna habt ja<br />

eure Spitznamen erhalten in den Jahren in der Unterstadt, besonders in der Zeit, als wir uns als Falken<br />

um die anderen Kinder in den Schatten gekümmert hatten. Leandra die „Bärin“, Zhoreena die<br />

„Füchsin“ und Lianna die „Katze“ - seltsam, wie diese Tiere uns alle so treffend charakterisieren,<br />

nicht war? Ich grübelte nach - ob es euch allen wohl gut ging?<br />

Aber ich schweife ab, wo war ich? Ach ja, Kasra! Kasraliten und Waslaraner im Dauerkrieg. Nicht,<br />

daß das etwas Neues war, zwischen diesen beiden Völkern herrscht andauernd Krieg. Ich hatte schon<br />

zahlreiche Wagen und eine Menge Fußtruppen auf ihrem Heimmarsch vom Schlachtfeld gesehen, es<br />

waren immer viele Verwundete darunter. Allerdings hatte ich mich den meisten dieser Trupps von<br />

Söldnern und geschlagenen Soldaten nicht gezeigt - bereits so manchesmal hatte ich mein Leben nur<br />

meiner Vorsicht und einem guten Versteck zu verdanken.<br />

So wie seinerzeit, in der alten Scheune....Ich kann euch sagen, ich möchte eigentlich nicht mehr daran<br />

denken.“ Caerlissa pausierte eine Weile.<br />

„Nun, was dann?“, fragte Lianna neugierig, wofür sie von Leandra einen warnenden Blick riskierte.<br />

Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was enttäuschte und zornige Söldner mit hilfloser Bevölkerung, vor<br />

allem weiblicher Art, so alles anstellten. Sie konnte es sich nicht nur vorstellen, sie wußte es auch.<br />

Nur hatte sie selber immer die, hm, schlagenderen Argumente in einem solchen Fall gehabt. Aber sei<br />

es, wie es sei, Caerlissa atmete tief durch, um weiterzureden.<br />

„Ich hatte mich in den hintersten Winkel des Gebälks verzogen und mir die Ohren zugehalten, bis die<br />

Schreie der Frau und das Gelächter der Männer verstummten. Immer wieder betete ich, man möge<br />

mich nicht entdecken - beten? Zu wem? Ich wußte es damals nicht, noch nicht. Ich preßte meine<br />

Hände auf meine Ohren und biß mir vor Wut fast die Unterlippe blutig. Wann nun endlich die Männer<br />

endlich von der Frau abließen bemerkte ich nicht, doch plötzlich war es still. Ich lauschte und wartete


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

noch einen Moment. Dann stieg ich langsam und leise die Stiege in die Scheune hinab. Allerdings...<br />

kam ich zu spät, viel zu spät. Nein, die Männer hatten die Frau nicht getötet, nein. Sie hatte es selber<br />

getan, hatte sich an einem Strick erhängt, weil sie die Demütigung nicht ertragen konnte. Ich habe sie<br />

begraben dort...“ Schweigen erfüllte den Raum.<br />

„Manchmal packte mich noch heute die blanke Wut. Auch wenn ich, wie am folgenden Tag gesehen,<br />

an hingemetzeltes Vieh und niedergebrannte Gehöfte erinnert wurde. Teils war es die Wut auf solche<br />

Kreaturen, die sich Menschen schimpfen, teils war es die Wut auf mich selber, daß ich nichts getan<br />

hatte. Aber was hätte ich alleine tun können? Was? Was? Was konnte ich tun? Ich half wo ich konnte<br />

und so gut ich eben konnte.<br />

Am Morgen nach dem Ereignis in der Scheune war ich auf einen anderen Trupp, einen<br />

Versorgungstroß und Feldlazarettstrupp, gestoßen. Hier gab man mir etwas warme Suppe für das<br />

Tränken der Pferde und dafür, daß ich Verbandsmaterial wusch oder auf die Verwundeten achtete.<br />

Hier fiel ich dann anscheinend dem alten Medicus auf, der den Trupp versorgte. Er sagte mir das<br />

jedenfalls einmal, daß er bemerkt habe wie ich eine ruhige Hand hatte, mich nicht vor Blut fürchtete<br />

und Verletzungen. Noch dazu hätte ich den Verwundeten Mut zugesprochen und mich<br />

wundersamerweise sehr gut mit den Kräutern und dem Anlegen von Verbänden und Schienen<br />

ausgekannt.<br />

Dort durfte ich endlich tun, was ich immer hatte tun wollen. Und ich kämpfte um jeden Mann, focht<br />

für das Leben einer jeden Frau, ungeachtet des Ranges, ungeachtet der Herkunft. Der alte Medicus,<br />

Tagrianus war sein Name, hatte von dem Augenblicke an ein Auge auf mich, und für die weiteren<br />

Monatswechsel blieb ich bei diesem Troß. Mehr und mehr vertraute der alte Mann auf mich, mehr<br />

und mehr seines Wissens übergab er an mich. Ich blieb und lernte.<br />

Eines Tages, es war im tiefsten Winter, wie ich ja Anfangs sagte, war wiederum der Morgen einer<br />

Schlacht gekommen. Zwei Tage davor waren Männer und Frauen zu unseren Leuten gestoßen, deren<br />

Gewandung ich bislang noch nie auf dem Schlachtfeld gesehen hatte. Sie trugen weiße Mäntel mit<br />

blauen Kanten, auf denen ein seltsames, einer Hand gleichendes Symbol, angebracht war. Ihre weitere<br />

Kleidung war in sanftem blau und grün gehalten. Ich...“<br />

„Also sahen die Klamotten genau so aus wie die, die Du jetzt trägst?“, fragte Lianna dazwischen.<br />

„Ja genau, die Kleidungsstücke sahen so aus wie mein Gewand und Mantel. Also, ich erinnere mich,<br />

wie ich zu Tagrianus gelaufen bin, um ihn über diese Männer und Frauen zu befragen...<br />

Tagrianus erzählte mir dann von dem Orden der Astanaciner und der Göttin des Lebens, Astanace, der<br />

sie dienen. Sie begleiten die Schlachten und kümmern sich, ungeachtet auf welcher Seite der<br />

Verwundete steht, um dessen Pflege und Genesung. Niemand auf dem Felde würde es wagen, einen<br />

Astanaciner anzugreifen oder von der Ausübung seiner Pflicht abzuhalten, denn niemand konnte<br />

wissen, wann er nicht selber einmal die Hilfe eines Medicus benötigte.“<br />

Leandra nickte, schon mehr als einmal hatte sie gesehen, wie einer der Astanaciner einen Verletzten<br />

unter einem Schauer von Pfeilen in Deckung zog, und wundersamerweise dieser Hagel von Pfeilen<br />

sich so lange einstellte, bis beide, Retter und Geretteter, in Deckung waren. Und, so mußte sie sich<br />

eingestehen, auch sie hatte schon den ein oder anderen Grund gehabt, Astanace Dank auszusprechen.<br />

„Laßt mich nun endlich dazu kommen, wie ich mich in einem Lazarettbett und später bei den<br />

Astanacinern wiederfand.<br />

Der Schnee fiel leise, und die Schlacht begann und das Kampfesglück wanderte von einem zum<br />

anderen. Die Astanaciner waren immer mitten im Gewühle. Ihre Helfer trugen die Bahren mit den<br />

Verletzten vom Schlachtfeld, sie selber versorgten die Verwundeten. Auch der alte Tagrianus war<br />

plötzlich mitten im Schlachtfeld zu finden, obwohl er dafür längst zu alt geworden war. Er hatte wohl<br />

als einziger einen der Hauptmänner fallen sehen und wollte ihm zu Hilfe eilen. Allerdings, Tagrianus<br />

hatte kaum den gestürzten Mann erreicht und ihm den Helm vom Kopfe gezogen, da sah ich einen<br />

Reiter der Gegenseite auf die beiden zupreschen. Ich rief Tagrianus noch zu, er solle sich in Acht<br />

nehmen, doch der Reiter war schneller und speerte den alten Mann einfach nieder, so daß er<br />

regungslos liegenblieb und dunkles Blut erbrach. Dem Hauptmann konnte sich der feige Reiter nicht<br />

mehr widmen, denn auf meinen Ruf hin war man auf ihn und den Medicus aufmerksam geworden.


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Ich lief auf das Schlachtfeld hinaus, wich Kämpfenden aus und hastete zu dem alten Mann, oh ich war<br />

voller Wut, voller Zorn und Schmerz. Ein alter Mann, der niemandem etwas getan hatte, der nur<br />

einem Verletzten helfen wollte. Der Hauptmann hatte übrigens einen bösen Hieb in die Schulter<br />

abbekommen, er sah sowohl Tagrianus als auch mich schmerzerfüllt und zugleich traurig an. Ich warf<br />

mich neben ihnen in den Schnee, der sich immer mehr dunkel färbte vom Blute Tagrianus. Ich sah den<br />

Speer in dessen Rücken, sah die Spitze vorne herausgetreten, kaltglitzernd rot, und ich wußte ich<br />

konnte nichts für ihn tun. Könnt ihr euch vorstellen, welche Wut ich da empfand? Welche Wut auch<br />

auf mich, daß ich nichts tun konnte? Diese Hilflosigkeit schmerzte so sehr, beinahe glaubte ich, den<br />

Speer selber im Rücken zu haben. Dann verschwamm das Bild mir vor den Augen, Wellen von Rot,<br />

von Schwarz, Heiß und Kalt überkamen mich, und ich merkte nur noch, wie ich vornüber in den<br />

kühlen, alles verdeckenden Schnee sank.“<br />

Caerlissa pausierte eine Weile und betrachtete in Erinnerung versunken die Maserung der Tischplatte.<br />

Stille herrschte in der Hütte, niemand sagte etwas, niemand rührte sich. Nur die alte Jakla in ihrem<br />

Stuhl, sie nickte wissend und mit Trauer im Blick; Sie hatte einst auch einmal dieses Gefühl gekannt,<br />

sich hilflos etwas gegenüber zu sehen, daß so viel gewalttätiger ist als alles, was man sich bislang<br />

hatte vorstellen können. Caerlissa nahm einen Schluck Tee, räusperte sich und sprach weiter. Vor<br />

allem weil Lianna so aussah, als würde sie gleich zu drängeln beginnen.<br />

„Nun, wie ich zu Beginn schon sagte erwachte ich in einem Lazarettbett, nicht mehr wissend, was mir<br />

widerfahren war. Langsam erinnerte ich mich dann wieder an alles, was ich euch auch schon über die<br />

Schlacht berichtete.<br />

Am nächsten Morgen, zwischenzeitlich war ich wohl wieder eingeschlafen, fanden sich drei<br />

Menschen an dem Bett ein. Zuvorderst erblickte ich eine Frau in den Gewändern der Astanaciner,<br />

dahinter sah ich den Hauptmann mit bandagierter Schulter und - Tagrianus! Ihr könnt euch mein<br />

ungläubiges, freudiges Staunen nicht vorstellen. Bevor ich jedoch auch nur eine Frage stellen konnte,<br />

erklärte mir die Astanacinerin, was sich an jenem Schlachtentage zugetragen hatte. Doch was ich<br />

hörte vermochte ich, obwohl ich es gerne wollte, kaum zu glauben.<br />

Die Frau, ihr Name war Nashina Asaman, eine Kasralitin, berichtete mir, daß sie gesehen habe, wie<br />

ich auf die beiden zugelaufen und neben ihnen in den Schnee gestürzt wäre. Was sie daraufhin noch<br />

gesehen hatte, und wovon sie dann berichtete, glaubte ich ihr erst, als ich mir in einem Spiegel ansah,<br />

was sich unter den Verbänden auf meinem Rücken und meiner Schulter verbarg. Nashina sah<br />

nämlich, wie sich die Wunden der beiden Männer langsam aber sicher zurückbildeten - unglaublich<br />

aber wahr. Der Speer wurde aus Tagrianus' Wunde herausgezogen wie von unsichtbarer Hand, die<br />

Blutung hörte auf und die Wunde wurde kleiner und kleiner, bis schließlich zarte, rosa Haut durch den<br />

Riß in seinem Gewand schimmerte. Nashina lief auf uns zu, so schnell sie nur konnte. Niemand wagte<br />

die Astanacinerin zu behindern. Im Näherkommen beobachtete sie, wie das Phänomen auch bei dem<br />

Soldaten auftrat. In sekundenschnelle war sie nun bei uns dreien. Sie war gerade noch rechtzeitig, um<br />

zu bemerken, was während der wundersamen Heilung mit mir geschehen war...<br />

Ich weiß nicht wie es geschehen konnte, aber in meinem unbändigen Wunsch zu helfen hatte ich<br />

meine Lebenskraft auf die Verletzten übertragen und damit ihre Wunden auf mich gezogen. In dem<br />

Augenblick wo sich Tagrianus und des Hauptmannes Verletzungen schlossen, brach eine Wunde in<br />

meinem Rücken auf und eine in meiner Schulter, die den vorherigen Verletzungen aufs Haar glichen!<br />

Astanace sei Dank, daß Nashina bereits lange genug Heilerin war, sie erkannte dieses Phänomen<br />

sofort. Sie hat dafür gesorgt, daß ich nicht dort im blutigen Schnee starb.“<br />

Zhoreena nickte zustimmend, sie hatte auf ihren Reisen schon von solchen Ereignissen gehört, es war<br />

eine machtvolle Fertigkeit, die viel Kraft und Disziplin verlangte.<br />

„Nashina hat mir dann erklärt, daß dieses Ereignis eigentlich ein Wunder Astanaces gewesen sei, und<br />

ich großes Glück gehabt hätte. Normalerweise ist es nur erfahrenen Priesterinnen möglich, solche<br />

Verletzungen auf die von mir unbewußt durchgeführte Art und Weise zu heilen - denn Astanace<br />

nähme die Verletzung von der Priesterin, wie diese sie von dem Verwundeten genommen hätte. Und<br />

wenn Nashina nicht dort gewesen wäre um mir zu helfen, wer weiß? Es war etwas viel für einen Tag,


Der Ruf des Falken - Claudia Wamers * Jürgen Nilkens * Oliver Nothers * Robert Symons<br />

und ich schlief nach dieser Geschichte wieder ein, nicht ohne von Tagrianus und dem Hauptmann,<br />

Yaricus mit Namen, einen dankbaren Blick erhalten zu haben.<br />

Meine Genesung schritt dann, dank der Hilfe der Astanaciner, schnell voran. Es blieben nur blasse<br />

Narben zurück.“ Wie geistesabwesend rieb sich Caerlissa die alte Narbe an ihrer rechten Schulter.<br />

„Als ich dann gänzlich wieder genesen war bat mich Nashina Asaman zu einem Gespräch und stellte<br />

mir die Frage, ob ich mich nicht den Astanacinern anschließen wolle. Ich sei eine fähige Heilerin, wie<br />

sie gesehen hatte war mein Einsatz voll und ganz, daß sei mehr als nur ein guter Grund, mich<br />

aufzunehmen. Ich stimmte zu, ich hatte die Möglichkeit gefunden zu helfen, zu lernen, all das zu tun,<br />

was ich immer gewollt hatte.<br />

Am Tag unserer Abreise trat Hauptmann Yaricus an mich heran, eine schwarze Stute am Zügel mit<br />

sich führend, das Tier, daß mich heute hergetragen hat. Abiandra, die Rappstute, sei ein Geschenk für<br />

die Rettung seines Lebens. Er ließ keinerlei Einwände meinerseits gelten, noch dazu, wo er das Tier<br />

extra für mich ausgesucht und benannt hatte - es hieß Lebensfreude. Dann kam der tatsächliche<br />

Abschied, von Tagrianus, Yaricus, dem Leben als fast rechtloser, fast heimatloser Person. Weder<br />

Tagrianus noch Yaricus habe ich bis heute wiedergesehen, aber aus ihren Briefen, die sie mir in das<br />

Stammhaus der Astanaciner senden ließen, weiß ich, noch geht es ihnen gut.<br />

An diesem Tage also hatte ich mich auf den Weg zum nächstgelegenen Astanacinerhaus gemacht,<br />

dort legte ich den Aufnahmeeid ab und verbrachte die ersten beiden Jahre in Lehre. Viel hat man mir<br />

beigebracht. Viel - vor allem über sich selbst - mußte ein jeder für sich alleine herausfinden. Nach<br />

Abschluß der Grundausbildung blieb uns Astanacinern dann die Möglichkeit, sich über Land oder in<br />

anderen Häusern weiterbilden zu lassen, sowie auch höhere Weihen zu erhalten. Ich selbst habe es<br />

erst einmal vorgezogen, einige Jahre Nontariell in Lehre und Dienst zu durchreisen. Und viel<br />

Sonderbares habe ich erlebt, viele fremde Völker kennengelernt.<br />

Was nun mein größter Wunsch wäre, ist hier in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> eine kleine Station der Astanaciner zu<br />

errichten - und ihr kennt mich, wenn ich einmal etwas will, werde ich es erreichen, Schwestern.“<br />

Und hiermit schloß Caerlissa vorerst ihre Erzählung, denn Jakla machte sie alle darauf aufmerksam,<br />

daß bereits längst die Monde am Himmel standen, der alte Tag sich dem Ende zu neigte, und der Neue<br />

nicht mehr fern war. Sie erhob sich aus ihrem Stuhl, doch statt die Mädchen nach hinten zu begleiten<br />

in die Schlafstube, nahm sie ihren alten, schäbigen schwarzen Umhang und zog diesen an.<br />

„Nun, Mädchen, es wird endlich Zeit. Bitte kommt mit, ich glaube, ich muß euch zu eurer Unterkunft<br />

bringen.“ Jakla machte Anstalten, die Hütte zu verlassen. Fragen bestürmten sie, ob sie die vier<br />

Mädchen denn etwa außer Haus hatte unterbringen müssen. Die Schwestern hatten eigentlich<br />

erwartet, im Schwalbennest zu schlafen.<br />

Jakla schmunzelte vielsagend, bat die Mädchen abzuwarten, und einer alten Frau wegen kleiner<br />

Geheimnisse nicht böse zu sein - alles hätte seine Richtigkeit, so wie es war.<br />

Mitten in der Nacht nun nahmen die Mädchen ihre Pferde, die Schatten wurden von Jakla zur<br />

Nachtruhe befohlen, und alle schritten durch das Rattenloch. Wundersamerweise, obwohl das<br />

Rattenloch vor allem des Nachts alles andere als ein sicherer Ort war, wurden sie von niemandem<br />

behelligt. Es schien fast, als wäre ein Mantel der Unsichtbarkeit über sie gebreitet oder jemand hätte<br />

die Zeit angehalten.<br />

An einem großen Haus, seit Jahr und Tag kannten die Mädchen es als verrammelt und verriegelt, es<br />

war auch als Spukhaus verschrien, hielt Jakla an. Ohne einen Schlüssel und ohne jede erkennbare<br />

Mühe öffnete sie die große Tür, die die Vier seit Jahrzehnten nur immer als geschlossen und versperrt<br />

gekannt hatten. Denn Spukhaus hin oder her... versuchen durfte man es ja wohl einmal, oder?<br />

Jakla ließ das Tor ins Innere schwingen und sagte, bevor sie sie alleine ließ mit ihrem Erstaunen und<br />

ins Rattenloch verschwand, „Tretet ein in das Haus, das eurem Vater Éammon Mathonwy einst<br />

gehörte, Kinder.....“. Fortsetzung folgt...


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

Keriams Schatten<br />

Kai-Florian Richter<br />

-1-<br />

Der Söldner stand an der Ecke, schaute sich mehrmals in alle Richtungen um, rieb sich dabei die<br />

Hände, die bei dieser Kälte schon fast abgestorben sein mußten, und ging dann weiter. In etwa fünf<br />

Minuten würde er oder ein anderer, der sich von diesem nur durch Größe und Haarfarbe unterschied,<br />

wieder auftauchen. Das hatten die Beobachtungen der letzten Woche gezeigt. Wie erwartet, verließ<br />

sich Keriam nicht auf den zweifelhaften Schutz der Stadtwache, deren Soldaten nachgesagt wurde, für<br />

den richtigen Preis fast alles zu tun, vom Wegsehen bis zum Mord an denen, die sie schützen sollten.<br />

Ja, einige behaupteten sogar, für genügend Goldsonnen würde die Wache die Stadt erobern oder einen<br />

Krieg mit den Nachbarstaaten beginnen.<br />

Nein, Keriam vertraute sich und seine Habe lieber einigen Söldnern an. Die taten zwar auch fast alles<br />

für Geld, hielten sich aber im allgemeinen an Abmachungen und wechselten nicht für mehr Geld die<br />

Seiten. Und natürlich gehörten die Söldner Keriams zu den besten der Stadt. Wachwechsel fanden<br />

scheinbar zufällig statt, mehrmals in der Nacht wechselte die Richtung, in der sie um das Grundstück<br />

patrouillierten, und auf dem Grundstück selbst waren die Wege der Wachen noch weniger<br />

vorhersehbar, wie sich gezeigt hatte.<br />

Bei der Generalprobe gestern wäre beinahe schon alles vorbei gewesen. Die Mauer selbst war kein<br />

Hindernis, sie war auch ohne Hilfen leicht, schnell und fast geräuschlos zu überwinden. Der Erbauer<br />

hätte auf die prunkvollen Reliefs verzichten sollen, die, soweit sich erkennen ließ, nicht einmal<br />

irgendetwas sinnvolles darstellten. Auch der Garten, oder sollte man besser sagen kleine Park, bot mit<br />

seinen vielen Wegen und den zahllosen Hecken und Ziersträuchern genug Möglichkeiten, sich<br />

unbemerkt zu bewegen oder sich, wenn nötig, zu verstecken. Doch genau da lag das Problem. Die<br />

Söldner trampelten nicht durch den Garten wie eine Horde Jalanga-Ochsen, sondern bewegten sich so<br />

leise und vorsichtig, wie es mit Kettenhemd, schweren Stiefeln und Breitschwert eben ging. So war<br />

einer von den vier Söldnern, die wahrscheinlich zur selben Zeit im Garten unterwegs waren, plötzlich<br />

an einer Weggabelung hinter einer Hecke aufgetaucht, eine Entdeckung verhinderte nur pures Glück.<br />

Der Mann schaute zuerst in die andere Richtung, dies ließ der Gestalt die Möglichkeit, in einer<br />

Lücke, die dort in der Hecke war, zu verschwinden. Dann verschwand die Wache in die andere<br />

Richtung. Aufs Dach des mehr als großen Hauses und von dort ins Innere zu gelangen, war wiederum<br />

ein recht geringes Problem, auch wenn dies wenig einbrachte. Vor Keriams Zimmer stand ebenfalls<br />

ein Söldner, ganz zu schweigen von den beiden, die durchs Haus gingen. Also blieb nur der Weg<br />

durchs Fenster, glücklicherweise schlief Keriam ebenerdig.<br />

Die schwarze Figur löste sich langsam aus der Nische in der Keriams Grundstück gegenüberliegenden<br />

Mauer, die jemand so angelegt hatte, als wäre sie zum Zwecke der Beobachtung gedacht gewesen,<br />

und lief auf fellumwickelten Sohlen über die menschenleere Straße. Mit wenigen Handgriffen war sie<br />

auf der Mauer, und nachdem sie sich in alle Richtungen umgesehen und intensiv gelauscht hatte, ließ<br />

sie sich auf der anderen Seite fallen. Das Licht war genau richtig, der helle Mond hinter Wolken, der<br />

andere leuchtete voll, aber schummrig den Garten aus. Die Gestalt huschte weiter, über die trockenen,<br />

gefrorenen Sandwege auf das Haus zu, immer darauf lauernd, jeden Moment stehenzubleiben oder<br />

hinter einem Busch zu verschwinden. Doch heute tauchte kein Söldner auf, die kurze Zeit bis zum<br />

Haus blieb ereignislos. Blieb nur noch das Fenster auf der anderen Seite. Die Gestalt huschte einem<br />

Schatten gleich um die Ecke, nur um sofort wieder zurückzuprallen und sich flach an die Wand zu<br />

pressen.<br />

Ein Söldner! Wahrscheinlich würde er gleich um die Ecke biegen. Eine behandschuhte Hand tauchte<br />

unter den weiten, schwarzen Umhang und tauchte mit einem Dolch, die Klinge geschwärzt, wieder<br />

auf. Bewegungslos verharrte die Figur eine halbe Minute, doch der Söldner kam nicht. Den Dolch<br />

wieder wegsteckend, schlich sie um die Ecke und rannte dann leise weiter. Eins, zwei, drei, vier. Dies<br />

war Keriams Fenster, die Läden aus massivem Eriak-Holz verhinderten jeden Blick ins Innere und<br />

sollten wohl auch das Eindringen verhindern. Wieder verschwanden die Hände unter dem Umhang<br />

und kamen kurz darauf mit einem verschlossenen Topf wieder zum Vorschein. Mit einem kaum<br />

hörbaren Plop öffnete sich der Deckel und eine Hand tauchte ein Tuch in den Topf, um anschließend<br />

die Scharniere des Fensters zu fetten. Dann tauchte der Topf wieder unter den Umhang unter und ein<br />

langer, schmaler Dolch, der eher wie eine zu lange Nadel aussah, wieder auf. Dieser öffnete zunächst<br />

die Verriegelung des Fensters, das daraufhin nach außen aufschwang. Nun begann das gleiche Spiel


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

von vorne, diesmal mit den Läden. Wieder wurde der Topf geholt, die Scharniere wurden gefettet<br />

und der lange Dolch kam in die Hand. Dieser öffnete die Läden einen Spalt breit, nur um einer Art<br />

Haken an einem langen Stab Platz zu machen. Der Haken drang mit leichtem Knirschen in das Holz<br />

des Riegels ein, und mit einiger Mühe und leisem Ächzen gelang es dem Schatten, den Riegel soweit<br />

hoch zu drücken, daß er die Läden öffnen konnte, wobei er, sobald seine Hand durch die Spalte paßte,<br />

den Riegel mit einer Hand festhielt und langsam und vorsichtig zur Seite drehte. Der Weg war frei!<br />

Ohne große Mühe und so gut wie geräuschlos kletterte die Figur in das Zimmer, nachdem sie ihr<br />

Werkzeug wieder verstaut hatte. In dem Zimmer schlief Keriam friedlich und nichtsahnend in seinem<br />

großen, kostbaren Bett, den Kopf, der als einziges unter der riesigen, mit Federn gefüllten, samtenen<br />

Decke hervorschaute, auf einem ebenso beschaffenen Kissen gebettet, die Lippen zu einem Lächeln<br />

geformt. Der Schatten trat an das Bett heran, legte ein Stück Pergament auf das Kissen neben Keriams<br />

Kopf. Dann griff wieder eine Hand unter den schwarzen Umhang und wieder tauchte der geschwärzte<br />

Dolch auf. Der Arm ging in einer Ausholbewegung nach oben, wo er einen kurzen Moment verharrte.<br />

Dann stach die Figur mit einem Lächeln zu.<br />

-2-<br />

Die schweren Tore aus dem nahezu schwarzen Eriak-Holz öffneten sich langsam und geräuschlos. Er<br />

betrachtete wie in den Minuten zuvor fasziniert die Schnitzereien im Holz, die trotz des im Raum<br />

herrschenden Halbdunkels deutlich hervortraten und Szenen aus dem Leben und vor allem Wirken<br />

bedeutender Triumvirate zeigten. Er gedachte, noch einige Szenen hinzuzufügen.<br />

Je weiter sich die Tore öffneten, um so mehr Menschen konnte er ausmachen, die sich auf dem<br />

halbrunden Platz versammelt hatten, um ihm zuzujubeln. Am Fuße der steilen, strahlend weißen<br />

Marmortreppe, die zum Tempel hinaufführte, standen Wachen der Garde, die das Volk von der<br />

Treppe hielten.<br />

Nachdem die Tore endlich durch einen leisen, metallenen Ton anzeigten, daß sie ganz geöffnet waren,<br />

setzte sich die Prozession in Bewegung, durch das Tempeltor in die fast gänzliche Stille, die, sobald<br />

die Fahnenträger, die das Wappen - sein Wappen - hoch erhoben trugen, ins Freie traten, in tosenden<br />

Jubel umschlug. Nach den Trägern folgte der Hohepriester, und dann kam er.<br />

In dem Moment, wo er das Tor durchquerte und auf den überdachten, von Säulen umgebenen<br />

Vorplatz trat, setzte das Dröhnen der acht großen Gongs ein, die selbst den Jubel des Volkes<br />

übertönten und die von den acht Priestern wie durch ein Wunder genau zeitgleich geschlagen wurden.<br />

Langsam schritt er die Stufen hinab, gefolgt von der Ehrengarde, bestehend aus zehn der besten<br />

Soldaten <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s in Prunkrüstung, und einigen Priestern, die die Insignien seiner Würde zum<br />

Palast trugen, wo er sie überreicht bekommen würde. Schon jetzt konnte man sehen, daß ihn bis zum<br />

Palast jubelnde Menschen erwarteten, er hatte auch nichts anderes erwartet. Die jubelnde Menge teilte<br />

sich, sobald die Fahnenträger sie erreichte und ließ die Prozession passieren. Die Menschen schlossen<br />

sich ihr allerdings an, so daß schon als sie den Platz verließen, hunderte durch die Straßen gingen.<br />

Und das Spiel wiederholte sich, Sprung für Sprung öffnete sich die Masse, um ihn hindurchzulassen<br />

und sich dann anzuschließen, am Palast würden Tausende von Menschen versammelt sein.<br />

Eine Straße nach der anderen wurde so durchquert und schließlich war der Palast über den Köpfen der<br />

vor ihm versammelten Menschen zu sehen, das dreigeschossige Hauptgebäude mit dem Mittelturm<br />

und den vier winkelförmigen Nebengebäuden, die die Grenzen des Platzes markierten. Weiterhin<br />

teilte sich die Menge wie Schnee, durch das man ein Brett drückte, und so kamen sie zur Treppe, die<br />

zu dem offenstehenden Tor des Palastes führte. Auf der Treppe stand ein einzelner Mann, ein Soldat<br />

der Stadtwache, nach der Uniform zu urteilen. Die Fahnenträger traten auf den Soldaten zu, doch er<br />

machte keine Anstalten, zur Seite zu treten, so daß sie ebenso wie der Hohepriester direkt vor dem<br />

Soldaten stehenblieben und sich erwartungsvoll zu ihm umdrehten. Hinter ihm rasselte die Garde<br />

nervös mit den Waffen, das Volk murrte. Er trat an den Fuß der Treppe, was sollte er tun? Er könnte<br />

den Mann verhaften lassen, doch war das kein guter Anfang einer Regentschaft. Er setzte zum<br />

Sprechen an, um den Mann höflich, aber bestimmt aufzufordern, Platz zu machen, doch in diesem<br />

Moment erkannte er den Soldaten, es war Chatsar Hlac.<br />

„Du kommst hier nicht herein!“ Chatsars Stimme übertönte alle Geräusche auf dem Platz, auf dem<br />

sofort Totenstille herrschte. „Du nicht! Vatermörder werden den Palast nie betreten!“<br />

Er erwachte schweißgebadet in seinem Bett, schlug die schwere, warme Decke zurück und wischte<br />

sich den Schweiß von der Stirn. Schon wieder ein Alptraum! Seit Wochen quälten ihn immer wieder<br />

dieser oder ähnliche Träume, in jedem warf ihm Chatsar Mord vor. Hoffentlich würde er noch einmal


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

einschlafen. Er streckte sich, seine Hand berührte etwas kaltes, metallenes. Keriam drehte seinen<br />

Kopf, um zu sehen, was da auf seinem Kissen lag und schrie, schrie so laut und so furchtbar, wie er in<br />

seinem ganzen Leben zuvor nie geschrien hatte.<br />

-3-<br />

„Danke, daß Ihr gekommen seid, ich habe mich sehr gefreut, und ich glaube, Chatsar freut sich auch.“<br />

Jaga stand gemeinsam mit Feran und Daria um den einfachen Holztisch, der als Arbeitsfläche und<br />

Eßtisch genutzt wurde, im ersten Stock des Hauses von Chatsars Eltern, die ihn Chatsar und seiner<br />

Frau zur Verfügung gestellt hatten, nachdem sie bei Keriam ausgezogen waren. Alle drei hielten<br />

Becher mit Tee in der Hand und schauten auf Chatsar, der im Nebenraum in der Türöffnung auf dem<br />

Boden saß und selbstvergessen mit Freya, seiner zehn Monate alten Tochter, spielte. Dabei lächelte<br />

er, sowohl mit dem Mund als auch mit den Augen, was in den letzten Monaten nur selten der Fall<br />

gewesen war.<br />

Feran und Daria besuchten die Hlacs recht häufig, vor allem weil Feran versuchte, seinen Freund<br />

Chatsar von seinen trüben Gedanken zu befreien, und wenn ihm das schon nicht gelänge, so ihn doch<br />

zumindest abzulenken. Aber auch Jaga und Daria verstanden sich ausgezeichnet und konnten<br />

stundenlang miteinander reden. Natürlich kannten Feran und Daria mittlerweile auch den Grund für<br />

Chatsars Stimmung.<br />

Es klopfte an der Tür zur Treppe ins Erdgeschoß, die von Chatsar und seinem Vater nachträglich<br />

eingebaut worden war, um aus dem ersten Stock so etwas wie eine richtige Wohnung zu machen.<br />

„Herein!“ rief Jaga und drehte sich zur Tür.<br />

Yrtse, Chatsars Mutter, eine mittelgroße Frau Mitte vierzig mit rötlichem, freundlichem Gesicht,<br />

betrat den Raum, in ihren Händen einen großen Kuchen.<br />

„Ich dachte mir, Ihr möchtet vielleicht ein wenig Kuchen?“<br />

Auf dem Tisch standen die Reste eines Kuchen, den Jaga am Vormittag gebacken, und den sie im<br />

Laufe des Nachmittags gegessen hatten.<br />

„Du sollst doch nicht für uns kochen, die Arbeit brauchst Du Dir nicht zu machen.“ tadelte Jaga Yrtse<br />

freundlich.<br />

Jaga wußte genau, warum Yrtse dies tat, sie suchte nach einem Grund, zu sehen, wie es ihrem Sohn<br />

ging. Ihre Augen suchten bereits das Zimmer nach ihm ab, und als sie ihn fröhlich mit Freya spielen<br />

sah, stellte sie lächelnd den Kuchen auf den Tisch und ging, den Blick nicht von Chatsar wendend,<br />

wieder zur Tür und verabschiedete sich, nicht ohne noch einmal genau zu schauen, was Chatsar<br />

machte.<br />

���<br />

Der weiße Mond stand hoch und strahlend am dunklen Nachthimmel, der goldene befand sich zur Zeit<br />

auf seiner Rückseite. Die Straße, die reliefgeschmückte Mauer und auch das schmiedeeiserne,<br />

verzierte Tor waren vom Mondlicht hell erleuchtet, als er das Tor aufschloß und es mit leisem<br />

Knarren öffnete. Er ging vorbei an den Cariannußsträuchern aufs Haus zu, unter seinen Füßen<br />

knirschte der Kies. Der Garten und das Haus hatten sich seit seinem letzten Besuch nicht verändert, so<br />

daß er ohne Mühen den Aufgang zur Dienstbotenwohnung fand.<br />

Doch er ging an der Tür vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen und bog auf den Weg ab, der zur<br />

Rückseite des Hauses führte. Vor Keriams Fenster verließ er den Weg und trat auf das jetzt im Winter<br />

kahle Beet. Aus einer seiner Taschen holte er einen Hammer, schlug damit Scheibe und Fensterläden<br />

ein, steckte den Hammer wieder weg und kletterte durchs Fenster ins Zimmer. Keriam lag friedlich<br />

schlafend mit einem grausamen Grinsen auf den Lippen in seinem Bett und schlief. Er trat auf ihn zu,<br />

zog einen Dolch, holte aus, stach zu und...<br />

...und erwachte. Schweißgebadet und zitternd richtete sich Chatsar im Bett auf. Er hatte schon wieder<br />

einen Alptraum, schon wieder ein Traum über Keriam, er wußte schon gar nicht mehr, wie viele er<br />

seit dem Mord an Gsaxio im letzten Jahr schon gehabt hatte. Er stöhnte. Neben ihm raschelte es und<br />

er spürte, wie sich Jaga zu ihm hindrehte.<br />

„Was ist los, mein Schatz?“ Sie richtete sich ebenfalls auf.<br />

„Ach, nichts, ich habe nur zum ungefähr hundertsten Male Keriam umgebracht, zur Abwechslung<br />

habe ich ihn im Bett erdolcht.“


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

Jaga nahm ihn in den Arm, sie wußte genau, daß die Verbitterung nicht ihr galt, sondern pure<br />

Verzweiflung wegen Chatsars Machtlosigkeit war. Und richtig, Chatsar brach in Tränen aus und legte<br />

schluchzend seinen Kopf an ihre Brust, während sie ihn wie ein kleines Kind wog und ihn über Kopf<br />

und Rücken streichelte.<br />

„Ich muß endgültig etwas gegen Keriam unternehmen!“ drang eine dumpfe, tränenerstickte Stimme an<br />

Jagas Ohr.<br />

-4-<br />

„Hier, das habe ich heute morgen gefunden!“ Keriam warf ein Stück Pergament auf Larkurs<br />

Schreibtisch und setzte sich anschließend auf den Holzsessel vor dem Tisch.<br />

Larkur schaute zunächst Keriam fragend an, dann das Pergament, doch schließlich griff er danach und<br />

entfaltete es. Am oberen Rand hatte es einen Riß, so als hätte jemand versucht, es einzureißen.<br />

„Ich werde Dich kriegen, warte nur ab!“<br />

„Wo habt Ihr es gefunden?“ Larkur konnte mit der Botschaft nicht viel anfangen und blickte wieder<br />

Keriam erwartungsvoll an.<br />

„Auf meinem Kissen, befestigt mit dem hier!“ Keriam warf etwas Schweres auf die Schriftstücke auf<br />

Larkurs Schreibtisch, einen Dolch mit schwarzer Klinge.<br />

Larkur nahm ihn in die Hand, drehte ihn langsam und betrachtete ihn eingehend von allen Seiten.<br />

Dann blickte er auf, wieder einen fragenden Ausdruck in den Augen.<br />

„Der verdammte Dolch steckte in meinem Kissen, keine Pfeillänge von meinem Kopf entfernt. Irgend<br />

jemand hat mein Fenster aufgebrochen, ist ins Zimmer gekommen und hat mir diese elende Botschaft<br />

gebracht, mit diesem Dolch!“<br />

„Aber Ihr werdet doch bewacht?“<br />

„Ja, natürlich werde ich bewacht! Von einem Haufen Söldnern, die mich täglich ein Vermögen kosten<br />

und offensichtlich vollkommen unfähig sind. Einer stand direkt vor meiner Tür! Direkt davor, und<br />

bekommt nichts mit!“<br />

„Was gedenkt Ihr zu tun?“<br />

„Was ich zu tun gedenke?“ Keriam war aufgesprungen, fing an zu brüllen. „Was ich zu tun gedenke?<br />

Ich habe die Idioten nicht bezahlt! Ich habe noch mehr eingestellt! Was soll ich denn noch tun? Nun<br />

seid Ihr dran! Was gedenkt Ihr zu tun?“ Keriam stand, drohend über den Schreibtisch gebeugt, mit<br />

zornrotem Gesicht vor Larkur und funkelte ihn an.<br />

„Nun beruhigt Euch wieder, setzt Euch.“ Larkur stand ebenfalls auf, drückte den zitternden Keriam<br />

zurück auf seinen Platz.<br />

„Unsere Möglichkeiten sind, wie Ihr sicher wißt, recht gering. Wir können höchstens die<br />

Patrouillengänge verstärken, doch haben wir auch nur eine begrenzte Zahl von Leuten und wir können<br />

natürlich nicht die anderen Bereiche der Stadt ungeschützt lassen...“<br />

„Die Rüstung“ Keriam blickte sich, scheinbar beruhigt, in Larkurs Raum um.<br />

„Bitte?“<br />

„Die Rüstung. In diesem Raum habe ich mindestens Eure Rüstung bezahlt, mit meinem Geld, daß ich<br />

hart erarbeitet habe. Ich wollte Euch nur daran erinnern, daß ich für diesen Haufen hier einiges an<br />

Geld gegeben habe. Und es ist deshalb Eure verdammte Pflicht, mich und meine Habe zu schützen!“<br />

Mit diesen Worten stand Keriam auf, drehte sich grußlos um, öffnete die Tür und knallte sie hinter<br />

sich so heftig zu, daß einige Pergamente von Larkurs Schreibtisch fielen.<br />

���<br />

„Stillgestanden!“<br />

Chatsar stand mit den übrigen Soldaten seiner Einheit auf dem Innenhof der Kaserne beim<br />

allmorgendlichen Appell. Wie alle anderen auch trug er neben voller Rüstung auch Hellebarde und<br />

Schild und stand, wie jeden Morgen, vor seinen ihm unterstellten Soldaten. Hauptmann Gehrfol<br />

schritt die Reihen ab, ordnete hier und da den Umhang eines Soldaten, sorgte bei einigen durch einen<br />

leichten Schlag mit seiner Reitgerte dafür, daß sie auch gerade standen, und lächelte tatsächlich<br />

einigen Soldaten zu.<br />

„Leute, ich habe euch etwas mitzuteilen!“<br />

Die Spannung in den Soldaten stieg, man spürte richtig, wie sie noch strammer standen.


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

„Aufgrund besonderer Vorkommnisse werden die Nachtpatrouillen in der Oberstadt verstärkt. Ab<br />

heute werden jeweils fünf Gruppen gleichzeitig dort unterwegs sein, die Stärke und Bewaffnung der<br />

Gruppen bleibt gleich. Zu diesem Zweck werden die Gruppen von Feldwebel Jaglo und Feldwebel<br />

Iztar, die diese Woche eigentlich keinen Nachtdienst haben, zum Nachtdienst zugeteilt, mit<br />

Sondersold selbstverständlich. Die Gruppen sollen besonders auf Herumlungernde und sich allgemein<br />

verdächtig und heimlich bewegende Subjekte achtgeben. Verdächtige sind sofort festzunehmen.<br />

Verstärkte Aufmerksamkeit ist vor allem bei den Händlern Keriam, Basfer und Olpys geboten.<br />

Rühren und wegtreten!“<br />

Die Einheit war gerade dabei Gruppenweise den Hof zu verlassen, Chatsar und der Rest seiner<br />

Gruppe war auf dem Weg in die Quartiere, als Gehrfol rief:<br />

„Feldwebel Hlac! Ich möchte Euch in meiner Stube sehen!“<br />

���<br />

Chatsar ging durch die Gänge der Kaserne, er war auf dem Weg zu Gehrfols Stube. Bereits jetzt<br />

wußte Chatsar, um was es bei dem Besuch gehen würde. Er ließe es am Einsatz mangeln, die früher<br />

vorhandene Begeisterung sei nicht mehr zu sehen, und so weiter und so fort. Chatsar wußte, woran es<br />

lag, doch genauso deutlich wußte er, daß er Gehrfol den Grund nicht nennen konnte.<br />

„Feldwebel Hlac. Hauptmann Gehrfol wünscht mich zu sprechen.“<br />

Chatsar trat an den Tisch heran, der vor der Stube Gehrfols stand und meldete sich ordnungsgemäß<br />

beim Unteroffizier an, der hier zur Zeit Dienst hatte. Die Frau blickte auf, nickte und trug Chatsar in<br />

das Besuchsbuch ein. Chatsar selbst trat an die Tür und klopfte laut an die Tür. „Ja, ja, herein!“<br />

Chatsar öffnete die Tür, trat ein und schloß sie wieder, Gehrfol blickte ihn bereits erwartungsvoll an.<br />

„Ah, Chatsar, da seid Ihr ja. Bitte nehmt Platz.“<br />

Chatsar grüßte und setzte sich dann auf einen der Holzsessel vor Gehrfols penibel aufgeräumten<br />

Schreibtisch.<br />

„Chatsar, wahrscheinlich wißt Ihr bereits, warum ich Euch hergebeten habe. Ihr macht mir Sorgen.<br />

Wo ist bloß Euer Einsatz und Eure Begeisterung geblieben, die Ihr jahrelang gezeigt habt? Wo die<br />

Bereitschaft, sich zum Wohle der Stadt aufzuopfern? Könnt Ihr es mir erklären?“<br />

Chatsar schüttelte leicht mit dem Kopf, das Gespräch verlief wie vermutet.<br />

„Ich jedenfalls kann keine Erklärung finden, genausowenig wie Euer Vater. Den Dienst, den Ihr zur<br />

Zeit ableistet, reicht gerade noch so aus, um keine Maßnahmen ergreifen zu müssen, aber Ihr wollt<br />

doch nicht ewig Feldwebel bleiben? Nicht bei so einem Vater! Ich verlange, daß Ihr jetzt rausgeht und<br />

endlich wieder so Euren Dienst leistet, wie Ihr es jahrelang getan habt. Für die Stadt, für mich, für<br />

Euren Vater und vor allem für Euch. Falls Ihr es nicht tut, fürchte ich, wird unser nächstes Gespräch<br />

nicht mehr so freundschaftlich ausfallen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“<br />

Diesmal nickte Chatsar, erhob sich, grüßte wortlos und verließ die Stube.<br />

-5-<br />

Keriam hatte reagiert, heute liefen je zwei Söldner gleichzeitig um das Grundstück und auf dem<br />

Grundstück selbst waren wahrscheinlich auch mehr Wachen unterwegs. Außerdem brannten an<br />

einigen Stellen große Fackeln, um den Garten auszuleuchten. Auch die Stadtwache war heute viel<br />

öfter unterwegs, ständig tauchten Patrouillen auf, die auch tatsächlich den Eindruck machten, als<br />

hielten sie Ausschau nach Verdächtigen, und nicht, wie sonst, einfach nur durch die Straßen<br />

marschierten.<br />

Doch das war alles zu erwarten gewesen und kein Grund, nicht mit dem Plan fortzufahren, zumal die<br />

Monde wieder günstig standen. Die schwarze Figur löste sich aus dem Schatten des Baumstammes,<br />

kletterte den Ast entlang, bis sie die Mauer erreichte und ließ sich darauf hinabgleiten. Dann schaute<br />

sie sich in alle Richtungen um, doch es waren weder Stadtwache noch Söldner zu sehen. Leise und<br />

geschickt sprang sie von der Mauer, rannte über die Straße, sich nicht um die Spuren im frisch<br />

gefallenen Schnee kümmernd, und kletterte auf Keriams Grundstücksmauer. Sie schaute sich zunächst<br />

um und lauschte, bevor sie hinabsprang und in Richtung Haus lief.<br />

Auch hier hinterließ sie leichte Spuren im Schnee, doch waren die kaum zu sehen, da die Söldner auf<br />

ihren Rundgängen die Wege mit Stiefelabdrücken überseht hatten. Die Figur versuchte, die von<br />

Fackeln ausgeleuchteten Bereiche, so gut es ging zu umgehen, doch gelang es nicht immer. An diesen


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

Stellen lief sie gebückt, so eng an der Hecke wie möglich und noch schneller als ohnehin schon und<br />

hoffte, daß gerade niemand sich in diesem Bereich aufhielt oder sie vom Haus aus im Auge hatte.<br />

Doch schließlich erreichte sie das Haus, diesmal wollte sie aber nicht ins Haus eindringen. Die Figur<br />

schlich zur Vordertür, betrat das Beet neben der Tür und verschnaufte, während sie sich umschaute.<br />

Es war niemand zu sehen, die eigentliche Arbeit konnte beginnen. Eine Hand wanderte unter den<br />

Umhang, brachte einen verschlossenen Topf zum Vorschein, öffnete ihn und stellte ihn auf den<br />

Boden, dann griff die Figur noch einmal unter den Umhang und holte einen breiten Pinsel hervor, den<br />

sie in den Topf tauchte.<br />

Dann begann sie zu schreiben, in großen, im Lichte der Monde blutrot leuchtenden Buchstaben<br />

schrieb sie „Vat“, tauchte den Pinsel wieder ein, schrieb „erm“, tauchte ein, schrieb „örd“, noch<br />

einmal eintauchen und die letzten Buchstaben „er“. Zufrieden wischte die Figur den Pinsel im Schnee<br />

aus, trat einen Schritt zurück, betrachtete ihr Werk, blickte sich dann noch einmal sichernd um und<br />

goß den Rest des Topfes auf das Beet und vor die Tür. Dann verschloß sie den Topf, steckte ihn<br />

wieder weg und floh Richtung Mauer, erreichte sie mühelos, ohne in die Gefahr zu geraten, entdeckt<br />

zu werden, erkletterte sie mehr springend und verharrte auf dem Sims. Direkt unter ihr schritt gerade<br />

eine Gruppe der Stadtwache durch die Straße. Die Figur drückte sich so flach wie möglich auf den<br />

Mauersims und schickte ein schnelles Gebet zu den Göttern, das zu helfen schien, denn die Wache<br />

ging vorbei, ohne die Figur zu entdecken. Sobald die Soldaten um die Ecke verschwunden waren,<br />

sprang die Figur von der Mauer und verschwand mit einem zufrieden Grinsen in die andere Richtung.<br />

Noch verlief alles planmäßig.<br />

-6-<br />

Die Tür zu Larkurs Stube flog auf und Keriam stürmte ins Zimmer, dicht gefolgt vom Unteroffizier,<br />

der vor Larkurs Stube am Tisch Dienst hatte. Larkur, der gerade dabei gewesen war, einige<br />

Pergamente zu studieren, sprang auf und knallte das Pergament, das er in der Hand gehalten hatte, auf<br />

den Tisch.<br />

„Könnt Ihr nicht klopfen, wie jeder normale Mensch auch?“ fuhr er Keriam an.<br />

„Nein, kann ich nicht!“ entgegnete dieser.<br />

„Verzeiht, Hauptmann, er ist einfach an mir vorbeigestürmt.“ meldete sich der Unteroffizier. „Ja, ja,<br />

schon gut, Deran. Ihr könnt wieder gehen. Und bitte schließt die Tür.“<br />

Larkur wendete den Blick nicht von Keriam, der mit vor Zorn hochrotem Kopf vor seinem<br />

Schreibtisch stand. Deran verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu.<br />

„Er war schon wieder da! Er war schon wieder auf meinem Grundstück und keiner hat es bemerkt!“<br />

„So beruhigt Euch doch erst einmal. Bitte, nehmt Platz, erfüllt wenigstens dieses Gebot der<br />

Höflichkeit, wenn Ihr es schon nicht mehr für nötig erachtet, zu klopfen. So nun berichtet mir, was<br />

geschehen ist und was ich dafür kann.“<br />

Larkur setzte sich wieder auf seinen Stuhl und lehnte sich zurück, er versuchte, die Ruhe zu bewahren<br />

und höflich zu bleiben, etwas was ihm ziemlich schwer fiel. Keriam blieb vor dem Tisch stehen,<br />

stützte seine Arme sogar auf ihm ab und beugte sich ein Stück über ihn.<br />

„Der Mann, der mich neulich fast getötet hatte war wieder da!<br />

Er hat meine Hauswand beschmiert, mit Blut! Er hat meine Wand mit Blut beschmiert. Und keiner der<br />

verdammten Söldner oder auch nur einer Ihrer dämlichen Soldaten hat nur irgend etwas bemerkt!“<br />

„Wie hat er ihre Wand beschmiert? Wie sah es aus?“<br />

„Ist das nicht völlig egal? Entscheidend ist doch nur, daß keiner in der Lage ist, ihn aufzuhalten! Die<br />

Söldner habe ich rausgeschmissen, nun seid Ihr dran, ich verlange, daß die Wache mich beschützt!“<br />

„Entschuldigt, aber mehr als wir jetzt tun, können wir für Euch nicht machen. Wir haben die Wachen<br />

bereits verdreifacht, mehr Soldaten haben wir nicht. Habt Ihr denn keine Ahnung, wer es sein könnte?<br />

Wenn Ihr uns einen Hinweis geben könntet, wäre es für uns einfacher. Also, was stand an der Wand?“<br />

„Vatermörder.“<br />

„Vatermörder?“ Larkur blickte Keriam zweifelnd an.<br />

„Ja, verdammt! Vatermörder!“<br />

„Wer käme denn auf die Idee, Euch Vatermörder zu nennen?“<br />

„Chatsar! Es ist bestimmt Chatsar!“<br />

„Chatsar? Chatsar Hlac? Der Soldat Chatsar Hlac? Das ist absolut lächerlich! Warum sollte er dies<br />

tun? Ich...“


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

„Weil er verrückt ist!“ Keriam fuhr Larkur ins Wort. „Er ist verrückt, was glaubt Ihr eigentlich,<br />

warum er bei mir ausgezogen ist. Hat er es Euch erzählt? Hat er?“<br />

Keriam blickte Larkur herausfordernd an, doch der zuckte nur mit den Schultern.<br />

„Er glaubt, ich wäre hinter seiner Frau hergewesen. Er war der Meinung, ich wollte sie ihm<br />

ausspannen, wollte sie für mich.“<br />

„Und?“<br />

„Und was? Macht Euch doch nicht lächerlich, was sollte ich mit einer meiner Angestellten, zumal mit<br />

einer, die einen Mann und ein Kind hat? Außerdem habe ich wesentlich schönere Dienstmädchen.<br />

Nein, das ganze ist total absurd. Chatsar fühlt sich einfach verfolgt, er ist eifersüchtig. Und deshalb<br />

verfolgt er jetzt mich. Er bedroht mich in seinem Wahn, Ihr müßt mich vor ihm schützen!“<br />

„Also, auf mich macht Feldwebel Hlac einen völlig normalen Eindruck.“ Larkur erhob sich wieder.<br />

„Ich bin davon überzeugt, daß Ihr Euch die Sache mit Chatsar nur einbildet, wenn Ihr jetzt bitte meine<br />

Stube verlassen könntet, ich habe noch zu arbeiten.“<br />

Larkur reichte Keriam die Hand zum Abschied, obwohl er ihn am liebsten damit geschlagen hätte.<br />

Was bildete sich der Kerl eigentlich ein, so einen Verdacht zu äußern. Trotzdem mußte Larkur mit<br />

Chatsar reden. Keriam verließ den Raum wortlos, ohne Larkurs Hand zu ergreifen. Wieder knallte er<br />

die Tür hinter sich zu. Einen Augenblick später öffnete sie sich wieder und Larkur befahl Deran,<br />

Chatsar holen zu lassen.<br />

���<br />

Chatsar war auf dem Weg zu seinem Quartier, er schritt durch die Gänge, ohne viel von seiner<br />

Umgebung wahrzunehmen. Er grüßte zwar seine Vorgesetzten korrekt und nahm die Grüße der<br />

Untergebenen unbewußt wahr, doch lief das ganze automatisch ab und unterschied sich überhaupt<br />

nicht vom Gehen, bei dem er auch, ohne zu denken, einen Fuß vor den anderen setzte.<br />

Plötzlich stieß er mit jemandem zusammen, es war eindeutig kein Soldat, der ihm da mutwillig in den<br />

Weg getreten war und ihn auflaufen lassen hatte. Empört und verwirrt trat Chatsar wieder einen<br />

Schritt zurück, blickte auf und wollte sein Gegenüber gerade anfahren, als dieser ihn an der Schulter<br />

packte, schüttelte und ihm zuzischte: „Du wirst mich nicht kriegen, es wird Dir nicht gelingen, Dir<br />

nicht!“<br />

Es war Keriam! Keriam war hier in der Kaserne und hatte ihn aufgehalten, um ihm irgendetwas<br />

mitzuteilen, dessen Sinn Chatsar nicht verstand.<br />

„Was wollt Ihr? Wollt Ihr mich auch noch töten? Oder braucht Ihr mich mal wieder, um einen Mord<br />

zu verschleiern?“<br />

Chatsar blickte Keriam ins wütend und verschlafen wirkende Gesicht, schüttelte dessen Hand von<br />

seiner Schulter und wollte an ihm vorbei weitergehen, doch Keriam versperrte ihm wieder den Weg.<br />

„Du weißt genau wovon ich rede, Chatsar. Tue nicht so unwissend. Du bist der einzige, der es sein<br />

kann. Du bist der einzige, der es weiß! Chatsar, Du bist es, Du belästigst mich!“<br />

Keriam! Keriam war der Grund, warum die Wachen verstärkt worden waren.<br />

„Nein, tut mir leid! Ich weiß immer noch nicht, worum es geht, nun entschuldigt mich, ich habe zu<br />

tun.“ Chatsar stieß Keriam zur Seite und marschierte weiter, entschlossen lächelnd. Endlich ging es<br />

weiter, endlich kümmerte sich jemand um die Sache. Doch er würde auf jeden Fall dabei sein.<br />

���<br />

„Ihr wolltet mich sprechen?“<br />

Chatsar betrat Larkurs Stube und schloß die Tür.<br />

„Ja, Guten Tag, Chatsar, bitte setz Dich.“<br />

Larkur war aufgestanden, reichte Chatsar die Hand zur Begrüßung und lud ihn dann mit einer<br />

Handbewegung zum Sitzen ein. Sobald sich Chatsar gesetzt hatte, nahm Larkur wieder Platz, schlug<br />

ein Bein über das andere und blickte Chatsar eine Weile an.<br />

„Nun, was ich wissen wollte, Chatsar, ist... Nun, wie soll ich sagen, äh, bitte sage mir, warum bist Du<br />

damals bei Keriam ausgezogen?“<br />

Jetzt war es also soweit, diesen Moment hatte Chatsar gefürchtet und schon lange erwartet. Jetzt<br />

wollte jemand den tatsächlichen Grund für seinen Auszug wissen. Doch es war völlig klar, daß er ihn<br />

nicht nennen konnte.


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

„Oh, das. Sagte ich das nicht bereits? Jaga wollte sich richtig um Freya kümmern, mehr Zeit für das<br />

Kind haben.“<br />

Chatsar blickte bei diesen Sätzen auf den Boden, konnte nicht in Larkurs Gesicht lügen.<br />

„Nein, Chatsar, ich wollte nicht diesen Grund hören. Viele Frauen haben Kinder und arbeiten<br />

trotzdem noch als Dienstbote, und die Kinder kommen nicht zu kurz. Außerdem braucht ihr doch das<br />

Geld, Du und Jaga, irgendetwas ist doch passiert. Nein, Chatsar, nenne mir bitte die wahren Gründe.“<br />

Das hatte er befürchtet, Larkur glaubte ihm nicht, aber warum mußte auch ausgerechnet er fragen,<br />

Gehrfol zu belügen, wäre viel einfacher gewesen.<br />

„Also schön, Jaga fühlte sich nicht mehr wohl bei Keriam und wollte weg. Sie hatte Angst vor ihm<br />

und fühlte sich belästigt.“<br />

„Wollte er etwas von ihr?“<br />

„Schon möglich. Ich weiß es nicht. Sie hatte jedenfalls das Gefühl, also sind wir weg. Er mochte es<br />

auch nicht, daß sie das Kind mit in der Küche hatte, er glaubte, sie arbeitete deshalb schlechter, was<br />

natürlich nicht stimmt.“<br />

„Also war Jaga es, die weg wollte, nicht Du?“<br />

„Ja, genau. Jaga hat mich mehrfach gebeten, wir sollten doch das Haus verlassen. Ich wollte ja erst<br />

nicht, wegen des Geldes, aber als sie dann irgendwann weinte, da habe ich Keriam gesagt, es tue mir<br />

leid, aber wir müßten gehen.“<br />

„Und was hat er dazu gesagt?“<br />

„Behaltet Ihr es für Euch? Ich möchte nicht, daß er erfährt, was ich über ihn sage.“<br />

„Ja, sicher.“ Larkur nickte mit dem Kopf, er hatte doch gleich gewußt, daß Chatsar nichts mit<br />

Keriams Problemen zu tun hatte.<br />

„Er hat getobt. Er war wutentbrannt, hat geschimpft. Wir könnten nicht einfach so gehen, er würde<br />

dafür sorgen, daß Jaga keine Stellung mehr bekäme, und so weiter.“<br />

„Warum?“<br />

„Ich weiß es nicht. Ich war höflich, habe ihn darum gebeten, mit meiner Frau gehen zu dürfen. Habe<br />

mich dafür entschuldigt, und er ist vollkommen ausgerastet. Und hat seine Drohung war gemacht,<br />

Jaga hat bis heute keine neue Stellung.“<br />

„Vielen Dank, Chatsar. Das war alles, was ich wissen wollte. Geh jetzt wieder und mach endlich<br />

Deinen Dienst wieder so wie früher. Oder willst Du etwa nicht mehr zu mir?“<br />

Larkur lächelte und streckte ihm abermals die Hand entgegen.<br />

„Doch, natürlich.“ Chatsar schüttelte Larkurs Hand und ging. Larkur schien ihm geglaubt zu haben.<br />

-7-<br />

„Es bewegt sich was, endlich passiert was.“<br />

Feran und Chatsar gingen im Innenhof der Kaserne spazieren, die Sonne schien auf den frostigen<br />

Boden. So aufgeregt wie heute hatte Feran Chatsar das letzte mal erlebt, als sie die geheime Brücke<br />

zur Unterstadt gefunden hatten und planten, sie zu benutzen. Das war vor fast zwei Jahren gewesen.<br />

Und nun waren Chatsars Trübsinn und sein Zynismus wie weggeblasen, er redete seit fast zehn<br />

Minuten unentwegt auf Feran ein, fast wie ein kleines Kind.<br />

„Irgend jemand scheint Keriam ernsthaft zu verärgern, der Mann ist wütend. Stell Dir vor, heute hat er<br />

mich beschuldigt.“<br />

„Dich? Das ist doch absurd!“<br />

„Natürlich ist es das, aber es zeigt doch, daß er nervös wird. Der Mann hat Angst. Das gönne ich ihm,<br />

er hat es verdient. Paß auf, weißt Du was ich mache?“<br />

„Was?“<br />

„Heute abend habe ich frei. Ich werde heute nacht dabei sein, ich werde Keriams Haus beobachten<br />

und wenn derjenige kommt, werde ich ihn schnappen und mir mal anschauen, wer für den Spaß<br />

verantwortlich ist.“<br />

„Chatsar, laß den Blödsinn! Da rennen ein Haufen Leute von uns rum, die warten doch nur auf<br />

jemanden, der da blöd rumsteht.“<br />

„Ach was, mir passiert schon nichts!“<br />

���


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

Pfeifend öffnete Chatsar die Haustür und betrat den schmalen Flur. Dort stellte er seine Stiefel ab und<br />

ging, immer noch pfeifend, durch den Vorhang hindurch in die Wohndiele, in der seine Eltern aßen<br />

und die meiste Zeit saßen, wenn sie nicht gerade woanders etwas zu tun hatten. So saß auch jetzt<br />

Yrtse hier und bestickte eine Decke. Doch sobald Chatsar durch den Vorhang kam, sprang sie auf und<br />

schaute ihn ungläubig an.<br />

„Hallo, Mutter.“ Chatsar trat auf sie zu und umarmte sie. Dann gab er ihr einen Kuß auf die Stirn und<br />

ließ sie wieder los. „Wie geht es Dir?“<br />

„Sehr gut. Und Du, wie geht es Dir? Ist irgend etwas passiert?<br />

Warum bist Du so fröhlich?“<br />

„Ich freue mich, zu Hause zu sein. Sollte ich denn nicht fröhlich sein?“<br />

„Doch, natürlich. Aber so warst Du schon lange nicht mehr. Irgendwas muß doch passiert sein.“<br />

„Oh, ich bin passiert. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ist Jaga da?“<br />

„Sie ist oben mit der Kleinen.“ Yrtse blickte verwirrt und mit Tränen in den Augen Chatsar hinterher,<br />

der die Treppe zur Wohnung hinauflief.<br />

���<br />

Chatsar öffnete leise die Tür zur Wohnung und schlich weiter. Jaga war mit Freya im Schlafzimmer<br />

und wechselte die Windeln, dabei redete sie mit ihr.<br />

„Dein Vater kommt gleich nach Hause, mein Schatz, dann könnt ihr gemeinsam spielen, während ich<br />

das Essen mache. Ja, da freust Du Dich, nicht war, Liebling...“<br />

„Heh, wer...“ Chatsar war hinter sie getreten und hielt ihr nun mit einer Hand die Augen zu, während<br />

er mit der anderen Freya bedeutete, leise zu sein.<br />

„Chatsar, was ist los mit Dir, was soll das?“<br />

„Guten Abend, mein Schatz.“ Er nahm die Hand von ihren Augen, drehte sie zu sich und gab ihr einen<br />

langen Kuß auf den Mund. Dann nahm er Freya und gab auch ihr einen Kuß auf die Stirn.<br />

„Hallo, meine Kleine, wie geht es Dir?“<br />

„Chatsar, was ist los?“<br />

„Wieso, was sollte los sein?“<br />

„Du bist so fröhlich. Was ist passiert? Hast Du Drogen genommen?“<br />

„Was? Nein, natürlich nicht. Keriam ist los. Er rennt durch die Stadt und behauptet, ich würde ihn<br />

bedrohen.“<br />

„Wie bitte?“<br />

„Keriam war heute in der Kaserne und hat mir erzählt, ich würde ihn bedrohen. Nachts in sein Haus<br />

einbrechen oder so etwas.“<br />

„Das ist doch Blödsinn!“<br />

„Natürlich ist es das. Aber irgendjemand tut sowas, denn wir haben die Wachen im Gebiet um sein<br />

Haus verstärkt. Und heute nacht werde ich herausfinden, wer es tut.“<br />

„Chatsar, bitte laß das! Das ist zu gefährlich.“<br />

„Ach was, das wird schon klappen. Schließlich kenne ich ja die Gegend, außerdem muß ich es einfach<br />

wissen. Ich muß wissen, wer mir da meinen Herzenswunsch erfüllt!“<br />

-8-<br />

Es waren keine Söldner zu sehen. Sollte Keriam sie etwa entlassen haben? Damit war keinesfalls zu<br />

rechnen gewesen, aber der Gestalt sollte es recht sein. So blieb also nur noch die Stadtwache, doch<br />

die betrat Keriams Grundstück nicht, so daß dies lediglich eine geringe Schwierigkeit darstellte.<br />

Gerade hatte eine Patrouille den Baum passiert, ohne sie zu bemerken.<br />

Vorsichtig kletterte die Gestalt den Stamm entlang bis zur Mauer, ließ sich darauf herunter und sprang<br />

dann auf die Straße. In wenigen Augenblicken war sie auf der anderen Seite, mit zwei Handgriffen<br />

auf der Mauer und ebenso schnell wieder herunter. Keriams Grundstück war dunkel, es waren weder<br />

Wächter zu hören noch zu sehen. Dennoch rannte sie ebenso vorsichtig wie in den Nächten zuvor auf<br />

das Haus zu, sich immer umblickend und lauschend. Doch es war absolut still im Garten und keine<br />

Menschenseele unterwegs.<br />

Am Haus angekommen, verschnaufte die Gestalt einen Augenblick, dann holte sie unter dem Umhang<br />

einen Beutel hervor. Mit dem Beutel in der Hand ging sie langsam um das Haus herum, wobei sie es<br />

prüfend betrachtete. Schließlich schien sie die geeignete Stelle gefunden zu haben, sie öffnete den


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

Umhang, hängte den Beutel an den Gürtel und griff hinein. In ihrer Hand lag ein Stein, in der Art, wie<br />

er für Schleudern benutzt wurde. Dann griff sie in eine Tasche und holte eine Schleuder hervor, lud<br />

sie und schoß auf eines der Fenster.<br />

Mit lautem Klirren zerbrach es und mit einem Knall prallte der Stein von den Fensterläden ab, doch<br />

während der Stein noch flog, zog die Gestalt schon den nächsten Stein aus dem Beutel. Mit dem<br />

Zerbrechen lud sie neu, dann zielte sie und schoß. Ein weiteres Fenster zerbrach. Insgesamt<br />

wiederholte sie es sechs Mal, sechs Fenster zerbrachen mit lautem Klirren, dann holte sie einen<br />

weiteren Stein heraus, dieser war jedoch mit einem Pergament umwickelt. Diesen Stein schoß sie<br />

durch eines der Fenster im ersten Stock, das nicht durch Fensterladen verschlossen war. Dann rannte<br />

die Gestalt in Richtung Mauer und war wenige Augenblicke später verschwunden.<br />

���<br />

Chatsar stand im Schatten eines großen Baumes in Keriams Garten und wartete darauf, daß der<br />

Unbekannte auftauchte. Aufs Grundstück zu gelangen, war tatsächlich ein Kinderspiel, wie er<br />

feststellen konnte.<br />

Natürlich hatte er keinen Schlüssel mehr, doch die Mauer stellte absolut kein Hindernis dar. Und<br />

glücklicherweise hatte Keriam auch keine Wachen auf dem Grundstück, eine Möglichkeit, die ihm<br />

erst in den Sinn gekommen war, als er bereits auf der Mauer saß. So stand er bereits eine Stunde<br />

unter diesem Baum, deren weit herabhängende Äste ihn fast vollständig verdeckten, ihm aber dennoch<br />

einen ungehinderten Blick auf Eingangstür und weite Teile des Hauses boten.<br />

Sein Enthusiasmus, der ihn den ganzen Tag und auch weite Teile der Nacht getrieben hatte, wich<br />

langsam einem drängenden Kältegefühl, denn trotz seiner wärmsten Kleidung wurden seine Füße<br />

langsam, aber sicher zu Eis, und auch der Rest des Körpers war nicht wesentlich wärmer. Er dachte<br />

gerade ernsthaft darüber nach, die Beobachtung abzubrechen und wieder nach Hause zu gehen, als er<br />

einen Schatten sah. Zuerst glaubte er, sich getäuscht zu haben, denn er war sofort wieder<br />

verschwunden, aber dann tauchte er wenige Tritt weiter wieder auf. In gebückter Haltung rannte der<br />

Schatten aufs Haus zu, blieb dann davor stehen und ging schließlich von Chatsar weg ums Haus<br />

herum.<br />

Nach einiger Zeit, der Schatten war nicht wieder aufgetaucht, begann Chatsar unruhig zu werden,<br />

gerade wollte er ihm folgen, um zu sehen, was er machte, als er wieder auftauchte. Wenige<br />

Augenblicke später klirrte das erste Fenster, gefolgt von weiteren fünf. Dann rannte der Schatten vom<br />

Haus weg zur Mauer. Sofort sprang Chatsar aus seinem Versteck hervor und rannte hinterher, etwa in<br />

zwanzig Sprung Abstand. Blitzschnell war der Schatten über der Mauer verschwunden, es waren, wie<br />

zuvor auch, keine Geräusche von ihm zu hören. Schließlich erreichte auch Chatsar die Mauer, er<br />

sprang bereits einen Tritt vorher ab und war in kürzester Zeit auf der Mauer.<br />

Mit einem schnellen Blick in alle Richtungen suchte er den Schatten, doch war er nicht auszumachen.<br />

Zudem befand sich nur wenige Sprung entfernt eine Kreuzung, so daß der Schatten in vier Richtungen<br />

verschwunden sein konnte. Enttäuscht und schwer atmend, sprang Chatsar von der Mauer, noch im<br />

Fallen hörte er die Stiefel der Stadtwache, die gerade um die Ecke bog.<br />

-9-<br />

„Habe ich es nicht gesagt, er war es!“<br />

Keriam saß zufrieden zurückgelehnt in Larkurs Stube, er war sofort heute morgen hierher gekommen,<br />

obwohl die Festnahme Chatsars nicht öffentlich bekannt gegeben worden war. Aber Leute in Keriams<br />

Position und mit Keriams Vermögen erfuhren so ziemlich alles, was in der Stadt und vor allem bei der<br />

Wache geschah.<br />

„Es sieht ganz so aus.“ antwortete Larkur, er sah weit weniger zufrieden aus.<br />

Er konnte immer noch nicht glauben, daß Chatsar tatsächlich für die Angriffe auf Keriam<br />

verantwortlich war.<br />

���<br />

„Gibt er es wenigstens zu? Oder ist er etwa zu feige dazu?“<br />

„Nein, bisher hat er es strikt geleugnet.“


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

Larkur schüttelte in Gedanken den Kopf, die Nacht hindurch hatten einige Offiziere, unter anderem<br />

auch Chatsars Vorgesetzter Gehrfol, versucht, zu ergründen, was Chatsar auf Keriams Grundstück<br />

gemacht hatte und ob er etwas mit den Angriffen zu tun hatte, doch das Ergebnis war mehr als<br />

unbefriedigend. Chatsar gab an, jemanden über die Mauer klettern gesehen zu haben und habe ihn<br />

dann verfolgt. Doch die Wache, die Chatsar festgenommen hatte, gab an, sonst niemanden gesehen zu<br />

haben. Außerdem konnte Chatsar keine Erklärung dafür geben, warum er in dunkler Kleidung um<br />

diese Zeit in der Nähe von Keriams Grundstück war und warum die Scheiben eingeschmissen wurden,<br />

obwohl er doch den Eindringling verfolgte.<br />

„Diese Nachricht hier hat er mir übermittelt.“<br />

Keriam riß Larkur aus seinen Gedanken. Er ergriff das ihm hingehaltene Pergament.<br />

„Vatermörder! Glaube ja nicht, daß ich dich nicht kriege! Du bist schon tot! Vatermörder!“<br />

„Na ja, aber das hat sich ja nun erledigt.“ Keriam erhob sich.<br />

„Ach, darf ich mit ihm sprechen?“ Larkur schüttelte den Kopf.<br />

„Na ja, dann eben nicht. Ich hoffe, Ihr laßt ihn nicht so schnell wieder aus dem Kerker. Einen schönen<br />

Tag noch, Larkur.“<br />

Damit verließ Keriam Larkurs Stube. Der schüttelte wieder den Kopf, Keriams Zuversicht, daß alles<br />

vorbei sei, konnte er nicht teilen.<br />

���<br />

„Natürlich war ich es nicht. Ich habe Dir doch erzählt, daß ich rausfinden wollte, wer es ist. Deshalb<br />

war ich da.“<br />

Chatsar saß auf der schmalen Pritsche in der kleinen Zelle, in die sie ihn gestern Nacht gebracht und<br />

die halbe Nacht verhört hatten. Neben ihm saß Feran und schaute Chatsar ungläubig an. Obwohl er<br />

hier in der Zelle saß und, wenn die Vorwürfe bewiesen, oder zumindest nicht entkräftet wurden, so<br />

schnell nicht wieder herauskäme, war er wesentlich ausgeglichener als in den vergangenen zehn<br />

Monaten.<br />

„Und warum erzählst Du es nicht Gehrfol?“<br />

„Das geht nicht! Wenn ich erzähle, daß ich den Täter außerhalb meiner Dienstzeit suche, dann wollen<br />

sie auch wissen, warum.“<br />

„Ja und? Wo ist das Problem?“<br />

„Gehrfol würde es mir nicht glauben!“<br />

„Was? Daß Du zeigen willst, wie ernst Du Deinen Dienst nimmst?“<br />

„Nein, es geht einfach nicht!“<br />

„Willst Du etwa hier bleiben? Was wird aus Jaga, was aus Freya?“ Feran war aufgesprungen und<br />

stand vor Chatsar, doch der schwieg.<br />

„Larkur! Würdest Du es Larkur erzählen? Du behauptest doch immer, Du würdest ihm trauen!“<br />

Chatsar schwieg immer noch, doch schien er nun nachzudenken. Feran schritt in der Zelle auf und ab,<br />

er konnte es nicht glauben, daß sein Freund nichts zu seiner Verteidigung unternahm. „Ich denke<br />

darüber nach. Vielleicht werde ich es ihm erzählen.“<br />

Chatsar stand nun ebenfalls auf.<br />

„Vielen Dank, daß Du gekommen bist.“ Er schüttelte Feran die Hand und klopfte an die Zellentür.<br />

-10 -<br />

Aus irgendeinem Grund waren keine Wachen zu sehen, dabei mußte Keriam eigentlich gemerkt<br />

haben, daß er nicht in Sicherheit war. Oder vielleicht doch? Wahrscheinlich hatte die Wache den<br />

Verfolger gefangen, der beim letzten Mal plötzlich aufgetaucht war. Das hieße aber auch, daß heute<br />

mit keinerlei Überraschung zu rechnen war, denn auch die Patrouillen der Stadtwache verliefen<br />

wieder normal.<br />

Mit wenigen Schritten war die Figur an der Mauer, dann herüber und schon rannte die Figur auf das<br />

Haus zu. Es waren weit und breit keine Wächter oder Fallen irgendwelcher Art zu entdecken. Weiter<br />

ging es im Laufschritt zu Keriams Fenster, daß allerdings wie immer verschlossen war. Doch dies war<br />

schließlich auch beim letzten Mal kein Hindernis gewesen. Wieder kam der lange Dolch zum<br />

Vorschein, mit dem das Fenster entriegelt wurde, nachdem die Scharniere gefettet waren. Dann<br />

kamen wieder die Fensterläden an die Reihe, die ebenso vorsichtig und nahezu lautlos wie beim<br />

letzten Mal geöffnet wurden, so daß der Weg ins Innere frei war.


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

Die Figur kletterte hinein und blieb in etwa einem Sprung Abstand zu Keriams Bett stehen. Dieser lag<br />

friedlich schlafend im Bett, friedvoll und zufrieden lächelnd ruhte sein Kopf auf dem großen Kissen.<br />

„Guten Abend, Keriam!“ die Figur sprach mit lauter, aber deutlich verstellter Stimme.<br />

Keriam drehte sich herum und grunzte, machte jedoch keinerlei Anstalten aufzuwachen.<br />

„Keriam! Du hast Besuch.“ Die Stimme wurde lauter.<br />

Erschrocken fuhr Keriam hoch, er starrte die Figur mit schlaftrunkenen und entsetzten Augen an. Vor<br />

ihm stand ein schwarzer Schatten.<br />

„Wer... Wer seid Ihr?“<br />

„Ich bin Dein Tod! Aber noch nicht heute, nein heute wollte ich Dir nur sagen, daß es noch nicht<br />

vorbei ist. Die Wache hat mich noch lange nicht!“<br />

Plötzlich war ein Dolch in der Hand des Schattens und im selben Augenblick flog er schon auf<br />

Keriam zu, der im Reflex die Augen schloß und die Arme hochriß. Mit lautem Knirschen drang der<br />

Dolch in einen der Bettpfosten, so tief, daß er auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kam. Als<br />

Keriam die Augen wieder öffnete, sah er gerade noch, wie die Figur aus dem Fenster sprang. Er fiel<br />

wieder zurück aufs Bett und begann zu zittern, sein Gesicht war totenbleich.<br />

���<br />

Feran haßte diese nächtlichen Rundgänge, vor allem seid er nicht mehr mit Chatsar unterwegs war.<br />

Zum Glück fanden diese Rundgänge nur in der Oberstadt statt. Dort war es schon schlimm genug,<br />

jederzeit mußte man damit rechnen, daß man irgend jemandem im Weg war und hinterrücks<br />

angegriffen wurde, dies kam häufiger vor als man bei drei bewaffneten Soldaten erwarten sollte. Sie<br />

kamen nun zu der Gegend, die in den letzten Nächten verstärkt bewacht worden waren,<br />

glücklicherweise hatte er daran nicht teilnehmen müssen, die Soldaten hatten großen Ärger<br />

bekommen, weil sie die Anschläge auf Keriam nicht verhindern konnten. Doch alle glaubten, daß dies<br />

mit der Festnahme Chatsars beendet war, alle bis auf Chatsar, seine Familie und Feran. Aber Chatsar<br />

weigerte sich, dies auch anderen zu erklären, Feran hoffte inständig, daß er wenigstens mit Larkur<br />

redete.<br />

Plötzlich war Feran mit den Gedanken wieder voll bei seiner Aufgabe, denn er glaubte, aus den<br />

Augenwinkeln etwas gesehen zu haben. Hatte er es sich nur eingebildet oder saß da tatsächlich<br />

jemand auf der Mauer?<br />

Der weiße Mond kam hinter den Wolken hervor, nun bestand kein Zweifel mehr, dort saß wirklich<br />

jemand und schaute sich um.<br />

„Da vorne, auf der Mauer, da ist einer!“ Feran deutete auf die Figur und rannte los, Mira und der neue<br />

Unteroffizier blieben zunächst stehen und wunderten sich.<br />

„Halt, wo...“ setzte der Unteroffizier, Jalik war sein Name, an, als auch er die Figur saß, die von der<br />

Mauer sprang und vor der Wache floh.<br />

„Hinterher!“ lautete sein neues Kommando, als er loslief.<br />

Feran hatte die beiden bereits um etwa fünf Sprung abgehängt, war von dem Schatten jedoch noch<br />

über zwanzig Sprung entfernt.<br />

„Stehenbleiben!“ rief er ihm nach, war sich jedoch sicher, daß dies das letzte war, was der Schatten<br />

tun würde.<br />

So lief er also weiter und beschränkte sich darauf, seinen Atem zum Laufen zu benutzen, etwas was<br />

mit Kettenhemd, Schild auf dem Rücken und Hellebarde in der Hand schwer genug war. So war es<br />

auch nicht weiter verwunderlich, daß die ganz in schwarz gekleidete Figur bereits nach zwei Ecken<br />

außer Sicht war. Feran suchte gerade den Boden nach Spuren ab, als auch Mira und anschließend<br />

Jalik bei ihm ankamen.<br />

„Wo ist er hin?“ keuchte Jalik.<br />

„Ich habe keine Ahnung, er hat keine Spuren hinterlassen. Ist auch kein Wunder bei dem gefrorenen<br />

Boden.“<br />

„Was wollte er bloß bei Keriam?“ wollte Mira wissen.<br />

„Das fragen wir am ihn am besten selbst, oder was meint Ihr, Jalik?“<br />

-11 -<br />

„Wie Du ja schon gehört hast, wissen wir nun, daß Du nicht der Täter bist. Ich habe es, ehrlich gesagt,<br />

auch nie geglaubt.“


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

Chatsar saß mit dem Rücken zum Schreibtisch in Larkurs Stube auf einem der Besuchersessel, Larkur<br />

selbst ging vor der Tür auf und ab.<br />

„So, Chatsar, nun möchte ich aber wissen, was Du auf Keriams Grundstück gemacht hast. Und<br />

diesmal will ich die Wahrheit hören!“<br />

Nun war es also soweit, diesmal hatte Chatsar nicht mehr die Möglichkeit, sich herauszureden.<br />

Dennoch wollte er nicht alles auf einmal erzählen, vielleicht war Larkur ja vorher zufrieden.<br />

„Ich wollte wissen, wer hinter den Anschlägen steckt.“<br />

„Und? Du kamst also nicht einfach so vorbei. Wo warst Du? Und warum möchtest Du es wissen?“<br />

„Ich hatte mich unter einem Baum versteckt und habe da auf den Attentäter gewartet.“<br />

„Warum?“ Larkur beugte sich über Chatsar, seine Hände auf den Armlehnen des Sessels.<br />

„Es ist für mich sehr wichtig, zu erfahren, wer dahinter steckt.“<br />

„Das beantwortet meine Frage nicht, warum ist es wichtig?“<br />

„Weil ich glaube, an den Anschlägen nicht ganz unschuldig zu sein.“<br />

„Bitte?“ Larkur schaute ihn verständnislos an.<br />

„Nun, Ihr erinnert Euch, daß ich damals eigene Untersuchungen wegen des Mordes an Gsaxio<br />

angestellt habe.“<br />

Larkur nickte und richtete sich wieder auf, blieb jedoch vor dem Stuhl stehen.<br />

„Ich schrieb damals doch auch den Bericht und schickte eine Nachricht an die Angehörigen, die in<br />

dieser Stadt weiter südlich leben.“<br />

„Ja, ja, das weiß ich alles, worum geht es nun also?“<br />

„Also, ich schrieb in dieser Nachricht, daß der Mord nicht aufgeklärt werden könne.“<br />

„Ja, und?“ Larkur wurde langsam ungeduldig.<br />

„Ich schrieb außerdem, daß der Verdacht gegen Keriam sich nicht bestätigt hatte. Dabei habe ich den<br />

Brief aber so formuliert, daß deutlich wird, daß Keriam doch der Täter ist.“<br />

Chatsar lehnte sich zurück und blickte Larkur ins Gesicht, dessen Ausdruck von Zweifel, ob er richtig<br />

gehört hatte, über Ungläubigkeit bis Zorn wechselte.<br />

„Was? Was? Was hast Du gemacht? Warum? Was hast Du Dir dabei gedacht? Warum hast Du das<br />

gemacht?“<br />

„Weil es wahr ist!“<br />

„Was ist wahr? Keriam hat Gsaxio umgebracht?“ Larkur war wieder bei Ungläubigkeit angekommen.<br />

„Ja, er hat den Auftrag dazu gegeben...“<br />

„Aber, aber es gab überhaupt keine Beweise oder Anzeichen...“<br />

„Stimmt, er hat es mir gesagt. Er hat es mir persönlich erzählt! Und gelächelt hat er dabei! Er wollte<br />

nur wissen, ob ihm der Mord zu beweisen war, hat er gesagt. Geld hat er mir geboten, für meine<br />

Bemühungen!“<br />

„Und deshalb seid ihr ausgezogen?“<br />

„Genau.“<br />

„Aber, warum hast Du das nie erzählt.“<br />

„Hätte mir das jemand geglaubt? Hätte Gehrfol mir geglaubt? Hättet Ihr Keriam deshalb<br />

festgenommen? Lächerlich, ich wäre im Kerker gelandet oder in der Lyzeum!“<br />

Chatsar sprang auf, rannte aus Larkurs Stube und knallte die Tür hinter sich zu. Larkur setzte sich auf<br />

den Sessel, auf dem Chatsar eben noch gesessen hatte, er streckte die Füße von sich und starrte an die<br />

Decke. Er mußte nachdenken.<br />

-12 -<br />

Chatsar saß am Tisch und starrte die gegenüberliegende Wand an. Er war vor zwei Stunden nach<br />

Hause gekommen und seitdem saß er so da, zuvor war er den ganzen Tag durch die Oberstadt<br />

gelaufen, ohne dabei ein Ziel gehabt oder nur auf seine Umgebung geachtet zu achten.<br />

„Was ist los? Willst Du den Rest Deines Lebens so dasitzen?“<br />

Jaga hatte bereits in den vergangenen Stunden versucht, Chatsars Gemütszustand zu ergründen und zu<br />

ändern, hatte sich jedoch hauptsächlich um Freya und den Haushalt kümmern müssen, da sie diesmal<br />

nicht die sonst übliche Unterstützung von Chatsar erhielt.<br />

„He, Chatsar, ich rede mit Dir!“ Sie wedelte mit ihrer Hand vor seinen Augen.<br />

„Hmm“ war alles, was Chatsar verlauten ließ.<br />

„Nun sage mir endlich, was passiert ist!“<br />

„Ich habe es erzählt.“


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

„Was hast Du erzählt?“<br />

„Ich habe erzählt, was Keriam getan hat!“ Chatsar war aufgesprungen, lief jetzt durch den Raum. „Ich<br />

habe Larkur alles erzählt, habe erzählt, daß er ihn umgebracht hat, daß er mich benutzt hat...“<br />

„Ja, und, was hat Larkur dazu gesagt?“<br />

„Nichts. Ich bin rausgelaufen!“<br />

„Warum das denn?“ Nun war auch Jaga aufgestanden.<br />

„Weil ich Angst hatte, Angst das er mich festnimmt. Oder das er mich auslacht...“<br />

„Oh, Chatsar, was ist bloß los mit Dir?“ Jaga nahm ihn in den Arm.<br />

„Weißt Du, was wir jetzt machen? Wir gehen zu Larkur und erklären ihm die Sache. Außerdem mußt<br />

Du Dich entschuldigen.“<br />

„Das geht nicht!“ Chatsar befreite sich aus ihren Armen.<br />

„Warum sollte das nicht gehen? Daß Du so lange gewartet hast, zeigt doch, daß Du die Wahrheit<br />

sagst.“<br />

„Er ist außerdem gar nicht mehr in der Kaserne.“ Chatsar drehte sich weg.<br />

„Um so besser, ich wollte seine Frau schon immer mal kennenlernen.“<br />

Jaga hakte sich bei Chatsar unter und zog ihn Richtung Tür.<br />

���<br />

Auch Larkur saß zu Hause und starrte vor sich hin, das Gespräch mit Chatsar am Morgen ließ ihm<br />

keine Ruhe. Es war einfach unglaublich, was Chatsar ihm erzählt hatte. Andererseits hatte er fast ein<br />

Jahr damit gewartet, und auch seine Reaktion deutete daraufhin, daß er die Wahrheit sagte.<br />

Aber das hieße, daß Keriam gelogen hatte, denn schließlich hatte er ihm eine andere Geschichte<br />

erzählt, die allerdings auch nicht glaubhafter war. Also log einer von den beiden, welcher, würde er<br />

schon herausbekommen, als erstes mußte er noch einmal mit Chatsar sprechen.<br />

Sarjana, seine Frau betrat den Raum, sie hatte gerade ihre Tochter ins Bett gebracht.<br />

„Die Kleine schläft jetzt.“<br />

„Schön. Es tut mir leid, ich muß noch einmal weg.“ Larkur stand auf und ging zur Tür.<br />

Zuerst wollte Sarjana fragen, wo er denn hin wolle, doch dann ließ sie es. Wenn er es nicht von selbst<br />

erzählte, bekäme sie wahrscheinlich auch keine Antwort. Also zuckte sie nur mit den Schultern.<br />

Wenige Minuten später hatte Larkur seine Fuchsstute gesattelt und machte sich auf dem Weg zu<br />

Chatsar. Hoffentlich war er zu Hause.<br />

���<br />

So, Chatsar war also wieder frei. Er war frei, obwohl er doch eindeutig für die Anschläge<br />

verantwortlich war. Aber auch als er angeblich im Kerker saß, hatte ihn das nicht gehindert, bei ihm<br />

einzudringen.<br />

Nun, Keriam gedachte herauszubekommen, wie Chatsar dies angestellt hatte. Noch heute Abend, jetzt<br />

gleich, würde er zu Chatsar gehen und ihn fragen. Und dann wollte er ihn töten, mittlerweile war es<br />

eine Frage er oder Chatsar. Und diese Frage wollte er persönlich klären, nie wieder würde er einen<br />

Söldner mit einer Aufgabe vertrauen, die wirklich wichtig war.<br />

Keriam stieg in seine dicken, mit Fell gefütterten Stiefel, band den Gurt mit dem langen, silbernen<br />

Dolch um und zog seine Pelzjacke an. Dann löschte er die Kerzen und öffnete die Tür.<br />

„Ich bin bald wieder da, bereite bitte in einer Stunde ein Bad für mich vor.“ befahl er seinem Diener,<br />

dann ging er den Weg hinunter zum Tor in der Mauer.<br />

���<br />

Es wurde Zeit, die Angelegenheit zu beenden, heute abend war Keriam fällig. Das Risiko wurde<br />

einfach zu groß, jederzeit war eine Entdeckung möglich. Außerdem waren Keriams Reaktionen schon<br />

lange nicht mehr berechenbar, er verhielt sich völlig anders als zu erwarten war.<br />

Die Gestalt erklomm den Baum, auf dem sie bereits in den letzten Tagen Keriams Grundstück<br />

beobachtet hatte, der Besitzer dieses Grundstücks mußte sich sehr sicher fühlen, es war in dieser Zeit<br />

nicht eine Wache zu sehen gewesen. Nun, nach heute Abend würde der Baum nicht mehr gebraucht<br />

werden.


Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

Doch auch auf Keriams Grundstück war niemand zu sehen, trotz des direkten Angriffs gestern schien<br />

er den Söldnern nicht mehr zu vertrauen. Doch noch waren zu viele Lichter im Haus an, der Zeitpunkt<br />

für den letzten Einstieg noch nicht gekommen. Hoffentlich dauerte es nicht zu lange, es war viel<br />

kälter als in den Nächten zuvor.<br />

Es begann, das Licht in der Eingangshalle ging bereits aus, das bedeutete, daß das Haus zu Bett ging.<br />

Aber was war das? Die Haustür ging auf, und eine Gestalt kam heraus, die auf das Tor in der Mauer<br />

zuging. Nachdem die Figur einige Sprung gegangen war, konnte man erkennen, wer es war. Keriam<br />

verließ das Haus, bekleidet in einer Pelzjacke. Wo wollte er hin?<br />

Die Gestalt auf dem Baum würde es herausfinden. Sobald Keriam das Tor passiert hatte und in die<br />

andere Richtung ging, glitt die Gestalt vom Baum und folgte ihm in sicherem Abstand.<br />

-13-<br />

Chatsar und Jaga gingen in dicke Mäntel gekleidet und eng aneinander gekuschelt durch die<br />

nächtlichen Straßen der Oberstadt. Sie hatten Yrtse gebeten, auf Freya aufzupassen und waren nun auf<br />

dem Weg zu Larkurs Haus.<br />

Als sie Strecke etwa zur Hälfte zurückgelegt hatten, kam ihnen ein Reiter entgegen, der im<br />

gemütlichen Trab direkt auf sie zuhielt und das Pferd etwa einen Sprung vor ihnen anhielt.<br />

„Guten Abend, Jaga. Hallo, Chatsar.“ Larkur nickte zum Gruß kurz mit dem Kopf, dann stieg er vom<br />

Pferd.<br />

„Oh, Guten Abend, Larkur. Wir waren gerade auf dem Weg zu Euch.“ Jaga machte einen Schritt auf<br />

Larkur zu, streckte ihm die Hand entgegen.<br />

„So ein Zufall, ich hatte das gleiche vor. Na ja, wahrscheinlich haben wir auch den gleichen Grund.<br />

Oder irre ich mich da, Chatsar?“<br />

Chatsar schüttelte den Kopf, er hatte eigentlich gehofft, daß Larkur nicht zu Hause war. Er wußte<br />

nicht, was er sagen sollte.<br />

„Die Sache heute Mittag tut mir leid.“ murmelte er.<br />

„Ach was , da ist doch nichts passiert. Gut, wo gehen wir hin, hier draußen ist es zu kalt zum Reden.<br />

Jaga, kennst Du meine Frau?“<br />

„Nein, leider noch nicht.“<br />

„Gut, dann...“<br />

„Hier bist Du also! Da habe ich ja Glück gehabt.“ Keriams Stimme erklang plötzlich in Chatsars<br />

Rücken. Alle drei drehten sich ihm zu.<br />

„Glaube ja nicht, daß Du damit durchkommst! Ich werde schon dafür sorgen, daß die Sache ein Ende<br />

findet!“ Keriam ging auf Chatsar zu, stand nur noch einen Tritt von ihm entfernt.<br />

„Was ist los? Was wollt Ihr?“ Chatsar blickte Keriam erstaunt an.<br />

„Keriam, was soll der Blödsinn? Was wollt Ihr von Chatsar? Er hat nichts getan!“ Larkur machte nun<br />

ebenfalls einen Schritt auf Chatsar zu, seine Stimme hatte dieselbe Autorität, die er sonst gegenüber<br />

seinen Soldaten gebrauchte.<br />

„Ihr braucht gar nicht so zu tun, als wüßtet ihr nicht bescheid. Ihr habt Euch doch verschworen! Nur<br />

weil Ihr mir nichts beweisen könnt. Aber nicht mit mir!“<br />

Plötzlich war ein langer Dolch in Keriams Hand, er hob den Arm und holte aus. Chatsar riß nur<br />

entsetzt die Augen auf, Jaga schrie und Larkur griff zum Schwert, doch ebenso plötzlich ließ Keriam<br />

den Dolch wieder fallen. In seiner Hand steckte ein anderer Dolch!<br />

Keriam wirbelte herum und starrte die schwarze Figur an, die etwa drei Sprung entfernt auf einem<br />

Mauersims hockte. Auch die anderen blickten erstaunt zur Mauer.<br />

„Hallo, Keriam! Freust Du Dich, mich zu sehen?“ die Gestalt hatte eindeutig eine Frauenstimme,<br />

doch sonst konnte man wegen der Dunkelheit und der schwarzen Kleidung nichts erkennen.<br />

„Nein! Das kann nicht sein! Nicht, ich dachte...“ Keriam, der seine blutende Hand eng an seine Brust<br />

drückte, keuchte. In seinen Augen spiegelte sich der Wahnsinn. Dann drehte er sich um, und noch<br />

bevor jemand reagieren konnte, lief er die Straße hinab.<br />

Sofort sprang die Gestalt von der Mauer und rannte hinter Keriam her.<br />

„Halt, wer seid Ihr?“ Larkur hatte als erster seine Fassung wiedergewonnen, Keriam war schon um<br />

die Ecke verschwunden, die Figur bereits mehrere Sprung entfernt. Die Figur drehte ihren Kopf zu der<br />

kleinen Gruppe, ohne langsamer zu werden, und mit einer durch die Maske vor dem Mund<br />

gedämpften Stimme rief sie:


„Ich? Ich bin Keriams Schatten!“<br />

Keriams Schatten - Kai-Florian Richter<br />

-14-<br />

Seit drei Tagen hatten sie nun nichts mehr von Keriam gehört. Er war nicht mehr zu Hause<br />

aufgetaucht, und obwohl die Stadtwache die gesamte Oberstadt intensiv nach ihm oder seiner Leiche<br />

durchsucht hatte, war nichts entdeckt worden. Wahrscheinlich lag er längst am Fuße der Schlucht.<br />

Auch die schwarze Figur war seit jener Nacht nicht mehr gesehen worden, da sie jedoch nie jemand<br />

richtig erkannt hatte, war dies nicht verwunderlich.<br />

Chatsar hatte sich im Laufe dieser Tage bei der Suche durch extremen Einsatz, Eifer und viele gute<br />

Ideen ausgezeichnet.<br />

Er stand wieder vor seinen Soldaten beim morgendlichen Appell, gerade hatte ihn Gehrfol als<br />

beispielhaften Soldaten hervorgehoben und dann die Soldaten auf ihre Posten geschickt.<br />

„He, Chatsar, der Alte mag Dich wieder! Keine Probleme mehr mit Keriam?“ Feran war zu ihm<br />

getreten, hatte ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft.<br />

„Nein, keine Probleme mehr. Keriams Schatten hat seinen Schatten von mir genommen.“<br />

Er erwiderte den Klopfer auf die Schulter durch einen leichten Schlag auf Ferans Brustpanzer. Er war<br />

zurück in der Wache.


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

„Das Licht, das weh tut“ ist eingeschlafen ...<br />

Claudia Wamers<br />

„Hmmm, nein.... nicht.... ich will nicht... Mama... warum ist es so dunkel..., so kalt...“, Gabraal<br />

Barilkian murmelte leise und verängstigt im Schlaf vor sich her.<br />

„Ich will nicht mehr schlafen.... Mama... mach mich wach, Mama!“, Gabraal schrie den letzten Satz<br />

aus seinen Träumen. So laut war der Ruf, daß er selber davon erschrak und einen Augenblick lang<br />

nicht mehr wußte, ob er noch schlief oder schon wach war.<br />

Ein seltsamer Traum war das, ein blöder, böser, häßlicher...! Gabraal atmete immer noch sehr schwer<br />

und schnell, er spürte wie der Schweiß ihm aus dem zerwühlten roten Haar eiskalt in den Nacken<br />

rann, und doch lag er still und steif auf seinem Strohsack und klammerte sich an den rauhen Stoff, der<br />

ihm ein trügerisches Gefühl von Vertrautheit vermittelte. Dann, langsam, ließ die schreckliche<br />

Anspannung nach, allerdings - irgendwo in einem kleinen Winkel seines Magens saß die Erinnerung<br />

wie ein Klumpen Eis... Was hatte er geträumt? Keine Ahnung - er wußte es nicht mehr, er wollte sich<br />

aber ganz gewiß auch nicht mehr daran erinnern!<br />

Nach und nach stellten sich seine anderen Sinne ein... Er lauschte auf das Haus, er starrte vor sich an<br />

die Wand seines Schlafwinkels... Es mußte wirklich noch sehr früh am Morgen sein, es war noch sehr<br />

dunkel in diesem kleinen Winkel, den er sich zum Schlafen mit Krajin, seinem Zwillingsbruder,<br />

teilte... Allerdings war Gabraal gar nicht mehr müde... So finster wie es im Haus war, mußte es<br />

eigentlich noch früh, und er eigentlich noch viel müder sein. Er konnte ja noch nicht einmal den<br />

Feuerschein von Mutters Herd unter seinem Vorhang hindurch schimmern sehen, der ihn sonst jeden<br />

Morgen begrüßte...<br />

Er sah sich nach seinem Bruder um. Der hätte eigentlich längst neben ihm im Bett stehen müssen, so<br />

laut wie Gabraal geschrien hatte. Überhaupt schien ihn keiner gehört zu haben - es war still in dem<br />

kleinen Haus... Vielleicht hatte er ja seinen Schrei auch nur geträumt, vielleicht?<br />

Gabraal knotete sich langsam und umständlich aus der Decke und hockte sich auf die Knie. Dann ging<br />

er auf die Suche. Irgendwo hier mußte er doch sein, sein Bruder.... na wo war er denn... Er tastete über<br />

die gesteppte Decke, die ihre Mutter im letzten Sommer für sie gemacht hatte, damit die kalten<br />

Wintermonate nicht so schlimm waren. Normalerweise war die mit duftenden Gräsern ausgestopfte<br />

und mit Kaninchenflaum, der bei den Pelzarbeiten seines Vaters schon einmal abfiel, gepolsterte<br />

Decke warm und weich. Jetzt war der Stoff aber seltsam hart, steif und kalt unter seinen kleinen<br />

Fingern.<br />

Seine Hände wühlten immer wilder, in der Hoffnung irgendwo auf seinen Bruder zu stoßen. Doch<br />

Krajin, sein GROSSER Bruder Krajin (immerhin ein paar Minuten älter als er), war nirgendwo zu<br />

entdecken.<br />

Langsam wurde es Gabraal unheimlich. Wo konnte... natürlich, er war sicher draußen, der besondere<br />

„Topf“ stand dort neben ihrer Schlafnische, und... Aber es war so still draußen... Krajin hätte doch<br />

sicher etwas hören und sich rühren müssen. Ah nein - nicht Krajin! Der stand doch sicher neben dem<br />

Vorhang, draußen vor der Nische, um ihm ein Kissen, oder vielleicht den Inhalt eines Wassereimers,<br />

auf den Kopf zukommen zu lassen. Langsam tastete sich Gabraal bis an den Rand der Bettkiste und<br />

lugte von innen unter dem Vorhang hervor - nichts.<br />

Gabraal seufzte ergeben - lieber einen Schwall kalten Wassers abbekommen, dann hatte man selbst<br />

seine Ruhe und der Bruder seinen Spaß...<br />

Langsam schob er also seinen Kopf durch die Spalte in dem bunten Vorhang hinaus - nichts geschah,<br />

niemand war da! Seltsam.<br />

Als er sich suchend umblickte nahm er noch verschiedene andere Dinge wahr, die Luft war kalt, sehr<br />

kalt, der Ofen war wirklich nicht an, und sofort fröstelte ihn. Aber irgendwie bemerkte er auch, daß<br />

dies eine besondere Art von Kälte war. Eine Gänsehaut überkam ihn, die man nicht durch einen<br />

angewärmten Stein am Fußende des Bettes oder einen Becher mit heißer Milch bekämpfen konnte...<br />

Er sah sich in dem Raum um, der ihnen als Wohnraum, Küche und Webstube diente. Es war zwar<br />

dunkel, aber irgendwie schien es Gabraal so, als wäre die Dunkelheit nicht richtig - Unsinn... aber das<br />

Licht war seltsam - es war irgendwie... falsch. Immer wenn er in einen Winkel des Raumes sah,<br />

glaubte er aus den Augenwinkeln ein seltsames Schimmern der Luft auf der anderen Seite des Raumes<br />

wahrzunehmen. Wenn er dann schnell hinsah, war es verschwunden. Gabraal wägte ab - war er nun<br />

wach, oder träumte er immer noch diesen seltsamen Traum?


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

Nun, wenn er wach war, dann war er bei seinen Eltern im Bett sicher gut aufgehoben. Er konnte dort<br />

weiterschlafen, bis diese dann auch aufstanden. Wenn er aber noch schlief und träumte, dann konnte<br />

er ruhig auch im Traum bei seinen Eltern im Bett liegen... Gabraal fand diese Idee wunderbar und<br />

schlüpfte zwischen den Vorhängen hervor.<br />

���<br />

Es war dunkel, es war Nacht, die Zeit , die er innig liebte. Der kleine Schatten hielt die Nase in den<br />

Wind, witterte und merkte auf. Irgendwie war die Luft heute anders hier in seinem Reich... es wehte<br />

ein frischer Wind durch die hohen alten Bäume. Er merkte wie sich ein seltsames, prickelndes Kitzeln<br />

seine Hornfortsätze entlang schlich, um dann schließlich - wie reflexartig, die Krallen an seinen<br />

hornigen Schuppenhänden hervorschnellen zu lassen. Es geschah etwas.... Waren die Herren<br />

zurückgekommen? Waren sie endlich zurückgekommen? Würde er wieder frei sein dürfen?<br />

Der Schatten huschte unter den Büschen her, immer scharf am Rande der morastigen Tümpel entlang,<br />

dem dornigen Brombeergestrüpp ausweichend. Bald schon hatte er den Altarstein erreicht und hockte<br />

sich auf den überwucherten flachen Monolithen, der dort von Runen übersät im Schatten gewaltiger<br />

Bäume stand, die sich wie Säulen eines Tempels in die Höhe reckten. Ja.... warm strahlte der Stein<br />

unter ihm, wie lange schon hatte er dieses Gefühl vermissen müssen? Wie lange schon war es her, das<br />

dieser Stein durch das Blut von Opfern so erwärmt worden war? Zu lange!<br />

Die kleine schuppige Gestalt witterte in ihre Umgebung, hmmm, ja - sie mochte die Veränderungen,<br />

die in der Luft lagen. Ohne sich zu rühren saß die häßliche kleine Gestalt auf dem Stein und genoß<br />

die Wärme und Kraft, die von unten herauf pulsierte. Allein die winzigen Augen funkelten orange in<br />

die Umgebung, in der man außer dem sanften Rauschen des Windes nicht einen Laut auch nur eines<br />

sterblichen Wesens vernahm. Eigentlich war es immer so, hier ertönten keine Geräusche sterblicher<br />

Wesen - sterbliche Wesen mieden diesen Ort, die wenigen, die es nicht taten, wurden getötet für die<br />

Herren. Genießerisch fuhr eine kleine Zunge über nadelspitze Zähne... Blut.... Das Wesen achtete<br />

weiter auf seine Umgebung. Es tat sich was... es tat sich was...<br />

Die Gestalt huschte von seinem Platz fort, näher an den Rand des Wäldchens, an den Rand seines<br />

Reviers heran. Es spürte den Machtlinien nach, die sein Reich zwar eindämmten, aber auch vor dem<br />

hellen „Draußen“ schützten. Die Steine rings um seinen Hain, sein Wäldchen, waren die Foci für die<br />

Linien der Macht an diesem Ort. Hier war er ihnen nahe, hier am Waldrand. Doch sie waren<br />

schwächer als sonst, die Linien waren schwächer! Nein, falsch, sie waren nicht schwächer - sie<br />

hatten sich von den Steinen gelöst - sie waren viel weiter weg von den Torsteinen! Triumphierend<br />

schlug das Wesen seine Krallen in den nächstbesten abgestorbenen Baumstamm, tief drangen sie ein -<br />

Holzstücke flogen davon und dunkel glitzernd brach eine Flüssigkeit wie Blut unter der beschädigten<br />

Rinde des scheinbar schon toten Baumes hervor.<br />

Er konnte diesen Ort verlassen! Er konnte auf die Jagd gehen, die Gunst der Stunde nutzen und die<br />

Herren rufen. Sie mußten nahe sein in solch einer langen Nacht voller Kraft. Es war eine Nacht, die<br />

so nicht sein durfte, von der bösen Kreatur aber fast jubilierend begrüßt wurde, weil „das Licht, das<br />

weh tat“ eingeschlafen war...<br />

Schnell bewegte sich das Wesen zu den Grenzsteinen hinüber, die ansonsten für ihn eine Barriere<br />

darstellten, die er nicht zu überschreiten imstande war. Hier waren die Torsteine - da war auch der<br />

Stein, den der kleine Zweibeinling mit dem Flammenkopf einfach besudelt hatte, indem er ein Stück<br />

davon mitnahm.... Ja!<br />

Er spürte dem Stückchen Stein nach, wie er es seit dem Verschwinden des Zweibeinlings schon so oft<br />

gemacht hatte. Nie hatte er den gestohlenen Stein, den einzigen Makel in seinem diensteifrigen<br />

Dasein, spüren können. Doch jetzt, jetzt vernahm er ein schwaches Echo aus der Richtung, in die der<br />

Zweibeinling damals verschwunden war. Was noch viel seltsamer war - als er in diese Richtung zu<br />

wittern begann schien es ihm, als würde er regelrecht gerufen.... etwas zog ihn dort hin, süß und<br />

vielversprechend.<br />

Entschlossen machte das kleine Wesen einige Schritte über die Begrenzung des Torsteines hinaus,<br />

früher ein Todesurteil für ihn, hätte „das Licht, das weh tat“ ihn doch schnell getötet. Und nun?<br />

Nichts geschah, die samtene Dunkelheit, schwer und süß um ihn herum, blieb und hieß ihn<br />

Willkommen! Mit einigen wilden Sprüngen machte sich die Kreatur auf, den Zweibeinling zu finden<br />

und das Stück des Torsteines wieder zurückzubringen... mit dem Zweibeinling als Opfer für die<br />

Herren...


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

���<br />

Gabraal huschte in der Dunkelheit an der Wand entlang bis zu dem Vorhang, der das Schlafzimmer<br />

der Eltern als dem zweiten Raum der Hütte von dem Wohnraum abtrennte. Er kannte den Weg im<br />

Schlaf - er schlief ja wahrscheinlich sowieso noch. Als er so durch die Hütte schlich fiel ihm auf, wie<br />

still überhaupt die ganze Stadt zu sein schien.<br />

Das Rattenloch von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> war nie still. Immer hörte man irgendwo das Lachen von diesen<br />

bunt angemalten Frauen und das Brüllen und Singen von den Leuten, die nicht mehr gerade durch die<br />

Straße gehen konnten. Ab und zu hörte man auch wie jemand schrie, der sich wohl weh getan haben<br />

oder etwas verloren haben mußte. Von Zeit zu Zeit hörte man das Bellen eines Hundes oder das<br />

Krähen eines Hahnes. Aber jetzt? Es war so still hier, man hörte das Haus leise ächzen - fast als wäre<br />

es lebendig. Dieser Gedanke beflügelte den Jungen, das seltsame Kribbeln seiner Nackenhaare<br />

ignorierend sprang er fast durch den Vorhang in - ein leeres Zimmer!<br />

Wie vor die Wand gelaufen stand der Junge in dem Zimmer seiner Eltern, daß auch als Lager für die<br />

Wolle gebraucht wurde, und für die Stoffe, die seine Mutter auf dem Webstuhl im Wohnraum<br />

herstellte. Das Bett, daß sein Vater selber gebaut hatte, lag leer, die Hirschfelle darauf lagen unberührt<br />

und flach - darunter konnte einfach niemand schlafen. Trotzdem sprang der Junge auf das Bett und<br />

wühlte Decken und Felle durcheinander, immer wieder nach Vater und Mutter rufend - er erhielt<br />

keine Antwort in dem leeren Haus...<br />

„Maaamaaa, Vaater, Kraaaajin!“, endlich brachen nun auch die Tränen aus dem Jungen hervor. Das<br />

salzige Naß strömte heiß seine Wangen hinunter, brannte fast Spuren in das angsterfüllte Gesicht<br />

Gabraals. Wo konnten sie nur sein? Was war nur geschehen? Immer noch in Grübeleien und Fragen<br />

vertieft sank der Rotschopf auf den Kissen zusammen und weinte, bis keine Tränen mehr in ihm<br />

waren und nur noch Schluchzer kamen. Jetzt beruhigten sich die zuckenden Schultern der kleinen<br />

Figur auf der Bettstatt langsam, Gabraal schlief, auf den Fellen und Decken die nach den Kräutern<br />

seiner Mutter dufteten, ein.<br />

���<br />

Langsam näherte sich das Wesen der Ansammlung von Zweibeinlingen, die dort an diesem Einschnitt<br />

in der Welt lebten. Von dort ging der Lockruf aus, von da vorne, da, wo auch der Zweibeinling mit<br />

dem Stück des Torsteines irgendwo sein mußte.<br />

Vorsichtig setzte die Gestalt eine Klaue vor die nächste, geduckt durch die Büsche schleichend<br />

näherte es sich mehr und mehr dem Ziel seiner Träume. Dabei bemerkte es, daß es durchaus nicht<br />

mehr so alleine unterwegs war, so ruhig und ungestört wie in seinem Hain der Herren. Fremdartige<br />

Wesen existierten hier, seltsame Dinge, alle schienen sie sich zu der Ansammlung von Zweibeinlingen<br />

hingezogen zu fühlen, die dort - da, endlich sah er es - in diesen Steinblöcken hausten. Merkwürdig,<br />

es waren viel zu viele Steinblöcke und viel zu wenig Zweibeinlinge... Es war wirklich eine sehr<br />

seltsame Nacht! Aber er liebte sie, sie erlaubte ihm umherzureisen und alle diese Dinge zu spüren,<br />

vielleicht seinen Herren etwas zu bringen, was sie dazu bewegen würde, wieder zu ihrem treuen<br />

Wächter zurückzukehren.<br />

Oh, und hier gab es doch vielerlei Dinge zu spüren und zu schmecken. Welche Düfte fremder Art<br />

hingen hier in der Luft, und so viele andere von ihnen trugen Erinnerungen mit sich, die er kannte...<br />

Er schmeckte Angst, ohh... wie sehr liebte er diesen Geschmack, und da.... dieses triumphale Gefühl<br />

von unwandelbarer Macht über Dinge und Kreaturen, das Gefühl war stark und wunderbar, wie es so<br />

durch diese eine Gasse strömte und an ihm vorbeizog. Weiter, hier, schmecken, spüren, wittern, war<br />

da nicht Haß? Er blieb einen Moment stehen und spürte diesem einzigartigen Aroma nach...<br />

Konnte er vielleicht einen Augenblick den Torstein warten lassen? Nur einen Augenblick in den<br />

Genuß von reiner Angst oder reinem Haß zu kommen, wäre das nicht einen kleinen Umweg wert? Er<br />

beschloß, die Frage für sich mit einem eindeutigen JA zu beantworten. Viel zu lange schon hatte er<br />

auf diesen kostbaren Augenblick verzichten müssen, wo der erste Tropfen angsterfüllten Blutes...<br />

Aaargh, was war denn das? Hier spürte er einen ekelhaften Gestank in dieser Gasse, hier konnte er<br />

nicht weitergehen, nein! Das war der bestialische Gestank starken Glaubens und des Vertrauens in<br />

das, was schon seine Herren damals dazu gebracht hatte, ihn hier alleine zurück zu lassen. Es war,<br />

bjäch, DAS LICHT! Allein der Gedanke daran, und dann dieser Schwall verdorbener Luft, machten<br />

das Wesen taumeln und eine andere Richtung einschlagen.


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

Das war so gut wie eine Mahnung, schien es der Kreatur. Wenn sofort der Torstein sein oberstes<br />

Bestreben gewesen wäre, dann wäre dies hier mit Sicherheit nicht passiert. Ja, ja, schon gut, er<br />

würde den Torstein holen und seinen Herren gehorchen. Wenn er seine Sache gut machte, dann<br />

würde er schon eine angemessene Entlohnung erhalten. Vielleicht durfte er ja den flammenköpfigen<br />

Zweibeinling haben, der den Torstein überhaupt erst gestohlen hatte.<br />

Er spürte den feinen Fäden von Kraft nach, die der Torstein aussandte. Er hatte leichte<br />

Schwierigkeiten, ihn hier in dieser Steinansammlung zu finden. Zu viele andere Fäden waren hier<br />

gesponnen, manche waren fein und empfindlich, fast wie das Haar der weichen Zweibeinlinge, die<br />

vor so langer Zeit auf dem großen Stein im Hain der Herren Blut gelassen hatten. Wieder andere<br />

Strömungen waren fast so stark wie die Stämme der alten Baumsäulen dort.<br />

Dann behinderten wieder andere Dinge seine Spurensuche, Wesen anders als Zweibeinlinge, Wesen<br />

anders als er selber. Sie lebten nicht, waren aber auch irgendwie nicht ganz im Reich des Todes<br />

verschwunden, so als wollten sie sich noch einmal umschauen, bevor sie ganz vergingen. Welcher<br />

Wesenheit von all diesen seltsamen Schemen hatte er zu verdanken, daß er sich hier, im Reich der<br />

Zweibeinlinge, so frei bewegen konnte? Zu gerne hätte...<br />

Da! Da war doch tatsächlich ein Zweibeinling in den Straßen unterwegs... Es war eine von den<br />

weichen Zweibeinlingen, aber sie roch so seltsam. Sie war auch von dünnen Fäden der Kraft<br />

umgeben, aber diese Fäden woben ein wirres Muster, in dem keinerlei Ordnung war. Sie gab auch so<br />

seltsame Töne von sich, schrill, abgehackt und laut, ihr Geruch war wirklich ungewöhnlich, krankes<br />

Blut... Manchmal hatte die weichen Zweibeinlinge im Hain der Herren auch so gerochen, nachdem<br />

sie erst einmal dort angekommen waren. Sie waren für die Herren nichts mehr wert, ihre kranke,<br />

ungesunde Kraft machte den Herren Schmerzen. Nicht so wie DAS LICHT, anders, aber er mochte es<br />

selber auch nicht und schüttelte sich, daß seine Schuppen leise aneinander klangen.<br />

Nein, sie würde ihm nichts bringen, sie würde ihn keine Angst, keinen Zorn und keinen Haß mehr in<br />

ihrem Blut schmecken lassen können... Sie sollte nur schnell verschwinden, und ihm nicht im Wege<br />

stehen. Er drückte sich an der Wand entlang an ihr vorbei.<br />

Malinka huschte durch die Gassen der nächtlichen Unterstadt, lachend und kichernd... gerade hatte sie<br />

ihren toten Mann gesehen... und er hatte sie den Arm nehmen und küssen wollen... Dabei war er<br />

schon vor zwei Jahren gestorben... auf der Jagd, und daß obwohl sie ihm gesagt hatte, er solle an ihr<br />

zweites Gesicht glauben... ihre Träume würden wahr werden... Am Abend kamen die Männer dann<br />

zurück... eine Bärin hatte ihren Mann angefallen... und getötet... Damals hatte man ihr ihren Mann<br />

nicht gezeigt... jetzt hatte sie allerdings genau sehen können... wo ihm der halbe Kopf weggerissen<br />

worden war... von einem Prankenhieb... Sie kicherte wieder, ‘Tarland, Tarland’, lachte sie irre... 'Du<br />

hättest auf mich hören sollen, Tarland!’... Da, da vorne, da war auch wieder so etwas Verrücktes... ein<br />

paar orangene Augen sahen sie aus einer dunklen Gasse an... dunkle Gasse... alles war doch dunkel<br />

hier... sie kicherte wieder... 'Und wir werden keine Sonne mehr sehen, genau wie Tarland, hihihi...“...<br />

Sie taumelte, ohne die sie beobachtenden Augen weiter zu beachten, die Gasse entlang...<br />

���<br />

Gabraal bewegte den Kopf langsam von einer Seite auf die andere, wie lange hatte er denn<br />

geschlafen? Dann öffnete er langsam die Augen, Unmengen von Sand schienen ihn daran hindern zu<br />

wollen. Nun starrte er auf ein Hirschfell, ein großes Hirschfell direkt vor seiner Nasenspitze. Ein<br />

Hirschfell - wie das auf dem Bett seiner Eltern..... NEIIIIIIN!<br />

Jetzt erinnerte sich Gabraal wieder an alles - panisch sprang er vom Bett herunter und lief, laut nach<br />

seinen Eltern und nach seinem Bruder rufend, in den Wohnraum. Vielleicht waren sie ja wieder da,<br />

vielleicht, vielleicht.... Gabraal verlangsamte seine Schritte, als er inmitten des leeren Wohnraumes<br />

stand. Niemand, nichts und niemand waren hier. Augenblick mal, nichts und niemand? Das konnte<br />

wahrlich nicht sein, Gabraal konnte doch etwas spüren, von.... draußen?<br />

Irgend etwas schien ihn auf das DRAUSSEN aufmerksam machen zu wollen - nicht jetzt, jetzt hatte er<br />

eine wahnsinnige Angst. Er wollte jetzt nicht auch noch auf draußen achten, wußte er doch nicht<br />

einmal, was hier drinnen passiert war.<br />

Langsam krochen ihm wieder die Tränen in die Augen und ein seltsamer Knoten saß ihm im in der<br />

Kehle, der ihm das Atmen fast unmöglich machte. Mit einer Hand fuhr er sich an den Hals, so als<br />

wolle er einen zu engen Kragen weiter machen, der ihn am Luftholen hinderte - aber, Gabraal trug nur<br />

ein weites Hemd, kein Kragen dort! Statt dessen blieb er mit seinen kleinen Fingern in einer ledernen


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Schnur hängen, die er seit einiger Zeit um den Hals trug. Ach ja, das war das Beutelchen mit dem<br />

Stein, der aus dem seltsamen Felsblock im Wäldchen herausgebrochen war. Gabraal dachte nicht<br />

gerne an diesen Ausflug zurück. So viel Angst hatte er noch nie gehabt, wie in diesem Wäldchen. Oh,<br />

falsch, hier mußte der Junge sich korrigieren, heute hatte er bestimmt doppelt so viel Angst wie<br />

damals. Er ließ den Beutel wieder verschwinden, jetzt war der Stein unwichtig, obwohl, irgendwo, der<br />

Stein war ja interessant... Irgendwo machte sich ein kleiner Gedanke... Nein, nicht jetzt....<br />

Er suchte nach dem Öllicht und dem Feuerstein. Er brauchte viele lange Versuche, das Flämmchen zu<br />

entzünden. Sein Vater hatte es ihm immer verboten, mit Feuer zu spielen, aber... nun ja. Endlich<br />

schimmerte ein kleiner goldener Kreis aus Licht über dem Tisch. Allerdings schien es dem Jungen, als<br />

wolle sich das Licht an die Lampe klammern und keinen fingerbreit weit in den Raum hinaus. Er<br />

versuchte das Herdfeuer in Gang zu bekommen, während nur ein Gedanke ihn beherrschte...<br />

Wohin waren sie nur verschwunden, wohin?<br />

Ob sie alle weggegangen waren? Doch nicht ohne ihn? Doch nicht ohne Gabraal! Nein! Aber...<br />

vielleicht hatte sich sein Vater so darüber geärgert daß Gabraal lesen wollte weil das so toll war, und<br />

um Zauberei zu lernen, daß er seine Mutter und seinen Bruder einfach mitgenommen hatte und<br />

fortgegangen war. Heißer Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Auf nackten Sohlen machte er kehrt<br />

und rannte nochmals in das Zimmer der Eltern, stolperte jetzt fast ohne Licht und in Eile... Er sah in<br />

den Truhen nach, alle ihre Habseligkeiten waren noch da, schön, sehr schön. Aber wo...<br />

Gabraal setzte sich auf die Herdbank - das Feuer hatte er nicht an bekommen - aber hier war<br />

wenigstens noch ein wenig Wärme in den Herdsteinen, und dachte nach. Was nun? Was, wenn sie<br />

niemals wiederkämen. Bloß das nicht! Gabraal war wieder fast den Tränen nahe. Das Stückchen Brot,<br />

daß er sich gedankenverloren für seinen mittlerweile heftig knurrenden Magen genommen hatte, blieb<br />

ihm mit einem kleinen Bissen fast im Halse stecken, Er legte den Kanten weg, ohne seinen Hunger<br />

gestillt zu haben., Er konnte jetzt nicht essen.<br />

Wieder spielte er an dem Lederband herum, wieder schien das Beutelchen wie von selber in seine<br />

Hand zu gleiten. Einem inneren Impuls folgend öffnete der Junge den Beutel und ließ den Stein auf<br />

seine Hand fallen - nur um ihn dann sofort loszulassen. Der Stein fiel auf den Fußboden vor seine<br />

Füße. Verflixt noch mal! Wieso war das blöde Ding denn heiß?<br />

���<br />

Das Wesen blieb stehen, wie angewurzelt blieb es stehen. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn bis<br />

ins Mark, kurz darauf ertönte ein vertrauter Ruf von irgendwo, der Torstein, der Zweibeinling! Der<br />

Zweibeinling hatte den Torstein angefaßt! Leise aufheulend wandte sich die Kreatur in Richtung des<br />

leuchtenden Signals, das der Torstein an ihn aussandte. Aber... es war falsch, die schimmernden<br />

Fäden des Steines schmeckten so... anders... als der Zweibeinling ihn angefaßt hatte.<br />

Das Wesen jaulte gequält auf... was hatte der Zweibeinling denn mit dem Stein gemacht? Er mußte<br />

sich beeilen, durfte nicht länger verweilen, mußte den Stein retten und den Zweibeinling bestrafen, hi<br />

hi hi, bestrafen, ja... Das kleine Untier eilte den Fäden des Torsteines nach, die ihn in Richtung der<br />

Spalte zogen.<br />

Hoffentlich kam er nicht zu spät, und der Stein war durch diesen unwürdigen Wurm nicht ganz und<br />

gar verdorben! Was machte der kleine Zweibeinling nur... arghh, was machte er denn mit SEINEM<br />

Stein, mit dem Stein der Herren, den sie dort vor Äonen schon selbst gelegt hatten...<br />

Mit einem schrillen Kreischen der Wut machte sich das Wesen auf, noch schneller zu dem Ort zu<br />

gelangen, an dem sich Torstein und Zweibeinling finden würden.... büßen würde der kleine<br />

Unwürdige, büßen...<br />

���<br />

Gabraal saß auf der Herdbank und sah auf den Stein hinunter, der dort ganz unschuldig auf den hellen,<br />

mit Sand gescheuerten Holzbohlen lag. Unschuldig? Nun ja... irgendwie sah der Stein ja nicht so ganz<br />

normal aus, darum hatte er ihn ja auch seinerzeit eingesteckt. Er nahm den Stein vom Boden auf,<br />

vorsichtig diesmal, er wollte sich nicht nochmals die Finger verbrennen.<br />

Ja, der Stein war noch immer ganz heiß - ob der Stein magisch war? Sicher! Natürlich war der Stein<br />

magisch, und der Stein hatte ihn beschützt, sonst wäre er auch weg gewesen, ganz bestimmt war das


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so. Aber, wenn er den Stein nicht gehabt hätte, dann wäre er jetzt bei seiner Mutter, bei Vater und<br />

Krajin, jetzt war er hier alleine!<br />

Jetzt war Gabraal wirklich ganz davon überzeugt - seine Eltern mußten durch Magie verschwunden<br />

sein. Er wollte später doch auch einmal ein großer Zauberer werden, aber nicht so einer, der Leute<br />

einfach verschwinden ließ und anderen Angst damit machte - ganz bestimmt nicht!<br />

Er hielt den Stein ganz fest in der Hand und dachte an seine Eltern und seinen Bruder, vielleicht half<br />

das ja etwas. Nein, irgendwie half das gar nichts, jetzt hatte Gabraal sogar das Gefühl, als wäre er<br />

noch einsamer als zuvor. Obwohl der Stein eine ungewöhnliche Hitze ausstrahlte war plötzlich wieder<br />

der Eisklumpen in seinem Magen da!<br />

Er ließ den Stein verschreckt wieder fallen, das seltsame Gefühl von Einsamkeit ließ nach, und der<br />

Eisklumpen schmolz ein wenig. Gabraal packte die Angst wieder, die er so erfolgreich in eine finstere<br />

Ecke verbannt glaubte. Leise schlich sie sich wieder an ihn heran und belauerte ihn aus den<br />

dunkelsten Winkeln der Hütte.<br />

Er legte den Stein vor sich auf den Tisch, neben die Öllampe, dort wo er ihn genau sehen konnte, und<br />

setzte sich davor auf einen Schemel. Fast mit der Nasenspitze am Stein starrte er darauf, verfolgte das<br />

Muster der feinen Runen, Zeichnungen und Muster, die in den Stein eingearbeitet worden waren.<br />

Wenn der Stein magisch war, dann mußte der Stein helfen können - auch wenn er sich so komisch...<br />

anfühlte. Verflixt noch mal, er wollte seine Mama wieder haben, er hatte Angst alleine... „Und du<br />

blöder Stein wirst mir jetzt helfen!“, rief Gabraal laut und entschlossen aus.<br />

Er starrte den Stein an, sehr, sehr ernst - bei dem großen Hund von seinem Nachbarn, der ihn immer<br />

so böse angekläfft hatte, da hatte das ja einmal funktioniert. Er hatte den Flohteppich angestarrt, und<br />

der Hund war mit eingekniffenem Schwanz in seiner Hundehütte verschwunden. Krajin hatte damals<br />

nicht schlecht gestaunt.<br />

Er sah weiter konzentriert auf den Stein, Vater hatte immer gesagt, wenn man etwas wirklich<br />

erreichen wollte mußte man hart an sich arbeiten und genau auf das achten, was man tat. Natürlich<br />

meinte er das Lesen von Spuren im Wald oder das Bearbeiten von Fellen. Aber Gabraal sah nicht ein,<br />

wieso er das nicht auch jetzt machen sollte, wo er mit Magie zu tun hatte. Irgendwie schien das sogar<br />

logisch zu sein, nun ja, irgendwie eben.<br />

Immer wieder und wieder fuhr er die einzelnen Linien mit den Augen nach, wieder und wieder,<br />

wieder und wieder, wieder und wieder, schon ganz schwummerig war ihm davon. Ab und an war ihm,<br />

als würde er da etwas sehen können, durch den Stein hindurch, mehr als nur einfachen Glimmer,<br />

Bearbeitungsspuren oder Kristalle. Aber WAS war das? Er sah Dunkelheit in dem Stein, Dunkelheit,<br />

die ihn zu umfangen drohte - Irgend etwas war da in dem Stein, ein Echo von etwas Großem, etwas<br />

Altem, etwas Gabraal völlig Unbekanntem. Und dieses Etwas begann, ihn leise zu rufen...<br />

Gabraal hatte Mühe, sich jetzt endlich aus den Schlingen der eingearbeiteten Runen zu befreien.<br />

Unter Aufbietung all seiner Willenskraft schaffte er es, den Blick von dem Stückchen Stein zu reißen,<br />

das da scheinbar so unschuldig und harmlos neben der Öllampe lag. Mit Furcht und Zorn im Blick<br />

fegte er den Stein vom Tisch herunter, so daß er in einem wirklich finsteren Winkel des Raumes<br />

liegenblieb. Gabraal rannte wieder in das Zimmer der Eltern und verkroch sich unter den Decken des<br />

Bettes, die jedoch einfach keine Wärme spenden wollten.<br />

���<br />

Die Fäden des Steines wurden immer deutlicher erkennbar zwischen den einzelnen anderen<br />

glimmenden Strängen von Energien um das Wesen herum. Mal waren die Fäden langweilig blaß,<br />

dann aber wieder voller Kraft und Klarheit. Als sich die kleine Kreatur näher an die Spalte heran<br />

arbeitete spürte es aus mehreren Richtungen starke Stränge von Kraft. Es gab hier nicht nur<br />

machtvolle Wesenheiten, es gab hier auch Plätze wie die, die die Herren ihm hinterlassen hatten.<br />

Plätze wie den Hain der Herren. Vielleicht fanden sich an diesen Orten ja Hinweise auf die Herren...<br />

es war zu verlockend.<br />

Die kleine Kreatur mit den spitzen Zähnen und den scharfen, kleinen Krallen hockte in der unbelebten<br />

Gasse und schien zu überlegen...<br />

Er mußte sich einfach die Zeit nehmen, sich die anderen Plätze anzusehen. Viel zu schnell würde er<br />

wieder in den Hain zurückmüssen, viel zu schnell. Und der Zweibeinling? Der Zweibeinling konnte<br />

doch nicht warten... er hatte den Torstein, der Stein mußte erst befreit, dann gereinigt und an seinen<br />

angestammten Platz zurück gebracht werden. Außerdem gab es da ein paar Stellen, an denen er DAS


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

LICHT vermuten durfte. Es gab hier nicht viele solche Stellen und auch nicht viele solcher<br />

Zweibeinlinge - aber wenn deren LICHT hell genug brannte, dann wollte er sich nicht damit anlegen.<br />

Jedenfalls nicht, so lange nicht die Herren noch nicht wieder da waren.<br />

Das Wesen zischte erbost und huschte weiter die Gasse entlang, die es eigentlich am schnellsten zu<br />

seinem Ziel bringen dürfte.<br />

Ja... hier war die Spur stark... und jetzt - neeeeeein! Die Spur, die Fäden der Macht, wo waren sie?<br />

Bei den hohen Herren! Er hatte die Spur verloren... der Torstein war zerstört! Ohhh.... ahh, da! Für<br />

einen winzigen Augenblick war ihm doch so, als wäre der Stein zerstört worden, er hatte dessen<br />

Machtströme nicht mehr spüren können. Aber da war das Signal ja wieder, etwas schwächer zwar,<br />

aber es war vorhanden.<br />

Was wagte dieser Zweibeinling eigentlich mit dem Stückchen des Torsteines zu machen? Was war das<br />

überhaupt für ein Zweibeinling? Das konnte doch kein normaler, dummer, blinder Zweibeinling sein,<br />

wie er sie bislang viel zu häufig gesehen hatte? Er hatte zwar auch schon andere Zweibeinlinge<br />

gesehen, Anwender der Kraft der Herren oder auch des... grrr, des LICHTES waren diese gewesen,<br />

aber als der kleine Zweibeinling den Torstein geraubt hatte, da hatte er doch gar nichts.... Hrrrragh,<br />

da hatte er gar nichts gemacht, um dieses zu überprüfen! Welch ein Versäumnis! Die Kreatur duckte<br />

sich tief in den Staub der Gasse und wand sich hin und her - auf seiner schuppigen Haut spürte er<br />

schon die Strafe, sollten die Herren jemals von seinen Vergehen erfahren.<br />

Niemals, niemals würde er zulassen, daß die Herren davon erführen! Die häßliche Kreatur schüttelte<br />

sich, so daß die kleinen Schuppen ihres Panzers leise aneinander klickten. Unter Zähneknirschen<br />

sprang das Wesen auf und lief, mit gesteigertem Tempo diesmal, die Gasse entlang. An deren Ende<br />

dürfte sich das Fragment des Torsteines befinden...<br />

Jawohl, jetzt merkte er dessen Anwesenheit in der Nähe, ganz in der Nähe. Und da, ja, da waren auch<br />

die anderen Fäden, dünn aber kristallklar, die der kleine Zweibeinling um sich versammelte.<br />

Ungeordnet und ungelenk waren sie noch, aber sie hatten es trotzdem gerade geschafft, den Kontakt<br />

zu dem Torstein aufzubauen - und das just in dem Moment, als er vor dem Holzkasten ankam, der den<br />

Torstein beherbergte!<br />

Er hatte Kontakt zu dem Torstein aufgenommen! Das konnten doch nur die Herren! Wieso... halt,<br />

nein, die Kreatur überlegte noch einmal ganz genau, was sie da gesehen hatte. Zuerst waren da die<br />

Stränge des Steines gewesen - feingliedrige Finger, die sich durch die Stadt nach ihm ausdehnten und<br />

ihn riefen, sowie feines Gespinst, das in intensiven Farben um den Stein herumwirbelte. Zum zweiten<br />

waren da die flackernden, kristallklaren Fäden des kleinen Zweibeinlings gewesen, die sich in alle<br />

Richtungen ausgedehnt hatten, die allerdings wie kleine Peitschenhiebe ungezielt hinaus schossen<br />

und wieder auf ihn zurückfielen - so! Und dann erst war der Kontakt entstanden... aber der war durch<br />

den Stein hervorgerufen worden. Der Stein lockte den Zweibeinling in seine Machtsphäre... der<br />

Stein... wollte den Zweibeinling!<br />

Hmmmmm, gut, sehr gut... Der Torstein bereitete schon alles vor, war das nicht wundervoll? Das<br />

Wesen bremste seinen Lauf in der Nähe des kleinen Holzkastens, um weiter zu beobachten. Die Fäden<br />

des Steines umfingen die kleinen, flackernden Fäden des Jungen, versuchten sie in den Stein<br />

hineinzuziehen und mit den eigenen Strängen zu verflechten.... Jaaaa! Neein! Das Wesen glaubte,<br />

seinen Echsenaugen nicht trauen zu dürfen, die orangeglühend auffunkelten vor Zorn. Wie hatte das...<br />

der Zweibeinling hatte die Verbindung von sich aus unterbrochen. Ein schrilles, langgezogenes und<br />

von der Wut getriebenes Heulen erfüllte die feuchtkühle Nachtluft, als die Kreatur aus dem Hain der<br />

Herren ihren Zorn hinausbrüllte in die Dunkelheit.<br />

���<br />

Gabraal zuckte zusammen, ein schreckliches Geräusch erfüllte die Nacht, die auch ansonsten schon<br />

voller ungewöhnlicher Töne war. Noch nie zuvor hatte er zum Beispiel das Holz der Dachbalken<br />

derartig arbeiten hören, noch nie zuvor hatte er gemerkt, wie sich ein vom Wind umher getriebenes<br />

Blatt anhörte, wenn es gegen die Hauswand stieß, noch nie... VERDAMMT NOCH MAL! Noch nie<br />

hatte er einen solchen Schrei, ein solches Heulen gehört - und es wollte einfach nicht aufhören!<br />

Jetzt kamen sie, um auch ihn noch zu holen. Sie hatten gemerkt, daß von den Barilkians noch einer<br />

fehlte... sie wollten Gabraal auch noch haben!<br />

Gabraal blieb einen Moment auf dem Bett hocken, die kleinen Hände in der Decke zu Fäusten<br />

zusammen geballt. Dann schnellte er von dem Lager herunter in den Wohnraum hinein. Zuerst hatte


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

er die große Truhe unter dem Fenster ins Auge gefaßt um sich zu verstecken, aber dann bräuchten sie<br />

nur den Deckel anzuheben, dann wäre er entdeckt. Nein, Gabraal schaute sich gehetzt um.<br />

DA! Er entdeckte in einer Ecke des Raumes die Axt und den Bogen seines Vaters. Die bösen<br />

Zauberer hatten auch nur eine Chance gehabt, weil Vater sie nicht erwartet hatte! Jawohl, wenn er es<br />

gewußt hätte, dann hätte er sie mit seiner Axt in zwei Stücke gehauen, in ganz viele Stücke, wie einen<br />

Baumstamm für das Feuer, jawohl. Für einen Sekundenbruchteil sah sich Gabraal mit der Axt einer<br />

Übermacht von Monstren und Magiern gegenüber... brrr, äh ba!<br />

Er schüttelte den Kopf. So würde das dann doch nicht gehen, die Axt war ja so groß wie er selber.<br />

Lieber tat er einen Griff in die Jagdtasche des Vaters. Dort war ein unheimlich scharfes Messer, ein<br />

kostbarer Besitz der nicht gerade reichen Familie Barilkian. Das Messer nahm Vater immer, wenn er<br />

einem erlegten Tier das Fell zerschnitt, falsch, wenn er das „Wild aufbrach“, so nannte Vater das<br />

immer, ja. Gabraal füllte noch einmal Öl aus der Flasche auf dem Wandbord in die Lampe nach, so,<br />

dann machte er sich bereit.<br />

Mit dem scharfen Jagdmesser vor sich in den zusammengekrampften Händen kauerte sich Gabraal in<br />

den finstersten Winkel des Wohnraumes, tief in die ihn eigentlich schrecklich ängstigenden Schatten,<br />

und wartete. Worauf? Er wußte es nicht. Er saß nur da und wartete, er würde ein Held sein, jawohl,<br />

ein Held! Ein Held, der sich wahrscheinlich gleich in seine Hosen machen würde...<br />

Und so saß er nun da in seinem Winkel und ließ seinen Blick über die im Dunkel der Nacht so seltsam<br />

unvertraut und fast bedrohlich wirkenden Gegenstände im Wohnraum schweifen. Fast in jedem<br />

Eckchen saß auf einmal ein Monstrum mit Klauen und Fängen, das ihm an den kleinen Kragen wollte.<br />

Wieder spürte Gabraal den kalten Schweiß aus seinen Haaren hervor rinnen, wieder spürte er den<br />

Eisklumpen in seinem Magen. Seine Augen begannen zu brennen, er wollte keinen Moment die Lider<br />

senken - das konnte genau der Augenblick sein, den „die da draußen“ nutzen würden, bestimmt war<br />

das so!<br />

Doch irgendwie, irgendwie, senkten sich etwas später die bleischweren Lider und Gabraal sackte, von<br />

Erschöpfung übermannt, schlummernd in sich zusammen. Das war zu viel gewesen für den kleinen<br />

Kerl. Kurz darauf hörte man dann aus der Ecke das leise klappern eines zu Boden fallenden<br />

Jagdmessers und die raschen Atemzüge eines unruhig schlafenden Kindes, das in seinen Träumen<br />

durch die Gassen von <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> jagte - um als großer, gelehrter Zauberer die bösen Leute zu<br />

finden, die seiner Mama, seinem Vater und seinem Bruder etwas getan hatten.<br />

���<br />

Nachdem sich das Wesen seine Wut aus dem Leib geschrien hatte, und seine Wut war groß, schlich es<br />

sich näher an den Holzkasten heran. Jetzt nahm es sich die Zeit, den Holzkasten zu umrunden, sich<br />

alles genau anzusehen. Ja - nur ein Zweibeinling war hier in diesem Kasten aktiv, nur einer. Und das<br />

war der kleine Zweibeinling aus dem Hain, der den Stein gestohlen hatte. So, jetzt nochmals genau<br />

alles überprüfen... Die Fäden des Zweibeinlings deuteten darauf hin, daß er sich in dem Holzkasten<br />

umherbewegte und sehr aufgeregt war....<br />

Sehr schön, der Geschmack des Blutes wäre danach nur noch besser, alles angereichert mit Angst,<br />

Aufregung und... mhm, Zorn auf etwas. Aber lange durfte er nicht mehr warten, dann hätte der kleine<br />

Zweibeinling wahrscheinlich genau so wirre Fäden um sich herum, wie der weiche Zweibeinling, den<br />

er etwas früher getroffen hatte.<br />

Das kleine Wesen huschte nahe an die Wand heran, suchte einen Eingang in den Holzkasten.<br />

Während seiner Suche spürte er immer noch den Fäden des Steines und des Zweibeinlings nach...<br />

wunderbar. Der Stein war nahe, und die Fäden des Zweibeinlings.... bei allem Blut der tausend<br />

Welten! Was taten denn die Fäden des Zweibeinlings da?<br />

Die Fäden waren eine Zeit lang ziellos umher gewirbelt, nicht wild durcheinander, nein, aber eben<br />

ziellos. Jetzt schienen sie sich zu formieren, schienen irgendwo etwas bewirken zu wollen, etwas zu<br />

suchen. Allerdings war das Muster, das diese Fäden vor den Augen der Kreatur woben, sehr<br />

ungewöhnlich. Der Zweibeinling sollte eines solchen Musters gar nicht fähig sein, das Muster war<br />

viel zu komplex... Irgendwie schienen sich die zu diesem Muster benutzten Fäden auch verändert zu<br />

haben, nicht direkt von dem kleinen Zweibeinling zu stammen. Später vielleicht, wenn der kleine zu<br />

einem großen Zweibeinling geworden wäre, dann vielleicht... dann hätte er solche Fäden weben<br />

können.


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

Jetzt hieß es handeln, länger konnte wirklich nicht gewartet werden! Die kleine Kreatur nahm sich<br />

eine Seite des Holzkastens vor und holte aus - ein, zwei Hiebe dürften für dieses Hindernis genügen,<br />

dann stünde er wirklich Auge in Auge dem kleinen Zweibeinling gegenüber. Oh, er würde sich Zeit<br />

lassen. Weglaufen konnte der Kleine ja nicht!<br />

Und von einem triumphierenden Aufkreischen begleitet flogen die Splitter der Holzwand zur Seite...<br />

���<br />

Gabraal schreckte hoch, er hatte geträumt, seltsame Dinge geträumt, aber es war wenigstens kein<br />

richtig gemeiner Traum gewesen, so wie... gestern... vorgestern... davor? Wie lange war es jetzt<br />

eigentlich schon dunkel? Egal... Hauptsache es würde bald wieder hell und dann wären Mama und<br />

Vater und Krajin wieder da. Dann... was war das? Der Kopf des Jungen ruckte hoch, irgend etwas war<br />

doch da...<br />

Er sprang auf die Beine, das heißt, er wollte es. Er hatte zu lange in der Ecke gehockt und geschlafen.<br />

In einer denkbar ungünstigen Position, seine Beine waren eingeschlafen und er fiel wieder in die Ecke<br />

zurück.<br />

Bevor er sich über eingeschlafene Beine Gedanken machen konnte spürte er, mehr als das er sie hörte,<br />

eine Bewegung vor dem Haus. Etwas war dort, etwas mit der Dunkelheit der Nacht verwandtes,<br />

etwas, das irgendwie auch wie der seltsame Stein zu sein schien.<br />

Plötzlich flogen ihm die Splitter der Hauswand um die Ohren, mit ohrenbetäubendem Krach brach ein<br />

Stück aus der Wand heraus und eine Gestalt erschien dort. Von dem noch immer spärlich flackernden<br />

Öllicht auf dem Tisch schwach angeleuchtet stand dort ein Wesen, wie aus Gabraals Alpträumen<br />

entsprungen....<br />

Gabraal versagte die Stimme, nicht einmal ein Wimmern entfuhr ihm, und er versuchte immer tiefer<br />

in die Ecke zu kriechen, in der er sich versteckt hatte. Die Hände tasteten nach hinten, waren auf der<br />

Suche nach einem Loch, in dem er sich verkriechen konnte. Seine kleinen Hände suchten auch nach<br />

dem Jagdmesser, daß ihm im Schlaf entfallen war. Nun, ein Loch fand der Junge nicht, dafür aber das<br />

Jagdmesser, er faßte mit seiner linken Hand genau in die Klinge, Blut floß aus dem Schnitt in seiner<br />

Handfläche. Dafür ertastete seine Rechte...<br />

���<br />

Da! Da war ja der den Herren geweihte Zweibeinling, ja, genau wie damals im Wäldchen sah er aus,<br />

nur spürte das Wesen jetzt noch mehr Furcht, sehr schön... Da, der Zweibeinling bewegte sich, wollte<br />

fliehen. Ja... wohin denn? Nirgendwo hin mehr, und nun....<br />

Blut! Der Zweibeinling hatte sein Blut vergossen, grrrarh, dieses Aroma... Wollte der Zweibeinling<br />

ihn dadurch reizen? Wollte er einen schnellen Tod heraufbeschwören? Nichts da... Langsam lief<br />

Geifer der Kreatur das Kinn herunter, der Hunger, bislang mühsam unterdrückt, drang trotz aller<br />

Anstrengung an die Oberfläche. Nein! Den Herren sollte der Zweibeinling gehören, so daß sie bald<br />

wieder zu ihm zurückkehren würden... Aber dort, das Blut des Zweibeinlings, das duftete so süß und<br />

schwer. Er konnte seine Gier einfach nicht mehr zügeln, und der Hunger begann sein Handeln zu<br />

beherrschen. Rote Schleier senkten sich über sein Blickfeld, nur noch hier und da durchzuckt von den<br />

schimmernden Kraftfäden des Jungen. Die des Torsteinfragmentes waren... wo waren die des<br />

Bruchstückes? Ganz egal, egal.... Blut! Die Kreatur vergaß alles andere um sie herum und sprang auf<br />

den Tisch, um sich von dort aus auf den kleinen Zweibeinling zu stürzen.<br />

���<br />

Gabraal hatte mit der linken Hand das Jagdmesser „gefunden“, die rechte Hand ertastete einen<br />

anderen Gegenstand, den seltsamen Stein. Ja, er hatte ihn ja in diesen dunklen Winkel geschleudert,<br />

weil der Stein ihn irgendwie in sich hinein hatte ziehen wollen. Er mußte die ganze Zeit darauf<br />

gelegen haben. Eine Gänsehaut lief dem Jungen über den Rücken.<br />

Jetzt hatte er aber erst einmal dieses DING da auf dem Tisch hocken, das ihn aus orange glühenden<br />

Augen ansah. Gabraal wußte eines, viel Zeit hatte er nicht, dann würde ihn das Ding anspringen. Aber<br />

irgendwie lief die Zeit so langsam ab, er hatte den Eindruck, als könne er alle Zeit der Welt dazu<br />

verwenden, sich dieses kleine Monstrum anzusehen, das dort auf dem Tisch hockte. Und auf dem


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

Tisch hockte ein Wesen, das einem kranken Traum entsprungen sein mußte. Muskeln, Krallen,<br />

Schuppen, Zähne und glühende Augen - mehr brauchte Gabraal nicht zu sehen. Er sah aber noch<br />

mehr, einen kleinen langgezogenen Kopf mit spitzen Zähnen im Maul, aus dem Speichel auf den<br />

Tisch rann, spärliche Haarbüschel, die sich wie lebendige Schlangen den Nacken des Wesens herab<br />

ringelten und lange Klauenhände mit messerscharfen Krallen an den Enden. Diese schuppenbesetzte<br />

Kreatur saß auf dem Tisch und begutachtete ihn, wie er sonst immer eine Zuckerstange ansah - wie<br />

eine einzigartige Leckerei.<br />

So groß schien das Wesen ja nicht einmal zu sein. Ein Stimmchen in seinem Hinterkopf sagte ihm, er<br />

solle sich doch bitte einmal die Wand der Hütte ansehen, so groß brauchte das Vieh nicht zu sein, um<br />

ihn mit Haut und Haaren aufzufressen. Und genau das schien es jetzt zu wollen, denn Gabraal sah<br />

genau, wie sich unter den feucht schimmernden Schuppen die Muskeln zum Sprung anspannten.<br />

Gabraal nahm das Jagdmesser fester in die Hand. Autsch... er wechselte das Messer in die andere<br />

Hand, er konnte mit Links nicht so gut hantieren - und außerdem hatte er sich geschnitten. Ach... der<br />

blöde Runenstein, Gabraal nahm dann eben den Stein dafür in die linke Hand. So, jetzt sollte das Vieh<br />

nur kommen. Gabraal hatte zwar mehr Angst als sonst etwas, aber er hatte eine Wand im Rücken...<br />

Und er hatte vielleicht das Vieh vor sich, es sah zwar nicht aus wie ein böser Zauberer, das seine<br />

Eltern und seinen Bruder geraubt hatte - und jetzt auch ihn noch holen wollte...<br />

���<br />

Da war er, glotzte zu ihm herauf, wartete auf seinen Untergang. Die Kreatur sah schnell den<br />

Zweibeinling etwas Blitzendes auf die andere Seite wechseln. Der kleine Zweibeinling hatte eine<br />

Kralle, mit der er sich verteidigen wollte - es würde viel Spaß machen...<br />

Das Wesen machte sich sprungbereit und drückte sich von der höheren Stelle ab, auf die er sich<br />

geschwungen hatte. Kein Ausweg war dem kleinen Zweibeinling gegeben, und das Wesen spürte<br />

schon, wie sich seine Zähne in das weiche Fleisch bohren würden, um dann das warme Blut zu<br />

schlürfen...<br />

���<br />

Gabraal hatte das Wesen abspringen sehen von dem Küchentisch. Er hatte nichts anderes getan, als<br />

instinktiv die Arme hoch zu reißen. Er spürte scharfe Krallen, die ihm den rechten Unterarm<br />

aufrissen, die bestimmt auch noch mehr aufgerissen hätten, wenn das Vieh nicht mit einem Heulen<br />

zurückgezuckt wäre. Das ohrenbetäubende Geheul brachte die ganze Hütte zum Beben..<br />

Eigentlich hätte der Zweibeinling sterben müssen, er hätte den Kopf verloren, doch statt dessen hatte<br />

sich etwas schmerzhaft in das Fleisch der Kreatur gebohrt... Wieder erscholl das ohrenbetäubende<br />

Geheul in der Hütte, so daß diese erbebte. Die Kreatur zuckte von dem Zweibeinling zurück und<br />

duckte sich, angriffsbereit, sichernd, abwartend... Sie beobachtete den Zweibeinling genau, was hatte<br />

da Schmerzen verursacht, was wagte da, sich gegen ihn zu stellen? Was...<br />

Das Wesen sah sich den Zweibeinling genauer an, eine Klaue dabei auf einen Schnitt im Unterleib<br />

gepreßt, aus dem eine leicht leuchtende rötliche Flüssigkeit rann. Das Wesen bebte vor Zorn und<br />

Schmerz, nur die Herren oder das LICHT konnten ihn verletzen, nicht ein einfacher Zweibeinling.<br />

Der kleine Zweibeinling saß, mit schmerzverzerrtem Gesicht, in der Ecke des Raumes und wimmerte<br />

leise, die Klaue und den Stein an sich gepreßt. Der STEIN!<br />

Der kleine Zweibeinling hatte den Torstein in einer blutigen Hand. Das Blut des Zweibeinlings hatte<br />

den Torstein benetzt, und der kleine Zweibeinling hatte die Kraft der Herren in sich... Durch die<br />

Verbindung aus Kraft und Blut hatte der kleine Zweibeinling den Stein endgültig aus dem Hain der<br />

Herren und aus ihrem Einfluß herausgerissen. Arrrgh, was tun? So konnte er doch nicht in den Hain<br />

der Herren zurück? Es konnte, so lange der kleine den Stein hielt, auch nicht an diesen heran -<br />

wütend fauchte es, versuchte nach dem Zweibeinling zu schlagen...<br />

Gabraal hielt sich seinen Arm, tot konnte er nicht sein! Sein Arm brannte, als wäre er in flüssiges<br />

Feuer getaucht worden, es tat weh! Er versuchte die Tränen zurück zu drängen, vielleicht war das<br />

Vieh ja noch da, vielleicht griff es ihn ja noch einmal an. Gabraal sah vorsichtig unter den abwehrend<br />

erhobenen Armen hindurch und blickte dorthin, wo das Vieh sein mußte. Das Monstrum hockte unter<br />

dem Tisch und funkelte ihn an, die Augen schienen fast Funken zu sprühen. Es war auch verletzt...<br />

Gabraal sah das Blut.


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

Das machte ihn etwas mutiger, das war kein unbesiegbares Monster, vor dem man so große Angst<br />

haben mußte, es konnte auch bluten. Aber was hatte ihn verletzt? Das Jagdmesser! Und, in der<br />

anderen Hand, hatte er noch den Stein aus dem Wäldchen.<br />

Gabraal setzte sich gerade hin, zog ein Bein unter den Körper, um sich aufzurichten. Wenn das Vieh<br />

noch einmal angriff, dann mußte Gabraal vorbereitet sein. Er erhob sich langsam, immer auf die<br />

Augen achtend, die unter dem Tisch hervorfunkelten.<br />

Das Wesen krabbelte unter dem Tisch hervor, auf der dem Zweibeinling abgewandten Seite. Dann<br />

umschlich es den Tisch, versuchte es noch einmal, den Zweibeinling von den Beinen zu holen und zu<br />

töten.<br />

Gabraal sah, wie sich die funkelnden Augen nach hinten zurückzogen. Er bewegte sich aus der Ecke<br />

heraus und achtete darauf, daß der Tisch immer zwischen ihnen beiden war. Allerdings war das Vieh<br />

so schnell, daß er es nicht unter dem Tisch hervorschießen sah. Das Vieh fegte ihn von den Beinen<br />

und schlug seine spitzen Zähne in Gabraals Bein. Gabraal wurde es erst Rot, dann Schwarz vor<br />

Augen. Das Monstrum würde ihn jetzt bei lebendigem Leibe auffressen... Nein! Tränen schossen ihm<br />

wieder aus den Augen, noch nie.... Jetzt saß Gabraal wieder auf dem Hosenboden, das Monstrum<br />

hatte seine Bein umklammert und ihn auch in ein Bein gebissen. Der Kopf dieses Viehs lag fast in<br />

seinem Schoß. Gabraal hob das Jagdmesser, hielt es mit beiden Händen ganz fest, und ließ es nach<br />

unten sausen. Danach... danach wurde es dem Jungen endgültig schwarz vor Augen...<br />

Der Junge nahm nicht einmal mehr das schwache Pulsieren des Steinstückchens wahr, das sich mit<br />

seinem Lederriemen um den Griff des Jagdmessers gewickelt hatte, welches von Gabraal immer noch<br />

fest umklammert wurde.<br />

���<br />

Airdantaa Barilkian wurde wach, sie fühlte sich irgendwie, als hätte sie gar nicht geschlafen - oder<br />

vielleicht zu lange. Sie räkelte sich unter den Hirschfellen. Sie ließ eine Hand vorsichtig zur Seite<br />

wandern, Irban schlief noch. Airdantaa schlug die Decke zurück, stand auf und machte sich leise<br />

fertig, um das Herdfeuer zu entzünden. Sie entfachte das Herdfeuer und drehte sich in den Raum,<br />

um...<br />

Irban Barilkian, auch Krajin, sein „älterer“ Sohn, wurden durch einen Schrei geweckt. Beide standen,<br />

sehr schnell, neben Airdantaa Barilkian im Wohnraum - vor ihrem dort wie tot liegenden Sohn<br />

Gabraal.<br />

Er lag vor dem Tisch auf dem Boden, seine Hose und sein Hemd waren zerrissen, in der Hauswand<br />

war ein großes Loch, im Zimmer lagen Holzsplitter, der Junge hatte das Jagdmesser in der Hand...<br />

Was war das für ein Stein da? Was, beim Brenner, war hier passiert? Wer hatte hier einbrechen<br />

wollen? Und warum, bei allen Waldgeistern, war es hier immer noch stockfinster? Was...<br />

Gabraal kehrte langsam wieder unter die Lebenden zurück. Keiner konnte beschreiben, wie sehr in<br />

der Anblick seiner Leute freute. Kaum daß er die Augen geöffnet hatte fiel er seiner besorgt über ihn<br />

gebeugten Mutter um den Hals und weinte und weinte.<br />

„Wo - schnief - wo seid ihr gewesen... Ich habe so Angst gehabt... Ihr wart alle weg, ich war ganz<br />

alleine - schnief!“ Irritiert blickten sich Vater und Mutter an: Was faselte der Kleine da? Sie hatten<br />

doch nebenan im Bett gelegen! Na, er wird wohl Alpträume gehabt haben. Verdammt noch mal,<br />

warum wurde es draußen nicht hell?<br />

Alles bemühte sich natürlich um den verängstigten Jungen, allerdings hatte Vater Irban diesen Blick<br />

in den Augen, der nichts Gutes verhieß. Gabraal machte sich auf einigen Ärger gefaßt - die Erklärung<br />

von einem einbrechenden Monster würde man ihm doch nicht glauben... Allerdings, wie erklärte man<br />

sich die seltsame Schramme, die der Junge noch am Unterarm trug? Er mußte sich beim Sturz<br />

irgendwie den Arm an dem Jagdmesser - damit sollte er ja auch nicht spielen - aufgeschnitten haben,<br />

das würde es wohl gewesen sein.<br />

Den Stein aus dem Wäldchen hielt Gabraal seitdem immer sehr dicht bei sich, er ließ ihn nicht mehr<br />

aus den Augen...<br />

���<br />

Der Stein hatte sich gegen die Kreatur gewandt, die Herren würden ihn bestrafen, er hatte es nicht<br />

geschafft, den Stein zurückzuholen und den Zweibeinling zu rauben, um ihn den Herren


„Das Licht das weg tut“ ist eingeschlafen - Claudia Wamers<br />

darzubringen... Was nun? Das kleine Wesen schlich langsam durch die Schatten der Straßenzüge, die<br />

generelle Richtung einschlagend, die es zu seinem Hain führen würde.<br />

Die Augen funkelten in gleißendem Orange, die Krallenhände zuckten und die kleinen<br />

Schuppenkämme auf seinem Rücken stellten sich immer wieder auf, so sehr es sich auch bemühte,<br />

ruhiger zu werden. Dieser Zweibeinling würde dafür büßen, mit einem Knurren blickte es an sich<br />

herunter, wo eine tiefe Blutspur verriet, wo das durch den Torstein und das Blut machtvoll gewordene<br />

Jagdmesser seine Schuppen durchdrungen hatte - er würde büßen.<br />

Allerdings..., die Herren waren in dieser langen Nacht der Macht nicht zurückgekehrt, sie würden<br />

wohl auch morgen nicht zurückkehren. Der treueste ihrer Wächter hatte Zeit genug, so dachte die<br />

Kreatur. Die Kraft des Haines vermochte es, diesen selbst zu schützen - jedenfalls für eine gewisse<br />

Zeit. Es konnte sich hier, während dieser wundervollen Nacht, in der Ansammlung von Stein- und<br />

Holzklötzen verbergen. Nahrung gab es mehr als genug, genießerisch spürte es den Spuren von Angst<br />

nach, die mit der Länge der Nacht mehr und mehr zunahmen. Und... kam Zeit, kam Rache...<br />

Mit einem leisen, irren Kichern verschwand es in den Schatten, und... ward nicht mehr gesehen?


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

Diener des Lichtmeß, Teil I<br />

Brianne<br />

Janina Enders<br />

Prolog<br />

Hände...<br />

Hände, die zitternd in der Dunkelheit tasten... suchen... Bebende Finger, sie sich abwechselnd<br />

spreizen und wieder zur Faust ballen. Trockene, ausgedörrte Lippen, die Worte formen, die keiner<br />

versteht, die keiner hört.<br />

Schmerzen... unendliche Qualen, die sich durch die Eingeweide fressen... Schwarzblaue Augen, die<br />

fest zusammengepreßt die Welt außerhalb verleugnen... Die Hände wissen, was sie suchen und was<br />

sie finden werden- goldene Eisenstangen. Was die Augen nie mehr sehen wollen, umgreifen<br />

schließlich die feingliedrigen Finger, so fest, daß die Knöchel weiß hervortreten...<br />

Die Stangen, durch die sie die Welt sieht, die Stangen, die ihr Innerstes nach außen kehren und es<br />

mißbrauchen... für den Frieden. Doch eine starke Hand greift die ihre und hält sie... gibt ihr wieder<br />

Hoffnung. Der Name einer Stadt fällt... eine Stadt, die ihre Zukunft verändern wird... wo sie sicher istsolange<br />

sie sich an ihr Versprechen hält und das wird sie niemals brechen, niemals vergessen...<br />

niemals!!! Und der Ruf eines Falken hallt über das Meer, das so leer und gleichzeitig so voll wie sie<br />

selbst ist... immer war und immer sein wird...<br />

���<br />

Emerald, der große Arietide, lachte schallend auf und faßte die rothaarige Frau fest im Nacken. „Du<br />

bist mir eine! Wenn du so weitermachst, sterben die priskanischen Löffelschweine aufgrund deiner<br />

Plapperei!“<br />

Kichernd biß die Frau sich auf ihre Lippen und schubste ihren Gefährten spielerisch fort. „Zeige<br />

gefälligst Respekt vor deinem General, du nichtsnutziger Raufbold!“ Ein anzügliches Grinsen<br />

erschien auf ihrem Gesicht. Ihr rotes Haar leuchtete hell in der Mittagssonne, die sanft auf die<br />

Lichtung des Balmaren-Waldes fiel. Ihre erhitzten Wangen glühten und die schwarzblauen Augen<br />

funkelten erwartungsvoll. Emerald lächelte, als er seine Gespielin verträumt ansah. „Wir sollten<br />

weiterziehen, Brianne.“, flüsterte er und war mit einem schnellen Schritt bei ihr. „Glaubst Du nicht,<br />

wir sollten die Zeit sinnvoll nutzen?“ Er umfaßte Briannes Taille und zog sie an seinen Körper heran.<br />

„Du meinst, wir denken uns eine Strategie aus!“<br />

„Sicher!“ Strategisch führte Emerald seine Zunge durch Briannes weiche Lippen. Die beiden<br />

Arietiden sanken zu Boden und streckten sich im hohen Gras aus. Über ihnen fuhr der Wind durch die<br />

Bäume und die Blätter tuschelten leise über das, was da unten am Boden geschah. Briannes<br />

glockenhelles und doch kehliges Lachen tanzte auf den vibrierenden Grasspitzen, während Emerald<br />

mit seiner Zunge einen Lageplan auf ihren Bauch malte.<br />

Die beiden Arietiden waren auf dem Weg ins Kraler-Tal, wo sich die arietidischen Soldaten<br />

sammelten, um einen entscheidenden Vorstoß gegen das priskanische Heer zu wagen.<br />

Der Lichtmeß, ein magischer Stein, hatte angeordnet, daß General Brianne die Soldaten in dieser<br />

Schlacht kommandieren sollte. Brianne hatte bislang nur kleinere Gruppen geführt und war<br />

verwundert über die Entscheidung des Steines, aber niemals hätte sie es gewagt, zu widersprechen. So<br />

zog sie mit ihrem fähigsten Soldaten Emerald aus ihrer Heimat fort, um zu den arietidischen Kriegern<br />

zu stoßen.<br />

Lächelnd betrachtete sie nun ihren Liebhaber, der schlummernd neben ihr im Gras lag. Sein<br />

markantes Gesicht zuckte leicht, als ein kleiner Falter sich kurz niederließ. Das schwarzbraune,<br />

äußerst struppige Haar des Geliebten fiel über die Schultern und breitete sich über seinem Brustkorb,<br />

der sich regelmäßig hob und wieder senkte, aus.<br />

Nachdenklich wandte Brianne nun den Kopf und blickte auf ihr Schwert, das griffbereit zu ihrer<br />

Linken lag. Ein Schatten fiel auf ihre klaren, strengen Züge und ihre Augen verdunkelten sich.<br />

„Liebe und... Tod.“ Vorsichtig berührte sie den kalten Stahl, mit dem sie aufgewachsen war, der ihr so<br />

vertraut war und doch so fremd. Plötzlich beugte Emerald sich über sie. Seine violetten Augen<br />

suchten ihren Blick und hielten ihn fest. „Bist du sicher, daß du uns führen willst?“, fragte er ernst.<br />

„Sicher... ich habe auch schon einen Lageplan!“ Grinsend deutete sie auf ihren nackten Bauch, doch<br />

Emerald wandte sich ab.


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

Schnell schlüpfte er in seine hellbraune Lederhose und die braunen Stiefel.<br />

„Du weißt... einer von uns beiden könnte nach dieser Schlacht nicht mehr sein.“<br />

Brianne zog langsam ihren schwarzen Anzug an und legte sich den blauvioletten Pelz um die weißen<br />

Schultern. Schweigend nickte sie. Mit einer schnellen Bewegung griff sie ihr Schwert und schleuderte<br />

es mit aller Kraft von sich- die Klinge traf auf einen Baum und blieb in dem Stamm stecken.<br />

Emerald lachte kurz, als er sein Hemd zuband. „Um dich brauch´ ich mir ja keine Sorgen zu machen!“<br />

„Ich... ich hoffe man wird mich als General akzeptieren! Es gibt hundert erfahrenere Männer, die<br />

mehrmals ein Kommando hatten... aber der Lichtmeß wählte mich.“<br />

„Er wird seine Gründe haben... du bist noch so jung und das Schicksal meint es bestimmt gut mir dir!“<br />

Emerald zog mit einem Ruck das Schwert aus dem Stamm und legte seine Hand auf die Wunder des<br />

Baumes. In Sekundenschnelle war nichts mehr zu sehen, nur der Geruch von frischem Holz lag in der<br />

Luft.<br />

„Laß´ uns aufbrechen, General... laß´ uns beginnen.“<br />

Brianne nickte, drehte sich und gab einen schrillen Vogellaut von sich, der tief in den Wald<br />

hineindrang. Kurz darauf galoppierten zwei braune Pferde heran und stoppten vor den Arietiden.<br />

Gerade als sie aufsitzen wollten, stoppte General Brianne mitten in der Bewegung.<br />

„Was ist?“<br />

„Ich weiß nicht... das Schwert!“<br />

Briannes Schwert begann zu glühen und ein knisterndes Geräusch ertönte. Vorsichtig zog sie es aus<br />

der Scheide und wiegte es in der Hand. „Irgend etwas stimmt hier ni-“<br />

Mit einem lauten Krachen brachen plötzlich Männer durch die Büsche. Sie ritten auf großen,<br />

schwarzen Pferden und trugen glänzende Rüstungen. Lange Schwerter richteten sich auf die zwei, die<br />

langsam aus der Erstarrung erwachten. „Priskaner“, schrie Emerald, stieß sich von seinem Reittier ab<br />

und hangelte sich auf einen dicken Ast. Brianne schleuderte ihr Schwert von sich, sank auf die Knie<br />

und murmelte etwas. Die scharfe Klinge schlug dem ersten Pferd die Vorderbeine ab und kam dann<br />

wie ein Bumerang zurück zu Brianne. Der Priskaner, der unter seinem Pferd begraben wurde, befreite<br />

sich fluchend und hechtete auf die rothaarige Frau zu. Doch plötzlich spürte er einen lähmenden<br />

Schmerz im Nacken. Er sackte zusammen und starb.<br />

Emerald stand über ihm und zog sein Schwert aus dem sterbenden Körper.<br />

Ein wilder Kampf entbrannte, aber... es war hoffnungslos. Obwohl Brianne und Emerald die Klinge<br />

absolut tödlich führten und sehr geschickt waren, wurden sie sehr schnell von der Überzahl der Feinde<br />

überwältigt.<br />

�<br />

Mit einem sirrenden Geräusch erwachte der Lichtmeß.<br />

�<br />

„Seid ihr General Brianne von Schloß Lichtmeß?“<br />

„Was habt ihr Dreckfresser mit uns vor?“<br />

�<br />

Ein rotblaues Licht ging nun von ihm aus und erfüllte den Saal mit reinem Glanz.<br />

�<br />

Die Priskaner sahen sich grinsend an und zerrten Brianne von Emerald fort.<br />

�<br />

Eine klingende, singende Stimme ertönte, als der Lichtmeß durch seinen Träger sprach.<br />

�<br />

„Den Soldaten brauchen wir nicht, nur die Frau!“<br />

�<br />

ZWEI, DIE SICH NICHT KENNEN, WERDEN SICH HELFEN. EIN ERSTER SCHRITT ZUR<br />

ÜBERWINDUNG WIRD GETAN.<br />

�<br />

Die Lanze steckte tief in Emeralds Bauch und er lächelte Brianne liebevoll an, bis er auf den Boden<br />

schlug und die Lanze ganz durch seinen Körper trieb. Blut quoll aus seinem Mund und seine violetten<br />

Augen hafteten auf seinem General.<br />

„Nein!“, flüsterte Brianne und schüttelte wild ihren Kopf, um sich schließlich einem lauten Schrei<br />

hinzugeben, der tief aus ihrer Seele kam...<br />

Der Wind fuhr durch die Bäume und die Blätter wiegten sich in ihm. Es war still, sehr, sehr still.<br />

���


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

Agathon stand auf den Zinnen seiner Burg und blickte in den blauen Himmel. Er breitete beide Arme<br />

aus und sog tief die Luft ein, ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund. Es war ungewohnt ihn<br />

lächeln zu sehen, denn der hünenhafte Herrscher war eher mürrisch und leicht reizbar. Aber die<br />

letzten Tage waren gut gewesen für ihn und auch der heutige Tag fing erfreulich an. Heute erwartete<br />

er die Rückkehr seines Sohnes Kilian, der lange fortgewesen war, um bei den Kyrinen zu leben. Die<br />

Kyrinen waren menschenähnliche Wesen, die in der Nähe der Klippen am östlichen Endmeer lebten.<br />

Dort hatte Kilian seine leichte Sehergabe weiterentwickeln wollen und außerdem konnte er dort den<br />

Krieg für einige Zeit vergessen.<br />

Fünf Jahre war Kilian nicht mehr in den Hallen seiner Kindheit gewesen und nun fühlte er, wie etwas<br />

ihn zurück in seine Heimat lockte. Eine Bedienstete näherte sich Agathon, der immer noch auf den<br />

Zinnen stand und Ausschau hielt. Der Blick des jungen Mädchen glitt über den Körper ihres Herrn,<br />

der gefährlich nahe am Abgrund stand...<br />

Agathon wandte sich so abrupt um, daß das Mädchen erschrocken einen Schritt zurücksprang.<br />

„Was möchtest du?!“, fragte Agathon laut.<br />

„I- Ich wollte euch nur sagen, daß alles für euren Sohn vorbereitet ist, Herr.“ Ihre Stimme war dünn<br />

und unsicher und sie errötete heftig, als Agathon sie gierig mit Blicken maß.<br />

Doch plötzlich streckte sie ihren schlanken Arm aus und deutete in den Himmel. „Seht nur, Herr...<br />

Euer Sohn kommt zurück.“<br />

Tatsächlich- ein riesiger Falke flog direkt auf die Burg zu und schrie laut. Agathon und das Mädchen<br />

machten dem Vogel Platz, der behutsam landete und seinen Reiter unbeschadet absteigen ließ. Dann<br />

erhob er sich wieder in die Lüfte und verschwand in der Ferne.<br />

Kilian drehte sich lachend zu seinem Vater um. Er war groß geworden, nicht so groß wie Agathon,<br />

aber größer als viele seiner Krieger. Auch seine Muskeln hatten sich zu seinen Gunsten entwickelt.<br />

Sein Gesicht jedoch war unverändert. Die schwarzbraunen Augen glitzerten lebensfroh und unzählige<br />

Lachfalten umringten sie. Die Nase rümpfte sich leicht, als sein Lächeln sich verbreiterte und<br />

makellose, weiße Zähne preisgab. Nur sein Haar hatte sich verändert. War es doch früher tiefbraun<br />

gewesen, so hatte es nun die Farbe von frischem Schnee.<br />

„Oh... mein Sohn!“, brachte Agathon hervor und riß ihn in seine Arme. Der junge Mann löste sich aus<br />

der Umarmung. „Es ist gut dich zu sehen, Vater!“<br />

Agathon legte einen Arm um seinen Sohn und beide verließen den Turm.<br />

Kilian wurde von allen Hofmitgliedern stürmisch begrüßt und mit respektvollen Blicken beschenkt.<br />

Jeder sah die Veränderung: Er war nun ein Mann... aber immer noch Agathons Sohn!<br />

���<br />

Es war spät in der Nacht, als Kilian die Festtafel verließ und jene, welche satt und zufrieden am Tisch<br />

eingeschlafen waren, verließ. Das laute Schnarchen verfolgte ihn noch, als er längst die steinernen<br />

Treppen hinaufstieg, um zu seinen Gemächern zu gelangen.<br />

Irgend etwas, irgendeine Macht, hatte ihn hierher befohlen, in die Burg seines Vaters. Er dachte, es<br />

wäre die Sehnsucht gewesen, die mit der Zeit immer stärker an ihm nagte. Aber in dem Moment, als<br />

Kilian Agathon in die Arme geschlossen hatte, wußte er, er hatte sich geirrt. Es mußte noch einen<br />

anderen Grund geben... aber was?<br />

Kilian seufzte laut und lehnte sich mit verschränkten Armen an die kühle Steinmauer.<br />

„Ich verstehe das einfach nicht!“<br />

Wieder seufzte er und sein Kopf sank auf seine Brust. Da hörte er plötzlich ein seltsames Geräusch,<br />

das ihn aufhorchen ließ. Die Burg war alt und es wimmelte in manchen Räumen von Ratten und<br />

anderem Ungeziefer. So war es nur natürlich, daß leise scharrende Laute nachts die Oberhand<br />

gewannen, abgesehen von leisem Frauengelächter, das ab und zu durch verschlossene Türen drang.<br />

Aber auf dieses Scharren folgte... ein Schluchzen... dann ein Wimmern. Kilian wandte den Kopf . Die<br />

Laute kamen... aus der „Halle der Töne“. Die hohe Tür ließ sich leicht öffnen und der Mann schob<br />

sich ins Innere.<br />

Schwärze umfing ihn, als die Tür ins Schloß fiel. Langsam rieb er sich über die Augen und blinzelte.<br />

An den Wänden hingen in regelmäßigen Abständen Fackeln, die schwach brannten. Allerdings lag der<br />

hintere Teil der Halle trotzdem in absoluter Finsternis. Kilian nahm eine der Fackeln an sich und<br />

tapste unsicher einige Schritte voran. Die „Halle der Töne“ war, früher zumindest, Aufbewahrungsort


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

für Agathons Musikinstrumente. Kilians Vater hatte nämlich eine seltsame Vorliebe für Musik. Wenn<br />

er spielte oder Sänger zu sich holte, veränderte er sich. Sein Gesicht wurde weich und seine Pupillen<br />

weiteten sich, sein Atem ging schneller und seine Finger zitterten leicht. Seine magischen Fähigkeiten<br />

stiegen in solchen Momenten, und ein wahres Glücksgefühl durchströmte den kräftigen Körper.<br />

Kilian blickte sich um, konnte aber die Instrumente, die früher hier lagerten nicht erkennen. Er zuckte<br />

kurz mit den Schultern, wollte sich wieder abwenden, als er erneut ein ersticktes Wimmern vernahm.<br />

Das ist kein Tier, dachte er.<br />

„Wer ist da?“, fragte Kilian laut und hielt die Fackel vor sich. Plötzlich tauchte im Schein des Feuers<br />

ein großes Gebilde auf, das sich als Käfig entpuppte, als der junge Mann näher kam.<br />

„Tatsächlich! Ein Käfig aus Gold... seltsam!“ Er umfaßte die Stangen mit der linken und schüttelte<br />

den Kopf.<br />

„Vater wird merkwürdig... wenn er es nicht schon immer war.“<br />

Kilian konnte nicht erkennen, was in dem Käfig aufbewahrt wurde, denn die Dunkelheit verschluckte<br />

alles, auch den Feuerschein.<br />

„Ist da jemand?“, fragte er, sanfter und leiser als zuvor. Da drang ein tiefes, raubtierartiges Knurren an<br />

sein Ohr und seine Nackenhaare richteten sich auf. Hielt Agathon hier doch ein Tier gefangen? Aber<br />

wieso in absoluter Finsternis und in der „Halle der Töne“? Kilian hielt die Fackel noch näher an das<br />

Gold... näher...<br />

„Was machst du hier, Kilian?“<br />

Kilian fuhr erschrocken um und starrte in das Gesicht seines Vaters.<br />

„Ich ähm... hörte Geräusche und... mmh. Was für ein Tier haltet ihr hier gefangen, Vater?“<br />

„Ein Tier? Oh... hat es dich angeknurrt, nun ja, es ist noch ein wenig widerspenstig... aber das wird<br />

noch.“<br />

Der Fürst nahm Kilian die Fackel aus den Händen und lenkte ihn zurück zur Tür.<br />

„Laß´ es nun schlafen, Kilian! Bald wirst du es bei Tageslicht sehen... und hören.“<br />

Die beiden Männer verließen die „Halle der Töne“, der eine gütig lächelnd, der andere stirnrunzelnd<br />

und über die Schulter zurückblickend. Die Stimme Agathons entfernte sich langsam, bis sie<br />

schließlich erlosch.<br />

Wieder breitete sich die Dunkelheit in der Halle aus und es war still. Doch dann ertönte wieder das<br />

kehlige Knurren, näher als zuvor, näher an den goldenen Stangen, welche Kilian berührt hatte. Zwei<br />

schmale Hände tasten zitternd... suchen... bebende Finger, die sich abwechselnd spreizen und wieder<br />

zur Faust ballen...<br />

Die feingliedrigen Finger umgreifen schließlich die Eisenstangen, so fest, daß die Knöchel weiß<br />

hervortreten...<br />

Zwei große schwarzblaue Augen glimmen auf, die sich allmählich verengen... bis sie, fern aller<br />

Hoffnung, zufallen.<br />

���<br />

In dieser Nacht hatte Kilian einen seltsamen Traum: Er war wieder in den Klippen bei den Kyrinen.<br />

Er und drei dieser liebenswerten, blaupelzigen Geschöpfe saßen um ein Feuer und starrten in die<br />

Flammen. Einer der Kyrinen berührte Kilian mit seinen langen, dünnen Fingern an der Stirn und<br />

gurrte leise: „Kopfweh, nicht? Ganze Weile an Kopf gefaßt und tief geatmet!“<br />

Tatsächlich spürte der weißhaarige Mann einen leichten Druck hinter seiner Stirn. „Ich weiß auch<br />

nicht, was mit mir los ist... Irgend etwas ruft mich. Vielleicht mein Vater.“<br />

Die drei Kyrinen lachten glucksend: „Oh, nee, nee, wenn Aga-priska Kräfte benutzt, alle spüren.“<br />

Kilian nickte. Die Flammen tanzten auf und ab... „Ja, ihr habt re-“<br />

Plötzlich entfuhr ihm ein lauter Schrei. Ruckartig preßte er die Hände an die Augen und fiel auf die<br />

Seite.<br />

„Was, Kilian, was, was?“, schrien die Klippenbewohner aufgeregt.<br />

„Bilder!“, brachte der Mann mühsam heraus. Keuchend wälzte er sich auf die andere Seite.<br />

„Nicht wehren, kommen lassen, kommen lassen, wie Wellen!“, riefen die Kyrinen. Und Kilian<br />

gehorchte. Er ließ die Schmerzen in sich und somit die Bilder. Wie Schwerter drangen sie in ihn,<br />

zerfetzten sein Fleisch, zerstachen seine Augen... Häuser, Straßen... eine Brücke...aber kein Fluß<br />

darunter... Menschen, reiche Menschen, aber da sind auch Arme...


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

Kilian zitterte. Schweiß tropfte auf seine Hände, die zuckend seine Knie umklammerten. Eine dunkle<br />

Welle kam auf ihn zu, immer näher, näher... dann überrollte sie ihn mit lautem Getöse und<br />

unglaublichen Schmerzen. Er öffnete den Mund, um zu schreien, statt dessen sagte er etwas, einen<br />

Namen gemischt mit Furcht und Widerwillen: „<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>.“<br />

„Was, was, was?“, quiekten die Kyrinen.<br />

„<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>!“<br />

Kilian sprang aus seinem Bett, sein Körper war schweißgebadet, seine Glieder zuckten unkontrolliert.<br />

Er faßte sich zitternd an den Brustkorb und versuchte sich zu beruhigen. Aber in dem Moment, in dem<br />

er seinen Herzschlag spürte, sah er wieder die Stadt, die Brücke und eine Schlucht... und er sah eine<br />

Frau auf sich zutreten. Ihr kurzes, rotes Haar glühte wie Feuer, ihre dunklen Augen leuchteten wie<br />

Sterne...<br />

Die schlanke Gestalt drehte sich plötzlich um sich selbst, hob den Kopf und gab einen Ton von sich...<br />

Kilian hatte noch nie so einen Ton gehört, so schön, so grausam, so wunderschön schmerzlich... Wie<br />

der Schrei eines Falken. Ein Falke mit Ketten an den Klauen.<br />

Die Bilder verblaßten allmählich und übrig blieb nur das heftige Schlagen eines Herzen, das langsam<br />

wieder regelmäßig wurde, Erschöpft sank Kilian auf seinem Bett zusammen.<br />

„<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>... was hat das zu bedeuten? Verdammt, warum verstehe ich es nicht?!“<br />

Mürrisch wischte er sich über die Augen und sah Blut an seinen Händen.<br />

„Oh... nein... nicht schon wieder.“ Nachdem er seine blutigen Augen ausgewaschen hatte, legte er sich<br />

wieder hin, aber der Schlaf kam diese Nacht nicht mehr zu ihm.<br />

���<br />

Durch das Krater-Tal zog sich eine lange Bergkette, mit unzähligen Höhlen und Schluchten. In einer<br />

der Höhlen, mit ihren vielen Gängen saßen Menschen. Auch in den anderen Höhlen hockten<br />

Menschen, insgesamt waren es wohl 200 Arietiden, die warteten.<br />

Und warteten.<br />

Einer erhob sich und gesellte sich zu einer Gruppe von drei Frauen und vier Männern. Sie alle trugen<br />

Brustpanzer und derbe Lederbeinkleider.<br />

„Na, Gora, noch nichts in Sicht?“, fragte der Dazugekommene. Gora, eine Frau Mitte dreißig<br />

schüttelte ihre blonden Locken, in die eine lange weiße Perlenkette eingeflochten war.<br />

„Nein. Der General kommt nicht.“<br />

„Langsam, langsam... vielleicht ist etwas dazwischen gekommen!“<br />

„Das glaubst du doch selbst nicht, Ta-ang!“<br />

Ta-ang blickte zu Boden und schwieg. Brak, dessen rotes Haar schon von weißen Strähnen<br />

durchzogen wurde, sah sich um. Sah auf die arietidischen Krieger in den Höhlen.<br />

„Also Gora“, fragte er, „was willst du tun? Willst du die Entscheidung des Lichtmeß anzweifeln?“<br />

Gora schwieg betreten und bohrte die Spitze ihres Schwertes in den steinigen Boden.<br />

„Lange können wir aber nicht mehr hier ausharren, es ist zu heiß, wir haben nicht mehr allzu viel<br />

Proviant... Brak? Du bist der älteste... ich denke, wenn General Brianne vor morgen nicht mehr<br />

auftaucht... folgen wir dir!“<br />

Die anderen sechs nickten zustimmend. „Gut... wenn Brianne nicht kommt... führe ich euch in die<br />

Schlacht!“<br />

Die Gruppe verließ ihren Standort unter der Sonne und verschwand in den Höhlen. Morgen war es<br />

soweit! Sie würden sich unter Braks Kommando auf die Reise nach Priska begeben! Brak war<br />

allerdings nicht wohl bei der Sache, denn nicht er war der Erwählte... Und er fühlte, er würde als<br />

erster fallen. Warum nur kam Brianne nicht? Warum?<br />

���<br />

Ein heller Lichtstrahl bahnte sich seinen Weg durch die Dunkelheit und kündigte den neuen Tag an.<br />

Nach und nach vertrieb das diffuse Licht die Finsternis. Ein weiterer Lichtstrahl fiel ein und traf auf<br />

das schlafende Gesicht einer jungen Frau, die am Boden eines goldenen Käfigs lag.<br />

Ihre blaßvioletten Lippen waren leicht geöffnet, die langen Wimpern warfen Schatten auf die weiße<br />

Haut. Ihr kurzes, dunkelrotes Haar kringelte sich im Nacken. Plötzlich bewegte sich etwas auf Brianne<br />

zu, verharrte als sie sich regte und trippelte dann wieder keck auf sie zu. Es war ein Tier... man könnte


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

es fast für eine Ratte halten, aber nur auf den ersten Blick. Der fragile Körper saß nun dicht vor<br />

Briannes Nase und schnüffelte laut. Anscheinend gefiel ihm der Geruch der jungen Frau, denn das<br />

Tierchen sprang mit einem Satz auf ihre Hüfte und blickte von dort wieder in Briannes Gesicht.<br />

Ein leises Keckern entfuhr dem winzigen Mäulchen. Das hellrote Fell plusterte sich auf und das<br />

Tierchen fing an, seinen meterlangen Schwanz um sich selbst zu legen. Das dauerte einige Zeit und<br />

schließlich war das Tierchen fast in seinem eigenen Schwanz ganz verschwunden. Nur die großen<br />

Ohren lugten noch hervor.<br />

Brianne erwachte langsam und streckte beide Arme von sich. Sie hatte einige Mühe, die Augen zu<br />

öffnen, denn sie waren geschwollen... Wenn man sich jede Nacht in den Schlaf weint, leidet die Seele<br />

am nächsten Tag noch immer. Brianne spürte den Stein in ihrem Magen und schluckte trocken.<br />

„Wieder wach geworden“, dachte sie verbittert. „Wieder einen neuen Tag erleben...“<br />

Ein süßes Schnurren drang nun an ihr Ohr... sie drehte langsam den Kopf und starrte in die riesigen<br />

schwarzen Knopfaugen eines Wesens, welches sie noch nie zuvor gesehen hatte.<br />

Laut aufschreiend sprang Brianne auf und das fremdartige Tier flog im hohen Bogen durch die Luft.<br />

Nachdem es sich von seinem Schwanz befreit hatte, mit dem es sich fast stranguliert hätte, kam es<br />

verdutzt wieder auf die Beine.<br />

„Du hast mich zu Tode erschrocken, du...Ding.“ Brianne begutachtete das Tierchen, das sich nun<br />

ausgiebig putzte, amüsiert und ließ sich auf die Knie nieder. „Komm´ doch mal her du... was bist du<br />

nur? So etwas wie dich habe noch nie gesehen.“<br />

Etwas mißtrauisch, aber doch eher vertrauensselig tapste das hellrote Plüschtier auf die arietidische<br />

Kriegerin zu. Brianne streichelte es sanft... bald flossen ihr Tränen über die Wangen. Das Fell fühlte<br />

sich an, wie Emeralds Haar... Feste preßte Brianne ihr nasses Gesicht in den weichen Pelz und weinte<br />

nun hemmungslos. Die Anstrengung der letzten Tage, der Hunger... der Verlust ihres Gefährten... die<br />

kleine Kriegerin hatte alles in sich aufgesogen, den unsagbaren Schmerz, die unendliche Trauer...<br />

Das kleine Tier legte behutsam seinen Schwanz um Kopf, Hals und Schultern der weinenden Frau und<br />

leckte die zitternden Hände.<br />

Die beiden saßen lange so da, Brianne hielt das Tierchen an ihre Brust gedrückt und hatte den Kopf<br />

gesenkt. Das Licht der aufgehenden Sonne umarmte sie... wärmte aber nicht...<br />

Urplötzlich sprang die hohe Tür der Halle auf. Briannes Kopf fuhr hoch und das kleine Tier preßte<br />

sich fest an sie. Ein paar Bedienstete traten ein. Sie trugen Handtücher auf den Armen und zwei<br />

schoben einen großen Wachzuber herein.<br />

Einer trat an den Käfig und öffnete die Tür. Brianne stand vorsichtig auf. Jetzt sah sie, daß alle<br />

Bediensteten Waffen trugen... Keine Chance zur Flucht. Sie mußte ihren schwarzen Anzug ablegen<br />

und baden. Obwohl sie sich zuerst weigerte, genoß sie das heiße Wasser auf ihrer nackten Haut. Man<br />

zwang sie ein Kleid aus violetter Seide anzuziehen- Brianne hatte noch nie ein Kleid getragen! Man<br />

kämmte ihr kurzes Haar und frisierte es ordentlich. Die Lippen wurden mit einem roten Stift<br />

nachgezogen und schließlich rieb man ihre Hände, Füße und Hals mit wohlriechender Flüssigkeit ein.<br />

Die ganze Prozedur dauerte mehrere Stunden und keiner sagte auch nur ein Wort. Brianne fragte<br />

mehrmals, was sie mit ihr vorhatten, aber die einzige Reaktion, die sie bekam, war eine Klinge an<br />

ihren Hals.<br />

Als die Bediensteten mit Brianne fertig waren, wurde sie zurück in den Käfig geführt, wo sie sich auf<br />

ein Podest setzen sollte. Dann verschwanden die Priskaner so plötzlich, wie sie gekommen waren.<br />

Brianne saß stumm auf dem Podest und ließ die Beine baumeln. „Das ist nur ein Traum“, flüsterte sie.<br />

Doch das kleine Tierchen, das mit Leichtigkeit auf ihre Schultern sprang, belehrte sie eines Besseren,<br />

indem es ihr mit seiner kleinen Zunge herzhaft über die Wange schleckte. Brianne lächelte. „Du<br />

brauchst einen Namen, weißt Du?!“<br />

Die großen, schwarzen Augen blinzelten bejahend.<br />

„Tja, wenn ich nur wüßte, wie deine Rasse heißt...“<br />

„Es ist das einzige seiner Art.“<br />

Erschrocken sprang Brianne von ihrem Podest und starrte in das grinsende Gesicht von - „Fürst<br />

Agathon!“<br />

„Wie schön, daß du meinen Namen kennst, Arietidin. Denn ich kenne auch deinen... du bist Brianne,<br />

die Sängerin.“<br />

Agathons Gesicht wirkte gütig und milde, doch seine Augen glänzten hart und irgendwie...<br />

wahnsinnig.


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

„Ich bin Brianne, General unter dem Lichtmeß... keine Sängerin!“, fauchte die aufgebrachte<br />

Kriegerin.<br />

Wieder leuchteten Agathons Augen auf. Er bewegte sich schnell auf den goldenen Käfig zu und sein<br />

wallendes, weißes Gewand erzeugte ein unangenehmes, raschelndes Geräusch. Und dann<br />

unterbreitete er Brianne in der Stille ihres Gefängnisses einen unglaublichen Vorschlag... einen<br />

Vorschlag, den Brianne nicht ablehnen konnte!<br />

„Du weißt, die Priskaner kämpfen schon lange gegen euch. Mal erringen wir einen Sieg, mal einen<br />

Rückschlag.“ Er ging um den Käfig herum und betrachtete genüßlich die violetten Seide, die sich um<br />

Briannes Körper schmiegte.<br />

„Es ist mein Wunsch, den Lichtmeß zu besitzen, aber über die Jahre hinweg habe ich eingesehen, daß<br />

der Kampf sinnlos ist.<br />

„Ach ja?“, knurrte Brianne argwöhnisch.<br />

„Ich habe also beschlossen, meine Truppen zurückzuziehen-“<br />

„Was?!“, schrie Brianne uns sprang fast an den Stangen hoch. „Ist das euer Ernst, Fürst?“<br />

„Aber ja... es gibt allerdings eine Bedingung!“<br />

Brianne kniff die Augen zusammen: „Und die wäre?“ Die goldenen Punkte in Agathons grauen<br />

Augen leuchteten wild...<br />

���<br />

Der kühle Wind zog über Arietides Wiesen weiter in nördlicher Richtung. Es war ein wunderschöner<br />

Tag und der Wind gebärdete sich wie ein junges Tier, schwamm schnell, mal langsam durch die Luft,<br />

kugelte sich und breitete sich rauschend aus. Unter ihm sah er das bergige Kraler-Tal, welches sonst<br />

so verlassen wirkte... aber heute tummelten sich dort viele Leute. Sie wanderten in Richtung der Stadt<br />

Priska.<br />

Jauchzend und brausend schnellte der Wind weiter und ließ die Krieger hinter sich. Es dauerte nicht<br />

lange, da prallte er gegen die stolze Festung des Fürsten Agathon. Und was war hier los? Anscheinend<br />

gab Agathon heute ein Fest, denn die Burg war geschmückt mit sämtlichen Flaggen. Die Zugbrücke<br />

war heruntergelassen, Priskaner gingen ein und aus. Sie trugen edle Kleidung und lachten und<br />

schwatzten.<br />

Auf den Zinnen stand ein junger Mann und beobachtete ebenfalls die Menge, die in die Burg seines<br />

Vaters kam.<br />

Neckisch faßte der Wind in sein schlohweißes Haar und schmiegte sich um die Schultern.<br />

„Schon wieder ein Fest... ich möchte wissen, was der Grund ist“, flüsterte Kilian.<br />

Agathon feierte zwar des öfteren Feste, aber selten machte er sich soviel Mühe dabei. Kilian verließ<br />

den Turm und machte sich auf den Weg in den Festsaal. Als er an der „Halle der Töne“ vorbeikam,<br />

stockte er. Licht drang unter der hohen Tür durch... die Halle war erleuchtet! Fast automatisch legte<br />

Kilian seine Hand auf die verzierte Klinke und drückte sie lautlos nach unten. Jetzt konnte er das Tier<br />

sehen, das ihm gestern nacht angeknurrt hatte!<br />

Mit einem Schwung drückte er die Tür auf und trat ein. Sein Mund öffnete sich... Unglaube spiegelte<br />

sich in seinen weit aufgerissenen Augen wieder. „Was soll das?“, fragte er.<br />

Die Frau in dem goldenen Käfig blickte ihn aus den Augenwinkeln spöttisch an, aber sie bemühte<br />

sich, den Spott zu verbergen. Sie trug ein wunderschönes Kleid aus violetter Seide, das ihren Körper<br />

sanft umarmte. Ihr kurzes, dunkelrotes Haar leuchtete grell im Sonnenlicht, welches gebündelt auf sie<br />

fiel. Um ihren Hals lag ein pelziger Schal... nein, das war ein Schwanz! An seinem Ende hing ein<br />

fragiles Tier, das auf der linken Schulter der jungen Frau saß. Kilian trat näher an den Käfig: „Wer<br />

bist du?“<br />

Die dunklen Augen der Frau folgten jeder seiner Bewegungen mißtrauisch.<br />

„Warum antwortest du nicht... du brauchst keine Angst vor mir zu haben! Er versuchte ein Lächeln,<br />

das aber gefror, als er ihre Gegenfrage vernahm. „Welches Lied wollt ihr hören?“ Die Stimme war<br />

leise und zornig. Kilian erkannte, daß es ihr große Mühe machte, ruhig und beherrscht zu sprechen.<br />

„Lied? Ich verstehe das nicht!“ Er umfaßte die goldenen Stangen und die Frau wandte sich ihm zu...<br />

und er sollte auf immer sein Herz verlieren! Das Gesicht, welches ihm entgegenblickte war<br />

hohlwangig und sehr, sehr blaß. Die schön geschwungenen blaßvioletten Lippen preßten sich fest<br />

zusammen, was ihnen einen verkniffenen Zug verlieh. Sie hatte eine lange, schmale Nase, deren


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

Flügel heftig bebten. Die Augen hatte sie jetzt geschlossen, aber nach einer Weile öffnete sie sie<br />

wieder. Kilian hörte sein Herz schlagen.<br />

Ein schwarzblaues Meer tat sich vor ihm auf, in das er eintauchte und sich geschmeidig bewegte.<br />

Lange, dichte, schwarze Wimpern umrandeten die großen Augen, die sich nun langsam verengten.<br />

Die schwarzblauen Spiegel zeigten Kilians erschrockenes Gesicht.<br />

Sie wiederholte ihre Frage eindringlicher. „Ich wollte von euch wissen, welches Lied ihr zu hören<br />

wünscht, ... Herr.“<br />

Kilian wich zurück. Sein Herz schlug lauter...<br />

„Du bist es!“, flüsterte er atemlos. „Dein Haar glüht wie Feuer, deine Augen leuchten wie Sterne... Du<br />

bist die Frau aus der Stadt!“<br />

Die magere Gestalt glitt auf Kilian zu. „Ich komme aus Arietides... und ob meine Augen leuchten,<br />

geht euch einen feuchten Dreck an!“<br />

Kilian starrte sie nur an. Die junge Frau schlug sich die Hand auf den Mund und senkte den Kopf.<br />

„Verzeiht mir, mein Herr. Ich wollte euch nicht beleidigen! Eure Worte sind nur so verwirrend!“<br />

„Verzeiht auch mir, ich wollte euch nicht zu nahe treten!“<br />

Die Respektlosigkeit, mit der er der Frau zuerst entgegen getreten war, erschien ihm auf einmal<br />

unpassend... und etwas gefährlich. „Mein Name ist Kilian... wie ist eurer?“<br />

Zögerlich umfaßte auch die Frau die Stangen. Beide standen sich gegenüber und sahen sich prüfend<br />

an. „Brianne... man nennt mich Brianne.“<br />

Und Brianne erzählte Kilian, was Agathon ihr versprochen hatte: den Frieden.<br />

Den Frieden zwischen Priska und ihrer geliebten Heimat Arietides. Als Gegenleistung hatte Brianne<br />

geschworen für immer, für immer und ewig, bei ihm zu bleiben. Nicht als Gefährtin oder zärtliche<br />

Gespielin, sondern als Sängerin! Als hübsches Vögelchen, das auf Wunsch goldene und silberne Töne<br />

von sich gab.<br />

Brianne wußte nicht warum, aber sie vertraute dem weißhaarigen Mann instinktiv. Die Worte<br />

sprudelten aus ihr heraus und sie war froh, endlich einmal alles von sich abwerfen zu können.<br />

Emeralds grauenvolle Ermordung... die Entführung auf Agathons Festung, die Erniedrigungen...<br />

Schließlich sanken beide an den Stangen herunter und Brianne seufzte laut auf.<br />

„Agathon hat euch was versprochen?“, fragte Kilian.<br />

„Den Frieden zwischen unseren Völkern!“<br />

„Ihr habt das geglaubt?“<br />

Brianne nickte: „Er zeigte mir mit seiner magischen Kraft das Land... überall herrscht<br />

Waffenstillstand, euer Volk zog sich zurück!“<br />

Kilian wollte ihr widersprechen. Es herrschte kein Frieden, wie konnte sie das nur glauben?! Agathon<br />

hatte sie belogen, wie er jeden belog, wenn er etwas haben wollte. „Brianne, ihr müßt-“<br />

In diesem Moment vernahmen die beiden Stimmen, sie blickten auf und sahen, wie Agathon mit<br />

seinen Gästen in die Halle trat. Es waren hauptsächlich angesehene Priskaner, die nun neugierig auf<br />

Brianne und Kilian starrten.<br />

„So, das ist meine Überraschung!“, sagte Agathon laut. Brianne zuckte zusammen und setzte sich auf<br />

das Podest in der Mitte des Käfigs. Kilian eilte zu seinem Vater. „Was habt ihr getan? Findet ihr<br />

nicht, daß das etwas zu weit geht?“ zischte er.<br />

Agathon sah ihn erstaunt an und wandte sich ab. Dreimal klatschte er in die Hände und das<br />

Stimmengewirr verebbte. Mit einer freundlichen Geste trat er auf Brianne zu. „Singe!“<br />

Ohne zu zögern, legte Brianne den Kopf in den Nacken und entlockte ihrer Kehle einen hellen Ton,<br />

der langsam tiefer wurde und ein Lied aus ihrer Heimat einleitete. Sie sang und Tränen flossen. Es<br />

waren wunderschöne Geräusche, die sie von sich gab! Hart und kalt, wie Metall und weich und warm,<br />

wie Samt. Ergriffen standen die Priskaner vor Briannes Gefängnis und faßten sich ans Herz. Agathon<br />

sah sich nach seinem Sohn um, aber Kilian war nicht mehr da. Er wußte, daß es nachher eine hitzige<br />

Diskussion mit Kilian gelten würde. Kilian war ein sturer Dickkopf! Tatsächlich fand die<br />

Auseinandersetzung am Abend statt, aber der Sohn des Fürsten war erstaunlich ruhig und einsichtig.<br />

„Ihr habt recht, Vater. Immerhin ist sie ja nur eine Arietidin, die sich einbildet kämpfen zu können.“<br />

„Die Zeit bei den Kyrinen hat dir gut getan, Sohn. Ich freue mich, ich freue mich!“<br />

Kilian erwiderte Agathons Lächeln... aber nicht mit den Augen Er war schwer enttäuscht von seinem<br />

Vater. Das Dasein, welches er Brianne aufgezwungen hatte, war absolut unwürdig - sie würde<br />

irgendwann sterben vor Kummer! Und auch sein Herz krampfte sich zusammen, wenn er sie in dem


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

Käfig sah. Was würde er geben, wenn er sie einmal lächeln sehen könnte? Er wußte nicht, was es war,<br />

aber irgend etwas faszinierte ihn an der Kriegerin.<br />

Der Schrei seines Falken drang an Kilians Ohr. Er ging zu einem der Fenster und blickte in den<br />

Himmel. Der Falke zog seine Kreise unD stieg höher und höher.<br />

„<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>“, sagte eine Stimme in Kilians Kopf.<br />

Wieder schrie der Falke.<br />

„Ja!“, flüsterte Kilian.<br />

���<br />

Endlose Tage vergingen, schmerzliche Wochen zogen dahin... schließlich qualvolle Monate. Nichts<br />

hatte sich verändert! Der Krieg forderte weiterhin seine Opfer und die Priskaner waren so blutrünstig,<br />

wie zuvor. Und die kleine Kriegerin Brianne saß in ihrem goldenen Käfig und sang und sang für den<br />

Fürsten Agathon. Doch das sollte sich nun ändern!<br />

Eines Nachts jagte ein rauher, lauter Ton in der Burg des Priskanerfürsten herum - es war ein Lachen.<br />

Briannes Lachen, das nach langer Zeit wieder ertönte und sich so verändert hatte.<br />

„Befreien wollt ihr mich, Kilian? Ihr? Der Sohn des Fürsten? Wollt ihr mir helfen, oder euch nur<br />

gegen euren Vater auflehnen? Ich hatte euch wirklich anders eingeschätzt!“<br />

„Eure Menschenkenntnis ist auch nicht die Beste, wenn ihr meinem Vater geglaubt habt, daß Frieden<br />

herrscht, nur weil ihr hier seid. Ihr überschätzt euch, Sängerin!“, fauchte Kilian zurück.<br />

„Kriegerin, ich bin Kriegerin!“, Brianne sprang an die Stangen und fletschte ihre Zähne. Sie waren<br />

weiß und spitz und schlugen laut aufeinander.<br />

„Tier... Benimm´ dich wie eine Kriegerin, wenn du eine bist! Sei nicht dumm und verleugne nicht die<br />

Welt außerhalb deines Käfigs, Närrin!“<br />

Brianne schnappte nach Kilian, stieß sich dann von den Käfigstangen ab und kniete in der Mitte des<br />

Käfigs nieder. Tränen fielen auf den Boden. Kilian seufzte. „Brianne... es ist Krieg!“<br />

„Nein! Der Fürst und ich haben eine Abmachung!“, schluchzte sie. Trotzig und zornig sah sie Kilian<br />

in die Augen. Plötzlich huschte etwas über den Boden, durch die Stangen und hüpfte auf Briannes<br />

linke Schulter.<br />

„Wiko“, hauchte die Arietidin zärtlich.<br />

„Wiko?“, Kilian blickte amüsiert auf den kleinen Kerl, der ihn mit großen Augen anstarrte.<br />

„Das ist sein Name.“<br />

Beide schwiegen eine Weile. Der Feuerschein der Fackeln, die Kilian entzündet hatte, warfen<br />

unruhige Schatten in den Käfig. Brianne stand weinend auf. Wiko wickelte seinen Schwanz um ihren<br />

Hals.<br />

„Beweise mir, das Krieg ist... Beweise mir, daß dein Vater mich betrogen hat!“<br />

Kilian nickte ernst und zog auf einmal eine lange, weiße Perlenkette aus seiner Tasche. Mit einer<br />

langsamen Bewegung schmiß er sie vor Briannes Füße. Diese blickte stumm auf die Perlen, an denen<br />

blonde Locken hingen, die blutverkrustet waren. „Eine Gruppe arietidischer Soldaten hat vor einiger<br />

Zeit das priskanische Heer angegriffen... Es hat kaum überlebende gegeben.“<br />

Brianne nahm die Perlen in die Hand.<br />

„Gora...“ Gora, die blonde Kämpferin, die Briannes Kommando so skeptisch gegenüber stand... tot.<br />

„Tot.“ Ein Wispern, das verhallte, das trotzdem endgültig im Raume stand. Kilian warf ihr noch etwas<br />

in den Käfig. Erstaunt stellte Brianne fest, daß es ihr schwarzer Anzug war, ihre alten Stiefel und die<br />

Lederbänder, mit denen sie stets ihre Arme umwickelt hatte. Und dann war da ihr Schwert. Brianne<br />

spürte, daß es im Moment schlief, eingewickelt in Stofflaken.<br />

„Oh Kilian!“<br />

„Ich möchte dir helfen, kleine Brianne! Kannst du das nicht sehen?“<br />

Brianne kroch auf Kilian zu und berührte ihn zögerlich im Gesicht. „Doch, ich sehe es nun. Aber<br />

wie...“, sie drehte sich einmal, „wie willst du mich hier heraus holen?“<br />

Kilians Blick fiel auf Wiko, der sich hinter einem Ohr kratzte.<br />

„Ich weiß, wo Agathon den Schlüssel aufbewahrt... dein kleiner Freund könnte uns helfen!“<br />

Verdutzt setzte Wiko sich auf und rümpfte sein Näschen.<br />

���


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

Tatsächlich schaffte das kleine Kerlchen es, den Schlüssel zum Käfig zu stehlen. Es war sehr, sehr<br />

lange alleine gewesen und nun war da wieder jemand, auf dessen Schulter Wiko sitzen konnte. Er<br />

spürte die heftige Freude der rothaarigen Frau, als der Mann den Käfig öffnete und sie heraus führte.<br />

Kurz darauf wurde er an den weiblichen Körper gepreßt und stürmisch geküßt. Sofort nahm Wiko<br />

seinen Lieblingslatz ein und wickelte seinen Schwanz um den Hals der Frau. Immer wieder hörte er<br />

sie zärtlich seinen Namen rufen: „Wiko, süßer Wiko!“<br />

Ja! Sein Name! Nie mehr würde ihn jemand als Ratte, Katze oder Ungeziefer bezeichnen...er war<br />

Wiko! Er fiepste leise in Briannes Ohr, die geduckt, dicht hinter Kilian an der Turmmauer<br />

hochschlich.<br />

„Wie geht es nun weiter, Kilian?“<br />

„Mein Falke kreist am Himmel... er wird dich an einen fernen Ort bringen.“<br />

„Ha! Kein Ort ist fern genug!“<br />

Kilian zog Brianne in einen Erker, und die beiden verharrten atemlos, als ein Wächter müde vorbei<br />

schlenderte. Als er vorüber war, flüsterte Kilian: „Ich habe immer wieder einen Traum gehabt, in den<br />

letzten Monaten. Er handelte von einer schönen Frau... dir, Brianne! Ich sah dich in einer Stadt, weit<br />

vor hier- hinter dem großen Wasser!“<br />

„Was?“<br />

„Shht, hör mir zu... von meiner Mutter habe ich die Sehergabe geerbt, ich kann mich auf meine<br />

Visionen verlassen... komm jetzt!“<br />

Brianne zog ihn zurück. „Und wie glaubst du, komme ich über das Wasser? Soll ich schwimmen?“<br />

„Nein. Ich sagte doch, du wirst fliegen!“<br />

„Was? Das war dein Ernst?“<br />

Aber Kilian war schon weitergehuscht und Brianne hatte keine andere Wahl als ihm still zu folgen.<br />

Mehrmals mußten sie sich verstecken, aber niemand bemerkte sie. Doch da erwachte plötzlich<br />

Briannes Schwert. „Oh nein!“<br />

„Was ist?“, fragte Kilian.<br />

„Das Schwert erwacht.“<br />

Kurz darauf ertönte ein heller, seltsamer Laut- zu laut um ihn zu überhören.<br />

„Kannst du das nicht abstellen, man wird uns entdecken!“, rief Kilian erschrocken.<br />

„Es ist ein beseeltes Schwert... möchtest du mit ihm streiten?“<br />

Da war es schon zu spät. Einige Wächter hatten Brianne gesehen und rannten auf sie zu. Kilian und<br />

die Kriegerin liefen die Treppe weiter hinauf, bis sie schließlich oben angelangt waren und die Tür<br />

hinter sich verschlossen. Der kühle Nachtwind riß an Kilians Haaren, während er den Himmel nach<br />

seinem Falken absuchte. „Verdammt! Der Sturm muß ihn aufgehalten haben!“<br />

„Und nun?“, schrie Brianne, die sich gegen die Tür stemmte, die den Kräften der priskanischen<br />

Soldaten nicht mehr lange standhalten konnte.<br />

„Rufe ihn, er ist deine einzige Chance!“<br />

Brianne erklomm die Zinnen und stieß einen schrillen Schrei aus- den Schrei eines Falken in der Not.<br />

„Beim Lichtmeß...“, wisperte sie, als sie eine Antwort bekam. Und tatsächlich! In der Ferne sah sie<br />

einen großen, schwarzen Vogel...<br />

„Gut gemacht, Kriegerin!“, lachte Kilian, doch auf seinem Gesicht standen Schweißperlen der Angst.<br />

Er umfaßte hastig Briannes Hände.<br />

„Hör mir zu, Kleine... Der Falke wird dich in eine Stadt bringen, die voller Gegensätze ist... du mußt<br />

tapfer sein! Und du mußt mir etwas versprechen! Du darfst nie mehr, nie mehr während deiner<br />

Abwesenheit... singen! Agathon würde sofort wissen wo du bist! Versprich es!“<br />

„Ich darf nicht mehr... oh... ich, ich verspreche es dir!“<br />

Geräuschvoll landete nun der Riesenfalke auf den Zinnen und stieß einen Schrei aus. „Komm´ mit<br />

mir!“, flüsterte Brianne.<br />

Das Holz der Tür barst unter den Schlägen der wütenden Männer. Erschrocken drehte Kilian sich um.<br />

„Nein, i- ich werde dir später folgen, zum rechten Zeitpunkt.“<br />

Wieder sahen beide zur Tür. „Leb wohl, kleine Brianne... vergiß´ mich nicht!“ Seine starke Hand fuhr<br />

sanft durch ihr dunkelrotes Haar und stockte mitten in der Bewegung. „Es... ist weiß!“


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

Ja! Briannes Haare waren zum Teil weiß geworden. Stumm nahmen der Priskaner und die Arietidin es<br />

zur Kenntnis, das Leid in ihren Herzen verankerte sich tief und schmerzvoll. Plötzlich spürte Kilian<br />

wie Briannes weiche Lippen seinen Mund berührten.<br />

EIN ERSTER SCHRITT ZUR ÜBERWINDUNG WIRD GETAN.<br />

Zwei Herzen die sich einander zuneigen... im Schmerz... und sich wieder trennen. Brianne sprang auf<br />

den Falken, in dem Moment, als die Tür in ihre Bestandteile zerfiel und die Soldaten hinter Kilian<br />

auftauchten. Der Falke erhob sich schreiend, um nicht von den Speeren getroffen zu werden, die in<br />

seine Richtung flogen. Er glitt in die Nacht... auf das offene Meer hinaus.<br />

Brianne war fort... Was blieb war ihr Triumphschrei, der hart in den Wolken hing.<br />

Kilian sah ihr nach und merkte da die Hand seines Vaters auf seiner Schulter.<br />

���<br />

Wieder war der Wind unterwegs, diesmal sehr viel weiter entfernt von Karses. Er rollte genüßlich<br />

durch die Luft über das endliche Lichtmeer... über Donji Kalemat ...über Hale und Pergemitron...dann<br />

drehte er ab und wehte in Richtung <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Irgendwo auf seinem Weg fand er einen riesigen<br />

Vogel. Mit Freude schob und drängte er sich unter seine großen Schwingen und trieb ihn voran.<br />

Der Riesenfalke gab einen schrillen Laut von sich und stieg. Dann besann er sich jedoch wieder und<br />

hielt seine alte Höhe, denn... er war nicht allein!<br />

Auf seinem Rücken, zwischen seinen kräftigen Flügeln, krallte sich die Arietidin Brianne fest. Sie<br />

preßte ihr Gesicht in das dunkle Gefieder, so daß nur ihr kurzes, rotes Haar zu sehen war, durch das<br />

sich weiße Strähnen zogen. Alle ihre Muskeln waren angespannt und hinderten die Müdigkeit daran<br />

in den Körper einzuziehen. Als der Falke wieder ruhiger flog, hob Brianne zögernd den Kopf.<br />

Vorsichtig öffnete sie ihre Augen einen Spalt breit, schloß sie aber aufgrund der Zugluft schnell<br />

wieder.<br />

Dann faßte sie an ihren Hals, immer darauf bedacht nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Um ihren<br />

Hals schlang sich ein langer, buschiger Schwanz, an dessen Ende ein fragiler Tierkörper hing, der sich<br />

ängstlich in ihre Halsmulde schmiegte.<br />

„Bald sind wir bestimmt da, kleiner Schatz!“, hauchte Brianne. Wiko blickte sie groß an und<br />

kuschelte sich noch enger an sie. Behutsam legte sie ihren Kopf auf Wiko und blies warme Luft an<br />

den Körper. Sein hellrotes Fell war weich, so weich! Wie die Haare von Emerald... die Erinnerung an<br />

ihren toten Gefährten wühlte sich wie eine priskanische Hand durch ihren Brustkasten. Die Zeit hatte<br />

die Liebe vertrieben, aber ein süßer Nachgeschmack war immer noch da. Kilians Bild tauchte vor<br />

ihrem geistigen Auge auf und sie schluckte hart. Ach Kilian. Brianne wußte nicht was sie über ihn<br />

denken sollte. Auf einmal schwanden ihre Sinne... Kilians Falke merkte augenblicklich, daß Brianne<br />

sich nicht mehr festhielt und zur Seite rutschte. Er schrie erneut und flog tiefer, doch seine Federn<br />

entglitten den Händen der Frau. Sie rutschte... und fiel...<br />

Fünf Sprung tief fiel ihr Körper und traf schließlich auf den Boden auf. Ein dumpfer Schlag, Blut<br />

spritzte aus Nase und Mund.<br />

Wikos fragiler Körper lag neben ihr, seine Knochen waren gesplittert und ragten an vereinzelten<br />

Stellen aus dem Körper heraus.<br />

���<br />

Es war ein wunderschöner Tag in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Torador Broschakal hielt sich vor den Westtoren der<br />

Oberstadt auf und sah in den Himmel. Seine grünen Augen blitzten aber nicht so vergnügt an diesem<br />

herrlichen Tag. Torador hatte Sorgen! Er kickte ein paar Steine weg und blickte zum Horizont. Vor<br />

seinem geistigen Auge tauchte das Bild von Melirae Todesstreich auf.<br />

Melirae... die hallakinische Söldnerin, die von seiner Mutter dafür bezahlt wurde, auf ihn<br />

achtzugeben. Der braunhaarige Mann seufzte. Da war aber mehr, als nur die geschäftliche Beziehung<br />

zwischen ihnen...<br />

„Sie hat gesagt, ich wäre keusch... pah!“ Aber es stimmt ja auch, dachte er traurig. Wie sollte er sich<br />

ihr gegenüber nur verhalten? Die wenigen scheuen Küsse, sie die geteilt hatten, waren...bezaubernd<br />

gewesen. Torador wurde sich bewußt, daß er wirklich viel für Melirae empfand, mehr als-


Diener des Lichtmeß I: Brianne - Janina Enders<br />

„Was ist das?“<br />

In der Ferne sah Torador ein helles Licht, das unregelmäßig aufleuchtete und wieder erlosch.<br />

Neugierig, aber auch etwas ängstlich, machte er sich auf den Weg zu der Quelle des Lichtes. Der<br />

Ursprung war eine junge, schwarzgekleidete Frau, die von dem Licht umgeben wurde.<br />

Torador sah, wie die Wunden, welche an ihrem Körper klafften, sich schlossen.<br />

„Eine Heilerin!“, flüsterte Torador. Er betrachtete die rothaarige Frau genauer. Noch nie zuvor hatte<br />

er sie in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> gesehen. „Seltsam.“ Er konnte sie in keines der ihm bekannten Völker<br />

einordnen. Der mageren Gestalt nach, könnte sie eine Multor sein, aber ihre blasse Haut... für eine<br />

Kasralitin wiederum war sie zu klein! Torador besah sich das Schwert... aber für eine Hallakine war<br />

sie nicht muskulös genug. Nachdenklich trat er einen Schritt zurück und trat dabei auf etwas weiches.<br />

Verdutzt drehte Torador sich um und erblickte einen langen, pelzigen Schwanz. Darunter vergraben<br />

lag ein... Tier. Allem Anschein nach war es tot. „Oh... wie niedlich.“<br />

Torador kniete sich hin und berührte sanft den weichen Pelz. „Was ist hier nur passiert?“ Er entschloß<br />

sich bei der Frau zu bleiben bis diese ihre Heilung beendet hatte. Mitleidig wollte der junge <strong>Mantow</strong>in<br />

das Tierchen aufheben, da spürte er plötzlich eine Klinge an seiner Kehle.<br />

���<br />

„Bevor du mein Tier aufhebst, wirst du deine Gurgel auffangen müssen!“, keuchte Brianne. Die<br />

Heilung, derer ihr Körper fähig war, war gerade abgeschlossen, als sie sah wie der dunkelhaarige<br />

Mann sich über Wiko beugte.<br />

Er starrte mit großen Augen abwechselnd auf die Klinge und auf Brianne. In einer fremden Sprache<br />

redete er hastig auf die entschlossene Frau ein, lief aber schließlich davon. Und als sie in seine grünen<br />

Augen blickte, als er hastig über seine Schulter schaute, tat es ihr leid. Lange schon hatte sie nicht<br />

mehr in so gütige fremde Augen gesehen!<br />

Bedrückt legte sie ihre Hände auf den schwach atmenden Wiko und heilte ihn.<br />

Wenig später saß er munter auf ihrer Schulter und putzte sich ausführlich. „Ich habe Angst, Wiko...<br />

und ich war so gemein zu dem Mann...“<br />

Wiko schleckte Briannes Ohr und schnurrte laut.<br />

„Na... laß uns sehen, was uns hier erwartet. Ich hoffe das ist die Stadt, die Kilian meinte!“<br />

Zögerlich schritt sie auf die Stadt zu, die sich am Horizont abzeichnete.<br />

���<br />

Kilian wischte sich Blut aus den Augen. Eine heftige Vision hatte ihn gepackt. Wachsame hellgraue<br />

Augen die leicht spöttisch in die Welt blicken, aber auch ernst. Lange schwarze Haare, schwarzes<br />

Leder, das den männlichen Körper umgibt. In seinen Armen hält er eine Frau...<br />

„Brianne...“<br />

Ende des ersten Teils


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

Verkettungen<br />

Oliver Nothers<br />

Aua! Zrrlan war nicht darauf vorbereitet gewesen, daß er so plötzlich aus dem Fenster bugsiert wurde,<br />

oder vielmehr das, worin er steckte. Nun ja, die Sache hatte auch ihr Gutes... So würde er vielleicht an<br />

ein sterbliches Wesen gelangen, was einfacher zu kontrollieren wäre... mit diesem hier hätte er<br />

sicherlich seine Schwierigkeiten gehabt. Nun lag er also irgendwo auf der Straße... Geduld hatte zwar<br />

nie gerade zu seinen Tugenden gehört, aber die schien er diesmal auch gar nicht zu brauchen. Ein<br />

Sterblicher näherte sich ihm... einer von der einfachen Sorte, das merkte er sofort... und zudem<br />

vermutlich unter Alkoholeinfluß, wunderbar! Nicht einmal richtig Herr seiner Sinne würde sein<br />

Gastgeber also sein... so einfach hatte er es noch nie gehabt!<br />

���<br />

Was war denn das? Wer wirft denn so etwas hübsches einfach weg? Der Anhänger, den Hieramar<br />

gefunden hatte, hatte die Form eines Tigerkopfes. Am entsprechenden Band sollte er eigentlich gut<br />

aussehen... Moment mal... Band? Er nahm ein Lederband aus der Tasche und befestigte den Anhänger<br />

daran. Sah doch ganz passabel aus... ohne allzu viel darüber nachzudenken, legte Hieramar den<br />

Anhänger um. Himmel, das Zeug, daß er die Nacht getrunken hatte, mußte irgendwie schlecht<br />

gewesen sein... Solche Kopfschmerzen hatte er noch nie aus dem Schwarzen Bären mitgebracht...<br />

Kurz bevor er meinte, sich übergeben zu müssen, verlor er die Besinnung.<br />

���<br />

Ein wenig unheimlich war Brianne schon zumute. Nun konnte sie sich zwar wieder ohne größere<br />

Schmerzen fortbewegen, aber was lag da nun vor ihr? Eine unbekannte Stadt ließ ihre nicht allzu<br />

einladenden Umrisse am Horizont erkennen... hoffentlich würde sie dort eine Zuflucht finden. Zu sehr<br />

hatte sich noch die schmerzvolle Erinnerung an ihre Gefangenschaft und Agathon in ihrem Kopf<br />

breitgemacht... Sie wollte es vergessen, aber es ging einfach nicht. In diesen Gedanken bewegte sie<br />

sich langsam auf die Stadt zu, deren Silhouette vor dem sich langsam verdunkelnden Himmel schon<br />

fast bedrohlich vor ihr aufragte. Schon bald konnte sie die ersten Häuser erkennen... schäbige,<br />

dreckige Bauten, und die wenigen Gestalten, die sie dort ausmachen konnte, schienen auch nicht<br />

weniger abgerissen zu sein. Sie holte tief Luft - und hätte beinahe niesen müssen. Wiko hatte die<br />

Schulter gewechselt und sie dabei mit seinem Schwanz an der Nase gekitzelt. Sie lächelte, wurde<br />

dann aber wieder ernst: Wie sich das kleine Kuschelwesen wohl in dieser häßlichen Umgebung fühlen<br />

mußte? Mit diesem Gedanken im Kopf und Wiko auf der Schulter überschritt Brianne die<br />

Stadtgrenze.<br />

���<br />

Shamino war zwar schon ein wenig länger wach, aber nun, da es dunkel wurde, beschloß er, wieder<br />

eine seiner „Runden“ zu drehen. Die Unterstadt war eben voller Schurken, die jede Gelegenheit<br />

nutzten, die ihnen irgend etwas, sei es nun Geld, Essen oder weiß der Henker was brachte. Diese<br />

Leute bedurften eben sporadisch einmal eines Trittes an gewisse Stellen, am besten da, wo es so weh<br />

tat, daß es ihnen lange in Erinnerung bleiben würde. Eines Tages würde die Unterstadt wieder sicher<br />

sein, dafür würde er, Shamino, schon sorgen. Wenn er an die Zeit zurückdachte, als er noch in dem<br />

Alter war, wo er mit einigen anderen bei Oma Jakla... irgendwann sollten es die Kinder einmal besser<br />

haben als er! Allein deshalb mußte er das tun, was er tat. Irgendwo im Rattenloch würde es bestimmt<br />

wieder ein Verbrechen zu verhindern geben. Die Nacht war seine Freundin, was Unauffälligkeit<br />

anging, und genau das war es, was er brauchte, um jemanden auf frischer Tat zu ertappen. Schnell<br />

reagieren mußte man hier in der Unterstadt, sonst gingen einem die Übeltäter durch die Lappen...<br />

���<br />

Hieramar erwachte. Selten hatte er sich so gut gefühlt... Wieso lag er eigentlich hier auf der Straße<br />

herum? Na warte, wer immer dafür verantwortlich wäre, dem würde er... Bestimmt einer der


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

Stadtwächter! Na wartet, Euch werde ich es zeigen! Mit diesen Gedanken machte sich Hieramar in<br />

Richtung Garnison auf, ohne auch nur darüber nachzudenken, wo derart militante Gedanken plötzlich<br />

herkamen.<br />

���<br />

Das klappte ja wie am Schnürchen! Zrrlan brauchte sich nicht einmal sonderlich anzustrengen, um<br />

diese sterbliche Hülle dahin zu lenken, wo er hinwollte. Wo genau, das war ihm auch eigentlich egal...<br />

wichtig war nur, daß sich dieses Wesen, daß er übernommen hatte, mit anderen seiner Art<br />

auseinandersetzte - je gewalttätiger, desto besser, und Hauptsache, die Konfliktgegner bekamen<br />

Angst... aber dafür würde er schon zu sorgen wissen.<br />

���<br />

Hamaliel wollte seinen Augen nicht trauen. Die Zeichnung in diesem alten Wälzer zeigte genau so<br />

einen Anhänger, wie er ihn erst heute morgen - verdammt! So schnell er konnte rannte Hamaliel aus<br />

dem Haus und inspizierte den Boden. Das verfluchte Ding müßte doch hier irgendwo... Ah! Da... nein,<br />

er hatte sich getäuscht. Hilfe, was für ein Gestank das hier war... Hoffentlich hatte niemand dieses<br />

unglückliche Ding gefunden und wohlmöglich auch noch eingesteckt, geschweige denn angelegt! Was<br />

für ein Durcheinander ein Ch´orr´ll´lank in einer Stadt wie <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> anrichten könnte... Und er<br />

war sich sicher, daß einer in diesem Anhänger gesteckt hatte, verflucht, warum war er nur so<br />

unbeherrscht gewesen?<br />

���<br />

„Brauchst du Hilfe?“ Hamaliel sah auf, und erblickte Shamino, der an der Hauswand lehnte. „So<br />

könnte man es auch nennen“ entgegnete Hamaliel. „Ich habe etwas... verloren.“ Shamino schlug sich<br />

mit der Hand vor die Stirn. „Wirklich, du solltest etwas besser auf deine Sachen achtgeben. Ich habe<br />

dir doch erst kürzlich...“ „Ich weiß“ unterbrach ihn Hamaliel. „aber diesmal ist es gefährlich...“ „War<br />

es das nicht schon letztes Mal?“ erkundigte sich Shamino. „Sicher, sicher, aber diesmal...“ „Wie hast<br />

du es denn verloren?“ fragte Shamino ungeduldig. „Nun, äh... ich habe es... aus dem Fenster<br />

geworfen.“ „Aus dem Fenster. Und du meinst allen Ernstes, daß du das jemals wiedersehen wirst? Du<br />

weißt doch, was in der Unterstadt auf der Straße liegt, gehört dem, der´s findet.“ „Natürlich, aber... du<br />

kennst doch die richtigen Leute...“ „Na und? Glaubst du, die geben mir ihre Informationen immer<br />

umsonst? Außerdem habe ich bestimmt noch andere Dinge zu tun, als dein Fundbüro zu spielen.“<br />

Hamaliel schluckte. Natürlich hatte Shamino recht, aber er konnte ihm doch jetzt nicht alle<br />

Zusammenhänge... ach warum eigentlich nicht. „Komm erst mal mit rein, dann kann ich dir genauer<br />

erklären, worum es hier geht.“ Shamino zuckte mit den Achseln und folgte dem mysteriösen<br />

Regthiler.<br />

���<br />

Kimber Loor konnte sich eines Grinsens nicht erwehren. Es schien ja fast so zu sein, daß die Gerüchte<br />

über so einige Stadtwachen wahr waren! Da kam dieser Trunkenbold auf die Brücke zugestolpert -<br />

irgendwie schien er Streit zu suchen. Eigentlich hatte Kimber damit gerechnet, daß die Wache ihm<br />

eine ordentliche Tracht Prügel verpassen würde, aber das Gegenteil war der Fall: Der Wächter wich<br />

vor dem Betrunkenen zurück und versuchte sogar, sich zu verstecken! Ein wenig neugierig war sie<br />

schon geworden - dieses Schauspiel wollte sie etwas genauer beobachten.<br />

���<br />

Sirilar hatte Angst. Warum mußte er auch ausgerechnet jetzt Wache schieben? Urplötzlich war dieses<br />

Vieh aufgetaucht, und irgendwie schien niemand außer ihm es zu bemerken! Das mußte doch ein<br />

Alptraum sein! Allerdings hatte ihm der Kniff in den Arm außer einem blauen Fleck nichts weiter<br />

eingebracht. Warum tat denn keiner was? Die Leute gingen einfach weiter, als wenn das sechsarmige,<br />

schlangenleibige Ungetüm ihm gegenüber gar nicht existieren würde!!! Zwischen den Fangzähnen der<br />

Bestie, die bestimmt über einen Daumen lang waren, schoß nun auch noch eine gespaltene Zunge


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

hervor und auf sein Gesicht zu. Sirilar machte ein paar hastige Schritte rückwärts und setzte sich<br />

dabei beinahe unfreiwillig auf den Hosenboden. Schließlich kauerte er sich hinter einen Torpfosten.<br />

Oh, hoffentlich ist das nur bald vorbei... wenn doch nur Hauptmann Larkur hier wäre... er lugte<br />

vorsichtig um die Ecke... das konnte doch nicht wahr sein! Dieses Monster war einfach...<br />

...verschwunden. Sirilar kniff sich noch einmal, stellte schmerzhaft fest, daß er wach war, und wischte<br />

sich dann den Angstschweiß von der Stirn. Nun war er wiederum froh, daß Larkur NICHT dagewesen<br />

war... das mußte ja albern ausgesehen haben...<br />

���<br />

Na also! Diesem feigen Hund von Wächter hatte er einmal so richtig die Meinung gesagt! Irgendwie<br />

mußte er wohl eindrucksvoll gewirkt haben - der Angsthase hatte sich sogar in eine Ecke verkrochen!<br />

Hieramar konnte sich ein lautes Lachen nicht ersparen. Darauf würde er einen trinken gehen, oder,<br />

noch besser, er würde sich ein nettes Mädchen... na, das sollte sich ja finden.<br />

���<br />

Zrrlan war zufrieden - fürs erste zumindest. Die Angst dieses Wesens hatte köstlich geschmeckt. Und<br />

die Gedanken seines „Gastgebers“ ließen darauf schließen, daß er bald ausreichenden Nachschub<br />

bekommen würde... oh ja, sein Aufenthalt in dieser Welt würde ein sehr profitabler welcher werden,<br />

da war er sich ganz sicher...<br />

���<br />

Irgendwie konnte sich Kimber zwar nicht erklären, wieso die Wache dermaßen seltsam reagiert hatte,<br />

aber es war ihr auch egal. Wenn sich die Information, daß ein feiger Wächter sich vor einem<br />

Besoffenen mit einem zugegebenermaßen seltsam anmutenden Schmuckstück um den Hals versteckt<br />

hat, zu Geld machen ließe - umso besser.<br />

���<br />

Shamino hatte die Informationen bekommen, die er brauchte. Außerdem hatte ihm Hamaliel diesmal<br />

auch einen kleinen Beutel mit Geld überreicht - für Informationen, den Rest dürfe er behalten. Noch<br />

dazu hatte er nun einen Begleiter - das hatte zumindestens Hamaliel behauptet. Einen kleinen,<br />

orangeroten Kristall hatte er ihm übergeben, mit dem Kommentar, daß er ihn dann benutzen sollte,<br />

wenn er seinen Augen nicht mehr trauen könne. Irgendwie war Hamaliel schon ein sonderbarer<br />

Mensch, aber wenigstens hob er sich durch seine an und für sich recht freundliche Art angenehm von<br />

den übrigen Bewohnern des Rattenlochs ab. Shamino machte sich auf den Weg, Informationen<br />

aufzutreiben.<br />

���<br />

Unangenehm und fremd fühlte sich Brianne hier in dieser Stadt, aber immerhin schien ihr niemand<br />

ans Leder zu wollen. Plötzlich flog links vor ihr eine Tür auf, und ein Mann kam - nein, flog - heraus.<br />

Dieser offensichtlich unfreiwillige Flug endete allerdings ziemlich abrupt auf der anderen<br />

Straßenseite, als sich seine maroden Knochen mit einem widerlichen Knacken dazu entschlossen,<br />

unter dem Aufprall an der Hauswand zu zerbrechen. Von links hörte sie eine laute, kräftige<br />

Frauenstimme irgend etwas in einer ihr fremden Sprache brüllen - offensichtlich fluchte die Person,<br />

aber ehe sie sie erkennen konnte, war die Tür, durch die der Mann eben geflogen war, schon wieder<br />

geschlossen und lautstark verriegelt worden. Mit einem unverständigen Achselzucken setzte Brianne<br />

ihren Weg langsam fort.<br />

���<br />

Hektisch wie immer durchstreifte Corwin Dery die Straßen des Rattenlochs. Da war doch eine<br />

Bewegung - Verdammt! Shamino! Und nach dem Tempo zu urteilen, in dem er auf ihn zukam, wollte<br />

er bestimmt etwas von ihm! Und erst letzten Monat hatte sich ein Geschäft mit Shamino als nicht<br />

allzu gewinnbringend herausgestellt. Nun gut, er war dank ihm seinen Verfolgern entronnen, aber


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

dafür hatte er einige Informationen preisgeben müssen, die sonst bestimmt einträglich gewesen wären.<br />

Behende versuchte er, in eine Seitengasse zu gelangen, aber Shamino schien das bemerkt zu haben<br />

und schnitt ihm den Weg ab. Verflixt und... Moment! Diese Regentonne dort sah vielversprechend<br />

aus. Wenn er sie als Trittstufe benutzen könnte, dann könnte er vielleicht auf das Dach... Ach was,<br />

einfach ausprobieren! Corwin sah zu, daß er sich beeilte. Wenn Shamino einmal bei ihm angelangt<br />

wäre, gäbe es bestimmt keine einfache Möglichkeit mehr, sich zu verdünnisieren.<br />

���<br />

Gerade eben hatte Shamino noch einen Fuß über die Dachkante verschwinden sehen. Soso. Der<br />

Schlauberger meinte also, sich verstecken zu können. „Sell!“ Shamino stand mit dem Rücken an der<br />

Wand des Hauses gelehnt, auf dessen Dach sich Corwin gerade befand. „Sell!“ Corwin steckte seinen<br />

Kopf über den Dachrand. „Laß mich doch in Ruhe! An dir ist doch sowieso kein Geld zu verdienen!<br />

Wenn du irgendwas wissen willst, warum fragst du nicht Kimber?“ „Tz, Tz, naja, wenn du nicht<br />

willst...“ Shamino ging ein paar Schritte, drehte sich dann aber noch einmal um. „Du weißt nicht<br />

zufällig, wo sie gerade steckt?“ „Versuch´s mal im Totenkopf, aber laß mich endlich zufrieden! Was<br />

habe ich dir eigentlich getan?“ „Nichts, nichts. Hier, das ist für dich. Shamino schnickte Corwin eine<br />

Münze zu und machte sich auf den Weg.<br />

���<br />

Eine Bronzesonne. Hmpf. Das war zwar nicht viel, aber immerhin war es Geld. Seltsam.<br />

Normalerweise suchte Shamino immer nach Möglichkeiten, Informationen umsonst zu bekommen.<br />

Wieso gab er ihm also jetzt für eine derart simple Auskunft eine Bronzesonne? Entweder war<br />

Shamino heute sehr spendabel, oder unverhofft zu Geld gekommen, oder beides, oder... Egal,<br />

jedenfalls sah es so aus, als habe sich Corwin da gerade etwas durch die Lappen gehen lassen, was<br />

irgendwie nach Geschäft roch. Bockmist! Demnächst, so nahm er sich vor, würde er Shamino<br />

gegenüber wieder ein wenig freundlicher sein.<br />

���<br />

Shamino machte sich auf den Weg in Richtung Totenkopf. Allerdings wurde die Suche nach Kimber<br />

eine kurze - schon zwei Ecken weiter entdeckte er eine mittelgroße, schlanke Gestalt mit einem<br />

vielfach geflickten Umhang und einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Shamino bog schnell in<br />

eine Seitengasse ein und umrundete einmal den Block, nur um einige Sprung vor der Gestalt wieder in<br />

einer Seitengasse aufzutauchen.<br />

���<br />

„Guten Abend, Kim.“ Die Stimme kam ihr irgendwie bekannt vor. Natürlich! Shamino! Der Vigilant<br />

der Südstadt war ihr schon einige Male über den Weg gelaufen. Eigentlich nicht unsympathisch, aber<br />

jemand, mit dem man sich besser nicht anlegen sollte. Nur woher hatte sie seine Stimme jetzt gehört?<br />

Und was könnte er von ihr wollen? Aha, da drüben in der Seitengasse. Das war ja mal wieder typisch.<br />

„Was willst du?“ „He, was bist du denn heute so kurz angebunden? Ich suche doch nur nach<br />

jemandem.“ „Weswegen solltest du dich auch sonst bei mir melden. Und? Wen suchst du?“ „So<br />

genau weiß ich das auch nicht - den, der sich das hier unter den Nagel gerissen hat.“ Shamino reichte<br />

ihr eine Skizze des Tigeranhängers. Kimber hätte beinahe laut losgelacht. Eben hatte sie sich noch<br />

überlegt, ob das Verbleiben dieses Saufbolds irgendjemanden interessieren könnte, und nun fragte sie<br />

ausgerechnet Shamino danach... „Sicher. Was ist dir das denn wert?“ Kimber grinste Shamino an.<br />

„Wie bitte? Soll das heißen, du weißt tatsächlich wo das Teil abgeblieben ist?“ Ein kurzes<br />

Kopfnicken von Kimber bestätigte Shaminos Verdacht, worauf er hastig in seinen Taschen<br />

herumkramte. „Du weißt ja, daß ich auch nicht immer gerade gut bei Kasse bin...“ „Ach, hör schon<br />

auf. Gib mir das, was du entbehren kannst, der, den du suchst, ist jedenfalls vorhin von der Garnison<br />

aus nach Westen verschwunden.“ Das reichte Shamino. Ehe sich Kimber so recht versah, hatte sie<br />

zwei Silbersonnen in der Hand, und Shamino war auch schon in den Straßen der Unterstadt<br />

verschwunden.


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

���<br />

Hübsch sah die Auslage des kleinen Ladens aus, vor dem sich Brianne jetzt befand. Vollgestopft mit<br />

allem möglichen Krempel, aber schön, und - da war doch etwas interessantes inmitten all dieses<br />

Plunders. Ein Stein, der sachte vor sich hinleuchtete. Irgendwie erinnerte sie dieser kleine Stein an<br />

Lichtmeß... Ach, Lichtmeß... wenn sie ein unangenehmes Gefühl besonders gut kannte, dann war das<br />

wohl Heimweh. Brianne geriet ein wenig ins Träumen...<br />

���<br />

Hieramar glaubte das, was er suchte, gefunden zu haben. Eine hübsche, junge Frau stand dort vor<br />

Rominas Ramschladen. Sie hatte rote Haare, und in ihrer größtenteils schwarzen Lederkluft wirkte sie<br />

irgendwie... ...zum Anbeißen. Hieramar schlenderte zu ihr herüber und sprach sie erst einmal an: „Du<br />

hast doch heute abend nicht schon etwas vor, oder, Kleine?“<br />

���<br />

Zrrlan war begeistert. Was er bei diesem Wesen an Furchtpotential entdeckte sollte reichen, ihn für<br />

die nächsten Äonen zu ernähren. Derart konkrete Bilder von „furchterregenden“ Dingen waren ihm<br />

bisher noch nicht untergekommen. Nach so genauen Vorlagen ließ sich natürlich hervorragend<br />

arbeiten.<br />

���<br />

Brianne hatte einen Laut von der Seite vernommen. Genau hatte sie zwar nicht verstanden, was da<br />

jemand zu ihr sagte, aber der Klang der Stimme war ihr bekannt vorgekommen, und der Tonfall war<br />

ziemlich unsympathisch. Schon instinktiv wanderte ihre Hand zum Schwertknauf, aber als sie sich<br />

umdrehte gefror sie mitten in der Bewegung. Vor ihr stand kein geringerer als Agathon in voller<br />

Lebensgröße von einem Sprung und einer Pfeillänge. Das goldene Funkeln in seinen stechend grauen<br />

Augen ließ Brianne tausend Tode sterben. Nie hätte sie gedacht, ihn überhaupt jemals wiederzusehen,<br />

geschweige denn hier - Moment - Agathon - HIER?!? Das konnte doch nicht mit rechten Dingen<br />

zugehen... Aus diesen Mutmaßungen wurde sie jäh von Agathons dröhnender Stimme herausgebracht:<br />

„Ich hatte es dir gesagt... Du entkommst mir nicht! Wenn ich etwas haben will, dann werde ich es mir<br />

eben nehmen, verstehst du?“ Brianne machte instinktiv einen Schritt rückwärts und erschrak, als sie<br />

plötzlich einen Widerstand spürte. Halbwegs erleichtert stellte sie fest, daß es sich nur um eine Mauer<br />

handelte. Allerdings wich diese Erleichterung direkt wieder noch größerem Schrecken: Als sie wieder<br />

nach vorn blickte, sah sie neben Agathon etwas, was sie nie wieder zu sehen erhofft hatte: Einen<br />

goldenen Käfig, den sie nur zu gut kannte. Da wollte sie definitiv nicht wieder hinein. Panisch<br />

versuchte sie, ihr Schwert zu ziehen, aber so nah wie sie an der Wand stand, hatte sich das gute Stück<br />

mitsamt Schwertscheide verkantet. Sie blickte hoch zu Agathon, der eine auf den Käfig deutende<br />

Geste machte, und ihre Knie versagten ihr den Dienst. Noch während sie an der Wand herunterglitt,<br />

begann sie, hysterisch zu schreien.<br />

���<br />

Hieramar verstand die Welt nicht mehr. Waren jetzt alle verrückt geworden? Er hatte sie doch<br />

lediglich angesprochen, und, als sie nach ihrem Schwert griff, sie zu beschwichtigen versucht. Warum<br />

also schrie sie jetzt wie eine Wahnsinnige? Dieser Gedankengang wurde allerdings jäh unterbrochen.<br />

Irgendeine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, daß ihm das doch völlig egal sein könne, und so war es<br />

ja auch. Was interessierte ihn gerade jetzt ihr Geisteszustand?<br />

���<br />

Der Schrei kam nicht von weit her! Nur eine Ecke weiter passierte irgend etwas, und zwar vermutlich<br />

etwas, dessen er sich annehmen sollte. Dann mußte Hamaliels „Auftrag“ eben noch ein wenig warten.<br />

Entschlossen und mit gezogenen Klingen rannte Shamino um die Ecke - und war ziemlich überrascht<br />

von dem, was er sah...


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

���<br />

Brianne blickte noch einmal auf, und da war wahrhaftig noch immer Agathon - aber plötzlich huschte<br />

ein schwarzer Schatten in ihr Blickfeld, und es sah so aus - als wolle er Agathon in einen Kampf<br />

verwickeln? Wer war das? Und warum... vor Angst war sie wie gelähmt, und konnte nur das grausame<br />

Schauspiel beobachten.<br />

���<br />

Shamino verstand zwar nicht, was genau vorgefallen war, aber offensichtlich schien die Frau Angst zu<br />

haben, und außerdem trug der Mann, der dafür verantwortlich zu sein schien, einen Anhänger um den<br />

Hals, bei dem es sich eigentlich nur um das fragwürdige „Schmuckstück“ handeln konnte, nach dem<br />

er suchte. Shamino war kein Mann, der viele Fragen stellte. Außerdem hatte Hamaliel gesagt, daß,<br />

wer immer dieses Ding einmal angelegt hätte, sowieso nicht mehr zu retten sei. Ohne lange darüber<br />

nachzudenken sprang er zwischen den Unbekannten und die Frau.<br />

���<br />

Verdammt! Wo kam dieser Sterbliche jetzt her, und warum mußte er sich gerade jetzt einmischen?<br />

Gerade schmeckte es ihm doch so gut... Die Angst dieser Frau... unvergleichlich. Aber dieses<br />

Festmahl würde er sich nicht verderben lassen, nein, er nicht, und auch dieser Mann mußte vor etwas<br />

Angst haben! Jeder Sterbliche hatte vor irgend etwas Angst... man mußte nur herausfinden, wovor...<br />

���<br />

Irgend etwas in seinem Kopf befahl Hieramar, den Störenfried so gut es ging zu ignorieren.<br />

Davonlaufen würde er nicht müssen, nein, nicht vor so einem Schwächling. Und wenn der<br />

Unbekannte sich unbedingt einmischen mußte, dann hatte er eben Pech gehabt...<br />

���<br />

Ein so dreistes Auftreten hatte Shamino selten von einem Unterstädter erlebt. Entweder war dieser<br />

Mann stockbesoffen, oder einfach nur wahnsinnig. Jeder andere Saufbold war sonst bei seinem<br />

bloßen Erscheinen von der Bildfläche verschwunden... Große Sprüche klopfen, das taten diese Säufer<br />

gerne, aber wenn es dann ans Eingemachte ging, dann zeigten sie meistens ihr wahres Ge... was zum...<br />

Shamino blinzelte. Das konnte doch... Verdammt! Wie konnte... solche Wesen waren doch nur<br />

Märchen... hatte er zumindest bis jetzt geglaubt. Sicher, er hatte von so einem... einem... geträumt,<br />

aber... das konnte doch nicht real sein! Vor seinen Augen hatte sich dieser Säufer in... Nein! Er mußte<br />

einfach träumen! So plötzlich... Moment... Normalerweise war es doch von alleine aufgetaucht...<br />

Noch nie hatte es sich einfach ver... - Halt! Was hatte Hamaliel gesagt? Wenn er seinen Augen nicht<br />

mehr trauen könnte...? Vielleicht hatte er ja das gemeint, und - ach, was hatte er schon zu verlieren?<br />

Anstatt sich seiner Waffen zu bedienen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, griff er nach dem kleinen<br />

Kristall...<br />

���<br />

Was passierte denn da? Zrrlan spürte einen ungewohnt starken Energiefluß, und von der Art der<br />

Energie war ihm die Quelle schon einmal unsympathisch. Irgendwoher hatte sein neues Gegenüber<br />

unerwartete Hilfestellung erhalten... Das könnte problematisch werden... sehr problematisch...<br />

Hoffentlich würde sein Gastgeber das andere Wesen lange genug hinhalten können, damit er...<br />

verdammt! Die andere Präsenz störte seine Aura! Er mußte schleunigst wieder Herr der Lage werden!<br />

���<br />

Kaum hatte Shamino den Kristall berührt, wurde ihm ein wenig schwindelig, und er sah plötzlich nur<br />

noch ein Farbenmeer. Was hatte ihm Hamaliel da nur wieder... „Hallo Shamino!“ Wo kam bitteschön


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

jetzt diese Stimme in seinem Kopf her? Woher kannte sie seinen Namen? „Also, nun mal nicht alles<br />

auf einmal...“ Da war diese Stimme schon wieder! „...also, ich komme aus dem Kristall, mein Name<br />

ist Logrys, und deinen Namen kenne ich, weil ich deine Gedanken lesen kann. Und nun gedulde dich<br />

mal einen Augenblick, da will uns jemand ans Leder, und dem werde ich jetzt erst einmal die Tour<br />

vermasseln... bis gleich!“ Damit war die relativ helle Stimme erst einmal verschwunden, und auch das<br />

Bild, das Shamino vor Augen hatte, normalisierte sich wieder... hinter ihm kauerte die Frau, die<br />

vorhin geschrien hatte, hinter einer Mauerecke, und vor ihm... hatte er es doch gewußt! Da hatte ihn<br />

also irgend jemand zum Narren halten wollen! Der sollte jetzt die Quittung dafür bekommen!<br />

���<br />

Brianne zitterte noch am ganzen Körper, aber sie wagte es noch einmal, aufzuschauen. Dieser<br />

schwarze Schatten, der sich da zwischen sie und Agathon geworfen hatte... Was war das denn für ein<br />

Kristall? Ein Flimmern ging davon aus... Plötzlich glaubte sie eine Luftspiegelung oder so etwas<br />

wahrzunehmen... was war das für eine schimmernde Aura um den... nein, sie mußte sich getäuscht<br />

haben... der Schwarzgekleidete schritt auf Agathon zu, und griff ihn offensichtlich sogar an. Wie<br />

gebannt sah sie zu, wie er Agathon mit der Glocke seines Rapiers einen Schlag an die Schläfe<br />

versetzte... der ihr so verhaßte Tyrann ging zu Boden, und der Schwarzgekleidete beugte sich über<br />

ihn, als würde er etwas suchen...<br />

���<br />

Verdammt, warum ging dieser verfluchte Anhänger nicht ab? Selbst das Band, an dem er hing, ließ<br />

sich nicht durchschneiden, geschweige denn zerreißen. Nun gut, vielleicht mochte Hamaliel ja damit<br />

recht gehabt haben, daß er den armen Tropf jetzt töten mußte - er hatte es jedenfalls auf die sanfte<br />

Tour versucht. Er hob den Dolch in der linken Hand...<br />

���<br />

So, von diesem Quälgeist war er erst einmal weggekommen jetzt... OH NEIN!!! WACH AUF, DU<br />

SCHWACHKOPF! DER BRINGT DICH DOCH UM! SIEHST DU DEN DOLCH DENN NICHT<br />

KOMMEN???<br />

���<br />

Oh Mann, war das ein Hammer gewesen... Hieramar schlug die Augen auf - und sah einen Dolch auf<br />

seine Kehle zurasen! instinktiv rollte er sich zur Seite - was sich als Fehler herausstellen sollte. Zu<br />

nah war die Schlucht gewesen, viel zu nah... Vom Aufprall spürte er nichts mehr, schon vorher hatte<br />

sein Herz aufgehört zu schlagen.<br />

���<br />

Verd... Naja, daran konnte er jetzt auch nichts mehr ändern. Vielleicht gar keine schlechte Lösung,<br />

daß dieses verfluchte Ding jetzt auf dem Grund der Schlucht weilte... Hamaliel würde sich damit<br />

abfinden müssen, jedenfalls hatte er, Shamino, seine Arbeit so gut erledigt, wie er konnte... Wie zur<br />

Bestätigung hörte er wieder diese leise, helle Stimme von vorhin: „Gut gemacht! Wir haben ihn<br />

erwischt!“ „Moment mal - was heißt hier 'wir'?“ „Tu' doch nicht so, als ob das ganz allein dein<br />

Verdienst gewesen wäre! Ich habe schließlich das Ablenkungsmanöver für dieses Mistvieh geliefert!“<br />

„Ja, ja, meinetwegen.“ Shamino war mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders. Die junge<br />

Frau, die offensichtlich von diesem... Wesen angegriffen worden war, kauerte immer noch an der<br />

Mauer, und schien die Situation noch viel weniger zu verstehen, als er sie verstanden hatte.<br />

Verängstigt sah sie aus, und... hübsch. Vorsichtig näherte er sich der zitternden Gestalt...<br />

���<br />

Es war ein Gefühl, als wäre sie aus einer Trance erwacht. Brianne sah sich um - und sah den<br />

schwarzgekleideten Mann von vorher auf sich zukommen. Sie griff nach ihrem Schwert, aber ihr Griff<br />

festigte sich nicht. Der Mann schien ihr nichts tun zu wollen, und außerdem hatte er doch gerade


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

Agathon... Moment mal... Agathon? Sollte er ihn wirklich...? Irgend etwas bewegte sich unter ihrem<br />

Arm, und plötzlich schoß ein rotes Fellknäuel dahinter hervor, geradewegs auf den<br />

Schwarzgekleideten zu. Der Mann sagte irgend etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand, und<br />

dann sprang ihn Wiko auch schon an - ohne sonderliche Folgen, allerdings. Das kleine Tierchen<br />

schien sich an seiner Kleidung festkrallen zu wollen, was aber nicht so recht gelang. Umso mehr<br />

erschrak der Kleine, als ihm der Mann eine seiner behandschuhten Hände entgegenstreckte, wohl als<br />

Haltehilfe gedacht. Hätte Brianne nicht noch dermaßen der Schreck in den Gliedern gesessen - sie<br />

hätte ob der Tolpatschigkeit ihres kleinen Begleiters wohl laut losgelacht. So blieb sie erst einmal<br />

stumm sitzen, und betrachtete den Schwarzgekleideten aufmerksam.<br />

���<br />

Die Frau schien immer noch nicht zu verstehen - was man von ihrem kleinen Tierchen aber<br />

offensichtlich nicht behaupten konnte. Das kleine Etwas hatte sich zwar zunächst ein wenig<br />

erschrocken, als Shamino ihm seine Hand gereicht hatte, aber nun kletterte es auf seinem Arm herum.<br />

Rot war es, und - es hatte einen enorm langen Schwanz, den es übrigens gerade um Shaminos<br />

Handgelenk schlang. Und dann hoppelte es auch schon wieder auf seine Besitzerin zu, die sein<br />

Verhalten auch nicht so ganz zu begreifen schien. Es wuselte ebenfalls einmal um ihr Handgelenk,<br />

und hopste dann aufgeregt herum. „Dein kleiner Freund will uns wohl zusammenbringen.“ Shamino<br />

wartete auf eine Reaktion seitens der Frau, aber diese belief sich nur auf ein verhindertes<br />

Achselzucken. Verdammt, sie sprach also kein <strong>Mantow</strong>in. Das machte die Sache natürlich<br />

komplizierter. Aber Shamino wäre schließlich nicht Shamino, wenn er derartige Komplikationen nicht<br />

auch meistern könnte. Er versuchte es auf Rekischar, so gut er konnte, aber die Reaktion war dieselbe.<br />

Mist! Was denn nun noch? Wie eine Multorierin sah sie nicht aus, ebensowenig wie eine Nushq´qai<br />

oder eine Kasralitin. Und für eine Hallakine war sie zu schmächtig, mal ganz davon abgesehen, daß er<br />

sowieso kein Hallaksch sprach. Nun gut, bis ihm etwas anderes einfiele, mußte also die gute, alte<br />

Zeichensprache herhalten... vorsichtig machte er einen Schritt in Richtung der Frau und gab sich<br />

Mühe, möglichst freundlich auszusehen. Seine Waffen hatte er schon wieder verstaut; er hielt die<br />

Handflächen nach oben... Nun, sie wich erst einmal nicht weiter zurück, ein gutes Zeichen... An was<br />

war er da nur wieder geraten?<br />

���<br />

Was das Kauderwelsch des Unbekannten wohl zu bedeuten hatte? Sicher, er versuchte sich<br />

offensichtlich mit ihr zu verständigen, aber Brianne verstand seine Sprache nicht, wenn sie auch das<br />

Gefühl hatte, als habe er zwischendurch noch eine andere gesprochen... Verstanden hatte sie diese<br />

allerdings auch nicht besser. Sie konzentrierte sich auf seine Gesten. Irgendwie mußte sie ihn doch<br />

verstehen können - Nein, Wiko, nicht jetzt... Was hatte der Fremde da gerade gesagt? Er hatte auf sich<br />

gedeutet - sein Name - natürlich! Wie war das... Sha...mi...no... Aha. Dann war sie jetzt wohl an der<br />

Reihe...<br />

���<br />

So, also Brianne hieß sie... Shamino hoffte, es richtig ausgesprochen zu haben. Das könnte eine<br />

laaaaange Nacht werden...<br />

���<br />

Es wurde lang. Sehr lang. Aber wenigstens verstanden die beiden sich jetzt zumindest teilweise.<br />

Allerdings war es anstrengend gewesen - müde waren sie, und zwar beide. Shamino drängte sich der<br />

Gedanke auf, wo er Brianne wohl unterbringen könne... lange war sie wohl nicht mehr wach zu<br />

halten... In die Hängematte? Nein, zu gefährlich... und der Felsvorsprung war auch zu schmal...<br />

Verdammt! Jetzt wurde es schon hell... kein Wunder, daß er so müde war... Moment mal - OMA! So<br />

hatten sie sie zumindest früher gerufen, die schwarze Jakla, ja... wenige ahnten, was es so mit ihr auf<br />

sich hatte, und kaum einer außer natürlich den Schatten wußte, das man notfalls... Er war zwar schon<br />

lange bei den Schatten verschwunden, aber sie würde sich doch bestimmt an ihn erinnern... Ach was,


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

einen Versuch war´s wert, immerhin besser, als hier herumzusitzen, bis man dann doch einschlief...<br />

Brianne schien schon fast auf dem Weg in Hesvites Reich zu sein...<br />

���<br />

Hmmm? Was... ach so... also war er auch müde... ob er wohl... ah ja, er hatte offensichtlich eine<br />

Idee... mitkommen sollte sie erst einmal... Sicher... „Tapla?“ Brianne lächelte. „Tapla.“ die beiden<br />

machten sich auf den Weg nach Osten.<br />

���<br />

Was war das denn? Oder besser: Wer war das? Wer immer es war mußte schon ziemlich dreist sein,<br />

so früh hier aufzutauchen... Natürlich war sie schon wach, aber es war wirklich noch FRÜH...<br />

Wingart war gerade mal aus dem Haus... Jetzt klopfte es schon wieder... „Ja, ist gut, ich komme ja<br />

schon...“<br />

���<br />

„Was zum Brenner machst DU denn hier?“ Shamino wurde ein wenig rot. „Ääääh, weißt du, ich habe<br />

da ein Problem...“ „Ach nein. Sieh mal einer an. Und warum kommst du damit zu mir? Mensch<br />

Shamino, du bist doch wirklich alt genug, um selber mit Problemen klarzukommen, oder?“ Shamino<br />

blickte betreten nach unten. „Du, ich habe da ein Mädchen gefunden... die ist nicht von hier...<br />

außerdem versteht sie unsere Sprache kaum, und - ich weiß nicht, wo ich mit ihr hin soll!“ Jakla sah<br />

kurz an Shamino vorbei - naja, Geschmack hatte der Junge ja, aber wieso mischte er sich auch in so<br />

etwas ein? Er war doch wirklich alt genug, um zu wissen, daß man sich nur Suppen einbrockte, die<br />

man auch selber auslöffeln konnte. „Wo hast du sie denn überhaupt gefunden?“ „Weißt du, Hamaliel<br />

hatte mich gebeten...“ „Ach, Hamaliel hatte dich gebeten - dann frag´ den doch! Ich habe schließlich<br />

genug um die Ohren! Wäre ja noch schöner, wenn hier jeder ankommen würde - Jakla hier, Jakla da -<br />

nein, das fangen wir gar nicht an!“ Sprach´s, und knallte Shamino die Tür vor der Nase zu.<br />

���<br />

„ . . . „ Hesvite sei Dank, daß jetzt niemand sein Gesicht sehen konnte. Wenn er jetzt genauso blöd<br />

aussah, wie er sich fühlte, na dann... Er drehte sich erstmal wieder zu Brianne um, die oben am Rand<br />

der Schlucht auf ihn wartete, und beantwortete ihren fragenden Blick mit einem Achselzucken. Das<br />

war wohl nichts... und jetzt? Sell fragen? Der hätte bestimmt - Quatsch, viel zu gefährlich. Vielleicht<br />

doch Hamaliel... hinter ihm öffnete sich die Tür. „Hier, du hast was vergessen!“ Jakla drückte ihm<br />

einen Korb in die Hand. Und ehe er überhaupt verstand, was los war, war sie auch schon wieder im<br />

Haus verschwunden. Was war davon jetzt zu halten? Eine Decke lag oben auf dem Korb... und<br />

darunter - Fressalien. Das war ja mal wieder typisch Jakla. Erst so tun, als wäre ihr das alles furchtbar<br />

egal, und dann - naja, so hatten sie zumindestens erstmal weniger Probleme. Provisorisch setzte er<br />

sich erst einmal Richtung Osten in Bewegung, vielleicht würden sie ja doch bei Hamaliel<br />

unterkommen...<br />

���<br />

...daß ihm das jetzt erst eingefallen war! Ziemlich unverhofft bog Shamino nach Süden ab. Das Haus<br />

am Stadtrand hatte doch immer leer gestanden... Dort sollten sie eigentlich das Dach über dem Kopf<br />

finden, nach dem sie auf der Suche waren. Und so machte sich das seltsame Gespann auf zum<br />

Südrand der Stadt.<br />

���<br />

Shamino staunte nicht schlecht über das, was er im inneren des leer geglaubten Gebäudes erblickte:<br />

Bunte Tücher zierten die Wände, Kissen lagen auf dem Boden, und an der Wand gegenüber dem<br />

Eingang stand eine Statue - wo war er denn jetzt wieder hineingeraten? Irgend jemand mußte - was?<br />

Hilfe, mußte Brianne müde gewesen sein... Da lag sie doch tatsächlich quer über drei Kissen und


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

schlief... Na, hoffentlich würden sie hier nicht entdeckt werden... ganz geheuer war ihm nicht bei dem<br />

Gedanken, hier zu bleiben, aber er konnte unmöglich Brianne alleine lassen. Ohne noch allzu lange<br />

darüber nachzudenken, legte er ihr die Decke um und schlief dann neben ihr ebenfalls ein.<br />

���<br />

Hmm, das duftete gut... wie frisch gebacken... Shamino schlug die Augen auf - nanu? Wo war er denn<br />

jetzt schon wieder? Ach ja, gestern nacht... das Mädchen! Brianne! ...schlief immer noch, und<br />

offensichtlich ruhig und fest. Gut. Also erst mal - also DAS war es, was so gut duftete... seltsame<br />

Gebilde, erinnerten irgendwie an Brot, waren aber viel kleiner... wie kamen die überhaupt hier hin?<br />

Irgend jemand mußte hier gewesen sein und diese... Irgend jemand? Und er hatte das nicht bemerkt?!<br />

Er konnte das nicht verstehen - sie waren in ein fremdes Gebäude in der Unterstadt eingedrungen,<br />

jemand mußte sie bemerkt haben, womöglich sogar der Bewohner, und hatte sie schlafen lassen? Wer<br />

immer hier wohnte, er war jedenfalls ein sehr untypischer Bewohner des Rattenlochs. Stellte ihnen<br />

auch noch etwas zu Essen hin, wie es aussah - entweder waren Besucher hier wirklich willkommen,<br />

oder - nein, das konnte nicht sein. Sie hatten doch mitten im Raum gelegen, das war doch nicht zu<br />

übersehen gewesen. Nun ja, warum sollte er nicht das, was man ihnen offensichtlich hingestellt hatte,<br />

einfach mal probieren? Es sah zwar seltsam aus, aber es duftete wie frischgebackenes Brot - und es<br />

war noch warm. Shamino biß in eins der kleinen Objekte, und es schmeckte großartig. ähnlich wie ein<br />

sehr herzhaftes Brot, mit Kräuteraroma. Während er es verspeiste, merkte er gar nicht, daß noch<br />

jemand den Raum betreten hatte.<br />

���<br />

Judith war überrascht gewesen, als sie die beiden Schlafenden am Morgen im Schrein gefunden hatte<br />

- sonderlich gestört hatte sie sich allerdings nicht daran. Vielleicht würde es die Kontaktaufnahme<br />

bedeutend vereinfachen, wenn sie wirklich merkten, daß sie ihnen nichts tun wollte. Sie hatte einige<br />

Shekoasteren gebacken, denn sie war sicher, daß die beiden hungrig sein würden, wenn sie<br />

aufwachten. Und da sie immer noch schliefen, als sie damit fertig war, hatte sie sie einfach in den<br />

Schrein gestellt und war meditieren gegangen. Nun war einer der beiden Fremden wachgeworden -<br />

also war sie wieder in den Schrein gegangen, um sich mit ihren „Gästen“ zu unterhalten. Sie hoffte,<br />

die Menschen nicht allzusehr zu erschrecken - vermutlich hatten sie noch nie eine Panlîl gesehen, und<br />

schon oft hatten sich einige der Bewohner <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s erschreckt, wenn sie merkten, was Judith<br />

eigentlich war. In diesem Fall hier schien es aber geholfen zu haben, daß der Fremde gut geschlafen<br />

und zu mindestens eine halbe Shekoastere verzehrt hatte - er wirkte zwar sehr überrascht, allerdings<br />

weder feindselig noch ängstlich. Seine Begleiterin schien noch zu schlafen - wie auch immer, die<br />

Situation bot sich wirklich zu einer ernsthaften Kontaktaufnahme an.<br />

���<br />

„Schmecken die Shekoasteren?“ Shamino wirbelte herum. Die Stimme hatte zwar einen sehr<br />

angenehmen und freundlichen Klang, aber er hätte sich vor Schreck fast an diesem kleinen Stück<br />

Backwerk verschluckt. Als er dann aber sah, wer, oder vielmehr WAS ihn da angesprochen hatte,<br />

verschluckte er sich gleich nochmal. Ein solches Wesen hatte er noch nie gesehen! Nicht, das es<br />

häßlich oder abstoßend ausgesehen hätte, nein, aber eben ...fremdartig. Es war zwar humanoid, aber<br />

irgendwie erinnerte es an eine Katze. Es - oder vielmehr sie, wie die Proportionen vermuten ließen -<br />

war etwas, vielleicht eine Pfeillänge, kleiner als er, hatte ein braungestreiftes Fell und gelbgrüne<br />

Katzenaugen. Und offensichtlich sprach sie sogar <strong>Mantow</strong>in!<br />

���<br />

Shamino war viel zu verblüfft um überhaupt etwas zu sagen, also nickte er erst einmal, ohne allzuviel<br />

darüber nachzudenken. „Das freut mich“ antwortete das Katzenwesen. „Ich hoffe, daß ihr auch gut<br />

geschlafen habt. Auf jeden Fall möchte ich euch willkommenheißen im Schrein der Ashkenobistar.“<br />

Diesen Namen hatte Shamino noch nie zuvor gehört, aber aus dem Zusammenhang schloß er, daß<br />

wohl eine Gottheit gemeint war, die von der Statue im hinteren Teil des Raumes repräsentiert wurde.<br />

Vielleicht war die Katzenfrau ja eine Art Priesterin? Edel genug dafür wirkten ihre grünen und gelben


Verkettungen - Oliver Nothers<br />

Gewänder allemal. Da hatten sie ja mal wieder Glück gehabt - nicht jede Religion war Fremden, und<br />

insbesondere Eindringlingen, gegenüber so tolerant und gastfreundlich. „Ich bin Judith vom Volk der<br />

Panlîl, Priesterin der Ashkenobistar“ stellte sich die Katzenfrau vor, „und wer seid ihr?“<br />

���<br />

Shamino war erstaunt, daß Judith <strong>Mantow</strong>in relativ flüssig beherrschte, und es kam zu einer kleineren<br />

Unterhaltung, bei der sich einige Mysterien aufklärten. Plötzlich fühlte Shamino eine Bewegung an<br />

seiner Seite ...es war zum Glück nur Brianne, die sich im Schlaf ein wenig an ihn geschmiegt hatte. -<br />

wie sie so da lag, mit dem Zusammengerollten Wiko im Arm mußte er lächeln. Sie schien sich schon<br />

recht wohl zu fühlen in dieser für sie sicher noch sehr fremden Stadt. Als sich Shamino wieder zu<br />

Judith umdrehte, meinte er, auch in ihren katzenhaften Zügen ein wissendes Lächeln erkennen zu<br />

können. „Wenn ihr möchtet, könnt ihr ruhig noch etwas hierbleiben - und eßt soviel ihr wollt. Ich<br />

komme nachher noch einmal wieder.“ Mit diesen Worten verließ sie den Raum durch eine<br />

unauffällige Tür in der hinteren Wand. Shamino war wieder alleine mit Brianne.<br />

���<br />

Seine Geduld würde vermutlich auf eine schwere Probe gestellt werden - hier würde so bald kaum ein<br />

Sterblicher vorbeikommen. Er hing hier etwas hilflos irgendwo zwischen den Felsen. Der Körper<br />

seines letzten „Gastgebers“ hatte sich irgendwo weiter unten verteilt. Aber auch hier würde<br />

irgendwann jemand vorbeikommen, ganz sicher. Und jetzt hatte er erst einmal Zeit... er hatte sich<br />

einen satten Vorrat angefressen, der würde schon sehr lange genügen... Und er würde zurückkommen,<br />

und nächstes mal würde er genauer darauf achten was sich ihm entgegenstellte - er wäre nicht Zrrlan,<br />

wenn er jetzt so einfach aufgeben würde.


Brianne und Shamino - Jaina Enders<br />

Brianne und Shamino<br />

Janina Enders<br />

„Haha! Dumme kleine Kriegerin! Du kannst mir nicht entkommen! Bald sitzt du wieder dort, wo du<br />

hingehörst!“ schrie Agathon.<br />

„Bis dahin...“, der hünenhafte Fürst der Priskaner lachte kurz auf. Er hielt ein langes Messer in der<br />

Hand, mit dem er nun langsam über die Kehle des weißhaarigen Mannes fuhr, der vor ihm am Boden<br />

kniete.<br />

„Kilian!!!“ Briannes Schrei hallte laut in Judith Behausung wider.<br />

„Nein, nein, nein!“ Schweißgebadet setzte sie sich auf. Immer noch sah sie Kilian vor ihrem geistigen<br />

Auge, der mit durchschnittener Kehle zusammenbrach. Zitternd schnellte ihre Hand an ihren<br />

Schwertgriff, aber... es war nicht mehr da, wo es sein sollte! Verdutzt sah sie an sich runter und wurde<br />

sich der seidenen Laken bewußt, auf denen sie lag. Brianne runzelte die Stirn... da bemerkte sie eine<br />

Bewegung vor sich. Als sie verstört aufblickte, sah sie eine schwarz gekleidete Gestalt, die mit<br />

ausgestreckter Hand auf sie zukam. Wieder sprang sie schreiend auf und auch der Mann wich ein paar<br />

Schritte zurück.<br />

���<br />

„Du hast mich ganz schön erschrocken, Mädchen!“, schmunzelte Shamino. Brianne schien schlecht<br />

geträumt zu haben und nun war sie wohl etwas verwirrt. Sie preßte sich an die Wand und blickte sich<br />

mißtrauisch um. Doch da schien wieder die Erinnerung in sie einzuziehen, denn sie faßte sich mit der<br />

Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf.<br />

„Sha- Shamino?“, fragte sie unsicher.<br />

Shamino lächelte und nickte. Ihm gefiel die Art, wie sie seinen Namen aussprach... er senkte<br />

nachdenklich den Kopf.<br />

„Ähm... hast du Hunger? Hunger!“ Er deutete mit der Hand auf den Mund und rieb sich dann den<br />

Magen. Brianne grinste und erwiderte etwas in ihrer Sprache. Shamino ging zum Tisch und reichte ihr<br />

eine der Shekoasteren.<br />

Die beiden standen sich nun gegenüber. Shamino überragte die rothaarige Frau um einen Kopf. Er<br />

schob sich noch etwas näher an sie heran, was sie mit einem Heben ihrer Augenbraue zur Kenntnis<br />

nahm. Plötzlich sprang Wiko an Shaminos Arm hoch und knabberte an dem brotartigen Gebilde<br />

herum.<br />

„Du bist ganz schön frech, Kleiner. Eigentlich sollte deine Herrin etwas essen.“<br />

Der große Mann blickte entschuldigend auf Brianne, die leise lachte.<br />

„Wie schön du lachen kannst!“, flüsterte Shamino. „Ich weiß gar nicht, wieso ich dich mitgenommen<br />

habe, aber du...mmh...“ Shamino legte den Kopf schief und betrachtete Brianne dabei, wie sie gierig<br />

die übriggebliebenen Shekoasteren verputzte. Danach sah sie sich suchend um, erblickte ihr Schwert<br />

und band es wieder um ihre Taille.<br />

„Ich würde gerne wissen, ob du überhaupt mit dem Ding umgehen kannst, Kleine... Versteh´ mich<br />

nicht falsch... ach, du kannst mich ja gar nicht verstehen, aber du siehst ziemlich schwach aus.“<br />

Mitleidig musterte Shamino Briannes mageren Körper, wobei er eine bestimmte Stelle weniger<br />

mitleidig betrachtete.<br />

���<br />

Brianne wandte sich rasch ab, als sie den Blick des Mannes auf ihren Brüsten spürte. Wiko sprang auf<br />

ihren Kopf und wikelte seinen Schwanz um ihren rechten Arm.<br />

„Ich würde dir so gerne fragen stellen! Gestern, da... was ist da nur passiert? Wahrscheinlich werde<br />

ich langsam wahnsinnig und habe Halluzinationen.“<br />

���<br />

„Warum denn so ernst, Kleine?“ Shamino ging zu ihr und blickte in ihre schwarzblauen Augen.<br />

„Wenn ich nur wüßte, woher du kommst... wer du bist...“


Brianne und Shamino - Jaina Enders<br />

���<br />

Briannes Herz schlug schneller, als Shamino ihr so nahe kam. Sie hatte Angast vor ihm, andererseits...<br />

vertraute sie ihm... irgendwie. Wenn Kilian dich hier wäre! Plötzlich stiegen Tränen in Briannes<br />

Augen hoch.<br />

���<br />

Als Shamino die Tränen sah, welche in Briannes Augen glitzerten, wurde er unruhig: „Oh, bitte nicht<br />

weinen! Alles, aber nur nicht weinen Kleine, he... Brianne.“<br />

���<br />

Sie schluckte die Schmerzen herunter und lehnte sich leicht gegen Shaminos Brustkorb. Zitternd<br />

schüttelte sie den Kopf. „Was nutzt mit die Heilergabe, wenn ich die schlimmsten Qualen doch nicht<br />

heilen kann?“<br />

���<br />

Shamino spürte, wie Brianne schwer atmend die Tränen zurückdrängte. Vorsichtig und etwas<br />

unbeholfen legte er seine Arme um den Frauenkörper. „Wenn ich nur wüßte, wie ich dir helfen kann.“<br />

Die rothaarige Frau blickte zu ihm auf...<br />

���<br />

Agathon stand auf den Zinnen seiner Burg und blickte in die Ferne.<br />

„Eines Tages Brianne... eines Tages... du hast mich sehr verletzt! Aber... wir werden uns wiedersehen,<br />

sehr bald!“


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Wie der Hieb des multorischen Säbels<br />

<strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

„...Liqioooooooon“. Der schauerlich schiefe Gesang der beiden jungen Männern klang aus und<br />

lachend fielen sie sich in die Arme. Die übrigen Gäste der Taverne blickten sie teils amüsiert, teils<br />

pikiert an. Inigo strich sich die eigensinnige Locke zum hundertsten Mal an diesem Abend aus der<br />

Stirn und prostete seinem Freund erneut zu, setzte den irdenen Krug mit dem billigen Wein an und...<br />

mußte erschrocken feststellen, daß er leer war.<br />

„Wer, bei allen Jungfrauen die mir bis jetzt entgangen sind, hat meinen Krug ausgetrunken? Egal, ich<br />

hol´ neuen! Für dich auch noch einen, Logush?“, Inigos Sprache war schon lange nicht mehr ganz<br />

klar.<br />

Der andere Nushq´qai nickte und Inigo erhob sich schwungvoll, nur um kurze Zeit schwankend zu<br />

stehen und dann wieder auf seinen Stuhl zu plumpsen. „Hups...“, stieß er erstaunt aus und mußte ein<br />

hinreichend dummes Gesicht gemacht haben, denn Logush brach in lautes Lachen aus.<br />

„Moment!“, ermahnte ihn Inigo und hielt die Hand erhoben. Dann drückte er sich mit beiden Händen<br />

auf dem Tisch ab und schob seinen schwankenden Körper nach oben. Triumphierend sah er sich zu<br />

Logush um und nahm die beiden Krüge auf. Als er sich aber umwandte, um sie beim Wirt der billigen<br />

Kaschemme, deren Namen ihm gerade entfallen war, auffüllen zu lassen, rannte er gegen einen Berg<br />

aus Fell, aber hart wie eine Wand, und torkelte zurück. Er blickte auf, weit auf, und sah in ein nicht<br />

weniger behaartes Gesicht. Dieser Mann sah aus wie ein Berg. Das mußte dieser Den Alum-num oder<br />

so ähnlich sein, von dem die ganze Stadt sprach. Na dem würde er es aber zeigen, ihn hier einfach<br />

anzurempeln.<br />

„Was fällt Euch ein? Mich hier einfach so...“, Inigos Schwall aufrichtiger Wut wurde von dem<br />

pelzigen Mann gestoppt, als er mit lauter, dunkler Stimme: „Du bist betrunken!“ sagte.<br />

„Was?“, Inigo glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, „Was war das?“<br />

Der bepelzte Berg zeigte sich nicht im geringsten beeindruckt: „Du bist betrunken!“<br />

„Ich werde Euch zeigen, was es heißt einen Bellodores zu beleidigen. Pah, ich und betrunken, wart er<br />

es ab!“ Bei diesen Worten versuchte er verzweifelt seinen Degen aus der Scheide zu zerren. Das<br />

Gehänge klimperte und klapperte und Inigo lehnte sich schwankend immer schräger, drehte die Hüfte<br />

immer weiter hinein, aber das vermaledeite Ding wollte nicht loskommen.<br />

„Wenn ich Euch erst meinen Stahl präsentiert habe, werdet Ihr flehen, daß ich eure Entschuldigung<br />

annehme.“<br />

Mit einem erneuten Ruck versuchte er den Stahl zum Vorschein zu bringen, aber der Ruck sandte ihn<br />

nur von seinen Füßen auf den Boden, die Hand noch immer am Griff seiner schlanken Waffe.<br />

Wutschnaubend versuchte er sich wieder aufzurichten, Den beobachtete ihn recht unbeholfen,<br />

scheinbar nicht sicher, was er mit Inigo tun sollte, als dieser eine Hand auf seiner Schulter fühlte. Er<br />

wandte sich um und sah in das breit lächelnde Gesicht seines Freundes: „Inigo?“<br />

„Was? Halte mich nicht auf, ich...“<br />

„Inigo!“<br />

„Was?“<br />

„Du bist betrunken! Völlig und sturzbetrunken!“<br />

„Ohh...“ Inigos Gesichtszüge verdunkelten sich. Dann aber strahlten sie im bekannten Lächeln auf<br />

und er ließ sich von Logush aufhelfen und trat dann auf Den zu: „In diesem Fall, werter Herr, nehmt<br />

meine Entschuldigung an und wehrt auch meine Einladung zu einem Umtrunk nicht ab!“<br />

Auf die Gesichtszüge des Fellberges stahl sich ebenfalls ein Lächeln. Das verstand er gut!<br />

Es wurde ein langer und ob des Durstes Dens auch ein teurer Abend für Inigo.<br />

���<br />

Als Inigo die Augen öffnete, sah er rot. Vor seinen Augen hing ein rotes Tuch, durch das eine<br />

grausam helle Sonne schien. Mit einer Bewegung, die nichts von seiner normalerweise großen<br />

Geschwindigkeit und Geschicklichkeit erahnen ließ, richtete sich der Nushq´qai auf, stöhnte ob des<br />

Kopfschmerzes leise auf und zog sich das Tuch vom Gesicht. Feines Tuch, fast wie ein Damenschal.<br />

Wo bei allen Jungfrauen war er? Er blickte sich um und konnte seinen Aufenthaltsort als die Bank<br />

unter einem der wenigen Brunnen der Oberstadt festmachen. Der Steinbrunnen war von erlesener<br />

Schönheit, vier junge Damen -nymphengleich- standen an den Ecken und hielten gedrehte Hörner


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

über ihren Kopf, schienen einzuladen sich am kühlen Naß zu laben. Doch erst einmal würde Inigo den<br />

bitteren Geschmack aus dem Mund bekommen müssen. Erfreut bemerkte er eine Tonflasche neben<br />

sich am Boden, wo er sie wohl am vergangenen Abend abgestellt haben mußte, und in der es bei<br />

seinem Schütteln leise gluckste. Mmh... von wem mochte wohl dieser Schal sein?<br />

Er setzte die Flasche an, nahm einen tiefen Schluck und prustete den bitteren Saft wieder aus, nur<br />

knapp konnte ein Diener ein Bündel weißer Hemden vor der roten Weinwolke in Sicherheit bringen.<br />

Sein wütendes Schimpfen, daß er aber erst anstimmte, als er in sicherer Entfernung war, hallte<br />

schmerzhaft laut in Inigos Kopf wieder. Geschah ihm recht. Wie betrunken mußte er gewesen sein,<br />

um sich mit solchem Fusel abzugeben. Ob Logush schon weg war? Wenn er ähnlich abgestürzt war<br />

wie Inigo selber sicherlich nicht...<br />

Mit einiger Mühe drehte er nun an dem Rad, daß in dem Brunnen unter dem weit ausladenden Dach<br />

den einen Eimer nach unten und den gefüllten nach oben beförderte. Er tauchte das Tuch in das<br />

glitzernde Wasser und preßte es gegen Stirn und Nacken. Daß dabei Wasser an seinem Körper<br />

herunterrann und dunkle Flecken im roten Stoff seines Hemdes und auf seinen ledernen Beinkleidern<br />

hinterließ, war ihm gleich. Die Erfrischung war es wert. Dann wrang er den Schal kräftig aus und<br />

band ihn sich um den Kopf, doch die widerspenstige Strähne schaffte es trotzdem leicht gewellt<br />

freizukommen und sich wieder auf seiner Stirn auszubreiten. Inigo beugte sich ein weiteres mal über<br />

den Eimer, schöpfte mit beiden Händen Wasser. Dabei sah er im Licht der Sonne, die schon<br />

erschreckend hoch stand, sein Spiegelbild. Er sah erbärmlich aus. Sein Dreitagebart hatte mittlerweile<br />

unvorteilhafte Länge angenommen. Es würde ein Barbierbesuch nötig werden. Dann warf er sich das<br />

Wasser ins Gesicht und genoß erneut das kühle Naß.<br />

In seinen Taschen, so förderte eine gründliche Untersuchung zu Tage, befanden sich noch genau vier<br />

Eisensonnen. Das reichte in der Unterstadt gerade noch für eine Rasur, zumindest wenn der Hals<br />

dabei nicht von billigem Messer aufgekratzt oder im -schlimmsten Fall- mit Vorbedacht<br />

durchschnitten werden sollte...<br />

Er machte sich auf den Weg nach Norden und war gerade auf der Höhe der düsteren Lyzeum, als eine<br />

junge Frau ihn fast umrannte. In seinem Schrecken griff er nach ihr und hielt sie fest, mehr um einen<br />

Sturz zu verhindern. Doch die junge Dame fauchte ihn an, es war ein Fluch auf multorisch, und<br />

versuchte sich loszureißen. An jedem anderen Tag wäre es Inigo niemals in den Sinn gekommen eine<br />

Dame gegen ihren Willen in seine Arme zu schließen, aber der Wein und der mangelnde Schlaf taten<br />

das ihre seine Gedanken zu bremsen. Die Frau war jung, gerade erst dem Mädchenalter entwachsen,<br />

vielleicht 18 Sommer an der Zahl. Sie trug rauhe und einfache, aber saubere Kleidung, ein braunes<br />

Mieder, darunter ein weißes Hemd.<br />

Die Verfolger der Frau, zwei kräftige Männer in rauher Lederkleidung, mit großen, breiten<br />

Schwertern an der Seite, trafen jetzt ein und riefen der Frau zu: „Kommt mit uns!“. Die Männer waren<br />

etwas größer als Inigo, vielleicht drei Sprung und anderthalb Pfeillängen, und wirkten etwas mager.<br />

Ihre Haut war tiefschwarz. Multorier vielleicht, und sie sahen nicht aus wie Ehrenmänner. Was immer<br />

sie vorhatten, es war vermutlich nicht dieser jungen Magd angemessen.<br />

Inigo wandte sich der jungen Frau zu. Auch ihre Haut war von einer sehr dunklen Färbung, die fast<br />

schwarz zu nennen wäre. Um so erstaunlicher war ihr langes, hellbraunes Haar, das glatt nach unten<br />

hing, von einem einfachen Hornreif. Sie war etwa drei Sprung, eine Hand groß, also ein Stück kleiner<br />

als Inigo selber, und ihre Augen waren von einem strahlenden Blau. Sie war zierlich gebaut,<br />

vermochte das Mieder kaum nennenswert auszufüllen. Inigo fragte: „Wollen die Herren euch Böses,<br />

mein Kind?“<br />

Fast vermutete er, sie sei der Sprache des Ostlandes nicht mächtig. Um so überraschter fuhr er drum<br />

zusammen, als die junge Dame ihn anfauchte: „Kümmert euch um euren Kram. Hättet ihr euch nicht<br />

eingemischt, wäre ich schon weg.“<br />

Ein Wildkätzchen also. Nun ja, nicht das Schlechteste. Inigo wandte sich wieder zu den Männern um,<br />

die nun etwa einen Sprung entfernt stehengeblieben waren. Er ließ die Schultern ein wenig hängen<br />

und legte die Hand gegen die Stirn: „Werte Herren, diese Dame steht nun unter meinem Schutz!<br />

Wenn ihr nun bitte wieder eurer Wege gehen wollt?!“<br />

Die Männer schauten ihn verwundert an, hatten aber scheinbar seine Worte verstanden. Mit schwerem<br />

Dialekt, der keinen Zweifel an ihrer Herkunft ließ -Multor- antwortete der Größere: „Die Frau ist<br />

uns!“ Beide legten die Hand auf ihre Waffe.<br />

Inigo seufzte, lehnte sich, die eine Hand noch immer an der Stirn, provozierend mit der anderen gegen<br />

die Wand und sprach vorsichtshalber multorisch: „Hört mir zu! Ich hatte eine schwere Nacht, mein


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Kopf brummt wie ein Braunbär. Ich weiß nicht wie es Euch geht, aber ich hasse es Männer vor dem<br />

Frühstück zu töten. Aber wenn es sein muß, werde ich es tun.“<br />

Dann blickte er auf, ließ die Eckzähne blitzen, senkte den Kopf wieder ein Stück und blickte die<br />

Männer aus zusammengekniffenen Augen an: „Also wenn ihr den Abend noch erleben wollt, packt<br />

euch!“ Dann drehte er sich um, scheinbar fertig mit den beiden. Er hörte das Scharren von Stiefeln auf<br />

dem Pflaster, als die Männer zögernd näherkamen. Da wirbelte Inigo herum, der Degen sirrte aus der<br />

weichen Lederscheide und peitschengleich durch die Luft, um dann leicht wippend vor der Kehle des<br />

Kleineren zum Stehen zu kommen: „Ich meine, was ich sage, Männer!“<br />

Entgeistert blickte der Multorier auf die blitzende, dreieckige Klinge an seinem Kehlkopf und noch<br />

erschrockener sah er, daß sein eigener Schwertgurt sauber durchtrennt war. Er wurde nur noch von<br />

den Schnallen gehalten. Inigo kostete den Augenblick noch einen Moment aus, dann erhob er die<br />

dünne Degenklinge gegen die Stirn und ließ sie mit einer geschmeidigen Bewegung in die Scheide<br />

gleiten, ließ aber die Hand weiterhin auf dem Korb ruhen, der den Handschutz bildete.<br />

Die beiden Männer sahen sich an, blickten dann über Inigos Schulter zu der jungen Frau. Dann<br />

endlich gingen sie langsam rückwärts. Als sie um eine Ecke verschwunden waren, drehte er sich um<br />

und sagte: „So, das wäre erledigt!“<br />

Die Frau blickte ihn halb erleichtert, halb trotzig an: „Die kommen wieder!“ Der Dialekt Multors<br />

breitete sich auch in ihrem zarten Stimmchen unverkennbar aus. Sie war hübsch, hohe<br />

Wangenknochen, schön geschwungene Augenbrauen, Augen, die den Blick anzogen. Ihr Körper<br />

versprach eine gewisse Geschmeidigkeit und ihr Gebaren ein nicht zu unterschätzendes Temperament.<br />

Alles in allem eine gesunde Mischung, auch wenn ihre Nase eine wenig groß und ihre Arme ein<br />

wenig dünn waren. Kurz: Inigo war entbrannt vor Leidenschaft. Nun war dies bei ihm nichts<br />

besonderes. Es verging kaum ein Tag, an dem er nicht eine neue Dame seines Herzens entdeckt.<br />

Logush hatte ihn immer damit aufgezogen. „Du bist hinter jedem Rock her!“, hatte er gesagt, gelacht<br />

und den Weinkrug neu gefüllt. Aber was sollte Inigo machen? Er fand eben an fast jeder Frau einen<br />

kleinen Splitter jener göttlichen Aura, die sie den Männern so unwiderstehlich machte, und wenn<br />

auch nur für kurze Zeit.<br />

Diese Dame hatte mehr als einen kleinen Splitter abbekommen und Inigo war fest dazu entschlossen<br />

sie zu der Seinen zu machen. Natürlich war sie keine Frau, die man in der ersten Stunde auf sein<br />

Lager bettete. Aber danach gelüstete es Inigo auch nicht, zumindest nicht sofort. Es war das<br />

Glücksgefühl, wenn nach langer Werbung, nach Stunden der Aufmerksamkeit ein zartes Wort, ein<br />

scheues Lächeln auch über ihre Lippen käme. Und wer wußte es schon genau? Vielleicht würde er mit<br />

ihr ein Glück von Dauer finden. So bis zum Ende des Talu, dann würde er sich in der Stadt nach einer<br />

Bleibe für den Winter umsehen. Diese junge Dame war augenscheinlich nicht aus dieser Stadt.<br />

Die Frau starrte ihn an und schien nicht gewillt zu sein, von sich aus das Gespräch weiterzutreiben.<br />

Also sprach Inigo erneut: „Oh, aber wie unhöflich von mir: Mein Name ist Inigo Bellodores.“ Er<br />

führte eine formvollendete Verbeugung durch, die Hand in weiter Geste schwingend. „Normalerweise<br />

stelle ich mir vor, bevor ich junge Damen aus der Not rette, aber die Umstände ließen es dieses mal<br />

nicht zu...“ Er legte sein entschuldigendes Lächeln auf.<br />

Die junge Multor antwortete: „Ich war in keiner Gefahr! Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen!“<br />

Aha, ein Trotzköpfchen. Naja, da würde man anders vorgehen müssen: „Das, liebe Frau, bestreitet ja<br />

auch niemand, ich als Allerletzter, aber ihr wollt doch einem armen, vom Gewissen geplagten Strolch<br />

nicht die Möglichkeit nehmen, sein Gewissen ein wenig zu erleichtern?“<br />

„Und dabei unschuldige Frauen auch ihres Geldbeutels?!“, kam es wie von der Sehne geschnellt<br />

zurück.<br />

Inigo zog eine Augenbraue hoch, ließ seinen Blick dann über das Kleid der Multor wandern, nicht<br />

ohne ihre schlanke Gestalt eingehend zu bewundern, und blickte ihr wieder in die meerfarbenen<br />

Augen: „Das, wenn ich von dem ausgefransten Lederbeutel an eurer Hüfte nicht fehlgeleitet werde,<br />

hat vor mir schon ein geübterer Dieb vollbracht! Aber ich will euch nicht weiter belästigen!“<br />

Sprach´s, und wandte sich um, mit federndem Schritt der Brücke zuzueilen.<br />

Er lauschte jedoch aufmerksam und hörte, was er gehofft hatte: Ein erschrecktes Aufkeuchen, ein<br />

unterdrückter Fluch, auf Petek, wie es schien, und dann Stille. Doch nicht lange: Schritte von weichen<br />

Damenstiefeln, das Rascheln der Röcke und Unterröcke (bei dieser Wärme...). Schließlich eine<br />

zaghafte Berührung an der Schulter: „Mein Geld ist weg!“


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

„Wenn ich es nicht besser wüßte“, und Inigo verharrte, freundlich lächelnd, „könnte ich meinen, ihr<br />

würdet mir einen Vorwurf daraus machen. Aber dem ist wohl nicht so. Wenn dies aber auf eure<br />

eigene Art und Weise die Frage war, ob ich Abhilfe weiß, so seid mir willkommen!“<br />

Die junge Frau starrte ihn mit offenem Mund an, die Wut malte sich langsam in ihren Zügen ab.<br />

Inigo beschloß noch einen Scheit auf das Feuer zu werfen, daß zu entzünden er im Begriff war:<br />

„Allerdings ist an das ganze eine Bedingung gebunden. Ich meine, ihr werdet verstehen, ich kann euch<br />

schwer helfen, ohne...“<br />

Das Feuer loderte auf und ließ ihr Gesicht in einem hübschen Licht erstrahlen. Sie war eine dieser<br />

Frauen, denen man sagen konnte: Ihr seht bezaubernd aus, wenn ihr wütend seid.<br />

Die Multor stampfte einmal kurz auf und fauchte ihn an: „Eine Gegenleistung! War es das was ihr<br />

sagen wolltet? Dann hört mir gut zu, ihr Straßendieb, ihr mantowinischer Halsabschneider. Ich bin ein<br />

anständiges Mädchen, und was in Köpfen wie den euren vorgeht, weiß ich nur zu gut!“<br />

„Darüber“, gab Inigo ruhig zurück, „sollten wir uns ausführlich unterhalten, denn ich würde gern<br />

erfahren, was in Köpfen wie meinem vorgeht. Was ich aber sagen wollte, war, und bitte unterbrecht<br />

mich nicht, ich kann euch nicht helfen, ohne euren Namen zu kennen! Da werdet ihr mir doch<br />

zustimmen?!“<br />

Wieder stand ihr Mund offen, und Inigo beschloß, daß es nun genug war. Er wollte die junge Dame<br />

nicht noch verspotten, schließlich hatte sie ihre Barschaft verloren und Inigo wußte, wie schmerzhaft<br />

dies war. Gedankenverloren tätschelte er die vier Eisensonnen in seiner Tasche: „Verzeiht meine<br />

Frechheit, aber ihr müßt verstehen, daß ich etwas unwirsch reagiere, wenn eine so bezaubernde junge<br />

Dame von solchen Rüpeln nicht nur belästigt, sondern auch noch bestohlen wird. Das ich meinen<br />

Spott auf euch gelenkt habe, ist unverzeihlich, ich möchte euch aber trotzdem bitten es zu versuchen.“<br />

Das Gesicht der Multor entspannte sich ein wenig. Sie nickte, nun sogar mit einem leicht amüsierten<br />

Lächeln.<br />

„Wollt ihr mir nun euren Namen nennen?“<br />

„Yes...“, sie brach ab, fing sich aber schnell wieder,“ Yesihja ist mein Name, Yesihja... die Magd!“<br />

Sie lächelte etwas schief.<br />

Wie interessant, sie wollte ihm also ihren richtigen Namen nicht nennen... Nun ja, sie würde ihre<br />

Gründe dafür haben.<br />

„Nun denn, Yesihja, dann wollen wir mal überlegen, was wir nun tun. Mir scheint, ihr seid fremd in<br />

<strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>?“<br />

Yesihja nickte zustimmend: „Ich bin schon seit einigen Tagen in der Stadt. Ich wollte eine Freundin<br />

besuchen, aber sie scheint verschollen. In dem Haus, in dem sie wohnen soll, hat man seit Tagen<br />

nichts von ihr gesehen, sagt man.“<br />

„Und das war euer ganzes Geld?“<br />

Yesihja nickte erneut: „Ich bin sehr verzweifelt. Ich hoffte bei Atakuela Zuflucht zu finden. Nun kann<br />

ich nicht mal mehr mein Zimmer im Gasthaus zahlen.“<br />

Inigo witterte seine Chance, doch abgesehen davon tat ihm das Mädchen... die Frau wirklich leid.<br />

Also legte er ihr -vorsichtig- die Hand auf die Schulter, bemühte sich es so väterlich als möglich zu<br />

tun, und sprach mit einer Stimme voller Mitleid: „Ich weiß, ihr werdet ablehnen, aber es würde mich<br />

sehr glücklich machen, wenn ihr in meinem bescheidenes Hause... Ich werde natürlich auf dem Boden<br />

schlafen. Ihr habt außerdem mein Wort als Ehrenmann!“<br />

Yesihja blickte ihn mißtrauisch an. Inigo schob ein wenig das Kinn vor und versuchte so aufrichtig<br />

wie möglich auszusehen. Wie hatte es sein Mentor gesagt: „Inigo, auch echte Aufrichtigkeit braucht<br />

den entsprechenden Schuß Schauspielkunst, sonst wird sie einem nicht abgenommen!“<br />

„Einverstanden“, sagte sie, und dann in einem überraschend harten Befehlston: „führt mich!“ Ob sie<br />

gewohnt war zu befehlen?<br />

���<br />

„Der Tee müßte im Moment so weit sein! Es dauert mich wirklich, euch nur diese windschiefe Hütte<br />

und dieses karge Mahl bieten zu können.“, sagte Inigo und wies mit der Hand auf Brot, Käse, Wurst<br />

und Obst, daß er aufgetischt hatte. Es war vielleicht dreist einfach Logush´ Hütte zu übernehmen, aber<br />

er war ja auf Reisen und würde so bald nicht wiederkommen, und für eine anständige Unterkunft in<br />

einem Gasthaus reichte sein Geld nicht mehr. Auch er war erst seit Jahresanfang in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> und<br />

hatte bis jetzt in den verschiedensten Gasthäusern genächtigt.


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Nun würden sie es zumindest trocken, windgeschützt und weich haben.<br />

Inigo ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder, zog die nackten Füße auf die Sitzfläche, damit sie nicht<br />

auf dem kalten Lehmboden ruhten, und legte den Kopf schräg. Yesihja hatte ihm eine mehr als<br />

Lückenhafte Geschichte erzählt und nun dachte er darüber nach, wie er darauf reagieren sollte. Er<br />

entschloß sich für den Frontalangriff: „Yesihja, wer seid ihr wirklich?“<br />

Sie riß ihren Blick erschrocken von dem Apfel los, den zu nehmen sie aber noch nicht über sich<br />

gebracht hatte: „Wie meint ihr das? Ich bin Yesihja, die Magd.“<br />

Inigo schüttelte den Kopf: „Es ist doch Rutschek ein Bnamule, daß Berf nicht Hegenberfen willst!“<br />

Sie kniff die Augenbrauen zusammen und blickte ihn unverständlich an: „Bitte?“<br />

Seine Meinung bestätigt findend nickte Inigo. „Yesihja, ihr sagt ihr seid eine Magd. Aber eure Hände<br />

sind so rein, gepflegt und zart, als hätten sie noch nie auch nur eine Bohle geschrubbt, eine Erdfrucht<br />

geschält oder auch nur einen Eimer getragen. Dann sagt ihr, ihr würdet aus dem Hause eines reichen<br />

Händlers in der Güldenen Ebene kommen. Die Güldene Ebene wird hier bei uns der Höllenpfuhl<br />

genannt, und nicht umsonst. Dort leben sehr viele rauhe Gesellen, ehemalige Soldaten und Söldner<br />

und es müßte schon mit dem Schutz aller Götter zugehen, wenn eine zarte junge Frau wie ihr<br />

unbeschadet bis zur Grenze der anderen Ostländer käme, noch dazu alleine! Auch gibt es im<br />

Höllenpfuhl nur wenige reiche Händler, und die hätten euch sicher nicht zur Magd, sondern eher zur<br />

Konkubine genommen und gut auf euch aufgepaßt. Das würde zwar erklären, warum die zwei Männer<br />

hinter euch her waren, aber nicht, warum die mich nicht versuchten niederzustechen. Sie wären mit<br />

euch längst über alle Berge, bis man mich findet. Außerdem habt ihr mir gerade bewiesen, daß ihr<br />

nicht mal die einfachsten und bekanntesten Stücke des Pfuhl-Dialekts sprecht. Yesihja ist auch nicht<br />

euer richtiger Name. Eine Frau wie Atakuela ´Keusch´ De Kuansa wird sich sicher nicht mit Mägden<br />

abgeben. Also frage ich euch: Wer seid ihr?“<br />

Während seines Monologs war Yesihja immer kleiner geworden und blickte jetzt verschüchtert auf.<br />

Inigo wurde es mulmig. Wie sie da saß, ein Häufchen Elend, so ganz und gar nicht mehr wütend und<br />

trotzig, hatte er eher das Bedürfnis sie zu beschützen als ihr ihre Lügen vorzuwerfen.<br />

„Versteht mich nicht falsch, ich werfe euch nicht vor vorsichtig zu sein und nicht jedem eure<br />

Lebensgeschichte sofort aufzutischen, das ist eine gute Vorsichtsmaßnahme, gerade in dieser Stadt,<br />

aber ihr wohnt in meinem Haus und da möchte ich wissen, mit wem ich es zu tun habe!“<br />

Yesihja blickte auf, Verzweiflung malte sich in den hellen Augen ab. In diesem Moment kochte<br />

blubbernd und zischend der Tee über dem Feuer über. Inigo wirbelte herum, hatte im Nu den Degen<br />

heraus, stieß ihn unter den eisernen Hacken des Kessels und nahm ihn vorsichtig vom Feuer.<br />

Behutsam stellte er den dampfenden Topf auf den Tisch und steckte den Degen mit einer<br />

geschmeidigen Bewegung weg. Als er sich wieder umwandte, um die Antwort seiner Frage<br />

einzufordern, sah er Yesihja zusammengesunken auf dem Stuhl sitzen und ihr Oberkörper erzitterte<br />

von Zeit zu Zeit heftig. Erschrocken machte Inigo einen Schritt auf sie zu, zögerte kurz, legte dann<br />

aber seine Hand auf die zarte Schulter. Yesihja zuckte unter seiner Berührung zusammen, floh sie<br />

aber nicht. Statt dessen drehte sie den Kopf zu ihm, die Augen voller Tränen, die auch über die<br />

dunklen Wangen liefen und glänzende Spuren hinterließen. Inigo hatte Gewissensbisse. Es gab wenig,<br />

was Inigo in seinem sonnigen Gemüt und seinem großen Selbstvertrauen erschüttern konnte, aber die<br />

Tränen einer Frau gehörten dazu. Yesihja blickte wieder zu Boden und flüsterte ein: „Ich kann es euch<br />

nicht sagen! Ihr würdet es mir sowieso nicht glauben!“<br />

Inigo setzte an etwas Tröstliches zu sagen, sagte dann aber nur: „Nehmt euch einen Apfel Yesihja,<br />

und stärkt euch. Solange ihr in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> verweilt, so lange werdet ihr in meinem Haus<br />

willkommen sein, egal wer und was ihr wirklich seid!“<br />

Dann glitt er aus Hemd und Hose und schlüpfte unter die rauhe Decke, die er zu zwei Teilen auf dem<br />

Boden und zu einem über sich ausbreitete. Er blickte noch einmal auf und sah lächelnd wie Yesihjas<br />

kleine Hand den Apfel ergriff. Nachdem auch sie sich wenig später zur Ruhe gelegt hatte, schlief<br />

Inigo ein.<br />

���<br />

Die Sonne hatte Inigo geweckt und jetzt schlüpfte er in sein rotes Hemd, ließ es aber bis fast zum<br />

Bauchnabel offen. Der Talu war bis jetzt noch einigermaßen trocken gewesen und überraschend<br />

warm.


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Seit fünf Tagen lebten sie nun zusammen in dieser Hütte. Inigo genoß Yesihjas Anwesenheit, aber es<br />

ärgerte ihn, daß er nicht mehr über sie wußte. Er war noch immer überzeugt, daß Yesihja alles war,<br />

nur keine Magd, aber immer wenn er dieses Thema anschnitt, brachte sie ihn mit einem: „Inigo, bitte,<br />

ich kann es dir nicht sagen, noch nicht...“ zum schweigen.<br />

Aber es gab noch andere Möglichkeiten, etwas über Yesihja herauszufinden. Auch wenn es ihn<br />

eigentlich reute hinter einer jungen Dame herzuspionieren, ließ seine Neubegierde ihm doch keine<br />

Ruhe. Kimber Loor und Corwin Dery waren diesmal keine Adressen, die anzusprechen er in Betracht<br />

zog. Beide waren zwar ausgesprochen gut informiert, aber über eine junge Multor, die erst seit drei<br />

Vierteln in der Stadt war, würden auch diese beiden nichts wissen. So wenig es ihm also gefiel, er<br />

würde eine alte Schuld einfordern müssen.<br />

Lächelnd beugte er sich zu der schlafenden Yesihja herunter. Sie wirkte fast wie ein unschuldiges<br />

Kind, wie sie da so lag, den einen Arm unter den Kopf geschoben, ihre Beine von der Decke entblößt.<br />

Mit zwei Fingern nahm er die Decke und legte sie wieder über die zarten Beine Yesihjas.<br />

„Yesihja, Yesihja.“, flüsterte er leise in ihr Ohr und schüttelte sie leicht an der Schulter. Sie öffnete<br />

verschlafen die Augen und lächelte müde, als sie ihn erkannte.<br />

„Ich muß einmal kurz weg, aber bis zum Mittag bin ich wieder da. Schlaf noch ein wenig!“, fuhr er<br />

fort, vorsichtshalber auf Multor, damit sie ihn auch im Halbschlaf verstand. Wie nützlich es doch war,<br />

daß er so viele Sprachen erlernt hatte. Schon früher war es ihm leicht gefallen, fremde Zungen zu<br />

imitieren und mit der Zeit hatte er eine stattliche Anzahl erlernt: Multor, Hallaksch, Rekischar,<br />

Nushq´qai natürlich, aber auch die Sprache der Vogelwesen, einige Worte der Charach (die zu formen<br />

seiner Kehle schwerfielen) und sogar die wenigen Worte I´Yat, die der Atamane seit seiner Ankunft<br />

unvorsichtig genug war zu benutzen, waren ihm präsent. Dazu die Dialekte des Ostlandes: <strong>Mantow</strong>in,<br />

die vergessene Zunge der Perger, aber auch der Dialekt, den heute die Männer und Frauen<br />

Pergemitrons sprachen. Die sanften Bilder Seelenruhs konnte er formen, ebenso wie die harten und<br />

manchmal albern anmutenden Begriffe des Höllenpfuhls.<br />

Regthil konnten seine Worte verstehen, auch Grantken wußten aus seinem Grunzen ihre Worte zu<br />

entziffern. Kurz, es gab kaum eine Sprache, die Inigo nicht zu sprechen wußte. Wie andere Leute<br />

Erinnerungen sammelten, sammelte Inigo Sprachfetzen. Er brauchte ein fremdes Wort nur zu hören,<br />

und schon verlangte es ihn danach, ihm einen Sinn zu geben. Er konnte es meist fehlerfrei<br />

wiederholen und vergaß es selten. Nur schreiben, schreiben konnte er kein Wort in keiner Sprache.<br />

Nur sein Name, ein schwungvolles Inigo, war ihm in der Hand.<br />

Leise schlich er zur Tür, blieb im Rahmen noch einmal stehen und rief Yesihja ein weiteres mal an.<br />

Als sie verschlafen aufsah, fragte er sie: „Kannst du bitte Wasser vom Brunnen holen?“<br />

Yesihja nickte. Inigo war sich nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte, aber vielleicht kam sie ja auch<br />

einmal von alleine darauf... Sicher nicht!<br />

In den vergangenen Tagen hatte Inigo ihr vieles beigebracht, was die Bewohner der Unterstadt -und<br />

jede Magd insbesondere- wußten: Wo gab es das sauberste Wasser, welche Rüben waren gut, welche<br />

schon zu dunkel und andere solcher Dinge, aber alles war für sie völlig neu.<br />

Inigo lenkte seine Schritte zum Stadtrand. Yesihjas Laune war immer wechselhafter geworden. Mal<br />

war sie begeistert und scheinbar glücklich mit ihm diese ´einfache Leben´ zu führen, dann wieder<br />

tieftraurig und scheinbar von Heimweh geplagt. Das sie nicht mehr versuchen konnte Atakuela zu<br />

besuchen, da Inigo seit dem ersten Talu keinen gültigen Passierschein für die Brücke mehr hatte,<br />

verbesserte die Lage nicht.<br />

Er war noch nicht weit gekommen, als ihn eine Stimme rief: „Inigo Bellodores, Herr Bellodores!<br />

Wartet doch bitte!“<br />

Er wandte sich um. Die Stimme hatte Rekischar gesprochen und tatsächlich war es eine junge<br />

Rekschat, die ihm da hinterherlief. Er begrüßte sie freudig und legte in das Rekischar eine Spur der<br />

Seelenruh-Farben: „A´Tjall, ich freue mich euch zu sehen! Wie lange ist es her, daß ich eure<br />

bezaubernden Augen erspähen und euer geschmeidiges Wesen bewundern durfte?“<br />

A´Tjall blieb stehen, stemmte ihre Hände in die Hüfte und lächelte breit. Ihre grünen Augen blitzen,<br />

als sie antwortete: „Nicht lange genug, daß ihr eure schmeichlerische Art abgelegt hättet.“<br />

Inigo machte eine tiefe Verbeugung, nahm dann A´Tjalls Hand und drückte seine Lippen kurz darauf:<br />

„Was kann ich für euch tun, meine Blume der reifen Felder Seelenruhs?“<br />

A´Tjall schlug ihn leicht auf die Schulter: „Laßt das! Der Herr Tibrand möchte, daß ihr dem Schreiber<br />

Dardal einen Brief auf Imperial schreibt.“


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

„Gibt es wieder Ärger mit seiner heiligsten Magnifizenz Helikot dem dritten, Herrscher des<br />

großimperatorischen Reiches? Hat er etwa wieder drei Meilen Land einfach zu seinem Land erklärt?“<br />

Inigo ahmte die Geste eines Kaisers nach, der seine Untertanen den Ring küssen läßt.<br />

A´Tjall lachte: „Ich weiß nicht, aber es ist wohl eilig.“<br />

„Geht voran, ich folge auf eurem süßen Fuße!“<br />

���<br />

Einige Zeit später, es war ein sehr langer Brief gewesen und das langsam schwindende Gehör des<br />

Tibrandschen Schreibers hatte wenig geholfen, verließ Inigo das Haus der Fuhrunternehmer. In seiner<br />

Tasche klimperten zwei Silbersonnen, genug um Yesihja und ihn über das nächste Viertel zu bringen<br />

und diesmal mit Wein!<br />

Seine gute Laune wurde aber etwas gebremst, als er sich des Ganges entsann, den er zu tätigen hatte.<br />

Er verließ die Stadt im Südosten der Unterstadt und hielt auf das Planwagenlager zu. Die kleinen<br />

zotteligen Pferde der Nushq´qai grasten um das gute Dutzend Wagen herum, festgepflockt. Aus einem<br />

der Wagen kam fröhliche Musik, über einem kleinen Feuer brieten zwei junge Nushq´qai ein kleines<br />

Tier. Einige Frauen waren dabei in einen großen Topf Hülsenfrüchte zu schälen und einige Männer<br />

sortierten in kleinere die guten und die schlechten.<br />

Inigo holte tief Luft. Da war ja auch Kaljo und wie immer war er in der Nähe der bezaubernden<br />

Emelda. Sie saß auf dem Bock eines der Wagen und er lehnte dagegen, lächelnd etwas erzählend. Sein<br />

Lächeln aber verschwand sofort, als eine der Frauen aufsah und erst erfreut, dann erschrocken:<br />

„Inigo!“ rief. Es war Mafella, sie hatten einige Nächte zusammen verbracht. Kaljo stieß sich ab und<br />

stürmte auf Inigo zu. Dieser hob beschwichtigend die Arme und wollte zu einer Erklärung ansetzen,<br />

doch sein „Ich...“ war kaum heraus, als er auch schon von Kaljos Schulter getroffen und zu Boden<br />

gesandt wurde. Geschmeidig rollte er sich ab, kam wieder auf die Beine und zog, hinter dem Rücken<br />

hergreifend, seinen Degen. Keinen Augenblick zu früh, auch Kaljo hatte seine Waffe aus dem Gürtel<br />

gezogen, ein breites Messer, überhandlang. Er schwang es wütend von oben auf Inigo herunter. Dieser<br />

machte einen gleitenden Schritt nach hinten, ließ den Schwung so ungehindert vorbeifliegen. Kaljo<br />

war einen Augenblick aus dem Gleichgewicht, was Inigo dazu nutzte, ihn mit einem Stoß gegen die<br />

Brust zu Boden zu schicken. Keiner der anderen Männer und Frauen, die sich um die Kämpfenden<br />

sammelten, griff ein. Dies war ein Kampf der Ehre und keiner würde sich einmischen.<br />

„Kaljo, ich bin hier um mit Mutter Camilla zu sprechen!“, rief er schnell.<br />

Kaljo sprang geschmeidig auf: „Du wirst mit keinem sprechen!“<br />

Inigo hoffte auf das Ehrgefühl dieser Sippe: „Sie schuldet mir einen Gefallen! Ich tat etwas für sie,<br />

nun tut sie etwas für mich, so will es die...“ Er mußte einem wilden Hieb des jungen Mannes<br />

ausweichen, was ihm nur knapp gelang. Wieder einmal hatte er Kaljo unterschätzt. Wieder einmal!<br />

Mit einer schnellen Bewegung ließ er seinen Degen singen und eine Locke des schwarzen Haares<br />

seines Gegenübers segelte langsam zu Boden. „...Ehre!“<br />

Kaljo lachte freudlos auf, den Dolch von einer Hand in die andere wechselnd, leicht vornübergebeugt:<br />

„Du hast keine Ehre, Sujaké!“ Die umstehenden stöhnten auf. Kaljo hatte den wunden Punkt<br />

getroffen. Inigo hatte, gegen die Regeln, seinen Status verheimlicht. Es war so lange gewesen, daß er<br />

die lustigen Lieder der Nushq´qai gehört hatte, daß er von ihrem Wein trank, ihre Spiele spielte. Er<br />

war ein Sujaké, ein ehrloser Verbrecher und Mafella hatte bei einer ihrer Nächte sein Brandmal<br />

gesehen, die schwarzen Perle des Sujaké. Um ihr eigenes Gesicht nicht zu verlieren, mußte es die<br />

Sippe erfahren.<br />

„Doch ist Handel Handel!“, Inigo wich einen weiteren Schritt zurück, ließ das breite Messer an<br />

seinem Degen abgleiten.<br />

Kaljo fauchte wütend, die beiden umkreisten sich, während der andere Nushq´qai eine Lücke in<br />

Inigos Deckung suchte: „Das war bevor wir deine Bw´Rjallek entdeckten. Wir jagten dich einmal aus<br />

dem Lager, wir tun es wieder!“<br />

Bw´Rjallek. Eines dieser Worte, daß man nur schwer übersetzen konnte. Es hieß wörtlich im<br />

<strong>Mantow</strong>inschen Nicht-Freund, meinte aber eine Art seelischen Aussatzes. Für einen Nushq´qai war<br />

der Ausschluß aus den Sippen schlimmer als der Tod.<br />

Inigo stieß vor, sorgsam darauf bedacht Kaljo genug Zeit zu lassen, seinen Schlag zu parieren. Dann<br />

ließ er seinen Degen heruntergleiten, bis Parierschutz gegen Parierschutz lag. Obwohl Inigo etwa eine<br />

Pfeillänge größer war, waren ihre Gesichter nun fast gleichauf, mußte sich Inigo doch tiefer in die


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Knie begeben, um der Kraft Kaljos etwas entgegen setzten zu können. Leise, so daß kein anderer es<br />

hören konnte, wisperte Inigo: „Kaljo, ich bin nicht wegen Emelda hier. Nur um sie geht es, das wissen<br />

wir beide!“<br />

Wütend, mit knirschenden Zähnen erwiderte Kaljo: „Wir waren Freunde! Wie konntest Du...“<br />

Gerade wollte er Inigo nach hinten schleudern, als ein knorriger Spazierstock zwischen den beiden<br />

Köpfen auftauchte und mit schmerzhaftem Klopfen hin und her bewegt wurde. Eine leise aber<br />

machtvolle Stimme sprach, ein altertümlicher Klang schwang in der Sprache mit: „Es gilt der Handel!<br />

Komm Inigo, ich will deine Frage beantworten. Danach sollst du nie wieder Fuß in das Lager setzen.“<br />

Es war Mutter Camilla. Ihre kleine Gestalt, wenig mehr als zwei Tritt, bewegte sich, auf ihren Stock<br />

gestützt, auf ihren Wagen zu. Ihr weißes, langes Haar wehte im sanften Wind.<br />

Inigo richtete sich auf, brach den Kontakt der Waffen und war gerade dabei seinen Degen<br />

wegzustecken, als ein „Inigo!“ von Mafella ihn warnte. Instinktiv zog er den Kopf zurück und die<br />

scharfe Klinge Kaljos Messer sauste vor seinen Augen vorbei, schnitt ihn leicht über den<br />

Nasenrücken. Hätte er einen Augenblick später reagiert, hätte ihn der gezielte Schnitt das Augenlicht<br />

gekostet. Blut lief seine Nasenflügel herunter und tropfte ins Gras. Kaljo grinste böse, denn er wußte,<br />

Inigo dürfte sich für diese Verletzung nicht rächen. Trotzdem war es gegen die Ehre, einen<br />

unvorbereiteten Gegner in einem Duell zu attackieren. Seufzend blickte Inigo Kaljo ins Gesicht: „So<br />

zeigt sich, wer mehr Ehre hat. Der liebesblinde Narr oder der Sujaké.“<br />

Dann wandte er Kaljo den Rücken zu, darauf hoffend, daß ihn die Ehre wenigstens davon abhalten<br />

würde, ihn von hinten abzustechen.<br />

Der Wagen Mutter Camillas war eine Mischung aus Handwerksstube und Wohnraum. Es lag ein<br />

angefangener Flickenteppich über einem kleinen Tisch und einige lose Fäden waren fein säuberlich<br />

daneben aufgereiht. Camilla musterte ihn aus ihren goldgelben Augen. Sie kniete hinter einem etwas<br />

größeren Tisch, vor dem ebenfalls ein Kissen lag. Der Tisch war mit einem schwarzen Tuch bedeckt<br />

und darauf lag ein dicker Stapel Karten, deren Rückseite in verwirrend verschlungenen Zeichen<br />

bemalt waren- das Q´romea.<br />

„Setz´ dich, mein Junge, und laß uns sehen, was die Karten über deine Freundin sagen.“<br />

Inigo verzichtete darauf zu fragen, woher Mutter Camilla von Yesihja wußte, denn sie sprach oft mit<br />

den Karten und sie sagten ihr Dinge, die der normale Mensch nicht aus ihnen zu lesen wußte.<br />

„Mische sie Inigo, mische sie und denke an deine Freundin!“<br />

Inigo gehorchte ihrem Befehl. Dann legte er sie unter ihrer Anleitung aus. Zuerst vier Karten im<br />

Kreuz, die ihre momentane Situation darstellten: Der Ritter des Feuers; die Prinzessin des Wassers;<br />

die Prinzessin der Luft; der Prinz der Erde. Erwartungsvoll blickte er Camilla an, aber die winkte ab<br />

und sagte: „Eine in die Mitte!“<br />

Inigo gehorchte: Der Prinz des Feuers.<br />

„Drei darüber, für die Vergangenheit“ Nur Trümpfe: Der Wald; Das Gebirge; Der Fluß<br />

„Zwei links, für das Wesen“: Der Phoenix; Der Ritter des Wassers<br />

„Zwei rechts, für die Absicht“: die Amazone der Luft; Die Energie<br />

„Drei darunter, für die Zukunft“ Wieder nur Trümpfe: Die Liebe; Die Wolken; Die Mystik<br />

Wieder blickte Inigo die uralte Frau an. Jetzt endlich nickte sie und hob an zu sprechen. Obwohl ihre<br />

Stimme leise war, verstand Inigo alles ganz genau: „Deine Freundin ist eine Frau des Reichtums. Die<br />

Hofkarten, jede aus einem Element, sprechen von großer Macht. Doch ist ihr Leben durcheinander,<br />

die hohen Elementkarten bekämpfen sich. Der Prinz des Feuers bist Du. Du bist der Hauptgrund des<br />

Chaos. Sie hat eine lange Reise hinter sich.“ Die Hand der alten Frau schwebte nun über den Karten<br />

der Vergangenheit. „In ihr kämpfen der Ritter des Wassers, Vergangenheit und Ruhe, gegen den<br />

Phoenix, der Neues erschafft aus dem was war. Sie ist sich nicht sicher, ob sie mit dem Gewesenen<br />

brechen soll.“<br />

Die Hand wechselte zu den Karten rechts des Lebenskreuzes: „Ihre Absicht ist kraftvoll und<br />

rebellisch, sie hat große Schritte gewagt und große Schritte vor sich.“<br />

Schließlich deutete Mutter Camilla auf die letzten drei Karten: „Starke Gefühle bestimmen ihre<br />

Zukunft. Doch diese Gefühle sollen nicht glücklich enden. Mehr können die Karten nicht sagen, aber<br />

hüte dich. Deine Freundin ist wichtig! Die Trümpfe lügen nie.“<br />

Inigo nickte. Worte des Dankes formten sich in seinem Geist, aber in dem Blick der goldenen Augen<br />

sah er, daß dies die letzten Worte waren, die Mutter Camilla mit ihm reden würde. Von nun an war er<br />

auch für sie nichts als ein verabscheuungswürdiger Sujaké.


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Schnell und schweigend, unter den teils mitleidigen, teils wütenden Blicken der Nushq´qai verließ er<br />

das Lager. Yesihja war also eine reiche Frau aus Multor, deren Leben in Unordnung war. Nicht viel,<br />

was er da erfahren hatte, aber mehr als vorher war es auf jeden Fall. Mit einem Tuch wischte er das<br />

Blut von seiner Nase und tupfte die Wunde ab. Man würde sich darum kümmern müssen, sie<br />

schmerzte ganz unangenehm.<br />

���<br />

Als er, etwas später als er geplant hatte, wieder in die Hütte Logushs kam, die nun die seine war,<br />

erwartete ihn erstaunlicher Besuch. Auf dem Bett saßen eine junge, fast dürr zu nennende Frau mit<br />

roten Haaren, die vielleicht eine Hand größer als Inigo war, und ein ebenfalls in schwarz gekleideter<br />

junger Mann mit Oberlippenbart der ihm nur zu bekannt war: Shamino. Ein seltsames Wesen saß auf<br />

der Schulter der jungen Dame, ein fragiles rötliches Tier mit einem langen, buschigen Schwanz, der<br />

um Brustkorb und Hals der Frau lag. Sie trug ein großes Schwert an der Seite. Ihre Kleidung schien<br />

keine Rüstung zu sein, dafür ließ sie zuviel Haut frei, unter anderem ihren bezaubernden Bauch.<br />

Yesihja erhob sich, als Inigo eintrat und begann rechtfertigend: „Der Herr sagte ihr würdet euch<br />

kennen...“<br />

Inigo hob beruhigend eine Hand: „Es ist schon in Ordnung, Yesihja. Shamino, was kann ich für dich<br />

und deine bezaubernde Begleiterin tun?“<br />

Shaminos Stimme war mit etwas Mißtrauen und deutlicher Mißgunst gemischt, als er antwortete:<br />

„Spare dir deine Komplimente, sie versteht dich nicht!“<br />

Inigo wandte sich der Dame zu. Welchem Volk mochte sie wohl angehören? Erst jetzt bemerkte er<br />

weiße Strähnen in den roten Haaren und die seltsame Farbe ihrer Augen: schwarzblau. Eine zu klein<br />

geratene Hallakine vielleicht? Es war einen Versuch wert.<br />

Mit einer tiefen Verbeugung sprach er sie auf Hallaksch an: „Ich begrüße euch in meiner<br />

bescheidenen Kammer.“ In einem Anflug guter Laune ergriff er flugs ihre Hand und küßte sie. Das<br />

erstaunte „Vorsicht!“ von Shamino kam zu spät. Die Dame sprang auf, daß Inigo einen Schritt nach<br />

hinten torkelte, und sandte ihn mit einem kräftigen Kinnhaken auf den Lehmboden der Hütte. Seine<br />

Lippe platzte auf und es drehte sich kurz um ihn, er blieb aber bei Bewußtsein.<br />

„Autsch!“, stieß er aus und ließ sich von Shamino und Yesihja auf die Beine helfen. Shamino konnte<br />

sich ein Lächeln nicht verkneifen: „Sie ist eine ganz besondere Frau!“<br />

„Das“, stimmte Inigo zu und rieb sich das Kinn, „habe ich bemerkt.“<br />

Die rothaarige Frau kam einen Schritt näher. Man sah ihr deutlich an, daß ihr der Hieb leid tat. Sie<br />

ging zum Tisch und tunkte ein kleines Tuch in den Wasserkrug. Damit tupfte sie die Lippe Inigos ab,<br />

der vorsichtshalber einen halben Schritt nach hinten ging. Dabei wurden sie von den eifersüchtigen<br />

Blicken Shaminos und Yesihjas begleitet.<br />

Als seine Lippe aufgehört hatte zu bluten, nahm Inigo betont langsam ihre Hand in die seine und<br />

senkte erneut, ganz langsam nun, seinen Mund zu ihrer Hand. Leicht drückte er sie darauf, bedacht<br />

keinen Blutfleck zu hinterlassen und ließ die Hand langsam wieder sinken. Sein Lächeln wurde von<br />

ihr beantwortet. Ihre Eckzähne waren länger als die anderen, fast raubtierhaft... Unwillkürlich<br />

schüttelte es ihn kurz. Er legte die Hand auf die Brust und sagte: „Inigo!“. Sie begriff schnell,<br />

wahrscheinlich hatte sie dies schon mehrmals hinter sich gebracht, und antwortet, mit einer rauhen<br />

Stimme: „Brianne!“. Das Tier auf ihrer Schulter fiepte zustimmend. Sie wies mit der Hand auf es und<br />

sagte: „Wiko!“. Inigo streckte seine Hand nach Wiko aus, aber er huschte blitzschnell auf die andere<br />

Schulter und spähte mißtrauisch um den Hals der Frau herum. Mit einem Schulterzucken ließ Inigo<br />

die Hand wieder sinken.<br />

Shamino fuhr energisch zwischen die beiden: „Es tut mir jetzt schon leid dich zu fragen, aber du<br />

scheinst der einzige zu sein, der mir helfen kann. Du kennst dich mit Sprachen aus?“<br />

Inigo machte einen Schritt nach hinten, um den jungen Mann nicht mehr mit der Nase an der Brust zu<br />

kitzeln, er war immerhin fast einen Sprung groß: „So sagt man.“<br />

„Brianne spricht die Sprache <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s nicht und keiner den ich fragte kennt ihre! Es heißt Du<br />

könntest Sprachen schnell lernen und schnell lehren. Also bring´ ihr <strong>Mantow</strong>in bei!“ Der junge Mann<br />

ließ keinen Zweifel, daß er keinen Widerspruch gelten lassen wollte.<br />

Inigo schaute sich Brianne noch einmal an. Sie schien nett zu sein, wenn man von ihrer, nun ja, etwas<br />

rauhen Art absehen konnte. Außerdem gierte es ihn danach diese neue, unbekannte Sprache zu<br />

erkunden, Begriffe für ihre Worte zu finden. Es würde sicher schwierig und langwierig, eine echte


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Herausforderung. Außerdem wären sie beide die einzigen, die Briannes Zunge sprechen könnten. Ja,<br />

er würde es tun. Allerdings war ihm Shamino, dieser Moralapostel, der sich selbst zum Richter der<br />

Unterstadt ernannt hatte, nicht sonderlich sympathisch: „Ich könnte es versuchen, aber wer zahlt mir<br />

den Verlust, den ich in der Zeit mache?“<br />

Shamino schnaubte: „Als wenn einer wie du eine Arbeit hätte. Aber egal, ich zahle dir eine<br />

Bronzesonne das Viertel.“<br />

„Eine Silbersonne!“ Warum nicht dreist sein. Shamino brauchte ihn, immerhin war er der Beste!<br />

„Drei Bronzesonnen!“<br />

„Acht!“<br />

„Fünf! Und Du beginnst sofort!“<br />

„Einverstanden!“ Inigo streckte ihm die Hand hin, aber statt einzuschlagen, zählte Shamino nur die<br />

fünf bronzenen Münzen hinein.<br />

Inigo blickte darauf, zuckte dann einmal mehr die Schultern und zog die beiden Stühle von dem Tisch<br />

weg. Brianne bedeutete er auf dem einen Platz zu nehmen, er selber setzte sich auf den anderen. Er<br />

hob die Hand, zeigte mit dem einen Finger der anderen darauf und sagte: „Hand!“ Brianne nickte, und<br />

wiederholte: „Hand.“<br />

Gut, sie schien zu wissen, worauf er hinauswollte. Wenn man eine neue Sprache lernen wollte, von<br />

der man kein Wort kannte, mußte man erst einen Schatz an Worten ansammeln, bevor man lernen<br />

konnte, wie sie anzuordnen waren. Doch nun mußte er sie dazu bringen, ihm auch ihre Worte zu<br />

verraten. Grübelnd legte er die Hand an die Stirn. Nachdem er ein wenig nachgedacht hatte, fiel ihm<br />

etwas ein. Er hob erneut die Hand und zeigte darauf. Brianne sagte erneut: „Hand!“ Dann zeigte er auf<br />

Brianne und wieder auf die Hand. Die Fremde schien nicht zu verstehen. Erst als er erneut auf<br />

Brianne zeigte, diesmal auf ihren Mund, schien sie zu begreifen. Sie hob ihre eigene Hand und sagte,<br />

darauf zeigend, „D´nahas!“ Na bitte, es ging doch!<br />

���<br />

11 Tage waren vergangen. Inigo war unrasiert, hatte dunkle Ringe unter den Augen. Fast jeden Tag<br />

hatte er mit Brianne gearbeitet, von den frühen Morgenstunden bis in die späte Nacht. Danach hatte er<br />

sich hingesetzt und alle Worte, die er neu gelernt hatte, noch einmal aufgesagt. Da seine Lernmethode<br />

darin bestand nach jedem der Worte es in allen Sprachen zu wiederholen, die er kannte, dauerte dies<br />

meist bis kurz vor Sonnenaufgang. Zu dieser Anstrengung kam noch, daß er keine Minute alleine mit<br />

Brianne war. Immer war Shamino da, eifersüchtig darauf achtend, daß er Brianne nicht zu nah kam.<br />

Dabei wollte er nichts von Brianne, außer ihrer Sprache. Er legte einen fast fanatischen Eifer an den<br />

Tag und auch Brianne machte gute Fortschritte. Sie konnte einfache Sätze mit Worten, die sie kannte,<br />

nun schon bilden.<br />

Shamino kam alleine diesen Morgen, noch vor der normalen Zeit. „Shamino!“, rief Inigo überrascht<br />

aus. Der junge Mann hatte einen entschlossenen Gesichtsausdruck: „Du hast Brianne genug<br />

unterrichtet. Das Viertel ist um und ich muß eingestehen, du hast gute Arbeit geleistet. Aber den Rest<br />

kann ich ihr auch selber beibringen! Dein Unterricht ist beendet!“<br />

Inigo schüttelte ungläubig den Kopf: „Aber jetzt geht es um die Stellung der Worte. Wenn du nicht<br />

willst, daß sie die nächsten Monate damit zubringt einfache Sätze zu stammeln, läßt du mich mit ihr<br />

weiter arbeiten!“<br />

„Nein! Ich habe mein Geld, vielleicht im Gegensatz zu dir, nicht gestohlen.“<br />

Inigo wurde trotzig: „Du kannst sagen, was du willst, ich werde Brianne weiter unterrichten!“<br />

Shamino nahm eine drohende Haltung ein: „Das glaube ich kaum!“ und ging.<br />

Von dem Tumult war Yesihja wach geworden. Süße kleine Yesihja. Deutlich hatte er die letzten Tag<br />

den Vorwurf in ihren Augen gesehen. Sie fühlte sich zurückgesetzt, war vielleicht sogar eifersüchtig.<br />

Wenn er ihr doch nur klarmachen könnte, wie gern auch er sie hatte. Das ging sogar so weit, daß er<br />

keine anderen Frauen mehr beachtete. Nein, daß war falsch. Natürlich beachtete er sie noch,<br />

bewunderte eine schöne Frau, einen geschmeidigen Leib mit der selben Faszination wie ein Künstler<br />

ein Bild. Er wäre nicht länger der Sohn seines Vaters, wenn er es nicht täte. Aber er spürte kein<br />

Verlangen nach ihnen. Hatte ihn früher seine Lust geleitet, zügelte er sie nun, schon seit über einem<br />

Viertel. Und daran war nicht allein die Arbeit mit Brianne Schuld.<br />

Er kniete sich neben das Bett: „Yesihja, es ist alles in Ordnung. Es war nur Shamino, um abzusagen.<br />

Heute gehört der Tag uns beiden!“


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Er bedauerte es wirklich, daß er Yesihja nicht mehr Zeit gewidmet hatte. Schließlich war sie fremd in<br />

der Stadt, und die einzige Person, die sie außer ihm hier kannte, ließ sich verleugnen. Dieses<br />

Verhalten paßte so ganz und gar nicht zu der Atakuela „Rühr´ mich nicht an“, die er aus den<br />

Schilderungen kannte. Was mochte da passiert sein?<br />

Wenig später saßen sie beim Frühstück. In den letzten Tagen war es immer karger geworden. Das<br />

Obst wurde durch Rüben ersetzt, das feine, weiße Brot durch schwarzes, der feine Braten durch eine<br />

kleine Ecke rauhe Wurst. Kurz, es wurde Zeit, daß Inigo etwas Geld verdiente. Doch seine Gedanken<br />

wanderten immer wieder zu Brianne und Yesihja bemerkte dies: „Du möchtest sie weiter unterrichten,<br />

nicht wahr?“<br />

„Bitte?“ Inigo blickte auf und versuchte ein strahlendes Lächeln, „Das Strahlen deiner Augen hat<br />

mich zu sehr abgelenkt, um die Worte zu erfassen, die dein wundervoller Mund formte.“ Es fiel ihm<br />

auf, daß sie nicht länger ablehnend gegen seine Komplimente war, sondern sie still zu genießen<br />

schien.<br />

„Ich habe dich gefragt, ob du Brianne weiter unterrichten willst!“ Yesihja blickte ihn forschend an.<br />

„Ja, eigentlich schon. Ihr Sprache ist einerseits so einfach. Wenn du von etwas die Mehrzahl meinst,<br />

sagst du das Wort einfach zweimal. Andererseits ist sie so kompliziert. Es scheint mehr als drei Worte<br />

für die eigene Person zu geben, je nachdem was sie gerade macht... Es wäre so interessant diese<br />

Sprache zu beherrschen. Aber Shamino...“<br />

Inigo wurde rauh unterbrochen. Etwas von Yesihjas alter Trotzigkeit brach wieder hervor: „Ihr<br />

Männer! Gehört Brianne etwa diesem Shamino? Mit ihrem Schwert und ihren Zähnen sah nicht so<br />

aus, als würde sie sich viel gefallen lassen, also wenn du sie unterrichten willst, geh sie fragen!“<br />

Inigo sprang aufgeregt auf. Mit einem schnellen Schritt war er bei Yesihja, drückte ihr einen Kuß auf<br />

die Lippen und war zur Tür hinaus.<br />

Wenig später kam er wieder hinein und blickte auf eine amüsiert lächelnde Yesihja.<br />

Inigo kratzte sich am Kopf: „Vielleicht sollte ich mir erst was anziehen...“, und stimmte dann in<br />

Yesihjas Gelächter ein.<br />

���<br />

Mit einem kräftigen Klopfen meldete sich Inigo in der Hütte an, in der Shamino zur Zeit wohnte. Als<br />

nach einigen Augenblicken nicht geöffnet wurde, pochte er lauter. Da ertönte hinter ihm eine rauhe,<br />

aber doch feine Stimme: „Niemand darin?“<br />

Er wirbelte herum und sah in das unsicher lächelnde Gesicht Briannes. „Blacha nemu takariés!“,<br />

antwortete er, was hoffentlich soviel wie „Dann warte ich auf die Frau!“ hieß.<br />

Brianne nickte anerkennend und antwortete etwas, bei dem Inigo aber nicht mitkam. Er hob<br />

entschuldigend die Hand. Dann fragte er: „Brianne, willst du mehr lernen?“<br />

Sie legte den Kopf schief und fragte: „lernen?“<br />

Inigo nickte: „Mehr Wörter können, richtig sprechen können!“<br />

Brianne nickte schnell: „Ja, will richtig sprechen. Shamino: du nicht mehr kommen.“<br />

„Er gibt mir kein Geld mehr, das ist wahr. Aber ich werde dich trotzdem weiter unterrichten.“<br />

Brianne schien nicht alles verstanden zu haben, aber sie wies ihn an vorzugehen. Gerade als er sich<br />

auf den Weg machen wollte, trat aus einem Schatten Shamino: „Halt Inigo, ich sagte du wirst sie nicht<br />

mehr unterrichten. Und wo wir gerade dabei sind, haltet dich von ihr fern!“<br />

„Shamino“, Inigo machte eine beschwichtigende Handbewegung, „Ich will lediglich an ihrer Sprache<br />

interessiert, keine Angst.“<br />

„Man kennt euch in der Stadt, Inigo Bellodores, man weiß um deinen Ruf. Du behandelst die Frauen,<br />

als wären sie nichts als Huren, nimst die nächste, wenn du der einen überdrüssig bist. Brianne wirst<br />

du nicht mißbrauchen, sie steht unter meinem Schutz!“ Shaminos Stimme bebte vor Wut.<br />

Inigo hielt die Hände weiter erhoben, um Shamino nicht zu provozieren: „Wenn du so von mir denkst,<br />

trifft mich das zutiefst. Aber auch du hast nicht den besten Ruf -ein Jüngling, der das Recht in die<br />

eigenen Hände nimmt- und du bist ein ehrenhafter und aufrichtiger Mann. Denk´ einmal darüber nach:<br />

was die Leute erzählen und wie es in Wahrheit ist, stimmt in den seltensten Fällen überein!“<br />

Obwohl Brianne nur das wenigste verstehen konnte, merkte sie die Verstimmung der beiden Männer<br />

anscheinend, denn sie trat zu Shamino, legte ihm ihre Hand auf die Schulter, wobei die Lederbänder<br />

an ihrem Arm über seine Kleidung schabten und sagte: „Shamino, muß lernen, Freund!“


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Dann klopfte sie noch zweimal beruhigend auf die kräftigen Arme des Hünen und wandte sich an<br />

Inigo: „Gehen?“ und über die Schulter noch einmal an Shamino: „Abend zurück!“<br />

���<br />

Tatsächlich verließ Brianne diesen und auch die nächsten Tage das Haus Inigos früher und kam<br />

später. Die Arbeit wurde auf ein erträgliches Maß zurückgeschraubt denn vorerst war Inigos Hunger<br />

gestillt. Was jetzt noch zu tun war, waren Feinheiten. Brianne konnte nun, nach zwanzig Tagen des<br />

Lernens, in <strong>Mantow</strong>in fast fehlerfreie Sätze bilden. Natürlich brachte sie Zeiten und Worte<br />

durcheinander und es fehlten ihr unzählige Vokabeln, aber für eine so kurze Zeit sprach sie ein sehr<br />

gutes <strong>Mantow</strong>in.<br />

Inigo schaffte es sogar zwischendurch ein bißchen Geld zu verdienen, mit Gelegenheitsjobs. Nicht so<br />

gut bezahlt wie Übersetzungen, aber eine Stadt wie <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> brauchte nicht so oft die Dienste<br />

eines Transskriptors.<br />

Yesihja war scheinbar ebenfalls mit dieser Regelung einverstanden. Trotzdem schien sie ihm<br />

zwanghaft gefallen zu wollen. Wenn sie doch nur wüßte, wie gut sie ihm auch so schon gefiel. Aber<br />

auch, wenn er ihr Komplimente machte, er brachte es doch nicht fertig, auszudrücken, was er wirklich<br />

fühlte.<br />

Gestern hatte Yesihja die ganze Hütte geputzt, auch den Boden geschrubbt und die Feuerstelle von<br />

Asche entleert. Außerdem hatte sie seine und ihre Kleidung gewaschen, hatte für den heutigen Tag<br />

vorgekocht, Wasser geholt und das Bett aufgeschüttelt. Jetzt erwachte sie, und streckte langsam die<br />

Beine aus. Statt ihres strahlenden Lächeln jedoch war ihr Gesicht eine Maske des Schmerzes, und sie<br />

stöhnte leicht auf. Inigo, der mit nacktem Oberkörper am Tisch saß, blickte sie erstaunt an: „Kleine<br />

Yesihja, wie es aussieht, hast du dich überschätzt!“ Um es für Yesihja einfacher zu machen, sprachen<br />

sie nur Multor, wenn sie alleine waren.<br />

Sie blickte ihn gequält an: „Mir tut jeder einzelne Knochen im Körper weh! Wie kommt das? So<br />

etwas habe ich noch nie gefühlt.“<br />

Inigo lächelte, doch seine Augen zeigten Mitleid: „Nicht die Knochen, sind es, die dich schmerzen,<br />

Yesihja. Es ist das Fleisch, das darum liegt. Aber ich kenne eine Methode, welche die Schmerzen<br />

verscheucht. Leg dich wieder hin!“<br />

Yesihja gehorchte, aber mißtrauisch.<br />

„Wo schmerzt es am meisten?“, fragte Inigo, der sich neben ihr auf dem Bett niederließ.<br />

„Der Rücken schmerzt sehr!“<br />

Inigo nickte und sagte mit einem aufmunternden Lächeln: „Dann dreh dich auf den Bauch und zieh<br />

dein Nachthemd aus.“<br />

Die Augen Yesihjas weiteten sich erschrocken: „Inigo, ich bin ein...“<br />

„Anständiges Mädchen, ich weiß, nun ja, es wird auch so gehen. Dreht euch auf den Bauch.“<br />

Yesihja gehorchte und Inigo legte seine Hände auf ihren Rücken. Mit kräftigen, aber doch zärtlichen<br />

Bewegungen, begann er die Muskeln zu kneten. Er spürte, wie sich Yesihja entspannte. Sie grub den<br />

Kopf in das Kissen und atmete ruhiger. Draußen prasselte der Regen kräftig auf die Straße und das<br />

dünne Holzdach. Es war ein Wunder, daß es nicht reinregnete.<br />

Inigo war mit dem Rücken fertig und nahm sich nun den Nacken vor. Vorsichtig, mit zwei Fingern,<br />

strich er hinauf und hinunter. Dann die Arme. Sie waren weich und warm. Die Beine. Von einer<br />

Laune geleitet, schob er das weiße Hemd bis zu den Oberschenkeln hinauf, um sich den Waden zu<br />

widmen. Dann ließ er seine Hand unter dem Hemd bis zu den Oberschenkeln wandern. Wieder kein<br />

Protest. Inigo spürte, wie die Berührung ihrer Haut ihn erregte. Er drückte die Oberschenkel sanft,<br />

strich an ihnen herauf und herunter, drängte seine Hand zwischen die Beine und streichelte die<br />

Innenseiten. Dann ließ er seine Hand weiter hinauf wandern, noch ein Stück. Er merkte, wie Yesihja<br />

sich versteifte. Trotz seiner eigenen Erregung bremste sich Inigo. Es wäre nicht recht, die Situation<br />

auszunutzen. Er ließ seine Hände wieder nach unten gleiten und nahm sie dann schließlich weg. Wenn<br />

sie es tun würden, dann erst, wenn Yesihja dazu bereit war. Aber das sie es tun würden, daran hegte<br />

Inigo nun keine Zweifel mehr. „So, nun solltest du dich wieder bewegen können!“<br />

Yesihja war errötet und nickte nur stumm. Inigo hoffte, nicht schon zu weit gegangen zu sein. Er<br />

drehte sich herum, wie immer, wenn sich Yesihja ankleidete, und sprach weiter, um keine peinliche<br />

Pause entstehen zu lassen: „Willst Du eigentlich noch einmal diese Lehrmeisterin Atakuela<br />

aufsuchen?“


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Yesihja antwortete traurig: „Nein, es hat keinen Zweck. Sie wird mich wohl nicht mehr empfangen<br />

wollen. Wenn ich nur wüßte, was ich ihr getan habe...“<br />

Inigo zuckte zusammen. Sehr viel Geschick hatte er da an den Tag gelegt. Die eine peinliche Situation<br />

hatte er durch eine andere ersetzt. Dann plötzlich spürte er Yesihjas Arme um seine Hüfte, die Hände<br />

drückten gegen seine Brust. „Ich habe es noch nie getan, Inigo!“<br />

Faßt wollte er fragen, was sie noch nie getan habe, doch da wurde es ihm klar. Sie hatte also klar<br />

gemerkt, worauf er hinaus gewesen war und fast tat es ihm leid. Doch sie schien nicht böse zu sein,<br />

wollte sich scheinbar entschuldigen. Inigo wandte sich um und schloß Yesihja in die Arme: „Liebste,<br />

wir werden nichts tun, bis du dazu bereit bist, egal wie lange es dauert.“<br />

„Wirst du deine Lust bei anderen befriedigen?“ In ihrer Frage war deutlich die Furcht zu hören.<br />

Würde er? Inigo konnte es nicht genau sagen. Vermutlich nicht. Aber Sicher? „Yesihja, versteh mich<br />

nicht falsch, ich liebe dich! Ich glaube ich liebe dich mehr als ich jemals eine andere Frau geliebt<br />

habe, aber ich kann es dir nicht versprechen. Ich werde mich bemühen, aber es schwören, hieße dich<br />

anlügen und das will ich nicht.“ Seltsam, früher hatte es ihm wenig ausgemacht, die Frauen zu<br />

belügen. Sie wollten Lügen hören, über ihr Aussehen, über ihr Lachen, über seine Motive. Und keine<br />

hatte sich bisher beschwert, wenn er nicht am nächsten Morgen auszog, um die Monster zu<br />

erschlagen oder die Sterne zu sammeln, die er ihnen versprochen hatte. Aber bei Yesihja war es ihm<br />

wichtig, daß sie ihm vertraute. Er hoffte sehr Yesihja würde das verstehen.<br />

„Es fällt schwer das zu akzeptieren, aber hättest du mir die Treue zu schnell geschworen, hätte ich<br />

gewußt du meinst es nicht.“ Ihr Lächeln war schief geworden.<br />

Inigo wollte noch etwas sagen, wollte ihr seine Gefühle mitteilen, wollte ihr von dem Grummeln im<br />

Bauch, nicht in der Lendengegend erzählen, wenn er sie ansah. Statt dessen küßte er sie einfach. Sie<br />

erwiderte seinen Kuß, erst scheu, dann intensiver. Als sie sich voneinander lösten, atmeten sie beide<br />

schwer. Inigo hob Yesihja auf, legte sie auf das Bett und sich selber daneben. Sie küßten sich erneut,<br />

und Inigo schnürte das Mieder auf, öffnete das Hemd und ließ seine Hand hineingleiten. Sanft drückte<br />

und streichelte er ihre Brüste, umspielte mit der Zunge die Brutwarzen. Yesihja zuckte erst<br />

unmerklich zurück, genoß aber wenig später die Berührungen. Als aber Inigo Hand weiter vordringen<br />

wollte, durch ihr Mieder, unter ihren Rock, da legte sie die ihre darauf und sagte leise: „Bitte!“<br />

Inigo nickte lächelnd und auch wenn er ein wenig enttäuscht war, freute er sich, daß sie ihm ihre<br />

Meinung sagte. So würde er zumindest niemals das Gefühl haben müssen, sie gedrängt zu haben. Sie<br />

küßten sich noch eine lange Weile, streichelten ihre Oberkörper und Arme, ihre Gesichter.<br />

Es war weit nach Mittag, als sie endlich aufstanden. Draußen prasselte noch immer der Regen nieder.<br />

„Es scheint nicht so, als könnten wir heute viel unternehmen...“, sagte Inigo, ohne jedes echte<br />

Bedauern. „Dann werde ich mich wohl daran machen, das Mittagsmahl zu richten. Haben wir noch<br />

Fleisch im Haus?“<br />

Yesihja reagierte nicht. Inigo drehte sich wieder zu ihr um, und sah sie immer noch im Bett, das lange<br />

Haar zerwühlt, das Mieder notdürftig wieder zugebunden. „Inigo?“<br />

„Ja, Sternenkätzchen?“<br />

„Ich bin aus Multor! Ich lief meinem Vater weg.“ Es kostete sie Überwindung dies zu sagen.<br />

Inigo nickte und wartete, aber es kam nicht mehr. Nun gut, es war ein Anfang. Nach einigen weiteren<br />

Augenblicken sprach er wieder: „Dann mache ich jetzt Essen?“<br />

Yesihja nickte dankbar und ging ihm zur Hand. Zwar war sie etwas großzügig bei den Rüben, nachher<br />

waren sie kaum halb so groß, aber es machte Spaß auch das mit ihr zusammen zu tun.<br />

In der Nacht schliefen sie beide im Bett, umarmt, aber es geschah nichts.<br />

���<br />

„Bis morgen also, Brianne!“ Inigo winkte ihr hinterher.<br />

„Ja, bis morgen, Herr Inigo Bellodores. Ich werde Punkt sein, um zu lernen!“ Brianne winkte zurück,<br />

bevor sie sich über die feuchten Straßen zurück zu Shaminos Hütte aufmachte.<br />

„Pünktlich... es heißt pünktlich...“, murmelte er noch, als er die Tür schloß.<br />

Shamino begleitete sie nicht mehr. Entweder hatte er Vernunft angenommen, oder die Geduld<br />

verloren. Immerhin unterrichtete er Brianne nun schon seit fast zwei Vierteln. Wie Yesihja ihm<br />

bestätigte war es ausgesprochen langweilig ihnen beiden zuzuhören, wie sie sich verbesserten. Aber<br />

das war Inigo egal. Er sprach nun die Sprache Briannes, Arietidisch, wie sie es nannte, schon sehr gut,<br />

zumindest behauptete das Brianne. Auf jeden Fall sollte er sie gut genug meistern können, um


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

auszudrücken, was er wollte. Eine Schande nur, daß sich die wenigen Personen, denen er die neue<br />

Sprache vorgeführt hatte, eher verwirrt als begeistert zeigten...<br />

„Und was machen wir nun?“, fragte er Yesihja, die von dem Buch aufsah, in dem sie gelesen hatte.<br />

Sie hatte versucht ihm das Lesen beizubringen, aber alle Mühe war vergebens gewesen. Inigo konnte<br />

sich einfach nicht vorstellen, daß aneinandergereihte Zeichen einen Sinn ergeben sollten. Auch seine<br />

Unterschrift war für ihn nur eine Zeichnung, die anderen sagte, wer er war.<br />

Yesihja lächelte: „Ich weiß nicht?! Schlag´ etwas vor!“<br />

Inigo zeigte mit dem Kopf auf das Bett. Es war eine Art Eroberungsdrang, der ihn erfaßte. Er war sehr<br />

stolz, daß Yesihja ihn erwählt hatte, sie in die Freuden der körperlichen Liebe einzuführen, aber<br />

irgendwo ging es ihm doch zu langsam. Nicht, daß er vor lauter Gier nicht wußte, was er tat. Er war<br />

sogar keusch geblieben, die ganzen langen 24 Tage lang, seit sie sich kannten. Er wollte Yesihja<br />

einfach zeigen, wie schön die Vereinigung war. Sie hatten es einmal versucht, aber sie war nicht<br />

entspannt genug gewesen und Inigo war niemand, der mit Gewalt vorging. Aber er hatte es im Gefühl,<br />

daß heute ein guter Tag war, es zu probieren. Scheinbar sah es Yesihja genauso, und erhob sich<br />

lächelnd. Langsam ließ sie sich auf die Decke des Bettes sinken und lockte ihn mit dem Zeigefinger<br />

heran. Inigo ließ sich dies nicht zweimal sagen. Er machte einen Satz nach vorne, beugte sich dann<br />

vor um wie ein Raubtier auf Yesihja zuzuschleichen. Plötzlich sprang er vor, legte seine Hände auf<br />

ihren Bauch und kitzelte sie ganz furchtbar aus. Sie zappelte, quiekte vor Vergnügen und lachte,<br />

wobei ihre Arme gegen seinen Brustkorb trommelten: „Hör auf, du Untier, hör sofort auf!“<br />

Da hörten sie plötzlich beide ein leises, klirrendes Geräusch. Inigo wirbelte herum und blickte in die<br />

harten Gesichtszüge eines Mannes mittleren Alters. Er war in flammend rote Kleider gewandet und<br />

hielt ein Schwert in der Hand. Der Atamane, der seit einiger Zeit die Stadt unsicher machte? Wohl<br />

kaum. Es mußte Artin Rebur sein, der Kopfgeldjäger.<br />

Gehetzt griff Inigo zu seinem Degen... Verdammt, er hatte ihn am Boden liegen lassen. Er machte<br />

einen Satz nach vorne, überschlug sich in der Luft und kam mir einer Schulter auf dem Boden auf.<br />

Den Schwung ausnutzend, kam er neben dem Degen zum stehen, schob seinen Fuß unter die Schneide<br />

der Waffe und lupfte sie mit dem Fuß hoch. Als er sie auffing, fiel die Tür unter gewaltsamem<br />

Ansturm nach innen. Multorier stürmten hinein, fünf an der Zahl. Sie alle trugen wild<br />

zusammengewürfelte Kleidung, die sie als Söldner erscheinen ließen.<br />

Inigo machte einen erneuten Satz, wobei er den Stuhl als Absprungfläche nutzte, und landete mit<br />

gezogenem Degen vor dem Bett, in dem Yesihja noch immer lag.<br />

Das ganze hatte nur Augenblicke gedauert, aber Inigos Lage war denkbar schlecht. Er alleine gegen<br />

fünf Söldner und einen erfahrenen Kopfgeldjäger...<br />

Er senkte den Kopf und versuchte mit möglichst eindrucksvoller Stimme zu sprechen, zur Vorsicht<br />

gleich auf Multor: „Ich weiß, ihr seid in der Überzahl, aber einen oder zwei von euch nehme ich mit!<br />

Na, wer will der erste sein? Du?“, er pickte sich wahllos einen der Männer heraus und deutete einen<br />

Stich mit dem Degen an. Tatsächlich wich der Mann instinktiv ein Stück zurück.<br />

Alleine hätte Inigo eine Chance gehabt die Hütte lebend zu verlassen, aber mit Yesihja...<br />

Er wandte sich an den Kopfgeldjäger, diesmal in <strong>Mantow</strong>in: „Ist es das Geld wert zu sterben? Wenn<br />

ich mit Dir fertig bin, kannst Du nicht mal mehr japsen!“<br />

„Das“, antwortete Artin Rebur höhnisch, „glaube ich kaum!“ Er klatschte in die Hände und wies dann<br />

mit einer Hand auf Inigo. Ein roter Schimmer erschien vor dessen Augen und er konnte sich kaum<br />

noch auf den Beinen halten. Schwankend torkelte er einen Schritt nach vorne.<br />

Rebur sprach erneut, und Inigo hatte Probleme ihn zu verstehen: „Wir nehmen eure kleine Freundin<br />

nun mit!“<br />

Wut brandete durch Inigo Körper und schien die Mattigkeit etwas zurück zu kämpfen. Mühselig<br />

richtete er sich auf, zeigte mit der Spitze des Degens auf Artin Rebur: „Nur... über meine Leiche! Ihr<br />

werdet... sie mir... nicht entreißen.“ Mit einem Blick zu Yesihja fügte er schwer atmend hinzu:<br />

„Eher... sterbe... ich...“<br />

Rebur lachte grausam auf: „Das läßt sich einrichten!“ Mit einem kräftigen Schlag entwaffnete er Inigo<br />

und schickte ihn mit einem gewaltigen Hieb mit der flachen Seite des Schwertes auf die Knie. Dann<br />

setzte er die Spitze des gewaltigen Schwertes auf Inigo Brust, genau über dem Herzen. Zu stark<br />

geschwächt, konnte Inigo sich nicht wehren, wäre fast vornüber in das Schwert gekippt.<br />

„Halt!“, rief da Yesihja und ihre Stimme war voller Panik und Wut. „Wenn ich mit euch gehe, laßt ihr<br />

ihn dann leben?“


Wie der Hieb des multorischen Säbels - <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Rebur blickte einen der Söldner an und der nickte. Enttäuscht ließ der Rotgewandete die Klinge<br />

sinken. Derselbe Söldner sprach nun zu Yesihja: „Ja, Prinzessin, ihr habt unser Wort! Euer Vater<br />

sehnt sich nach euch!“<br />

Inigo stöhnte auf. Er verstand nicht, was da vor sich ging. Prinzessin? Irgendwie mußte sich die Frage<br />

auf seine Lippen geschlichen haben, denn Yesihja antwortete: „Ja, Inigo, ich bin eine Prinzessin.<br />

Mein richtiger Name ist Yesil und mein Vater ist der Imperator von Multor.“<br />

Inigo mußte heftig Luft holen, um nicht erstaunt aufzuschreien.<br />

„Ich bin davongelaufen, um hier Atakuela zu besuchen, aber ich fand dich. Seit ich dich näher<br />

kennenlernte, konnte ich nicht mehr weg. Aber nun ruft mein Vater und seine Soldaten gehorchen. Sie<br />

gehen auch über Leichen! Ich könnte es nicht ertragen Schuld an deinem Tod zu sein, Geliebter!“<br />

Tränen liefen ihre Wangen herunter. Auch Inigo fühlte, wie seine Augen naß wurden. Er kämpfte<br />

nicht dagegen an. Geschwächt wie er war, konnte er nur ein „Yesih...Yesil!“ hervorbringen.<br />

„Du mußt einen Weg finden zu mir zu kommen. Ich werde allen Wachen am Hof Befehl geben, dich<br />

vorzulassen! Bitte, du mußt einen Weg finden.“<br />

Eine der Wachen warf Rebur einen Sack zu, in dem es verdächtig klimperte: „Wir brauchen eure<br />

Dienste nicht mehr. Wie lange wird er noch so bleiben?“<br />

Rebur verneigte sich kurz: „Noch etwa eine Stunde, wenn er nicht sogar einschläft, dann kann es<br />

länger dauern!“<br />

Der Söldner nickte noch einmal, dann verschwand Rebur wie er gekommen war, als rotes Flimmern in<br />

der Luft. Der multorische Soldat wandte sich an Yesil... nein, für Inigo würde sie immer Yesihja<br />

bleiben: „Eure Majestät, kommt nun bitte!“<br />

Yesihja nickte kurz. Dann beugte sie sich nach unten und küßte Inigo lange auf den Mund. Er<br />

erwiderte den Kuß so gut es ihm gelang. Dann wurde Yesihja von der Wache vorsichtig weggezogen.<br />

Inigo nahm noch einmal alle Kraft zusammen und sagte: „Ich werde zu dir kommen!“<br />

Yesihja nickte und ein schwaches, trauriges Lächeln erschien in ihren Mundwinkeln, die von Tränen<br />

naß waren: „Ja, das wirst du -mußt du!“<br />

Dann wurde sie durch die eingetretene Tür geschoben und war verschwunden. Inigo blickte ihr<br />

verzweifelt nach, versuchte sich hochzukämpfen, aber es gelang ihm nicht. Er fiel zur Seite. Die<br />

Karten hatten nicht gelogen. Wolken schoben sich über ihre Liebe und die Zukunft war ungewiß. Mit<br />

einem leisen Schrei, erstickt von Tränen, Wut und Verzweifelung, wurde Inigo ohnmächtig.<br />

Als er erwachte, war es bereits dunkel.<br />

An diesem Tag, am 25. Talu des Jahres 167 nach der Gründung der Stadt <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, verlor Inigo<br />

Bellodores das Liebste, was er jemals hatte.<br />

An diesem Tag starb ein Stück seiner Seele.<br />

An diesem Abend begann eine lange Nacht für <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> - und in Inigos Innerem. Das Band der<br />

Liebe zwischen ihm und Yesihja war zertrennt... wie durch den Hieb eines multorischen Säbels.


Das schwarze Liebesband des 25. Talu - Janina Enders<br />

Das schwarze Liebesband des 25. Talu<br />

Janina Enders<br />

Knochige Finger, die sich im dunkelroten Haar festkrallen. Weiße Strähnen, die sich entsetzt<br />

sträuben... schwarzblaue Augen...voller Furcht stieren sie in die Dunkelheit. Die Arietidin preßt alle<br />

ihre Glieder fest an den mageren Körper, nichts soll sich abspreizen, nichts von ihr abgeschnitten<br />

werden!<br />

Sie kann nichts hören... es gibt keine Laute mehr in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>... kein Leben mehr!!! Die Frau<br />

wälzt sich wimmernd hin und her- dabei löst sich ihr Schwertgurt und die große Klinge fällt klirrend<br />

zu Boden. Sie greift nicht danach- sie fürchtet sich! Sie will die Arme nicht ausstrecken! Da ist... ist...<br />

die Finsternis! Die absolute totale Finsternis, die auf ihr, unter ihr, neben ihr... lauert, sie frißt. Sie<br />

zwischen ihre schwammigen Klauen preßt, jedes Geräusch abschirmt. Ihr Herz pocht, pocht laut und<br />

ängstlich... ein erschöpfter Laut entringt sich der ausgedörrten Kehle... und da spürt sie es wieder! Es<br />

ist ein Schmerz, der aus allen Körperregionen in die Arme schießt und schließlich in den Händen<br />

explodiert... die Gabe... sie fühlt ihre Magie, fühlt sie in sich, stärker als jemals zuvor. Noch nie war<br />

ihr so bewußt, heilen zu können... noch nie hatte sie diesen Drang zu heilen...<br />

„Oh... nein!“, wisperte sie jämmerlich, „Bitte, bitte!“ Bitte.<br />

���<br />

Vor einiger Zeit hatte sich alles in ihrer Umgebung verändert, nichts war mehr, wie bei ihrer<br />

Ankunft... gar nichts mehr. Etwas Grundlegendes hatte sich geändert... die Sonne ging nicht mehr auf!<br />

Es war einfach nur dunkel. Es war keineswegs ´nur´ Nacht... diese Dunkelheit... lebte. Man konnte<br />

nicht ´Nacht´ zu ihr sagen. Sie bewegte sich... hatte Sinne... wußte.... Alle Personen in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong><br />

waren verschwunden, keiner ließ sich mehr auf den Straßen blicken. Brianne hatte vorsichtig in einige<br />

Hütten der Unterstadt und sogar in ein paar Häuser der Nordstadt gesehen...alles was sie fand, war...<br />

die Schwärze. Der kleine Wiko war auch nicht mehr da! Und Shamino, der große, kräftige Mann, der<br />

sich so liebevoll um sie gekümmert hatte... obwohl er sie gar nicht kannte- verschwunden. Panik hatte<br />

sie dann zu Inigo Bellodores geführt, aber der wortgewandte Kämpfer und sein Mädchen Yesihja...<br />

waren fort.<br />

Niemand war mehr da! Brianne rieb sich über die Augen. Sie saß irgendwo im Rattenloch,<br />

zusammengekauert wie ein arietidischer Igelhund. Laut schluchzte sie auf. „Ich bringe allen nur<br />

Pech!“, flüsterte sie. Das lebendige Schwarz waberte... Plötzlich hob Brianne ruckartig den Kopf. Es<br />

gab nur eine Erklärung für den Untergang der Sonne und den Tod der Menschen dieser Stadt... sie<br />

mußten tot sein... es war Agathons Werk. Der Gedanke hatte die ganze Zeit in ihrem Kopf gehockt,<br />

war aber nun aufgesprungen und stieß mit den Fäusten gegen ihre Stirn. Ja! Sie war fast davon<br />

überzeugt... es mußte Agathons Werk sein! Entweder das oder... sie war endgültig wahnsinnig<br />

geworden!<br />

���<br />

Brianne hatte niemals ernsthaft an ihrem Verstand gezweifelt und das tat sie auch jetzt nicht...<br />

zumindest nicht sehr lange. Unsicher tastete Brianne nach ihrem Schwert. Es schlief. Aber kaum, daß<br />

sie es sicher in der Hand wog, ertönte ein heller, wohlbekannter Ton. Die Kriegerin verzog das<br />

Gesicht und murmelte leise etwas vor sich hin. Die Klinge beruhigte sich... blieb aber wach! Auch sie<br />

spürte etwas anderes. Zitternd kam Brianne nun auf die Beine. Wut sammelte sich in ihr... die Klinge<br />

blitzte erwartungsvoll, wenn ihr Träger in dieser Stimmung war, würde Blut fließen... priskanisches<br />

Blut... bald.<br />

Brianne entblößte ihre scharfen Zähne... Agathon... was hatten die Bewohner dieser Stadt ihm getan?<br />

Was hatte Shamino ihm getan... ach, Shamino! Die Klinge schwankte und die Spitze fiel auf den<br />

Boden. Ein tiefes Grollen entfuhr Briannes Kehle. Ein gefährlicher Knurrton, der in einem keifenden<br />

Schrei endete.<br />

„Agathon, Dreckfresser! Zeige dich!“, rief sie verzweifelt in die dunkle Ferne. Nichts. Vor ihr ragten<br />

riesige Schatten auf... ein Wispern tanzte vor ihren Ohren. Sie konnte nichts verstehen, ein Schauer<br />

überfiel sie. Trotzdem brachte Brianne es fertig den dunklen Türmen den Rücken zuzukehren.<br />

„Komm raus Priskaner! Mein Eisen hat eine Verabredung mit dir!“


Das schwarze Liebesband des 25. Talu - Janina Enders<br />

Stille... und nur das Pochen der Dunkelheit. Brianne kreischte wild und wirbelte das Langschwert um<br />

sich.<br />

„Wo bist du, du Mörder?!“ Heulend stieß sie gegen eine Hauswand. „Gib mir wenigstens... Shamino<br />

zurück...“<br />

Wie nur konnte sie den Fürsten erreichen, wann würde er sich zeigen? Brianne wischte sich die<br />

Tränen fort. Es gab da eine Möglichkeit... und Agathon hatte sie ja wohl auch so gefunden, ohne daß<br />

sie... sie...<br />

Sie warf den Kopf in den Nacken und entriß ihrer Seele einen lauten Ruf... Den Ruf eines Falken.<br />

Helle und dunkle Töne, sie stiegen und fielen. Brianne legte ihre ganze Kraft in dieses Lied. Rache<br />

flammte darin auf und nährte sie. Der Ton schoß hoch und sank klirrend zu Boden, schlich... zog sich<br />

in die Höhe, hell und klar...<br />

�<br />

Er hob den Kopf.<br />

�<br />

Der Laut drehte sich, lehnte sich zurück, schleuderte sich nach oben.<br />

�<br />

Seine Augen öffneten sich weit.<br />

�<br />

Nun stießen kleine, kurze Töne zu ihm und bildeten einen Kreis.<br />

�<br />

Ein Grinsen...<br />

�<br />

Brianne sackte in die Knie und winselte leise. Erschöpft rollte sie sich zusammen und... schlief ein.<br />

Eine ganz sanfte Heilung fuhr durch ihren Körper, wie eine wohltuende Massage.<br />

Ach, kleine Kriegerin... weißt Du immer genau, was du tust?<br />

���<br />

Sie wußte nicht, wie lange sie geschlafen hatte, aber sie wurde durch ein Kitzeln an ihrer Nase<br />

geweckt. Träge wischte sie mit der Hand über ihre Nasenspitze. Ein lautes Keckern drang in ihr Ohr<br />

und dann sprang etwas auf ihre Hüfte. Langsam öffnete Brianne die Augen. Ebenso langsam wandte<br />

sie den Kopf. Sie blickte in riesige, schwarze Kulleraugen, die in einem winzigen Köpfchen saßen,<br />

das sich ihr freundlich entgegenstreckte.<br />

„Ah, Wiko!“, schrie die Arietidin und preßte das Kerlchen an sich. Der Kleine schnappte nach Luft<br />

und drückte sich energisch frei.<br />

„Oh, ich bin so froh, daß du wieder da bist! Du bist... wieder... da!“ Die letzten Worte flüsterte<br />

Brianne.<br />

Wenn Wiko wieder hier war... Plötzlich trat aus einer Hütte unweit von Brianne ein alter Mann. Der<br />

Alte murmelte etwas und verschwand wieder im Inneren seiner Behausung. Blitzschnell sprang die<br />

Arietidin auf und hastete zu Judiths Behausung, die am äußersten Stadtrand lag. Auf ihrem Weg<br />

spürte sie wieder Leben in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Glücklich tastete Brianne nach Wiko, der mit angelegten<br />

Öhrchen, darauf bedacht war nicht von ihrer Schulter zu rutschen. Enttäuscht mußte Brianne aber<br />

feststellen, daß Shamino nicht da war. Tränen liefen ihr über die Wangen und sie hockte sich hin, das<br />

Gesicht in ihren Händen vergraben. Da fühlte sie wie Wiko seine Schwanzspitze um ihr Handgelenk<br />

legte und sachte zog. Natürlich zog er für seine Verhältnisse so kräftig wie er konnte... aber die<br />

Kriegerin spürte nur eine leichte Bewegung.<br />

Fragend hob sie den müden Kopf. Wiko hüpfte auf und ab... und lief schließlich in die Dunkelheit-<br />

Brianne folgte dem Tier.<br />

Wiko legte ein erstaunliches Tempo vor, die Frau hatte Schwierigkeiten ihm zu folgen. Auf einmal<br />

stoppte er abrupt, Brianne bremste ab und befand sich am Rand der Schlucht, welche die Stadt in zwei<br />

Hälften teilte... Wiko schaute sie glücklich an...<br />

„Shamino?“, wisperte Brianne ängstlich.<br />

„Ja?“ Er stand hinter ihr. Sie wirbelte herum. Sah dem großen Mann in die hellgrauen Augen, die<br />

fiebrig glänzten... nein, nicht fiebrig... gierig. Brianne trat dicht an Shamino heran und biß sich auf die<br />

Unterlippe. Leicht hob sie den Kopf an... „Shamino...“


Das schwarze Liebesband des 25. Talu - Janina Enders<br />

Heftig zog er sie auf einmal an sich, wollte seine Lippen auf ihre pressen... aber er stockte in der<br />

Bewegung. Nur zu gut wußte er noch, was Inigo widerfahren war, als er Briannes Hand geküßt hatte...<br />

Die Arietidin sah, was Shamino dachte. Langsam stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küßte seine<br />

Mundwinkel.<br />

„Inigo mir nicht gezeigt, was heißt in deiner Sprache...“ Anstatt lange das Wort für „küssen“ zu<br />

suchen, tat sie es. Weich und voll schmiegten sich ihre Lippen auf Shaminos Mund. Nach einer Weile<br />

flüsterte der erstaunte Mann: „Ich bin froh, daß Inigo Bellodores dir das nicht gezeigt hat... Brianne.“<br />

Er umfaßte ihre Hüfte und seine Hände fuhren langsam hoch zu ihren Brüsten. Brianne keuchte auf<br />

und reckte sich dem starken Männerkörper entgegen...<br />

Shamino streifte Wikos Schwanz von ihrem schlanken Hals und betastete die schimmernde Haut. An<br />

der Kehle saß eine winzige Narbe und er fuhr sachte mit der Zunge darüber.<br />

„Sham... tjerlavir...“, stöhnte die Frau und bog ihren Hals durch. Groß und dunkel schimmerten ihre<br />

Augen, als Shamino seine Waffen zu Boden gleiten ließ. Briannes Klinge folgte klirrend. Ihre Finger<br />

schoben zärtlich seine Kleidung zur Seite und legten seinen muskulösen Oberkörper frei... Als sie<br />

lächelte, achtete sie darauf, ihre Fänge nicht preiszugeben, denn sie wollte Shamino nicht<br />

abschrecken. Er umfaßte ihr Gesicht mit beiden Händen und sah sie lange an. Sie -die Frau, die er<br />

schöner und begehrenswerter fand, als alle anderen Frauen, die er kannte. Mit seinen geschickten<br />

Fingern löste Shamino die Lederbändchen, die ihr Oberteil zusammenhielten. Voller Bewunderung<br />

streichelte er Briannes Brüste, die sich ihm erwartungsvoll entgegenreckten.<br />

„Riés brana tjerlavar... Shamino!“<br />

Ihr Verlangen glühte heiß in ihrem Inneren, zwischen ihren weißen Schenkeln... auch sie spürte, daß<br />

Shamino bereit war... mehr als das.<br />

Seine Haut rieb heftig über die ihrige und ließ beide schneller atmen. Brianne drückte Shamino zu<br />

Boden und bewegte sich wie ein Tier über ihm. Seine Finger zeichneten jede Rundung ihres Körpers<br />

nach... spielerisch drückte er seine Zähne in ihre Schulter- ein verzückter Aufschrei drang an seine<br />

Ohren.<br />

Shaminos große Hände umfingen ihre Brüste ganz und er drückte sie leicht. Noch achteten beide<br />

darauf, daß ihre Bewegungen nicht zu hastig oder drängend wurden, aber dann packte Shamino<br />

Brianne und führte seine Hand zwischen ihre Beine. Sie leckte ihre Lippen, als sich ihre Empfindung<br />

verstärkte. Shamino zog seine Hand fort und spürte wie Brianne ihm entgegenkam. Als er langsam in<br />

sie ging, sahen sich beide in die Augen und die Frau vergaß ihre Qual für Momente...<br />

„Sham...“ Es war zuerst nur die animalische Paarung der Körper... nun wurde es immer mehr die<br />

Vereinigung zweier Seelen. Shamino berührte sanft Briannes innerstes Ich und sie strich zärtlich über<br />

sein wahres Sein. Fest aneinander geklammert schlossen die Hände einen Bund... entstand ein Band-<br />

umgeben von einer schwarzen Macht.<br />

Das schwarze Liebesband des 25. Talu- umschattet von einer lebendigen Dunkelheit, die wie Blut<br />

dickflüssig in die Erde sickert...<br />

Was dann dort wächst, kann keiner sagen, keiner ahnen...<br />

���<br />

Ein Stein, weit, weit entfernt, macht eine Prophezeiung:<br />

EIN LIED DRANG DURCH DAS DUNKLE TUCH... ZWEI KINDER WERDEN FRIEDEN<br />

BRINGEN...<br />

���<br />

Das Liebesband zwischen Shamino und Brianne ist stark! Keine Klinge kann es durchtrennen...<br />

manchmal aber reißen kräftige Klauen stärker als Stahl...


Alte und neue Freunde - Janina Enders * <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Alte und neue Freunde<br />

Janina Enders * <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

„Oh nein!“ Torador zog den Kopf ein und sah sich nach einem Hauseingang um, in den er sich ducken<br />

konnte. Nicht nur, daß auf einmal die Sonne nicht mehr am Himmel auftauchte, nun schritt auch noch<br />

diese Frau wie ein Racheengel auf ihn zu. Er hatte gleich gewußt, daß ein Gang in die Unterstadt eine<br />

dumme Idee gewesen war, aber er mußte dringend einige Kräuter von Sarjana entleihen.<br />

Das große Schwert hatte die Frau auch dabei... wahrscheinlich wollte sie ihn bestrafen, weil er damals<br />

das Tier berührt hatte, welches jetzt auf ihrer Schulter saß. Scheinbar hatte es überlebt...<br />

„Äh...“, sagte Torador, als die rothaarige Frau, die fast eine Pfeillänge größer war als er, vor ihm<br />

stehen blieb. Vorsichtshalber machte er einen Schritt rückwärts. Wo war bloß Melirae, sie wollte<br />

doch nur kurz mit dieser Jangrit sprechen...<br />

Da er wohl ganz alleine auf sich gestellt war, streckte er beide Hände mit den Handflächen nach oben<br />

von sich. Die Frau grinste und sagte auf <strong>Mantow</strong>in: „Hand.“<br />

Torador stutzte. Hand? Das war alles? Vielleicht... er zuckte mit den Achseln und wagte einen<br />

Versuch.<br />

„Torador Broschakal.“<br />

´Hand´ war vielleicht ihr Name, sie kam ja allem Anschein von weit her, denn auch ihren Akzent hatte<br />

der dunkelhaarige Mann noch nie gehört. Er kam allerdings zu dem Entschluß, daß ihr Name wohl<br />

doch nicht ´Hand´ lautete, da sie ihn nun etwas verwirrt anstarrte. Dann zuckte sie die Achseln und<br />

sprach langsam: „Bitte entschuldigt mein Be.. Benehmen... damals.“<br />

„Äh... ist schon... in Ordnung? Ich nehme eure Entschuldigung sehr gerne an.“ Zur Bekräftigung<br />

nickte er eifrig. Wer wußte schon, was passierte, wenn er sie ablehnte. Die große Frau nickte und...<br />

sah eigentlich ganz nett aus!<br />

Dann drehte sie sich um und entfernte sich einige Schritte. Torador atmete hörbar aus und sofort<br />

wieder erschrocken ein, als sie sich noch einmal umdrehte. Das Tierchen sprang leichtfüßig auf den<br />

Boden und rannte auf den erstaunten Broschakal los. Flink wickelte er seinen langen Schwanz um<br />

Toradors Körper und schleckte ihn herzhaft über die Wange. Er mußte lachen und hörte auch das leise<br />

Lachen der Besitzerin.<br />

„Kommt zu Brianne, wenn Hilfe sein soll. Ich gerne helfen To- Torador? Torador!“<br />

Sie verschwand wieder und das Tier folgte ihr. Nach einiger Zeit wurde auch der lange, buschige<br />

Schwanz von der Dunkelheit verschluckt...<br />

Torador atmete erneut auf. Irgendwie war ihm das doch noch ein wenig mulmig. Erst rammte sie ihm<br />

fast das Schwert in die Kehle und kaum einen Monat später bot sie ihm Hilfe an? Sehr seltsam.<br />

Er war einmal mehr froh sie zu haben, als Melirae ihm die Hand auf die Schulter legte.<br />

„Da bist du ja!“, sagte er, und legte seine Hand auf ihre, während er sie zärtlich anblickte.<br />

���<br />

Brianne lief durch die dunkle Stadt. Je länger sie diese schreckliche, unnatürliche Dunkelheit ertragen<br />

mußte, um so schlechter wurde ihre Laune. Gerne wäre sie zurück zu Shamino gegangen, wollte sich<br />

gegen ihn lehnen und diese schreckliche Nacht vergessen. Doch sie wollte mehr lernen, die Sprache<br />

dieser Stadt richtig lernen.<br />

Da stand sie auch schon vor der kleinen, heruntergekommenen Hütte in der ihr Lehrer wohnte. Sie<br />

pochte an die Tür, aber es kam keine Reaktion. Brianne pochte etwas energischer, dann noch mal. Als<br />

sie gerade wieder schnell nach Hause laufen wollte, ging die Tür auf. Ein verschlafener Inigo blickte<br />

sie aus halbgeschlossenen Augen an, die sich nun erstaunt weiteten: „Brianne, was willst Du denn<br />

hier?“<br />

Briannes Augenbrauen näherten sich einander an. Was sollte das? „Inigo nicht glücklich mich<br />

sehen?“, fragte sie enttäuscht.<br />

Inigo mühte sich ein Lächeln ab, das aber nicht sehr überzeugend gelang: „Doch, riésnomas, ich bin<br />

mehr als erfreut dich zu sehen.“<br />

Wunderhübsche Frau nannte er sie... Inigo lernte schnell. Jetzt konnte er Brianne schon Komplimente<br />

in ihrer eigenen Sprache machen.<br />

„Aber“, schränkte der Nushq´qai ein und rieb sich dabei die Augen, „ich bin überrascht dich mitten in<br />

der Nacht hier zu sehen. Du warst doch erst vorhin da... Kurz bevor...“


Alte und neue Freunde - Janina Enders * <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Bestürzt sah Brianne wie Inigos Augen sich mit Wasser füllten.<br />

„Was hast du?“, fragte sie und legte die Hand auf seine Schulter. Ein Schluchzen ließ Inigos<br />

Oberkörper erzittern. Er sackte zusammen, die Tränen flossen nun ungehindert, während er sich gegen<br />

den Türrahmen lehnte. Brianne kam einen Schritt näher und blickte unbeholfen auf den attraktiven<br />

Mann herunter, der vor ihren Augen zusammenbrach.<br />

„Inigo, ich... helfen?“, stammelte sie, die Hand noch immer auf seiner Schulter. Der dunkelhäutige<br />

Mann lehnte sich mit dem Rücken gegen den Rahmen und rutschte daran herunter. Sein Körper<br />

zitterte unkontrolliert und schluchzende Geräusche drangen hinter den Händen hervor, die er vor das<br />

Gesicht geschlagen hatte.<br />

Brianne ließ sich in die Knie herunter und legte nun beide Arme um Inigo. Langsam wiegte sie den<br />

Mann hin und her, wie ein kleines Kind das Trost bedurfte und nach einiger Zeit schien es Wirkung<br />

zu zeigen. Inigos Weinkrämpfe klangen ab und er blickte, das Gesicht naß von Tränen, auf die<br />

rothaarige Frau. Brianne schaute mitfühlend auf ihn herunter.<br />

„Willst du sprechen?“, fragte sie ihn und er nickte, fast wie betäubt. Mit ihrer Hilfe kam er bis zum<br />

Tisch, wo er sich müde auf einen Stuhl fallen ließ.<br />

Brianne fielen einige leere Flaschen auf und einige, die noch halb oder ganz voll waren. Nachdem sie<br />

sich etwas ausgiebiger in dem kleinen Raum umgesehen hatte, bemerkte sie auch einige Tonscherben<br />

in<br />

der Ecke. Scheinbar hatte Inigo eine der Flaschen gegen die Wand geworfen.<br />

Inigo blickte sie an. Tränen schimmerten noch immer in seinen Augen. Er war bleich, seine Schultern<br />

hingen herab. Als die rothaarige Frau ihn erneut aufforderte ihr zu erzählen, was los war, sträubte er<br />

sich erst, dann aber sprudelte es unhaltbar aus ihm hervor. Er sprach von seiner Liebe, von den ersten<br />

zarten Zweigen der Leidenschaft, von dem schrecklichen Überfall. Er sprach von Artin Reburs<br />

Schuld, schwörte, unter Tränen der Wut und Trauer, seinen Tod. Er versprach auch den Tod der<br />

Soldaten und doch wußte er, daß er zu beidem nicht fähig wäre. Er sprach über die Wut und die<br />

Trauer, die Hilflosigkeit und die Verzweiflung nachdem sie weg war.<br />

„Yesihja... liebste, süße Yesihja, ich werde sie nie wieder sehen!“, sagte Inigo, diesmal seltsam ruhig.<br />

Brianne blickte ihm in die Augen und Inigo sah Tränen auch in den ihren. „Ich wissen wie du fühlst!“<br />

Automatisch verbesserte Inigo: „Weiß!“<br />

Brianne nickte: „Weiß! Auch ich hab Lavar... Gefährten verloren.“ Und dann sprach auch sie von<br />

Trauer und Verlust, von Verzweiflung und Leere und auch ihre Tränen flossen ohne Rückhalt.<br />

„Die Feinde in meinem Land nahmen meinen Lavar... man nannte ihn Emerald. Ich... sah, wie er ging<br />

in die Erfüllung des Lichtmeß.<br />

„Lichtmeß?“, fragte Inigo leise.<br />

„Heiliges Stein... Freund für Arietiden. Wenn ein Arietide stirbt, schlüpft sein Geist in Lichtmeß...<br />

sagen man, hoffe es ist wahr!“<br />

Brianne schloß die Augen, als sie sie wieder öffnete, sah sie weit in die Ferne.<br />

„Hier“, sie berührte ihren Brustkorb, „sind Schmerzen. Ich war... Gefangene... hinter vielen Stangen-“<br />

„Käfig?“<br />

„Ja! Bei meiner Flucht verlor ich wieder einen Freund... nicht tot, aber weit, weit weg! Zu weit.“<br />

Weinend verbarg Brianne ihr Gesicht in den zitternden Händen.<br />

Inigo erkannte, daß er nicht der einzige war, dem die Welt so ungerecht mitspielte und immerhin lebte<br />

seine Lavir, seine Gefährtin, noch. Es war hart so zu denken, aber im Moment war sich Inigo selber<br />

der Nächste. Dennoch spürte er Mitleid als er die Kämpferin weinend auf dem Tisch liegen sah und<br />

kurz rückte sein Leid in den Hintergrund. Er stand auf, umrundete den Tisch und legte Brianne die<br />

Hand auf die Schulter, drückte leicht. Dann griff er nach einer der Weinflaschen: „Hier, trink einen<br />

Schluck!“<br />

Brianne blickte mißtrauisch auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und fragte: „Was ist das?“<br />

Auf Inigos Gesicht erschien ein fast liebevolles Lächeln. „Das wird dir helfen!“<br />

Brianne schaute weiter unsicher: „Traobas... ähh, Medizin?“<br />

„Ja, so ähnlich. Trink einfach!“, befahl Inigo und nahm selber einen kräftigen Schluck aus der<br />

Flasche, bevor er sie weiterreichte. Brianne roch skeptisch an der Flasche und nahm dann einen<br />

kleinen Schluck. Ihre Augen wurden aufgerissen, verwundert. Dann, nach einem kurzen Augenblick,<br />

bogen sich ihre Mundwinkel nach oben und ihre Wangen wurden ein wenig röter: „Macht warm im<br />

Bauch... ist fajija?“<br />

Inigo nickte: „Ja, es ist eine Art Magie...Mehr?“


Alte und neue Freunde - Janina Enders * <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Brianne lächelte sanft: „Ja!“<br />

Die beiden ließen eine Flasche nach der anderen kreisen. Ihre Wangen wurde immer röter, ihre<br />

Zungen immer schwerer. Als Inigo schließlich seinen Kopf auf sie Tischplatte legte und Blasen in<br />

einer Pfütze des Weins pustete, war Brianne bereits so betrunken, daß sie in ein albernes Kichern<br />

ausbrach. Inigo blickte auf und sah die rothaarige Frau da sitzen, den Kopf nach hinten gebogen, ihr<br />

nackter Bauch wippte rein und raus. Da löste sich auch aus seiner Kehle ein Lachen.<br />

Er erhob sich und schloß Brianne in die Arme: „Gemeinsam schaffen wir es!“ brachte er noch heraus,<br />

bevor Brianne aufhörte zu kichern, gerade noch: „dreht sich...“ sagen konnte und vom Stuhl kippte.<br />

Als sie neben ihm am Boden lag und sich auch um Inigo alles drehte, legte sie ihre Hand in die seine<br />

und nickte kräftig: „Ja, gemeinsam schaffen... Freund!“<br />

���<br />

Am nächste Tag- oder besser gesagt bei ihrem Erwachen, denn noch immer war es gespenstisch<br />

dunkel- ging es den beiden nicht besonders gut. Brianne war schlecht und ihre Knie waren weich.<br />

Aber noch immer erinnerte sie sich an das lustige Kribbeln und die angenehme Wärme, die sie<br />

angefüllt hatte. Aber diese Übelkeit... wurde sie vielleicht krank?<br />

Als aber auch Inigo ziemlich blaß um die Nasenspitze war als er erwachte und sich nur mit einem:<br />

„Das´s normal. Verzeih, daß ich dich nicht zu Bett bringe, aber ich muß in die Tür...“ in sein Bett<br />

fallen ließ, war sie beruhigt. Ganz im Gegensatz zu ihrem Magen, der sich einfach nicht beruhigen<br />

wollte. Trotzdem machte sich Brianne auf den Weg. Shamino würde sich sicher schon sorgen und das<br />

tat ihr leid, aber ein Freund brauchte Beistand... ein Freund... in dieser Stadt. Trotz der Trauer und des<br />

Mitleids huschte ein Lächeln über ihre Züge. Ein Freund!<br />

���<br />

Sie war kurz vor der Spalte, die in dieser schrecklichen Nacht noch schauriger wirkte, als sie Schritte<br />

hörte. Sie hatte schon die ganze Zeit das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden. Nervös griff sie nach<br />

ihrem Schwert. Es schien fast zu vibrieren. Diese Nacht hatte einen ganz schlechten Einfluß auf ihre<br />

Klinge. Sie überlegte kurz, ob sie die Waffe ziehen sollte. Vielleicht war es wichtige Zeit, die sie<br />

verlor, aber sie wußte nicht, ob sie das Schwert unter diesen Umständen kontrollieren könnte.<br />

Doch da wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Aus den dichten Nebelschwaden trat eine<br />

gewaltige Gestalt heraus. In ihrer Hand glänzte eine breite Axt, die sie nervös in der Hand drehte. Es<br />

war eine Hallakine und... Torador. Erleichtert atmete Brianne auf. Das mußte Melirae sein, die Lavir<br />

von Torador.<br />

„Ah, Torador! Wohin heute?“, rief sie.<br />

Torador kam aus dem Schatten der gewaltigen Gestalt hervor und blickte erstaunt und ein wenig<br />

ängstlich auf Brianne. „Ach...ähh... Bri.. Brianne, richtig?“ Die Frau nickte. „Ich gehe zur Arbeit.<br />

Gerade war ich bei Sarjana um noch einmal Kräuter zu holen. Sie macht den besten Beruhigungssud<br />

der ganzen Stadt und im Moment haben wir viele Unruhige in der Lyzeum!“<br />

Torador war sich nicht sicher, warum er das alles erzählte. Vielleicht lag es an seiner Nervosität,<br />

vielleicht an der Angst. Aber es beruhigte ihn ein wenig, zu reden.<br />

„Was ist deine... oh, eure Aufgabe, Herr Torador Broschakal“ Brianne bemühte sich, sich die<br />

Höflichkeitsregeln wieder ins Gedächtnis zu rufen, die Inigo ihr beigebracht hatte.<br />

Torador lächelte erfreut auf. Diese Frau schien doch ganz umgänglich, sie interessierte sich sogar für<br />

seine Arbeit. „Ich behandele die, die im Geiste krank sind!“<br />

Brianne nickte. Nach einem kurzen Augenblick fragte sie: „Und was noch?“<br />

„Bitte?“, Torador war sehr erstaunt.<br />

„Ja, Herr Torador Broschakal, was macht ihr denn sonst noch?“<br />

Torador blickte Melirae fragend an, aber die spähte in den dunklen Nebel, nach möglichen Gefahren<br />

suchend. Also antwortete er: „Nun ja, Brianne, das ist eigentlich eine sehr ausführliche Aufgabe.<br />

Manche der geistig Kranken müssen Tag und Nacht betreut werden und es dauert manchmal Jahre, bis<br />

eine Heilung einsetzt, wenn es überhaupt möglich ist, sie zu...“<br />

Torador brach ab, weil ihn Brianne ehrlich erstaunt ansah. Als sie ihre Erwiderung gab, merkte er<br />

warum: „Bei uns in Arietides haben Heiler. Legt Hand auf Kopf, mach Magie, Leute gesund. Dauert<br />

nicht lange!“


Alte und neue Freunde - Janina Enders * <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Torador machte aufgeregt einen Schritt nach vorne und faßte Brianne an der Schulter, schüttelte sie<br />

leicht, daß ihr Schwert klirrend an ihren Oberschenkel schlug, und fragte: „Du meinst, in deinem Volk<br />

gibt es Heiler, die geistige Krankheiten heilen können. Ich meine, nicht nur Wunden, sondern wirklich<br />

Irre. Fallsüchtige, Hysteriker, Wandelbare?“<br />

Brianne war verwirrt: „Nicht wissen.. Ich weiß nicht, was alles ist, das ihr sagt, aber einige von vielen<br />

Heiler kann Krankheiten im Kopf wegmachen!“ Sie blickte über seine Schulter hinweg und sah in die<br />

eng zusammen gekniffenen Augen der Hallakine. Sie schien über irgend etwas wütend zu sein.<br />

Torador ließ Brianne wieder los, nahm sie bei der Hand und zog sie in Richtung Brücke: „Ihr müßt<br />

mir all das genau erzählen. Seit Jahren suche ich nach einer solchen Methode. Ich werde endlich...“<br />

Torador plapperte aufgeregt und schien fast auf und ab zu hüpfen.<br />

���<br />

„Ich werde nur schnell noch etwas zu trinken holen!“ Die Tür schloß sich hinter Torador. Sie hatten<br />

bereits mindestens einen halben Tag geredet und Brianne mußte Torador alles genau erklären. Es fiel<br />

ihr schwer ihre Gedanken in Worte zu fassen, scheinbar beherrschte sie die Sprache doch noch nicht<br />

so gut, wie sie gehofft hatte.<br />

Sie saß auf einem bequemen Stuhl, hatte süßen Fruchtsaft getrunken und süße Kuchen gegessen.<br />

Melirae hatte während der ganzen Zeit nur mit verschränkten Armen am kleinen Fenster gestanden<br />

und hinaus geschaut, auf die kurzen Fragen Toradors nur mit einem Grummeln geantwortet und wenn<br />

sie über die Schulter geschaut hatte, dann hatte sie Brianne bösartig angefunkelt.<br />

Kaum aber war Torador hinaus, lief sie um den Stuhl herum, packte Brianne am Kragen ihres Anzugs,<br />

zog sie erst auf die Beine und dann hielt sie sie, Nase an Nase, in der Luft. Mit grollender Stimme<br />

sprach sie und Brianne spürte die Wut in ihr: „Hör zu, Mädchen.“ Sie stieß das Wort aus wie eine<br />

Beleidigung. „Torador ist mein Mann! Du wirst die Finger von ihm lassen, verstanden, oder ich<br />

breche Dir eigenhändig das Genick wie einer Ratte!“<br />

Brianne merkte, wie ihre Knie leicht anfingen zu zittern. Diese Frau war so unglaublich stark. Sie<br />

hielt sie ohne das geringste Zeichen von Anstrengung. Aber soviel sie über Hallakinen wußte, würde<br />

betteln und bitten sie hier nicht weiterbringen. Also versuchte sie möglichst viel Sicherheit in ihre<br />

Stimme zu legen, obwohl sie nicht die geringste fühlte: „Ich will deinen Mann gar nicht! Ich bin<br />

Kriegerin, was soll ich da mit einem Mann?“ Insgeheim hoffte sie, daß sie die richtigen Worte<br />

gefunden hatte...<br />

Die Hallakine hielt sie noch immer, ihre Stimme klang nun aber etwas gepreßt: „Ich bin eine wahre<br />

Kriegerin und ich will diesen Mann! Ob du eine Kriegerin bist, kleines Mädchen, wird sich zeigen!“<br />

Sie warf Brianne weg, Diese konnte sich gerade noch an dem Tisch festhalten, von dem ein Krug zu<br />

Boden fiel und zerschellte. Melirae zog mit einem Ruck ihre Axt vom Rücken und schwang sie ein,<br />

zweimal: „Zieh deine Waffe und kämpfe!“<br />

Brianne hatte Angst. Da konnte sie sich nichts vormachen. Diese Hallakine schwang ihre riesige Axt,<br />

als wäre es ein Stöckchen. Trotzdem sah sie ihren kalten Augen an, daß sie nicht spaßte. Doch ihr<br />

Schwert war so wild im Moment... Sie mußte noch etwas anderes versuchen: „Ich sagte ich will<br />

deinen Mann nicht“<br />

Die Hallakine stieß den Atem durch die Nase aus- eine Art Lachen? „Darum geht es nicht mehr!<br />

Verteidige dich!“<br />

Dann schwang sie ihre Axt in einem weiten Bogen. Brianne tauchte unter dem Hieb durch und wich<br />

geschickt aus. Die Axt krachte auf den Tisch und hieb ihn in zwei Hälften, die polternd zu Boden<br />

fielen. Entsetzt schaute Brianne auf die Reste. Nun gut, sie hatte es so gewollt. Mit einem Ruck zog<br />

sie das Schwert... es sprang mehr in ihre Hand. Ein leiser, schriller Ton erklang und das Schwert<br />

zuckte hin und her. Ein Hieb der Axt wurde abgelenkt. Nicht Brianne führte das Schwert, das Schwert<br />

lenkte Brianne. Es zuckte hin und her, parierte einen Schlag der Axt, was Melirae offensichtlich<br />

verblüffte. Dann schwang Brianne es in hohem Bogen und mit einem Krachen trennte es den Schaft<br />

der Axt in der Mitte durch. Die Klinge fiel laut klirrend zu Boden. Melirae blickte dem gefährlichen<br />

Teil ihrer Waffe nach, wie er auf den Boden fiel. Das Schwert zuckte vor, suchte das Herz des<br />

Gegner, lechzte nach Blut. Brianne versuchte ihre Konzentration wieder aufzubauen. Das Schwert<br />

zitterte, drängte danach zuzustoßen, Blut zu trinken, Tot zu spüren. Doch Brianne war eisern: „Nein!“<br />

stieß sie aus. „Ich... will... nicht!“ Mit einem Ruck senkte sie die Klinge... drängte sie nach unten...<br />

verdammte die Waffe wieder in seine Scheide.


Alte und neue Freunde - Janina Enders * <strong>André</strong> <strong>Wiesler</strong><br />

Melirae ließ ihre Hand nach vorne schießen... und klopfte Brianne kräftig auf die Schulter. Die<br />

Kriegerin ging etwas in die Knie, wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.<br />

„Du“, dröhnte Melirae, „bist eine Kriegerin! Solange du die Finger von meinem Mann läßt, werde ich<br />

dich leben lassen!“<br />

Brianne unterdrückte den Impuls aufzuatmen. Statt dessen entschloß sie sich dazu, Stärke zu<br />

demonstrieren. Sie legte ihre Hand, mit etwas Mühe, auf die Schulter der Hallakine: „Ich werde dich<br />

auch nicht töten!“<br />

Beide Frauen nickten sich zu. Brianne nahm wieder Platz und Melirae sammelte ihre Waffe auf. Dann<br />

stand auch sie wieder auf ihrem Platz am Fenster.<br />

Die Türe ging auf und Torador kam herein, ein Tablett mit einigen Flaschen auf der Hand<br />

balancierend: „So, da wären wir...“<br />

Er drehte sich um und vor Schreck wäre ihm fast alles aus der Hand gefallen: „Der Tisch... was ist<br />

denn hier passiert?“<br />

Die beiden Frauen... Kriegerinnen, warfen sich einen verschwörerischen Blick zu. Dann antworteten<br />

sie beide, wie aus einem Mund: „Nichts!“


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

Erkenntnis<br />

Thomas Peter Goergen<br />

I<br />

Der Horizont wehte in einem sonnighellen, weiten Blau über den langgestreckt-gezackten Grat des<br />

großen Gebirges, das, wie ein sich träge wärmender Drachenrücken mit sonnengleißendem<br />

Schuppenkamm, die gespaltene Stadt einfaßte; es war ein später Nachmittag im späten Hamilé.<br />

Die Straßen der Oberstadt waren dichtbevölkert: aus den Gaststuben wucherte lärmendes, aufgeregtes<br />

Volk und der Marktplatz glich einer prallen Reuse, so eng wuseleten und überschlugen sich die Leute<br />

zwischen den Buden, Ständen und den Stufen der anliegenden Gebäude; während aber kaum<br />

gutgekleidete Bürger des nörderlichen <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s in dem Gewimmel zu sichten waren, drängten<br />

vor allem eher schäbige, abgezehrte Massen auf den Basar.<br />

Heute war „Großer Markt“, der Tag, an dem die Händler das abzusetzten versuchten, was in den<br />

vorherigen Wochen nicht über die Tische gegangen war: Früchte, Fleisch von mäßiger oder minderer<br />

Güte, hartes Brot und verdächtig riechende Milch - indes billig und als Großeinkauf für<br />

Unterstadtfamilien erschwinglich, die denn auch zu diesem Ereignis (jeweils am zweiten und am<br />

letzten Viertel eines Monats) scharenweise anreisten, um sich bis zum nächsten Großen Markte<br />

einzudecken. Im Zuge der städtischen Wohltätigkeit wurden den Bedürftigsten sogar billigere<br />

Brückenscheine angeboten, ein Entgegenkommen, das durchaus nicht alle Oberstädter guthießen, da<br />

die Schwärme armer Menschen ihnen unbehaglich waren, und das nicht nur aus Sorge um ihren<br />

Besitz...<br />

Allerdings nur dem Besitz und nicht dem schlechten Gewissen trug das starke Gardeaufgebot<br />

Rechnung; dieses und der Umstand, daß die Unterstädter sich meist zusammenrissen, um sich nicht<br />

den „Großen Markt“ zu verscherzen, gewährleisteten, daß dieser Tag regelmäßig störungsfrei verlief.<br />

Die Unterstadt selbst war demgemäß verlassen, da „ihre Hunde unter die Tische der Oberstadt<br />

krochen“, wie einige Spötter immer wieder abschätzig über das Ereignis befanden; wer nicht über die<br />

Brücke gezogen war, nahm sich den Tag als freie Zeit, und gerade im Hamilé lud die warme Sonne zu<br />

Dösereien auf den Dächern oder im Schatten des Stadtrandes ein - indes die massige Gestalt, die<br />

durch die Straßen des Rattenlochs strich, schien wenig Lust zu haben, sich mehr als nötig in die<br />

Sonne zu begeben, auch wenn wegen der leichten Brise ein Nickerchen unter freiem Himmel sicher<br />

sehr angenehm gewesen wäre... Allerdings in der Tat nur für Leute, die sich nicht unter dem wolligen<br />

Berg eines braunfilzigen Pelzes bewegt hätten wie dieser Mensch, der, mehr Bär als Mensch und<br />

tatsächlich mit ausgiebigem, feuchtem Hecheln, durch die Gassen streunte.<br />

Die Sonne sich auf den Pelz braten zu lassen, mußte nun wirklich nicht sein, und so stapfte Den<br />

Aloumenn-Vioù von einer Schankstube in die andere, die er meist leer, teils sogar geschlossen<br />

vorfand. Und so war er´s zufrieden, als er sich im „Zweischneidigen Schwert“ von der rostigen<br />

Magwa einen Tonkrug Reebenbrand besorgt hatte, den er jetzt zu seiner Behausung schaffte, um dort<br />

gemeinsam den Abend abzuwarten. Schon jetzt, auf dem Weg durch die schiefen, grauen Straßen,<br />

über die sich die bröckligen Fassaden teilweise so gefährlich neigten, daß sie nur noch durch Balken<br />

und anderes Stützwerk vor dem Einstürz bewahrt wurden, überkam ihn das traurige Gefühl, fern zu<br />

sein von seinen Bergen, den Klüften, wo jede Pfeilbreite Moos, jede kalkige Maserung des Steins,<br />

jeder krüppelige Baum ihm vertraut erschien - den rauchigen Feuerstätten der Zelte, der bunten Steine<br />

am Halse der Frau´n, den Lagerplätzen voll borstiger Geborgenheit... Die Enge der Gassen, das<br />

Unnatürliche des Verfalls bedrückte ihn, und brummend, seufzend eilte er weiter.<br />

Über die Pfade der südlichen Berge bewegte sich ein farbenfroher, schellenklingender Wagenzug.<br />

Fähnchen und Wimpel flatterten im Wind und die lustige Musik fremdartiger Flöten und Trommeln<br />

kündigte das fahrende Volk schon von weitem an, bevor die Vorhut der sich auf grauen Eseln<br />

gegenseitig jagenden, lachenden Kinder sichtbar wurde. Die Älteren und Alten lagen dabei faul auf<br />

den Dächern der Wagen oder den Rücken der Pferde und genossen das schöne Wetter.<br />

Es waren Nush'quai, vom Stamme der Rowan, eine kleine Gruppe von Nachzüglern der bereits<br />

vorausgezogenen Schar, auf dem Weg nach <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>, um dort das sommerliche Treiben für<br />

Kauf, Tausch und sonstigen Erwerb der Spielleute auszunutzen. Es mochten noch zwei, drei<br />

Tagensmärsche sein, bevor sie den Südrand der Stadt erreichen würden.


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

Den drückte sich vorsichtig durch die Überreste eines umgestürzten und wegen der Räder und des<br />

Holzes ausgeschlachteten Heuwagens, welche wie das Gerippe eines übergroßen Tieres die<br />

Seitenstraße verkeilten. Ein paar Raben flogen, aufgeschreckt, zwischen den Sparren von ihrer<br />

verwesenden Mahlzeit auf (für eine Katze zu groß, wohl eher ein Hund) und flatterten zeternd durch<br />

die Gasse davon. Noch gedankenversunken, dann und wann am Korken seines Kruges schnobernd,<br />

duckte sich Den an den groben Wänden, die den Weg säumten, entlang, als ihm ein heftiger Schmerz<br />

in der Schulter das Gefäß entriß, daß es zu Boden fiel und zersprang. Er taumelte, aus seiner rechten<br />

Schulter ragte der Schaft eines Armbrustbolzens.<br />

Der Schütze wartete am Ende der Straße, eine halbe Pfeilweite entfernt. Ein seltsamer Sattel hielt ihn<br />

auf dem Rücken eines großen Pferdes - er saß merkwürdig gedreht in dem stuhlartigen Gerät, seine<br />

festgeschnallten Beine hingen an der rechten Flanke des Tiers, und ebenso von rotbrauner Farbe wie<br />

das Fell seines Fuchses war sein eigenes Haar. Gerade legte er, und er ließ sein Ziel nicht aus den<br />

Augen, einen neuen Bolzen in die Armbrust.<br />

Den wich zitternd zurück. Die Wunde pulste, er meinte ihren Blutfluß zu hören, mit dem sein Fell sich<br />

langsam tränkte: mit einem gequälten Schrei fuhr er herum, als er die Gestalten gewahrte, die sich<br />

schattenhaft hinter dem Wrack des Heuwagens bewegten. In seinem Rücken öffnete sich die<br />

Hochgasse, die, wie er sich dunkel erinnerte, nach kurzer Strecke an einer hohen Mauer endete. Dort<br />

war kein Ausweg, und dort, von wo er kam, lauerten fremde Männer, und wohin er gehen wollte, dort<br />

stand der entsetzliche Reiter und zielte auf ihn...<br />

„Baran“, sagte Tin von Erzfeld, „wissen die Männer, daß sie das Vieh aufhalten sollen, wenn er versucht,<br />

mir aus der Schußbahn zu laufen?“<br />

Der große Mann, der die Zügel hielt, nickte stumm.<br />

Der Junge lächelte freudlos. „Gut!“ Mit einem kalten Klacken rastete der Bolzen in die Schiene ein.<br />

Den wußte nicht, was er tun sollte. Der Reiter würde ihn mit Bolzen spicken wie die Nadeln den Ast<br />

einer Krüppelkiefer, und dann würde er tot sein, tot in den engen Straßen dieser gemeinen Stadt und<br />

dann würden auch ihm die Raben im Nacken sitzen und die Ratten in der Nacht...<br />

„Tatzenviech!“ Die Stimme, eine eigentümlich singende, schleppende Stimme, hallte die Wände<br />

entlang. Den kannte die Stimme. „Tatzenviech, hörst Du mich? Ich bin sicher, Du hörst mich.<br />

Viehzeug wie Du hat doch gemeinhin gute Ohren...“<br />

Die Schulter wurde taub.<br />

„Tatzenviech, Bärendreck, ich werde Dich töten. Ich werde Dich jetzt töten, Bärenviech, hast Du<br />

gehört?“ Nein, ich vergesse nichts, dachte der Junge grimmig, nichts habe ich noch als mein<br />

Gedächtnis. O, wenn es doch winseln würde, die letzte, größte Süßigkeit wäre das. „Ich werde Dich<br />

jetzt töten“, wiederholte er noch einmal, leise zu sich, und faßte das hilflos zusammengesunkene<br />

Geschöpf, das sich schutzsuchend in einen Winkel kauerte, ins Auge: „Ein einfacheres Ziel als<br />

fliegende Krähen...“, murmelte er, als er den breiten, in stillem Jammer sich wiegenden Schädel über<br />

der Kimme so nah und deutlich schon zu sehen glaubte wie auf nur wenige Schritt heran... Er kam<br />

nicht zum Schuß. Etwas griff nach der Waffe und hielt sie fest, im nächsten Augenblick war sie<br />

seinen Händen entwunden.<br />

Den blickte auf, als ein Schrei durch die Gasse gellte.<br />

Tin stierte auf den Fremden, der Mund noch weit vom Schrei, und starrte auf die flammend<br />

gewandete, wehende Gestalt, die aus dem Nichts aufgetaucht war, nicht einmal das Pferd hatte sich<br />

gerührt. Die nun seine Armbrust in Händen hielt, einen kupferumwundenen Stab locker in die Beuge<br />

des langen Arms gelegt, und die Waffe aufmerksam, wenn auch ausdruckslos betrachtete.<br />

Tin fühlte einen eisigen Schauer: „Baran“, schrie in einem hohen, schrillen Ton, „Baran, Du sollst ihn<br />

- mach' ihn...“ „Cusa val?“ fragte der Sammler, sanft und höflich. Der Diener rührte sich nicht von der<br />

Stelle.<br />

Den hörte ein Poltern hinter sich und als er um die Ecke spähte, sah er hinter dem Heuwagen die<br />

Straßen leer. Dort hinten nur sah er den Reiter und seinen Knecht und den roten Mann, das Gespenst<br />

aus den Märchen seiner Frischlingstage. Aber das Gespenst hielt das kleine, böse Werkzeug des<br />

Reiters und ein warmes Licht, wie es Gespenster nicht ertrügen, lag auf ihm... Seine Wunde<br />

schmerzte, so daß er beiseite kroch, durch das Bretterwerk des Wracks, und machte, daß er davonkam.<br />

„Baran!“ Tin stieß einen verzweifelten Fluch aus: „Baran!!“<br />

Da reichte ihm der Rote unvermittelt die Armbrust. „Hier, Cer nui“, sagte er nur - „Fetak“, schrie Tin<br />

ihm entgegen: „Seelenräuber, Dieb! Daß die Scheiterhaufen Dich verschlingen, Teufelsknecht! Das -<br />

hast - Du - nicht - umsonst - getan...!“ Da öffneten sich ihm - die Augen des Atamanen, in denen er


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

sich sofort verlor, und der gewaltsame schwarz-weiße Strudel hallte ihm wieder von den seltsamen<br />

Worten: „Ihr! Ihr dauert mich, Ihr und Euer großer Haß! Daß die kurze Spanne Eures Lebens noch<br />

unter so unglücklichen Vorzeichen steht...!“<br />

Wie fremdartig es doch war, da Tin wie aus einer Betäubung erwachte und der Rote verschwunden<br />

war. Er zuckte umher, dann sah er ihn, einige Sprung weit hinter sich, ruhig die Straße<br />

herunterwandern. Mit einer erstaunlichen Gewandtheit riß Tin seinen Fuchs herum, daß Baran einen<br />

Satz zur Seite machen mußte, um nicht von dem erschrocken wiehernden Pferdeleib zu Boden<br />

geworfen zu werden.<br />

„Haa!“ brüllte Tin und zielte am den scharlachfarbenen Rücken - niemals vergesse ich und niemals!<br />

verzeihe ich - und drückte den Abzug: mit einem Klirren, dem scheppernden Singen sich lösender<br />

Schrauben, landete der Bolzen keinen Sprung weit in der Gosse, während der Junge entgeistert die<br />

auseinanderfallenden Teile seiner Armbrust durch die Finger gleiten ließ... Unmittelbar darauf war<br />

der Sammler aus dem Blickfeld verschwunden.<br />

Und das war das Schlimmste, als Baran seinen verstummten Herrn zurück in die Oberstadt führte, daß<br />

Tin von Erzfeld sich gedemütigt fühlte, gedemütigt und auf so traurige Weise zutiefst beschämt.<br />

Ein dichter, warmer Nebel lag, von grünlichem Leuchten durchzogen, im Tal des Beckens aus Kupfer<br />

und Stein. Er floß aus kreisrunden Höhlen in den Wänden der Halle hinab, füllte das Bassin, umwogte<br />

ein wuchtiges, achteckiges Plateau in der Hallenmitte wie Wolken den Gipfel eines Bergs. Dabei<br />

verdeckte er große Stufen, die von den Wänden in die Tiefe und aus der Tiefe zu jener Erhebung<br />

führten - allerdings schimmerten ja die grünen Lichter wegweisend an den Kanten der Trassen empor.<br />

Übrigens war es recht angenehm, auf diesen Stufen sich in den Dunst niederzulegen, denn er<br />

beeinträchtigte das Atmen keineswegs, war zudem wohlriechend und pflegte Haut und Gesundheit<br />

wie Milch.<br />

War man aber ins Becken hinab-, aus dem Becken dann wieder zu der Form aufgestiegen, war zu<br />

entdecken, daß in diese steinerne Erhebung eine runde Mulde gegraben war, eben wie in dem<br />

Sprichwort von dem steten Tropfen, und die Mulde war mit klarem Wasser gefüllt.<br />

Darin nun lag unbekleidet, haarlos bis auf die Brauen, der atamanische Sammler, die gefährlichen<br />

Augen geschlossen, und lauschte den Klängen des Sonophisbaëum, an dem der Botschafter ein<br />

kasralitisches Bühnenwerk vortrug, indem er, da als Taubstummer zum gewöhnlichen Vortrag<br />

außerstande, die Worte in Noten und Töne umsetzte: so verwandelte er die einfache Sprache in die<br />

besondere der Musik. Und Lanungo erfreute sich an der geistvollen Dichtung des Tulamur von Kasra,<br />

dessen derbe Wortspiele ihn immer wieder, so auch heute, erheiterten und unterhielten.<br />

Zwar glaubte er bisweilen, daß aller dichterische Einfallsreichtum nicht solche semala garka hervorbringen<br />

könnte wie...: „Ein Krüppel macht mit hallakinischem Büttel Jagd auf einen Anq'ushaq - oder<br />

Nuu-Giik, wie dieses Völkchen selbst sich nennt - diese Stadt ist wirklich ein Schmelztiegel...“ dachte<br />

er; indes wischte er den Gedanken an das Geschehnis leicht hinweg und lauschte wieder den Worten<br />

der Musik.<br />

Bald schon, nach dem zweiten Aufzug des Tulamur-Stücks, verlangte ihn mehr etwas wissenschaftliches,<br />

ernsthafteres, denn auch wenn er sich in die Baderäume der Botschaft zurückgezogen hatte, um<br />

sich zu entspannen, gab es doch ernste Dinge zu bedenken. Er hieß den Botschafter ein Traktat des<br />

Niklion ad Pars vorzutragen, Über die kleinsten Teile, und der alte Mann kam diesem Befehl<br />

unverzüglich nach.<br />

Lanungo löste sich von seinem Platz, ein wenig umherzuschwimmen; schließlich lagerte er wieder am<br />

flachen Rand der Mulde, kostete die eine oder andere Frucht, die in kristallenen Schalen bereitlag,<br />

summte noch das erste Kapitel der ad Pars´schen Abhandlung mit, um dann nach einigen Papieren zu<br />

greifen und sich darin zu vertiefen.<br />

Die Papiere enthielten Um- und Grundrisse von Räumen und Gebäudeblöcken, gekennzeichnet,<br />

verziert mit verschiedenfarbigen Strichen, Flächen und Zahlen, vor allem rot, grün und gelb. Die<br />

meisten waren vergilbt und an den Rändern abgenutzt. Zwei der Bögen hatte Lanungo allerdings erst<br />

heute erhalten; sie vervollständigten das, was bereits in den Archiven der Botschaft eingelagert<br />

gewesen war.<br />

Das Warten hat nichts ergeben. Neue Erkenntnisse waren nicht dazugekommen. Jedes Vun'basvre war<br />

ins Leere gegangen. Und nichts war in Sicht, obwohl er durch die Befragung der Heiligen Krankheit<br />

sich dem Ziele schon so nahe gewähnt hatte. Nun ja, Selbstüberschätzung, Überschätzung der eigenen<br />

Deutungskraft. Der Ruf war so stark gewesen...


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

Lanungo seufzte. Leise plätscherte er mit den Fingern der rechten Hand über die Wasseroberfläche,<br />

während er sich mit der Linken mit dem Pergamente Luft zufächelte. Der Ruf, der Ruf... War da nicht<br />

ein weißer Fleck, gerade über seiner Hüfte? Ich werde alt, lächelte Lanungo bitter: hätte es damit<br />

nicht noch ein paar Jahrhunderte warten können? Er hatte die letzte Zeit wohl nicht sonderlich<br />

gesund, sehr kräftezehrend gelebt - andererseits, welcher Atamane tat das nicht? Ein weißer Fleck...<br />

Die Lilie, die dereinst entsteht, nicht wieder weicht, bis der Leib vergeht... Und die Baldsterblichen<br />

regten sich über ihre Falten auf!<br />

Er mußte an die ehrwürdigen Ahnen aus dem zweiten oder dritten neuen Hause denken; fast schon<br />

schneeweiß, faltenlos, aber so weiß wie die Wolken, daß sich die wenigen ungeweißten Stellen<br />

nahezu grau gegen die vom Alter blendende Haut ausnahmen. Und dann die Urahnen noch aus der<br />

Zeit vor Ah'kaldach - er, als Sproß des zweiundzwanzigsten neuen Hauses und noch nicht über die<br />

goldene Otter hinaus, hatte freilich nur aus Berichten über die Kinder der alten Häuser gehört: es hieß,<br />

sie trügen auch nur noch weiße Gewänder, die jeden kleinsten Lichtstrahl wiederwürfen, so daß sie<br />

ganz und gar schattenlos seien und von einer leuchtenden Erscheinung...<br />

Allerdings hieß es weiter, daß die weißen Gewänder allein Zeugnis seien für Ah'kaldach, dessen<br />

Zeugen die alten Häuser waren, denn weiß ist den Atamanai die Farbe des Tods.<br />

Nachdenklich starrte Lanungo auf seinen kleinen, weißen Fleck.<br />

Zeit kann nicht drängen. Aber Handeln tut not.<br />

Bald entstieg der Sammler dem Becken, um, nach einem kurzen Gang in den Nebel, die Bäder zu<br />

verlassen.<br />

Hohl. Die Gänge hoch und leer. Langgestreckt, leicht gekrümmt, die Wände, wiewohl aus<br />

Marmelstein, seltsam rauh, schuppig, mit langen Kratzern, als wären die Flure ausgehöhlt durch die<br />

schabenden Windungen eines riesigen Schlangenleibes. Spärliche Beleuchtung von mehrarmigen<br />

Fackelhaltern, die in regelmäßigen Abständen aus den Wänden staken.<br />

Die Luft war nicht angenehm, stickig, wohl verbraucht durch die brennenden Fackeln, obwohl die<br />

Gänge von ungeheuren Außmaßen zu sein schienen. Irgendwann näherte sich das Echo von Schritten.<br />

Es war eine dreiköpfige Gruppe; zwei hochgewachsene Männer in silberschuppigen Panzerkleidern,<br />

eine gebückte Gestalt in einem blauseidigen Kapuzenüberwurf, unter dem ein bodenlanges Gewand<br />

mit schwarz-weißem Rautenmuster hervorschlug. Die Hände in den Ärmeln vergraben, schritt sie<br />

hinter den Panzerknechten her. Es war ein eigentümlich mechanischer Anblick, als würden die drei<br />

von einer unsichtbaren Spieluhr getrieben. Sie mochten ewig so durch die Gänge gleiten.<br />

Aber auf einmal war etwas nicht mehr in Ordnung. Sie hielten an.<br />

Es war kein Luftzug in den Gängen - sollte keiner sein. Das waren steinerne Tunnel, hier tief im<br />

Innern des Tempels. Hier gab es keine Fenster, keine Schächte, keine Öffnungen nach draussen. Und<br />

die Flamme der Fackeln war steil und lotgerade, wie der senkrecht gen Himmel steigende Rauch eines<br />

gnädig aufgenommenen Opferfeuers.<br />

Aber die Fackeln zogen. Sie flackerten und tanzten. Und das konnte! konnte nicht sein.<br />

Dann sahen sie das Loch in der Deckenwölbung. Es war um die zweite Stunde nach Mitternacht.<br />

Der Sammler musterte den steinernen Torbogen, der ineinander verschlungene, sich im Kampfe<br />

zerfleischende Löwen und Panther mit lodernden Mähnen zeigte; die starren Körper spitzbogig<br />

gekrümmt über die Pforte, welche nicht aus einzelnen Latten gefertigt war, sondern aus einer einzige<br />

Scheibe aus dem Stamm eines uralten, mächtigen Baumes - mit dessen so verschwendeter Leib<br />

ansonsten wohl die Öfen geheizt worden waren, in denen sie das Schloß geschmiedet hatten: ein<br />

gußeisernes, weit aufgerissenes Löwenmaul, so groß wie ein menschlicher Kopf.<br />

Lanungo wußte, was für ein Schloß die Türe sicherte, hinter die zu dringen er gekommen war. Ein<br />

Schloß, das jeden Dietrich samt der Hand, die sich unerlaubt ihm näherte, abgebissen und<br />

verschlungen hätte. Der Sammler lächelte. Im rotbraunen Schein der roten Glut in den bronzenen<br />

Becken selbst kaum erkennbar, ein roter Schemen, trat Lanungo auf die Pforte zu, kramte in seinem<br />

Beutel - da war er ja, der Diebeshaken, der ihm schon so viele gute Dienste geleistet hatte - und<br />

machte sich an dem unheimlichen Rachen zu schaffen.<br />

Nur kurz glommen die stählernen Augenschlitze des Wächters wütend auf. Indes war er, die Schwarzkunst,<br />

die ihn belebte, nutzlos bei einem Atamanen, an dem nun jeder Zauber abrann wie Regen an<br />

einer Fensterscheibe. So sperrte er ohnmächtig die Kiefer auseinander, während der Sammler mit<br />

wenigen geschickten Versuchen die Sperren überwand - und dann öffnete sich lautlos die schwere


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

Tür und Lanungo trat, keine zwei Stunden nach Mitte der Nacht, ins verbotene Zimmer, den<br />

Arbeitsraum des Abden und obersten Priesters des Selefra.<br />

Im Innern des Raumes herrschte eine finstere Ruhe, durchlauert von vielen merkwürdigen Lauten und<br />

Geräuschen, vor denen Kinder des Nachts zu ihren Eltern flüchten. Ein Blubbern und Zetern, Stimmchen<br />

von stimmlosen, vielflügligen Wesen: Lanungo ließ die Türe hinter sich zugleiten. Vorsichtig,<br />

aber nicht zögernd bewegte er sich durch das Zimmer, sorgsam darauf achtend, daß er nicht gegen<br />

eine der zahlreichen Truhen, Tische und Gefäße stieß, die überall umherstanden wie in einem<br />

Trödelladen. Da einzige Lichtquelle dieses Raumes nur das mäßige Lohen eines großen Athanors war,<br />

der wie der Globus einer unbekannten Hölle in einer Nische stand, bediente sich Lanungo seiner<br />

Abblendlampe, daraus ein mit Kupferfäden übersponnener Kristall gleichmäßiges Licht verbreitete.<br />

Im Schein seiner Lampe forschte der Sammler weiter durch die Kammer, der seltsamen und<br />

schlimmen Dinge nicht achtend, die überall umherlagerten: die schweißbedeckten Wachspuppen, teils<br />

mannsgroß, durch deren fahle Hülle steigende Säfte sichtbar wurden - die Mosaike aus einer Unzahl<br />

an Knöchelein, welche die menschliche Gestalt, die sie nachbildeten, durch das Odium des Todes<br />

verhöhnten - die großen Kolben und Glasbehälter, gefüllt mit giftigem Gallert, bargen sie alle<br />

Entwicklungsstufen menschlicher Geburt - eine besondere Kostbarkeit war eine Reihe schwerer<br />

Käfige, mit Kreidestrichen übersäht, darin fanden sich Hühnereier in der brütenden Umarmung von<br />

Nattern und Vipern; einige waren auch schon ausgeschlüpft und waren, nach Verschlingen ihrer<br />

Pflegemutter, zu jenen grauenvollen Untieren geworden, deren Gestank die Stärksten schwindeln<br />

macht und deren Anblick alles Lebende zu Stein erstarren läßt. Lanungo tat gut daran, die Basilisken<br />

nicht zu betrachten, auch wenn sie nach ihm geiferten und zischten; denn obwohl er nicht das tödliche<br />

Schicksal der Baldsterblichen geteilt hätte, wäre er womöglich doch erkrankt, so stark und übel war<br />

der Zauber dieser Ungeheuer.<br />

Aber Lanungo suchte nicht nach nach diesen Dingen, die jedem nicht gänzlich verdorbenen Menschen<br />

ein Greul gewesen wären. Er durchstöberte den altarartigen Schreibtisch am Kopfende des Gemachs.<br />

Die Unterlagen des Abden wären, soviel stand bald fest, ein Vermögen wert gewesen, hätte er sie auf<br />

dem Schwarzmarkte feilgeboten. Allerdings war für Lanungo belanglos, wer von Rang und Nahmen<br />

wie, auf welche Weise sich mit dem Tempel verstrickt hatte, wieviel Macht und Gold die Jünger<br />

Selefras aus <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> sich auf vielfältige Weise kelterten. Die schwarzmagischen Versuche des<br />

Abden erregten schon eher seine Aufmerksamkeit, indes - die Anstrengungen, die dieser Priester<br />

unternahm, Unsterblichkeit zu erlangen, die Schaffung belebter Statuen, Beherrschung von Wiedergängern,<br />

Ghulen und Fetaks (Lanungo schnob mit grimmiger Heiterkeit durch die Nase)...<br />

Doch da! Was ist das - ein Geheimfach?? Was lohnt sich denn noch hier zu verbergen? Der Raum<br />

offenbarte unverhohlen Ungeheuerlichkeit, welche mit einem einzigen Seelenheil kaum zu bezahlen<br />

waren, und dennoch gab es noch etwas, was der Abden auf jeden Fall verborgen wissen will? Und<br />

was für ein gut angelegtes Versteck: er muß wirklich glauben, sich vor Entdeckung schützen zu<br />

müssen. Lanungo beugte sich über den Tisch.<br />

Der gebückte Mann murmelte demütige Worte, während der Abden ihn von der erhöhten Warte eines<br />

kleinen Chores mit kaum verborgener Mißbilligung betrachtete. Bei Selefras Brut, grollte er<br />

insgeheim, möge diese Kröte einen trifftigen Grund haben... Die Vorbereitungen für eine<br />

Priesterweihe hatten ihn ganz in Anspruch genommen und er fühlte sich etwas ausgelaugt durch die<br />

vorangehenden Beschwörungen und die Auswahl der angemessenen Opfer.<br />

Wirsch bedeutete er dem Adepten sich ihm zu nahen und vorzutragen, was vorzutragen sei und sich<br />

dann zu entfernen, du große Hölle. Er griff nach einem Weinkelch, um sich am Kräuterwein zu<br />

stärken. Der andere begann, mit tonloser Stimme.<br />

Nur wenige Augenblicke später klirrte der Kelch über die Stufen.<br />

Die geheime Lade enthielt einen in Wachspapier entschlagenen Faszikel. Darauf waren rätselhafte<br />

Zeichen niedergeschrieben, zweifelsohne in einer Schrift, die eigens dafür entwickelt waren, daß<br />

selbst derjenige, der ihrer ansichtig wurde, sie nicht entziffern sollte können. Geheimschriften waren<br />

eine Wissenschaft für sich und selbst Lanungo, der mit verschiedensten Verschlüsselungsarten im<br />

Rahmen seiner Ausbildung vertraut gemacht worden war, erkannte sogleich, daß er hier auf Anhieb<br />

nicht weiterkommen könnte. Der Abden war ein kluger Mann.<br />

Indessen drehte es sich, soviel stand fest, um eine Art Rechnung, welche die vier, nach alter Lehre<br />

wesentlichen Bestandteile allen Seins, Feuer, Wasser, Luft und Erde, in einen bestimmten Bezug


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

zueinander setzten. Und einige der mathematischen Bindeglieder kamen dem Sammler eigentümlich<br />

bekannt vor; er konnte nur nicht sagen, wieso. Es war ihm, als könnte er bereits aus diesen Chiffren<br />

das Ziel der Berechnungen herauslesen... Alte, beunruhigende Erinnerungen wurden geweckt...<br />

Eine Weile besah sich Lanungo grübelnd die bösartigen Zeichen und Symbole, mit einem<br />

unterbewußt schlechten Geschmack im Munde. Schließlich entnahm er seinem Beutel einige<br />

glänzende Pergamente, die er mit geübten Handgriffen auf die Seiten der Geheimkladde legte, darüber<br />

strich, so daß er eine dünne Abschrift des ganzen erhielt... Kurz zögerte er. Sein Eindringen konnte<br />

kaum unbemerkt geblieben sein. Ursprünglich war er davon ausgegangen, durch einige Luftschächte<br />

in den Tempel zu gelangen, allein, irgendwann stimmten seine Karten nicht mehr, denn die letzten<br />

Schächte hatte er zugeziegelt gefunden. Er hatte sie durchbrechen müssen... Nun, wenn sie eh wußte,<br />

daß er hier gewesen war, konnte er sich diese rücksichtsvolle Geheimniskrämerei auch sparen. Er<br />

packte alle Papier zusammen und verstaute sie in seinem Beutel. Das leere Fach verschloß er aber<br />

wieder.<br />

Als bald darauf einige Bewaffnete sich dem Zimmer nahten, einige Gestalten in wehenden, blauen<br />

Kutten fieberhaft die Räume durchspähten, fanden sie niemanden mehr.<br />

„Erleuchteter...“<br />

„Niemand? Ihr habt niemanden gefunden??“ Die bernsteinfarbenen Augen glühten in dem falben<br />

Antlitz des Oberpriesters. Die Priester schüttelten nur stumm den Kopf.<br />

Der Abden zitterte vor Zorn. Das war noch nie dagewesen! Ein Eindringling! Ein Frevler hat sich<br />

Zutritt verschafft zum Tempel des Selefra und womöglich - denn er konnte sich nur allzu gut<br />

vorstellen, wer das war und was jener gesucht hatte - auch noch zu seinen jedem verbotenen Gemach!<br />

Er fuhr bebend herum, als ein weiterer Adept sich scheu heranschlich: „Was denn noch? Habt ihr<br />

ihn“, fauchte er, allerdings ohne große Hoffnung auf eine gute Kunde, und so war es auch - die<br />

Brückenposten sind verschwunden... Der Abden ergriff einen amethystenen Pokal von nahezu<br />

unschätzbarem Wert, um ihn nach dem Unglücksboten zu schleudern: „Du Affe“, schrie er, als die<br />

Splitter schon umhersprangen, „die Schlucht hat sie gefressen!!“<br />

Er zuckte leicht zusammen, als hätte man ihn geschlagen, und wandte sich ab, daß keiner sähe, wie er<br />

sich in den Finger bis aufs Blut biß: „Er - war hier!“ flüsterte er grimmig und bleich. Ein Viertel nach<br />

der zweiten Stunde nach Mitternacht...<br />

Lanungo trat aus der Arena. Die Nacht war kühl und windig, der Mond wie ein kahler, geschnitzter<br />

Knochen am Firmament. Der Sammler warf noch einen Blick zurück, dorthin, woher er gekommen<br />

war, den steinernen Rund, der den Tod echote. Dann verschwand er in der Dunkelheit.<br />

Der fahrende Zug erreicht den südlichen Rand des Rattenlochs. Nur die Männer auf den<br />

Kutschböcken waren noch zu sehen, oder vielmehr das Glimmen ihrer Pfeifen, ansonsten war alles<br />

still bis auf das feine Bimmeln der bunten Schellen. Die Familien schliefen ruhig in den nächtlichgrauen<br />

Wagen. Die ersten Häuser wuchsen hervor.<br />

Plötzlich und auf einem heiseren Befehl ruckte der erste Wagen, hielt an; die nachfolgenden<br />

verlangsamten auch, kamen zum Stillstand - auf der Straße stand ein Mann und sah den Fahrenden<br />

entgegen. Er war in einen dunklen Mantel gehüllt, eine Kapuze tief in die Stirne gezogen. Er stand<br />

regungslos und schien zu warten. Ein Weile lang herrschte Stille; von den hinteren Wagen stieg einer<br />

ab, man hörte seine Stiefel im Kies knirschen. Der erste Kutscher beugte sich vor, rief mit gedämpfter<br />

Stimme: „Was wollt Ihr, Herr? Warum gebt Ihr nicht den Weg frei?“<br />

Langsam trat der Mann vor. Als er neben dem Bock anlangte, schlug er die Kapuze zurück, und im<br />

rot-gelben Lichte der Wagenlaternen leuchtete die weiße Strähne, die sich in sein dichtes Haar<br />

gewoben hatte, wie ein Streifen Mondlicht. Er sah lange zum Kutscher auf, warf dann einen<br />

Seitenblick zu den Männern, die von hinten näher kamen.<br />

„Der Totengräber“, flüsterte einer, und der Kutscher berührte schon sein silbernes Amulett - da<br />

vernahmen alle, wie der Fremde sprach: „Kehrt um! Kehrt um, um der Barmherzigkeit willen!“ Dann,<br />

wie einer, der alles gesagt hatte, was es zu sagen gab, wandte er sich rasch ab, aber zum langsamen<br />

Gehen.<br />

Die Fahrenden stierten ihm hinterher: „Aber warum...?“, faßte sich der erste Kutscher ein Herz,<br />

obwohl seine hellgrünen Augen furchtgeweitet waren - konnte es nicht sein, daß dieser Mann Flüche


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

mit sich führte wie andere Leute ihren Schatten - „...warum sollen wir umkehren?“ Und, als der<br />

Fremde sich weiter entfernte, laut und geradezu verzweifelt: „Was wollt Ihr denn von uns??“<br />

Da stockte der Schritt. Der Mann wandte sich noch einmal um. Und reckte den Arm gegen die<br />

Männer und ihre Wagen: „Kehret um!“ hallte die Stimme über den Platz, so streng, daß alle trotz ihrer<br />

rötlichen Haut erblichen. „Genügt nicht die Finsternis, die sich diesen Mauern naht? Ihr führt -<br />

VERDERBEN mit euch hierher!“ Er eilte mit fast fliehender Hast davon.<br />

Doch noch in dieser Nacht zog das Fahrende Volk in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> ein und schlug bei den anderen<br />

von Rowans Stamm sein Sommerlager auf.<br />

II<br />

Mittmond.<br />

Das Jahr war fortgeschritten wie ein Kessel Wasser, auf seiner Flamme allmählich zum Kochen<br />

gebracht. Im Wechsel der Monate waren eben die Tage erreicht, welche am längsten, trockensten und<br />

mithin, im Wettstreit mit den Öden des Winters, die von Fruchtbarkeit am wenigsten begünstigsten<br />

schienen; wieder, wie jedes Jahr, wenn die Moose der Felsen braun sich färbten, wuchs im Mittmond<br />

die Steinwüste bis vor die Tore der Stadt.<br />

Viele Wüsten hatte der Sammler gesehen, größere und verlorene, wo jedes tierische Leben in den<br />

Schalen der aufgeheizten Haut verendete und versengte Pflanzen wie schwarzes Fleisch vom Sand<br />

eingedeckt wurden, wo nur noch Ungeheuer überleben konnten... <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s Sommer war klein,<br />

aber boshaft. Ein Jahr war es her, daß der Atamanai in der Stadt angelangt war, und dieses Jahr war<br />

ihm in dieser Stadt, von dieser Stadt gestohlen worden: hier war er, wenn untätig, ruhelos, und wenn<br />

zu Taten aufgerafft, erfolglos gewesen.<br />

Mißmutig wanderte Lanungo um die hitzeflimmernden Häuser des östlichen Rattenlochs.<br />

Er hatte nutzlos geforscht, alle Wege der Wahrnehmung beschritten, merkwürdige Fetzen in die<br />

Hände bekommen, von schwarzen Perlen und schwarzer Kunst, hatte sich neue Feinde gemacht (ein<br />

bitterer Becher, der einem Atamanen nie zur Neige geht) und durfte sich nunmehr mit diesem<br />

widerlichen Gefühl herumplagen, daß die Baldstreblichen „auf der Zunge liegen“ nannten.<br />

Die Keller der Botschaft enthielten nur wenig, was ihm bei der Entzifferung der entwendeten<br />

Schriften behilflich sein konnte. Zum ersten handelte es sich um die verschlüsselten Versuche etwas<br />

selbst Verschlüsseltes zu entschlüsseln - für Lanungo also der Blick hinter den Spiegel hinter dem<br />

Spiegel - zum zweiten war es eine Art Tagebuch, eine Beschreibung der Forschungen um das<br />

verschlüsselte Etwas... Darin war häufig von „Macht“ und „Wiedergeburt“ zu lesen;<br />

auch häufig vom „roten Mann“, was wenigstens die Bestätigung für - begründete? - Befürchtungen<br />

des Abden war, daß ein Atamane seine Ziele vereiteln könnte... Aber um welches Domomai der<br />

Priester wußte, welches ihm zu Macht und Wiedergeburt, ewigem Leben verhelfen würde, das blieb<br />

rätselhaft. Bei Gottes Wort, dieser Mummenschanz hätte weniger geduldige Geister zum Verzweiflen<br />

gebracht!<br />

Aber da war etwas, und der Sammler verhärtete sein Gesicht, während eine Bande Kinder, die sich<br />

lärmend durch die Gassen trieb, dem Roten jählings aus dem Wege floh, war etwas, was ihn<br />

beunruhigte und trieb, wie der Zwang, sich der drückenden Schatten eines Fiebertraumes zu erinnern,<br />

daß nicht Ungewisses einem Ungewisses nächtens zugefügt hatte... Es war so - beinahe hätte er<br />

geflucht! - so vertraut, altvertraut und böse vertraut, und er hätte sich ohrfeigen mögen: was immer er<br />

in Erfahrung brachte, paßte zweifellos zusammen, und doch war er unfähig, von den Teilen auf das<br />

Ganze schließen!<br />

Lanungo spähte zwischen den sengenden Firsten hindurch. Die Sonne stand noch hoch. Er würde sich<br />

erst spät mit Dery treffen, um ihn bezahlen. Bezahlen. Gold um Gold. Die Sonne, gleißende Münze.<br />

Die Zeche des Tags. Alles bot sich feil, jeder Tag, Tag um Tag... Lanungo schüttelte seinen Kopf.<br />

Langsam schob er das Barett zurecht.<br />

Die Männer beugten sich über ihr Opfer.<br />

Ihr Herr, ein hochgewachsener Mann mit der vornehmen Gesichtsbläue der Kasraliten, stand lässig<br />

gegen eine Hauswand gelehnt, und beobachtete das Geschehen mit einem behaglichen Grinsen, rieb<br />

seine langen, wohlgeformten Fingernägel am purpurnen Gewandkragen blank: „Was für ein Witz“,<br />

dachte er, „was für ein Fang - nicht alle Tage greift man solch´ein Prachtstück auf...“ Und er pfiff,<br />

scharf, daß die Knechte den Blick freigaben auf die Beute, eine hünenhafte Gestalt, ganz in einem<br />

filzigen Braunpelz, der sogar auf Gesicht und die nackten Füße zu wuchern schien.


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

„Prächtig“, meinte Chattar Kan wohlgefällig, und ließ sein Auge kennerhaft über den in Fesseln und<br />

Stricke geschnürten Riesen gleiten, wohl wahr, ein lohnender Anwärter für die Arena. Er seufzte ein<br />

wenig bei dem Gedanken an die verwöhnter Gemüter, deren Belustigung ihm oblag; indes, wem<br />

Selefra solches Wild vergönnt...<br />

Eine Weile musterte er unter halbgesenkten Lidern seinen Gefangenen. „Nun denn“, sprach er dann,<br />

mit jenem leichten Beben in der Stimme, das grausamen Menschen in Augenblicken der Zufriedenheit<br />

bisweilen zueigen ist, „das - Tier? Tier muß in den Käfig, dort wollen wir´s füttern und liebhaben“ -<br />

er war recht erfreut über seine launige Bosheit - „dann...“<br />

Er brach ab, denn der niedergezwungene Hüne gab einen kleinen, traurigen Laut von sich, ein<br />

Wimmern oder Heulen; Chattar nahte sich, und ein Tritt seines rotlackierten Stiefels traf sein Opfer in<br />

den Bauch. „Sollte ich etwa“, sagte der Kasralit mit hochgezogener Braue, „ein Weibsbild gefangen<br />

haben? Nun? Sprich? He?“ Und er trat erneut zu, diesmal, da der Unglückliche nach dem ersten<br />

Anschlag vorneübergesunken war, vor die breite Stirn. „Ich kann es nicht sagen, sind auch die Weiber<br />

Deiner Art so häßlich wie Du?“<br />

Sie hatten Den überrascht, mit Drähten und Fangstricken, und obwohl er in höchster Bedrängnis und<br />

Angst noch zwei von ihnen niedergerungen hatte, bezwangen sie ihn zu fünf, fesselten ihn, noch<br />

bevor er sich weiter wehren konnte, und nun war da dieser furchtbare blaue Mann, der ihn verspottete<br />

und sicher töten wollte... Armer Den. Er konnte nicht ahnen, daß sein Los viel grausamer sein sollte<br />

nach dem Willen des Leiters der Arena, daß er Teil einer kostspieligen Belustigung zu sein hatte, daß<br />

den Häschern, die sich seiner bemächtigt hatten, seine Abschlachtung bare Münze wert war.<br />

Was wollten alle die von ihm? Nie hatte er irgendwelche Händel gesucht oder Dinge getan, die<br />

verboten waren. Unschlüssig zerrte er an seinen Fesseln; aber da waren eiserne Schnüre, die ihm ins<br />

Fleisch schnitten, sogar durch den Pelz hindurch. Seine Aufgabe, seine Pflicht - sein Stamm vertraute<br />

ihm. Was, sollte er versagen? Sein Blut vergeudet im Irrtal dieser herzlosen, heißen Stadt... Tief in<br />

seiner mächtigen Brust grollte es.<br />

Chattar Kan schätzte es durchaus, wenn seine „Tiere“ nicht gleich zu Beginn ihre Widerstandskraft<br />

aus Verzweiflung einbüßten; allerdings bedurfte es einiger Umsicht und Kunst, sie nicht an etwaigen<br />

unterhaltsamen Ausbruchsversuchen zerbrechen zu lassen. Nichts war peinlicher als nutzloses<br />

Gnadengewinsel oder das Heulen und Weinen solcher, die vor Furcht den Verstand verloren hatten...<br />

Genug jetzt. Bei dieser Hitze stank das Rattenloch schlimmer als jede Kloake. Er drückte ein<br />

duftendes Tuch vor den Mund: „Schafft ihn weg“, befahl er angewiedert, ewiges Feuer, er würde sich<br />

lange den Bäderkünsten der Mädchen und Jungen im „Frischen Quell“ anvertrauen müssen - ein<br />

angenehmer Gedanke an weiche, feste, junge Haut... Ein Grinsen lag auf seinen Zügen, als er sich<br />

aufmachte, seinem Troß zu folgen.<br />

Ein Stimme weckte ihn aus seinem Halbtraum. Da er die Worte nicht verstanden hatte, den Sprecher<br />

aber hinter sich verortete, wandte er sich unwillig um, denn wer konnte es hier wagen, das Wort an<br />

ihn zu richten...<br />

Der Sammler maß ihn mit einem recht abschätzigen Ausdruck in den schmalen Winkeln des Mundes.<br />

Chattar Kan blintzelte zwei, drei Mal verwundert nach dem feuerroten Mann, der, wenige Sprung die<br />

Straße hinab, verharrte und auf etwas zu warten schien: „Habt Ihr etwas gesagt?“ fragte Kan und seine<br />

Worte, zumal er sich zu seiner volle eindrucksvolle Höhe reckte, klangen bereits bedrohlich - das da<br />

war doch der...<br />

„Ich ersuchte Euch, „ sagte der Atamane, „mir die Frage zu beantworten, warum Ihr und Eure -<br />

Schergen Euch dieses Menschen dort“ - die Spitze seines Stabes deutete einen leichten Wink auf den<br />

Gefesselten an - „bemächtigt habt?“<br />

Die seltsame Ausdrucksweise des Fremden reizte Kan aufs äußerste. „Ich wüßte nicht“, erwiderte er<br />

mit süßlichem Lächeln, „was Euch das...“ Er hielt inne, vollführte eine darbietende Geste.<br />

„Angeht?“ Der Sammler zuckte mit den Schultern. „Nichts, denke ich. Doch auch wenn dem so ist,<br />

ersuche ich Euch doch, von Eurem Tun abzulassen. Ich glaube nicht, daß...“<br />

„Was, was?“ Chattar fuhr dem anderen mit einem bellenden Lachen dazwischen, das überraschte<br />

Heben und Senken der langen Brauen, das der Gegner zeigte, entzückte ihn geradezu: „Ihr - seid ein<br />

Narr!“ Der Sammler bewegte seinen Kopf in einer Weise, die nichts anderes als ein belustigtes<br />

Zweifeln daran bedeuten konnte.<br />

„Ja, Ihr seid ein Narr, Sammler“ und nun war Chattars Rede kalt und hart. „Sich mir zu stellen, sich<br />

mir ausliefern - die Kunde von dem frevelhaften Gerücht des Elenden, der in das Heiligtum<br />

eingebrochen ist, hat ja schon die ganze Unterwelt ergötzt!“


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

„Ich ersuche Euch nochmals, den Mann dort freizugeben!“<br />

„Dummkopf!“ schrie der Kasralit. „Du wirst sein Schicksal teilen, was denkst Du denn? Daß eine<br />

mistige Kakerlake, die sich durch meine Räume stiehlt, groß noch fordern darf, wenn ich grad´ eine<br />

andere zertrete??“<br />

Für solche Unhöflichkeiten sei der Zeitpunkt äußerst ungünstig, bemerkte der Atamane.<br />

„Wie recht Du hast! Du wirst eine Zierde der Arena sein!!“<br />

„Das dürfte“, versetzte Lanungo eisig, „die Möglichkeiten Eurer Veranstaltung übersteigen!“<br />

Chattar beruhigte sich sofort. Das gierige Grinsen bleckte wieder seine Zähne. Leicht federte der<br />

Kasralit von einem Bein aufs andere: „Wir werden ja sehen“, sagte er freundlich, und dann: „Faßt<br />

ihn!“ schnellten seine Knechte hinter ihm hervor und stürzten sich auf den Atamanen.<br />

Den war es gelungen, das Abgelenktsein der Knechte zu nutzen, vorsichtig seine Fesseln zu lockern<br />

und einzelne Stricke zu zerreissen. Er sah nicht, was sich dort hinten abspielte, denn alles drängte sich<br />

am Ende der Gasse; sein einzige Gedanke war, die Seile loszuwerden, seinen Knochen zu greifen...<br />

„Nicht so schnell“, und wieder traf ihn der gemeine, rotlackierte Stiefel, während das scharfe<br />

Schleifen eines aus der Scheide gleitenden Schwertes ihm in die Ohren drang. Chattar ragte über ihm<br />

auf, ein turmhoher Mann in blutrotem Gewand, und einen blauen, damaszierten Krummsäbel hielt er<br />

dem Nuu-Giik an die Kehle. Wieder das grausame Zähneblecken: „Nicht - so - schnell - mein<br />

Freund!“<br />

Im nächsten Augenblick riß ihn etwas von den Füßen, schleuderte ihn einen Sprung weit in den<br />

hitzetrockenen Schmutz der Straße. Er schlug so hart auf das Pflaster, daß glühende Kreise vor seinen<br />

Augen tanzten. Er schüttelte sich; dann entrang sich ihm ein schriller Schrei: o entsetzlich, beim<br />

Wanst der tausend Teufel... Schmutz... Dreck, Morast - er, sein Bart in der Gosse... Mit einem Schrei<br />

warf er sich herum, das vornehme Kleid besudelt und aufgerissen. Ein kleiner Blutfaden rieselte von<br />

der Stirne, dort, wo er aufgeschlagen war.<br />

Der Atamane betrachtete gerade aus der Höhe seines Wuchses den Nuu-Giik, der sich mühselig, leicht<br />

benommen, allmählich aus den Fesseln wand. Er machte keinerlei Anstalten, dem am Boden<br />

Liegenden zur Hand zu gehen. Aber er hob den Kopf, als er den Kasraliten auf sich zuwanken sah.<br />

„Ich bitte Euch“, sagte er nur, der mitleidlose Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören.<br />

Der Leiter der Arena starrte ihn aus weitaufgerissenen Augen an. Seine Männer lagen etwas abseits,<br />

ein kurzes Stück entfernt. Der Krummsäbel lag unschlüssig in seiner Hand, und sein Blick ging von<br />

dem Bärenmenschen zu dem Atamanen und zurück... Er wird sich befreien, schoß ihm durch den<br />

Kopf und „Selefra hilf´!“, als er den unverwandten Blick des Roten spürte; Lanungo indes schaute<br />

kurz auf den Nuu-Giik. „Ihr kommt zurecht?“ erkundigte er sich recht teilnahmslos.<br />

Den´s Blick zuckte nur mit einer Mischung aus Angst und Zuneigung zu seinem Retter empor: das<br />

Gespenst, bei seinem Volk „Blutswanderer“ genannt, bisweilen aufgestiegen aus der Tiefe der Täler<br />

vor vielen Jahren - „sie sind zu meiden“, hatte das Väterchen der Märchen gemahnt, das nur einmal,<br />

als Den dabeisaß, und nur kurz auf die Blutswanderer zu sprechen kam, „denn sie sind von<br />

unglücklichem Wesen und tragen ihr Unglück zu allen Völkern dieser Welt... Einst kamen sie zu<br />

unseren Ahnen und sie nahmen ihnen den größten roten Stein, der jemals in den Händen der Nuu-Giik<br />

gewesen war - und trugen ihn fort, in ihr fernes, rotes Reich, wo sie inmitten von Gespenstern und<br />

Seelen unglückliche Könige sind...“<br />

Lanungo´s Lippen umspielte ein Lächeln. Der Nuu-Giik hatte ein Wort gemurmelt, ein Nuuksch-<br />

Wort, Blutspilger lautete es übersetzt. Ja, er kannte die Sagen, war selbst einmal in den multorischen<br />

Bergen gewesen, vor gerade mal, ach, fünfzig, sechzig Jahren... Er seufzte leise.<br />

Chattar Kan schlitzte die Augen; seine ganze Gestalt, wiewohl über ein und ein halben Sprung, wurde<br />

fast katzenartig und geschmeidig, spannte sich in jeder Faser des Leibes: der verfluchte Rote, das<br />

stinkende Vieh, beide vernachlässigten ihn just, nur miteinander beschäftigt - „seinen Raub<br />

begutachten“, knirschte der Kasralit innerlich, „der Wilddieb - das wird ihn...“<br />

Lautlos sprang er vor.<br />

Sein Säbel beschrieb einen singenden, weiten Bogen in Richtung der roten Flanke, und selbst seinem<br />

eigenen Auge erschien die tödliche Waffe in der flinken Bewegung nicht mehr denn ein blau-weißer<br />

Strich - dann stürzte er wie in ein bodenloses Loch und noch während die Häuserwände als ein<br />

dreckig-braunes Etwas ihm entgegenschossen, erkannte er, daß er verfehlt hatte.<br />

Doch mit einer geschmeidigen Drehung fing er das Stolpern auf, um aus diesem Schwung Kraft zu<br />

gewinnen für einen nächsten Versuch - „der Gegner war nah, war nah!“ - ein roter Schlag blendete ihn<br />

einen Augenblick und er fühlte sein hilfloses Nachhintensinken... Blitzartig fuhr eine Faust vor ihm in


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

die Höhe, wie ein emporzüngelnder Feuerstoß, und etwas buntes blinkte darin - dann schnellte die<br />

Faust hernieder, es splitterte auf seiner Hand.<br />

Fast sofort sank er halb ohnmächtig vor Schmerz zu Boden, und sein kostbarer Säbel klirrte umher:<br />

seine Hand, seine Hand, seine rechte Hand. War rohes Fleisch. Brandrotes, rohes Fleisch,<br />

überwuchert von Schwären, die lebendig schienen! Denn sie fraßen sich weiter, durch weißrotes<br />

Fleisch - ein unablässiger, weiterbrennender Schmerz, der das Fleisch nicht absterben ließ,<br />

weiterschmerzte wie im ersten Augenblick - meine Hand, o meine Hand - „Selefra!!“ schrie der Mann,<br />

lange und gequält; dann endlich schwanden ihm die Sinne.<br />

Den starrte auf seinen Jäger, der reglos im Staub der Straße zusammengebrochen war. Das blaue<br />

Gesicht war schmerzverzerrt, hatte eine leicht gräuliche Färbung angenommen. Die rechte Hand zur<br />

Klaue verkrampft, war diese ein fast entfleischtes, zischendes Ding und vorsichtig näherte sich Den...<br />

„Nicht anfassen!“, kam es scharf von hinten. Den zuckte zurück.<br />

Der Sammler betrachtete ihn nachdenklich, wobei er seinen großen Augen ein wenig das<br />

Unerträgliche nahm, indem er leicht die Lider senkte. Nach einer Weile, unvermittelt, lächelte er dann<br />

gleichgültig und wandte sich ab. „Diese Stadt scheint nichts für Euch zu sein, Cer Anq'ushaq“,<br />

bemerkte er noch, zügig die Gasse hinunterschreitend. Doch für Den war die Sache damit nicht<br />

erledigt: „Wartet doch“, stieß er hervor und rappelte sich hoch - bald hörte Lanungo sein eiliges<br />

Stapfen näherkommen, was ihn dazu veranlaßte, seinen Schritt zu beschleunigen. Nichtsdestotrotz<br />

holte ihn der Nuu-Giik, der seine Aufholjagd mit lautem Rufen, „Halt!“ „Wartet doch!“ „Holla, halt!“,<br />

begleitet hatte, eine halbe Pfeilweite später ein: „Bitte, Herr...“ brachte er hervor. „Buzecchia“,<br />

ergänzte Lanungo, ohne zu verlangsamen. „Lanungo Buzecchia, Sammler im Jahre der goldenen<br />

Otter, Meisterer der fünften Herausforderung. Pantuino!“<br />

„Was? Ich...“<br />

„Lebt wohl!“ Das war schon nahezu unfreundlich, und Lanungo seufzte auf. Also hielt er an und<br />

wandte sich seinem Verfolger zu. „Was kann ich sonst noch...“<br />

„O nein, nein“, Den war jedenfalls im höchsten Maße verwirrt, er wollte dem Blutswanderer doch gar<br />

nichts tun, große Mutter, „Ihr wart, sage mal, ach...“ Der Sammler beäugte ihn mit hochgezogener<br />

Braue, was bei diesen Augenbrauen etwas Maskenhaftes mit sich brachte. Der Nuu-Giik baute sich<br />

vor ihm auf, ein mächtiger Kerl, den man sich in den hilflosen Lagen der letzten Zeit so gar nicht<br />

vorstellen konnte, und seine riesigen Hände („Tatzen!“) winkten vor Lanungos Nase herum. Aber die<br />

gutmütigen, honigbraunen Augen blickte so verwundert und ratlos, daß der Sammler sich bei der<br />

Überlegung ertappte, er müsse gegenüber diesem Bären etwas entgegenkommender sein. Wie<br />

aufgeregt dieses Wesen ist.<br />

„Bitte, ich bitte Euch“, unterbrach er den Worteschwall des anderen. „Ich war Euch gerne behilflich,<br />

es besteht kein Anlaß, daraus eine Angelegenheit größeren...“ - o Gottes Werk, er schaut noch ratloser<br />

drein - „Keine Ursache, und viel Glück“ und mit diesen hastig-gelächelten Worten eilte Lanungo<br />

wieder los.<br />

„Aber ich möchte, ich will...“, Den verstand keineswegs, warum der Rote ihm erst das Leben rettete<br />

und ihm dann soviel Aufmerksamkeit schenkte wie einem verlorenen Kiesel in einem Bergbach, aber<br />

dennoch würde er ihn das zweite Mal nicht so einfach wieder ziehen lassen. „Wie kann ich Euch...“<br />

„Bitte!“ Als der Sammler sich erneut um-, seinem hartnäckigen Freund zuwandte, war sein Tonfall<br />

schärfer und in seinen Augen funkelte es. „Bitte! Ich bin ein vielbeschäftiger Mann...“<br />

„Den Aloumenn-Vioù!“<br />

„Was bitte?“<br />

„Mein Name, ich heiße Den“, wiederholte Den, aufgeregt und etwas unsicher, schließlich war ihm<br />

durchaus nicht entgangen, daß der Blutswanderer, warum auch immer, inzwischen fast gereizt und<br />

verärgert war: was machte er nur falsch? Diese Gespenster waren noch - schwieriger als der Rest der<br />

Welt...<br />

Lanungo entschied soeben, daß es das beste wäre, dem Nuu-Giik Gelegenheit zu geben sich zu<br />

bedanken, um so letzlich von ihm loszukommen. „Also - Den“, sagte er, und wurde mit einer Art<br />

erfreutem Grinsen für sein wohlmeinendes Vorgehen belohnt, „Den, ich - Cer Vioù, ich freue mich,<br />

Euch behilflich gewesen zu sein und Euer freundlicher Dank ehrt mich; er ist Ausdruck sehr<br />

vornehmer Geisteshaltung. Keineswegs dürft Ihr mich nun dahingehend verstehen, daß mir Eure<br />

Gesellschaft und Eure Dankbarkeit nicht willkommen wären (o Gottes großes Werk!), allein fehlt mir<br />

unseligerweise die Zeit und Muße, unser Gespräch...“<br />

„Gespräch?“ warf Den, jetzt vollends verstört, in die Rede ein.


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

„...unser Gespräch an dieser Stelle fortzusetzen. Ich hoffe, daß Ihr versteht und mich nunmehr<br />

entschuldigt, nein“, hob er abwehrend die Hand, um einem Einwand des Nuu-Giik vorzubeugen,<br />

„nein, es besteht wirklich nicht die Notwendigkeit - oder auch nur die Möglichkeit - daß Ihr mich<br />

begleitet. In diesem Sinne: lebt denn wohl...“, etwas milder: „...Den!“ Und langsam suchte er sich<br />

seinem Gegenüber zu entziehen.<br />

Den war nicht der Mann, der dieser Art, Worte nicht zur Verständigung, sondern zu deren<br />

Verhinderung zu gebrauchen, angemessen hätte begegnen können. Er zögerte, hin- und hergerissen,<br />

und, als er sah, daß der Rote sich anschickte, wohl endgültig zu gehen und daß es so, wie bisher, nicht<br />

weitergehen konnte, faßte er einen Entschluß: seine Pranke schnellte vor und packte den Sammler am<br />

Arm.<br />

Lanungo versteifte sich. Wiewohl er noch keine zweihundert Jahre alt war und nur ein Geringer unter<br />

seinesgleichen, war dies hier ein Eot-hanubah, und kein solcher hatte es seit langem gewagt... konnte<br />

es wagen, ohne für sich das schlimmste zu befürchten... Und dann blintzelte dieser bärbeißige Geselle<br />

auch noch auf seine elend-unschuldige Art, es fehlt ja nur noch...<br />

Aber Den ließ sich nicht dadurch abschrecken, daß der andere ihn und die Hand, die seinen Arm<br />

festhielt, mit eisigem Unwillen besah: „Dann sehen wir uns ein andermal“, brachte er mutig heraus,<br />

und er war drauf und dran, seine liebsten Schenken und Wirtshäuser vorzutragen, denn irgendetwas<br />

Menschliches mußte doch an diesem merkwürdigen Manne sein, sonst hätte er ihn ja jeweils den<br />

bösen Männern überlassen können - da ereignete sich etwas seltsames: der schlanke und wenig stark<br />

gebaute Sammler faßte mit der freien Hand nach der des Nuu-Giik an seinem Arm und mit<br />

außerordentlich hartem Griff, wie der eines Schraubstock, löste er die Faust des anderen,<br />

unwiderstehlich, und hielt sie fest.<br />

Den blintzelte scheu, entgeistert, als der Sammler nur sanft den Kopf schüttelte. „Es gibt<br />

Gleichgewichte“, sagte er leise, „überall. Und sicher sind sie - erstrebenswert, selbst, wenn es einem<br />

zunächst nicht so erscheint. Mir scheint es jedenfalls nicht erstrebenswert, Euch sobald<br />

wiederzusehen, Cer Vioù: denn was wäre, wenn es jetzt dem natürlichen Gleichgewicht entspräche,<br />

daß, nachdem ich Euch nun zweimal in Notlagen vorgefunden habe, Ihr mich das nächste mal<br />

meinerseits in einer solchen antrefft? Wohl kaum! darf das geschehen, da eine Gefahr, die meine<br />

Kräfte überstiege, auch Euch mehr abverlangte als vorhanden ist. Ich wäre es, der in diesem<br />

Zusammenhang die faule Frucht pflückte - ich bitte Euch, nötigt mich nicht dazu!“ Er gab Den´s Hand<br />

frei. „Pantuino, Cer Vioù!“<br />

Und während Den stumm zurückblieb, entfernte sich der Sammler, wobei nur einem sehr scharfen<br />

und scharfsinnigen Beobachter das leichte Zögern aufgefallen wäre, mit dem er seinen Weg ging.<br />

Über die Gewölbe schimmerte der die Fackeln spiegelnde Schein der Schätze, daß die rauhen und<br />

schmucklosen Hallen selbst wie aus Gemmen und Gold gemacht zu sein schienen. Der Reichtum war<br />

gewaltig. Ein träger Ruch nach brennendem Pech und Gewürzbecken lag in der Luft.<br />

Und der Abden der Selefra wanderte mit bösem Antlitz inmitten der Kostbarkeiten, welche die Zeit<br />

und der Tribut aus allen umliegenden Ländern angehäuft hatten, und seine blassen Augen glitten<br />

unruhig über die Truhen, Tabernakel, Regale, hafteten schließlich an dem ungeheuren goldenen<br />

Standbilde am Rücken des Gewölbes.<br />

Ein leises, dünnes Lachen geisterte durch die Räume.<br />

„Wie könnte Ihr es wagen...“, fuhr der oberste Priester auf.<br />

„Ihr kommt spät“, kam es ihm entgegen. „Habt Ihr versucht, es selbst in die Hand zu nehmen?“<br />

Der Abden verzog kaum das Gesicht, nur funkelte es zornig: „Ihr wißt es also!“ stellte er fast sachlich<br />

fest.<br />

Wieder das schemenhafte Gelächter. „Es hatte ein Geheimnis bleiben sollen? Ihr solltet die Fliegen an<br />

Euren Wänden genauso im Auge behalten wie Eure Adepten. Meintet Ihr ernstlich, ich würde es nicht<br />

erfahren?“<br />

„Wie gleichgültig mir das ist, könnt Ihr aber nicht abschätzen?“ versetzte der Priester nicht ohne<br />

Heftigkeit. „Schließlich bin ich hier, um Euch darüber zu unterrichten!“<br />

„Ihr seid lange nicht mehr zu mir gekommen“, sagte die Stimme nachdenklich. „Wieviele Attentate<br />

habt Ihr inzwischen auf ihn verüben lassen? Und wie oft versuchtet Ihr, ihn entführen zu lassen?“<br />

Der Abden öffnete den Mund, um ihn gleich wieder zu schließen. Ein erboster Zug lag um seine<br />

Lippen. Er erwiderte dann aber wahrheitsgemäß.


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

„Eine stolze Zahl. So viele Hinterhalte... Und ich nehme an, gar nicht so schlecht geplant und<br />

durchgeführt. Ihr habt ja Übung mit dergleichen...“<br />

Seltsamerweise warf der Abden warf den Kopf zurück und lachte. „Bei allen Teufeln“, rief er endlich,<br />

„kein König könnte jemals einen besseren Hofnarren gehabt haben. Ich muß zusehen, daß Ihr eine<br />

angemessene Schellenkappe erhaltet!“ Und, herumwirbelnd, schlug er die Faust auf einen prächtig<br />

ziselierte Altar aus multorischer Jade. Das darauf folgende Schweigen hatte etwas messerscharfes.<br />

Schließlich bemerkte der Unsichtbare: „Ihr und Eure Attentäter könnt ihn sicher nicht wirklich<br />

verletzen!“<br />

„Ach nein!“ Der Abden schnob verächtlich durch die Nase.<br />

Die Stärke eines Kämpfers, fuhr der andere aber fort, bemesse sich nach der seiner Lehrern und der<br />

seiner Gegner. „Sammler sind Schüler eines unabweislichen Berufenseins, haben als Gegner die<br />

ganze Welt! Kann es einen geben, der ihnen da überlegen wäre?“<br />

„Und was, abseits dieser gelahrten Fragestellungen“, erwiderte der Priester kalt, „soll ich Eurer<br />

Ansicht nach veranlassen?“<br />

„Unabhängig von der Stärke und den Fähigkeiten ist ein Kämpfer nur so gut, wie er wachsam,<br />

aufmerksam ist. Sonst ist er nichts anderes als ein blinder Tiger!“ Es gab ein Geräusch, als bewegte<br />

sich etwas über den steinernen Boden und plötzlich schien es, als huschte ein Schatten, riesenhaft und<br />

verzerrt, durch die Halle. Der Abden rührte sich indes nicht.<br />

„Unser Freund ist noch jung. Unerfahren. Und auch verletzlich! Ihr müßt seine Aufmerksamkeit<br />

zerstören“, flüsterte es. „Verwirrt ihn, macht ihn blind! Jedem Greisen wäre er hilflos ausgeliefert...“<br />

Der Abden vollführte eine fragende Geste. Daraufhin war wieder das eigentümliche Lachen zu hören.<br />

„Merkt auf, Cer Abden“, raunte es, „ich will Euch verraten, wie Ihr ihn für einen kurzen Augenblick<br />

wehrloser macht als den Säugling an der Nabelschnur...“<br />

Kurz vor Sonnenuntergang verließ Lanungo den „Totenschädel“.<br />

Sein Weg führte ihn in Richtung der Oberstadt, wo er sich in der „Fliegenden Taube“ für die nächste<br />

Stunde einen Tisch bestellt hatte. Da ihm zugetragen worden war, daß jenes Haus trotz der Jahreszeit<br />

noch über einen kleinen Vorrat an Seefisch! verfügte, den sie höchst umständlich zwischen aus den<br />

nördlichen Gletschern geschlagenen Eisblöcken aufbewahrten, und Lanungo selbst das Gleichgewicht<br />

der Dinge für einen guten Fisch verraten hätte, hatte er nicht gezögert, sich die besondere<br />

Aufmerksamkeit des Küchenmeisters durch entsprechende Zuwendungen zu sichern.<br />

Dementsprechend war er vergleichsweise guter Laune - auch wenn ihn der Anblick des sonnensatten<br />

Corwin dieses mal weniger erheitert als fast erbost hatte: schließlich hatte sogar ein Atamane noch ein<br />

Restempfinden dafür, wann er sein Gold zum Turme hinauswarf. Und der letzte Handel mit Dery war<br />

kaum ergiebig gewesen! Im Gegenteil mußte er den Nordländer noch einmal darauf aufmerksam<br />

machen, daß die Gerüchteküche in dieser Angelegenheit ihre Töpfe geschlossen halten solle, sonst<br />

würden sich noch ihre Köche den Magen verderben... Daß die Baldsterblichen das Grinsen dieses<br />

Mannes als „gewinnend“ bezeichneten, blieb ihm nach wie vor ein Rätsel.<br />

Aber der Sammler wischte diese schalen Gedanken beiseite - er durfte sich auf ein vorzügliches<br />

Nachtmahl freuen und auch, wenn dies angesichts der ehrwürdigen Pflichten eines Atamanai ein<br />

wenig leichtfertig schien, heute abend wollte er einmal pflichtvergessen im schönsten Sinne des<br />

Wortes sein. Keineswegs stand eine Ausschweifung bevor, wie sie ein Eot-hanubah womöglich im<br />

Auge hätte; aber auch kleine Freuden und geheime Genüsse geraten umso kostbarer, je seltener sie<br />

sind. Außerdem war im Bri nach hiesiger Zeitrechnung sein Tag des Aufbruchs gewesen, der<br />

eigentliche Geburtstag eines Sammlers, und was hatte er getan? In der Großen Bibliothek<br />

kasralitisches Handelsrecht gelesen, bis der Tag anbrach.<br />

Schon seine Väter hatten ihm gesagt, er besäße weniger Lebensfreude als einer der schillernden<br />

Tausänger, deren Lebenspanne ein Jahr und wenige Tage bemißt... Das konnte man als Auszeichnung<br />

begreifen oder auch nicht. Jedenfalls gab es heute abend Fisch!<br />

Die abgerissene, dürre Gestalt wankte über die Straße, Hände und Schädel in diesem unablässigen,<br />

nicht frierenden Zittern. Einer der Menschen, die in den harten Wintern verschwanden. Graue, ölige<br />

Haut und strähniges Haar. Sie sah, als sie gegen eine Mauer keuchte, den rotwehenden Sammler<br />

schon von weitem. Er kam um eine Biegung durch das warme Abendlicht.<br />

Der Bettler stackste einige Schritte vor und seine knotigen Finger formten eine Mulde: „Edwas“, sagte<br />

er in diesem singend-weinerlichen Ton, „edwas fürejn ahaltn Mahn, lieber...“ Und brach ab. Er mußte<br />

wirklich in schlechter Verfassung sein, daß er nicht einmal seinen ausgeleierten Bittspruch mehr


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

vorzubringen vermochte. Lanungo schüttelte insgeheim den Kopf. Es gab Schicksale, denen er kein<br />

Mitleid entgegen bringen konnte; indes durften diesem Manne die Gefühle der anderen wahrlich<br />

gleichgültig sein, es sei denn, er wäre nicht nur Bettler, sondern auch noch ein Narr.<br />

Die gedanklichen Grundlagen der atamanischen Mildtätigkeit waren sehr schwierig und ungeheuer<br />

ausgeklügelt. Allerdings war es leicht ihnen zu entsprechen, und so holte Lanungo zwei, drei Sonnen<br />

aus der Tasche, um sie dem Armen in die Hand fallen zu lassen. Dies war, insbesondere für einen<br />

Bedürftigen, eine ganz außerordentliche Summe.<br />

Allerdings noch außerordentlicher war das Verhalten des Empfängers dieser Gabe: achtlos ließ er den<br />

kleinen Schatz in die Tasche gleiten und, mit einem schalkhaften Blitzen in den braunen Augen, die<br />

ungewöhnlich wach schienen für einen solchen Menschen, nickte er den Sammler zu. „Dank Euch,<br />

lieber Herr“, sagte er lächelnd.<br />

Der Sammler musterte ihn ausdruckslos.<br />

„Ich überlege gerade, wie ich Euch Eure Freundlichkeit vergelten kann!“ fuhr der abgerissene Mann<br />

in vornehmen <strong>Mantow</strong>in fort und vollführte eine einladende Geste.<br />

Die meisten Bettler waren davon überzeugt, Geheimnisträger allerersten Ranges zu sein; zumeist<br />

waren sie bloß Zuträger unbewiesener Gerüchte. Nur wenige standen im Vertrauen des Atamanen,<br />

und diesen hier, der sich so eigenartige gebährdete, kannte Lanungo überhaupt nicht. Ein vor kurzem<br />

erst in Armut geratener Oberstädter? Das ereignete sich bisweilen, vor allem, wenn<br />

Familienoberhäupter durch Attentate verloren gehen und die anderen Reichen wie Schakale sich über<br />

das ins Wanken geratene Haus hermachen. Allerdings... Daß Lanungo davon nichts gehört haben<br />

sollte...<br />

Der andere war einen Schritt näher gekommen, daß Lanungo den üblen Geruch nach in der Gosse<br />

verbrachten Nächten wahrnehmen konnte. Eigentlich war das ein vollendeter Bettler, nahezu<br />

mustergültig... Jetzt winkte er, daß der Sammler sein Kopf senke, als wollte er ihm etwas ins Ohr<br />

flüstern; Lanungo blieb regungslos. Der Seltsame zeigte daraufhin ein wissendes Lächeln und zuckte<br />

lässig mit den Schultern: „Ich habe“, sagte er schließlich, „ein Rätsel für Euch!“<br />

Lanungo kniff die Augen zusammen. Ein Rätsel? Der Bettler faßte ihn leicht am Arm, schien ihn<br />

beiseite ziehen zu wollen - „Ich habe auch ein Rätsel für Euch“, erwiderte da der Sammler und hob<br />

warnend die Hand.<br />

„Habt Ihr?“<br />

„In der Tat! Was kann man jedem stehlen, ohne ihm in die Tasche zu greifen?“<br />

Da legte der Bettler den Kopf in den Nacken und brach in ein herzliches Lachen aus: „Die Zeit“,<br />

lachte er. „Die Zeit, lieber Herr!“ Lanungo zeigte seine Überraschung nicht, aber sein Mißtrauen war<br />

noch gewachsen. Langsam richtete er sich zu sein vollen Größe auf.<br />

Der Bettler beruhigte sich so plötzlich, wie er sich erheitert hatte. Seine ganze Haltung war geduckt<br />

und, den Kopf schief auf die Schulter gelegt, sah er zum Atamanen auf. „Nun mein Rätsel“, flüsterte<br />

er dann.<br />

„Im Norden war´n alle Schätze verhöhnt -<br />

Im Süden alljede Heerstark verlacht -<br />

Im Westen allweite Meere gezähmt -<br />

Im Osten Segnungen allgrößter Macht... „<br />

Und er verstummte. Sein Gesichtsausdruck wurde lauernd.<br />

Lanungo war verwirrt. Das Bewußtsein bestimmt das Bewußt-Sein... Was sagte das? Wer hatte da was<br />

gesagt. Das Rätsel. Das Bewußtsein... Er kannte das Rätsel, nein, die Antwort war bekannt. Vier<br />

Türme, vier Tore, den Himmel zu beherrschen in allen Reichen der Welt... Was... Er fühlte, wie sich<br />

ihm etwas in die Hand schob. Nur am Rande nahm er sein Gegenüber war. Es war ein Zettel. „Die -<br />

Antwort...!“ Ein gefalteter Zettel. Er schüttelte sich. Ich bin in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>. Ich bin in der geteilten<br />

Stadt. Ich bin - ich bin... Gefahr? Gefahr!<br />

Er entfaltete den Zettel. Und las.<br />

»Asvr'auq kaldach voc ekk'auq â'kankel - Dahr ma Dahra?«<br />

I'Yat! Erkennt Ihr... Das Bewußtsein ersetzt das Sein...


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

Da! Grelligkeit, ein Feuersblitz - landversengend, heiß... Licht - das Sein..: gebrannte Schatten, weiße<br />

Wände - schmelzender Türme und schwindender Stein - Ahkaldach! Der Tag von... Große Halle, roter<br />

Saal: die Hundertundelf - die Anklage ohne Maß... „Erkennt Ihr die Schuld...“ Blitz! Weiß!<br />

Er fühlte den stumpfen Schmerz fast lächerlich verspätet und verzerrt, und was er fühlte, konnte er<br />

nicht verstehen, denn als ihm jäh die Sinne schwanden, war er just nicht mehr ein Mensch!<br />

Der Tresen von Meister Mollk befand sich in bester Lage und Nähe zu den Stufen des <strong>Mantow</strong>in-<br />

Heiligtumes; ein dunkelschimmernder Tisch aus warmem Holze unter einem mit buntscheckigen,<br />

lustigen Bildern bestickten Baldachin. Umherstanden bauchige Eisentöpfe mit kupfernen Henkeln in<br />

Form von Gänsefedern, aus denen, wenn der Meister oder seine Gesellen die Deckel lupften,<br />

verführerischer Süßduft stieg und allein dieser Gerüche wegen eine Beliebtheit genossen, um welche<br />

sie alle umstehenden Händler beneideten. In diesen Töpfen kochten Marzipan, Rahmschokolade und<br />

glänzendes Naschwerk: Mollk war ein großer Verfertiger aller möglichen, Zucker gewordenen<br />

Genüsse.<br />

Die besten Kunden mochten seine Lehrlinge zu sein, so prall und rotgesichtigt sie waren; der Meister<br />

selber war ein zartgliedriger, zum Hüsteln neigender Mann mit einem strengen Gesicht, das jenen<br />

Vorwurf zu atmen schien, den alle beim Verzehr seiner Kunst so gerne außer Acht ließen. Dabei<br />

wahrte der edle Mann zugleich immer jenen zuvorkommenden Augenschlag, welcher selbst die<br />

vollschlankesten Kunden davon überzeugte, noch weit davon entfernt zu sein, mit einem weiteren<br />

Tellerchen Pollenhonig an sich oder ihrem Leibesumfang zu sündigen...<br />

Auch Torador liebte es, sofern er einmal über den Basar bummelte, Halt zu machen bei Herrn Mollk,<br />

um eine Tüte ferkalitz´sches Konfekt zu erstehen; auch wenn er das meiste davon an umherlaufende<br />

Kinder verschenkte, reichte es immer noch für einen kleinen Vorrat in seinem Arbeitszimmer im<br />

Lyzeum.<br />

Meister Mollk bediente ihn übrigens äußerst zuvorkommend, schließlich hatte Torador seine Frau<br />

ohne großen Aufwand, nur mit einigen Kräutertees und beruhigenden Worten, von ihren<br />

Schlafstörungen und Albträumen befreit.<br />

„Lieber Broschakal“, begrüßte der Zuckerbäcker <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong>s den Heiler mit einer höflichen<br />

Verbeugung, und „Lieber Meister Mollk“ gab der Heiler die Artigkeit zurück. „Was kann ich für<br />

Euch tun“, erkundigte sich der Süßwarenhändler mit einem wissenden Schmunzeln, während Torador<br />

schon begeistert die Auslagen begutachtete: „O - nichts weiter - ich, nun... etwas hiervon, denke ich,<br />

und hiervon, und, wenn Ihr schon dabei seid, die Mandelblätter...“<br />

„Die Mandelblätter“, rief der Händler freudig aus, und die Umstehenden lachten, ebenso Torador, der<br />

es liebte, jedesmal von Mollk auf diese Weise schelmisch enttarnt, zum „Mittäter“ der anderen Gäste<br />

gemacht zu werden: „Die Mandelblätter - Donado“, klatschte Mollk in die Hände und sein Geselle<br />

schnaufte strahlend heran: „Meister Mollk?“<br />

„Eine Tüte Mandelblätter für den ehrenwerten Broschakal (o er kann noch viele Mandelblätter<br />

unbeschadet vertragen) und er lege ihm noch von den Marzipanwecken ein paar obenauf - keine<br />

Wiederrede, lieber Broschakal: hier! bin ich der Arzt...“<br />

Die Kunden zollten ihm entzückten Beifall - eine Dame in seidigem Grün drohte Torador sogar<br />

scherzhaft mit dem Finger, daß er auch brav befolge, was sein Heiler ihm verschreibe. Was sollte<br />

Torador tun? Gerne ließ er sich von Mollk bevormunden, wenn auch die Marzipanwecken an schiere<br />

Bosheit grenzten - bei <strong>Mantow</strong>in, er würde sie unverzüglich verschlingen...<br />

Er hatte gerade bezahlt und wollte sich durch die Menge davonmachen, als er aus den Augenwinkeln<br />

eine dunkel gekleidete Gestalt wahrnehmen konnte, die sich an den Tresen schob, und dann hörte er<br />

auch schon Mollk voller Überraschung rufen: „Herr Lugubrues - wie lange habe ich Euch nicht mehr<br />

gesehen - zwei oder drei Tage... Wie ernst Ihr wieder dreinschaut - Donado, bring´ er mir die Schüssel<br />

mit den Nußtrüffeln, hurtig, hurtig...“<br />

„Herr Lugubrues“, wandte sich Torador erstaunt herum; tatsächlich sah er den Totengräber, wie er<br />

sich von Mollk einige beachtliche Trüffelschnitten in feines Pergament einschlagen ließ und noch<br />

einen Schokoladenapfel auf die Hand... Der Totengräber war so bleich wie eh und je, fast schien es<br />

Torador, als wären die Ringe unter den hellen Augen nur noch tiefel und dunkler geworden. Er<br />

erkannte den Heiler aber sogleich und grüßte mit einem leichten Nicken.<br />

„Wie ich sehe“, mit diesen Worten schloß sich Torador dem sogleich Weitereilenden an, „seit Ihr<br />

auch ein Jünger unseres lieben Meisters Mollk?“


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

„In der Tat“, erwiderte der Totengräber und entblößte lächelnd seine beneidenswert weißen Zähne.<br />

Torador hatte schon früher bemerkt, daß wirklich nur die Rede von Süßigkeiten den anderen zu einem<br />

Anflug guter Laune bewegen konnte. Lugubrues warf dabei einen vorsichtigen Blick auf die<br />

Marzipanschnitten seines Begleiters; er bot Torador zum Tausch etwas von seinem Schatze an. Beide<br />

kamen überein, daß Meister Mollk eine Art Halbgott sei. Etwas gelöster setzten sie ihren Weg fort.<br />

„Ich habe lange nichts mehr von Euch gehört, Herr Lugubrues...“<br />

„Ich bin sehr beschäftigt gewesen in der letzten Zeit“, nickte der Totengräber.<br />

„Ach? Ihr meint...“<br />

„Nein, nicht einmal besonders. Der Mittmond ist ein sehr sanfter Monat. Aber“, da wurde seine<br />

Miene wieder ernster, „aber es gibt da etwas... Ich bin sehr besorgt!“<br />

Das sagt man Euch nach, dachte der Heiler, machte dennoch ein fragendes Gesicht.<br />

„Die Prüfungen, Meister Broschakal, die Prüfungen“, und, als Torador verständnislos dreinblickte,<br />

ergänzte er: „Es kommen sehr schwere Zeiten auf die Stadt zu...“ Dann, mit der Straßenseite,<br />

wechselte er aber die Sache des Gesprächs: „Eurer Mutter geht es gut“, stellte er fest.<br />

„Ja, doch - danke der Nachfrage“, Torador blintzelte verwundert.<br />

„Demnächst wird ein neuer Triumvirat gewählt“, meinte der Totengräber eher teilnahmslos. „Eure<br />

ehrenwerte Mutter...“<br />

„Ja?“<br />

„O nichts!“ Der Mann mit der weißen Strähne zuckte mit den Achseln. Eine kleine Weile gingen sie<br />

schweigend. Doch Torador war neugierig, unruhig geworden, weniger was seine Mutter anbelangte,<br />

als die merkwürdigen Bemerkungen des unheimlichen Mannes davor: „Ihr verzeiht - ich, nun...“<br />

„Ja?“ Der Totengräber blickte ihn scharf von der Seite her an.<br />

„Was meintet Ihr, verzeiht meine..., mit - 'Prüfungen'...“<br />

„Die Prüfungen?“ Unvermittelt blieb der Totengräber stehen. Er legte die Hand vor die Augen, starrte<br />

angestrengt in den leuchtenden Sommerhimmel. Torador folgte mit den Augen, mußte sie<br />

zusammenkneifen, so sehr blendete ihn die Sonne. Der Totengräber aber hatte inzwischen die Hand<br />

sinken lassen und schaute unbewegt in das helle Licht, das er kaum wahrzunehmen schien.<br />

Als er dann zu sprechen begann, schrak der Heiler zusammen, wie wenn ein steinernes Standbild das<br />

Wort an ihn gerichtet hätte, denn so kam ihm der Totengräber in diesem Augenblicke vor: „Es<br />

kommen zwei Prüfungen“, sagte der Seher mit grauer Stimme, „und eine wird schlimmer sein als die<br />

andere. Denn die erste wird uns allen jede Kraft abverlangen, die wir besitzen: das ist der Unstern<br />

unserer Leibes! Die zweite wird über uns kommen und wird die Stärke unseres Glaubens prüfen: das<br />

ist der Unstern unser aller Seelen! Die erste wird sein aus Schwärze und Nacht und sie wird dauern<br />

und uns einsam machen! Die zweite wird aus Feuer sein, ein großer Brand in dieser und in der<br />

anderen Welt und die Götter werden sich von uns abwenden, weil sie selbst von Furcht verfüllt sein<br />

werden...“<br />

Torador wich zurück. Beinahe wäre ihm die Tüte mit den Marzipanschnitten entglitten: „Großer<br />

<strong>Mantow</strong>in“, stammelte er, „ich weiß nicht, ob Ihr von Sinnen seid oder nicht - aber das - das war -<br />

gotteslästerlich...“<br />

„Gotteslästerlich?“ dröhnte der Seher, als er seinen Blick aus der Sonne auf den Heiler schnellen ließ,<br />

der sich nicht gewundert hätte, würde ihn daraus ein tödlicher Flammenstrahl getroffen haben! Aber<br />

die Augen des anderen blickten so traurig und müde, daß Torador erneut von Mitleid ergriffen wurde.<br />

„...gotteslästerlich?“ wiederholte der Totengräber leise. Dann drehte er sich um und eilte über die<br />

Straße davon.<br />

Lanungo erwachte. Sein Kopf schmerzte, und als er sich bewegte, konnte er nur mit Mühe ein<br />

Stöhnen unterdrücken: er ortete die tiefe Stichwunde in seiner rechten Seite. Ein weißer Verband war<br />

darum geschlungen. Allmählich klärte sich seine Sicht.<br />

Er lag auf einem Berg von Moos und Gras in einer halbdunklen Höhle, eingewickelt in seinen roten<br />

Umhang. Wams und Oberkleider lagen, wenn auch nicht gerade sorgfältig, gefaltet auf einem großen<br />

Brocken unweit seines Lagers. Der Stab ruhte an einer Wand. Es roch scharf nach Gerbsäuren und<br />

anderen unreinen Dingen. Von draussen drangen schwache Geräusche, allerdings schienen sie nicht<br />

nah zu sein.<br />

Der Sammler kniff aufmerksam die Augen zusammen; vorsichtig glitt er, der Schmerzen nicht<br />

achtend, von seiner Bettstatt herunter.


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

„Ihr seid aufgewacht“, stellte eine weibliche Stimme vom Höhleneingang her fest. Lanungo warf<br />

einen fast gehetzten Blick dorthin... Die Frau in dem braunen Kleid, einen geflochtenen Korb im Arm,<br />

trat langsam näher. Das hereinfallende Abendlicht beleuchtete sie schräg von hinten, so daß ihr<br />

Gesicht im Schatten lag. Sie war schlank, ihr gekräuseltes Haar war rotbraun, nur kurz, da sie den<br />

Kopf wandte, leuchtete das Weiße in ihrem linken Auge auf. Jetzt betrachtete sie den Sammler.<br />

„Ihr seid zäh“, stellte sie ruhig fest. „Entweder sehr zäh oder Ihr habt keine Schmerzen mehr - was ich<br />

aber nicht glaube! Wißt Ihr, wer ich bin?“<br />

Der Sammler richtete sich im Sitzen auf. Er musterte sie kühl. Dann nickte er. „Sarjana“, sagte er,<br />

während er sich sorgsam die Einzelheiten ins Gedächtnis rief. „Fünfundzwanzig Jahre, verheiratet mit<br />

Larkur, Hauptmann der Garde. Heilerin. 'Katzenhexe', so nennt man Euch!“ Er lächelte spöttisch.<br />

„Angeklagt der Hexerei und freigesprochen im Zusammenhang mit...“<br />

Sarjana lachte laut auf. „Ihr seid tatsächlich einer der seltsamsten Menschen, die ich je behandelt<br />

habe. Aber es stimmt...“ Sie verstummte und dann sah sie lange schweigend auf den Atamanen nieder.<br />

Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Niemals“, meinte sie schließlich. „hatte ich solche<br />

Schwierigkeiten, einem Verwundeten zu helfen. Es war wie - sonst war es - es wollte nicht gelingen...<br />

Es heilt nur sehr langsam, ich bedaure, nicht mehr für Euch tun zu können!“ Sie setzte den Korb ab<br />

und geschickt begann sie, die darin geborgenen Gräser und Kräuter mit einem Messerchen zu<br />

zerkleinern, um sie dann auf ein sauberes, weißes Linnen zu legen. Leise summte sie vor sich hin.<br />

Lanungo fühlte sich, abgesehen von seinem gesundheitlichen Zustand, überhaupt nicht wohl dabei. Es<br />

war ihm, als müßte er durch die Inanspruchnahme der Hilfe eines Baldsterblichen empfindlich an der<br />

beeindruckenden Fremdheit verlieren, die nicht nur die Würde eines Sammlers teils ausmachte,<br />

sondern die auch ein natürliche Schutz war: Vertrautheit mindert Ehrfurcht... Und wie arglos sie war,<br />

auch sich selbst gegenüber. Ob sie nicht spürte, daß ihre Heilkunst nicht allein aus dem üblichen<br />

Geschick, dafür auch aus zauberischen Quellen floß? Und jetzt stutzte sie - ha! bei einem Atamanai!<br />

Was hätte da auch der mächtigste Heilzauber gefruchtet...<br />

Sarjana schien sein Unwohlsein nicht zu bemerken, seine zweifelnden Blicke. Sie beendete gelassen<br />

ihre Arbeit. Dann kam sie mit dem Verbandstuch auf den Sammler zu. Jetzt sah sie aber, und es<br />

überraschte sie, wie der Mann zurückzuckte, leicht und fast unmerklich. „Haltet still“, sagte sie nur.<br />

„Ich muß den Verband wechseln!“<br />

Sie setzte sich neben Lanungo, löste den alten Wickel ab und legte flink den neuen um die Hüfte des<br />

Verletzten. Sie war nun doch eher unruhig. In der Tat, als er bewußtlos vor ihr gelegen hatte, war er<br />

nur ein Straßenopfer gewesen, das ihrer Hilfe bedurfte. Sie hatte verdrängt, wen sie da in ihre Obhut<br />

nahm. Jetzt aber, wo sein waches Auge auf ihr ruhte, sein Atem nicht mehr schlafend-gleichmäßig<br />

kam, da wurde ihr erst bewußt: das war ein Sammler. Das war der atamanische Sammler, von dem ihr<br />

Larkur erzählte hatte, daß er in der Stadt sei. Sie wußte nicht viel über die Atamanen - aber hieß es<br />

nicht, sie seien kalt, uralt und tödlich... „Sie töten ohne Achtung vor dem Getöteten“, dachte Sarjana,<br />

„sie 'sammeln'... aber was?“<br />

Aber gleich wieder schalt sie sich. Das war ein lebendes, denkendes Wesen. Seine Haut war warm, es<br />

atmete, es bewegte die Lippen, wenn sie ihm, während der Ohnmacht, Wasser darauf träufelte.<br />

Natürlich, einige Seltsamkeiten...<br />

„Wir hielten Euch zunächst für tot“, und mit diesen Worten vollendete sie ihr Werk, faltete die<br />

Hände, lächelte den unbewegten Sammler unsicher an. „Wir haben Euren Herzschlag nämlich nicht<br />

gehört... und Euer Blut war so - dick, schwarz - wir...“<br />

„Es fließt mehr als zweihundert mal so langsam wie Eures“, erwiderte der Atamane. „Und unser Herz<br />

schlägt sehr viel seltener als das Eure. Was ist geschehen?“<br />

Sarjana zögerte. „Ihr wurde überfallen“, antwortete sie endlich. „Ihr wurdet niedergeschlagen, dann<br />

bohrte man Euch eine lange Klinge in den Leib. Das“, und sie kramte in ihrer Schürze, „hieltet Ihr<br />

umklammert.“ Und sie reichte ihm einen kleinen, zerknüllten Zettel. Lanungo warf einen kurzen Blick<br />

darauf. Sein Gesicht verfinsterte sich schlagartig, daß die Heilerin erschrak. Ohne ein weiteres Wort<br />

zu sagen, schob er es mit unheilvoller Miene in eine Tasche seiner weiten, roten Hose. „Weiter!“<br />

„Bitte? Weiter?“<br />

„Ihr sagtet 'wir'. 'Wir hielten Euch...', 'Wir haben nicht gehört'...“ und beugte sich vor. „Ich will<br />

wissen, wer ist, außer Euch, Sarjana, 'wir'?“ Er klang gereizt.<br />

Sarjana erhob sich langsam, wie man sich bewegt, um ein gefährliches Tier nicht weiter zu reizen.<br />

„Das ist“, sagte sie leise, „eines der weiteres Dinge, die ich nicht verstehe...“ Und während sie<br />

beiseite trat, den Blick freigab, polterte es vom Eingang her, eine riesige, pelzbedeckte Gestalt schob


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

sich herein und auf das Lager zu - und während Lanungo völlig entgeistert auf das Wesen starrte, das<br />

sich da nahte, hockte sich Den, ein wenig scheu, neben den Gast in seiner Höhle und zeigte ein<br />

glückliches Grinsen.<br />

Die Gaststube war zu dieser Zeit nur mäßig besucht. Vereinzelt trollten sich mehr oder minder<br />

zwilichtige Gestalten durch den halbdunklen Schankraum des „Totenschädels“. Vom Wirt war zur<br />

Zeit auch nichts zu sehen, allerdings polterte und rumorte es aus der Kellerluke hinter dem Tresen.<br />

Der graugrün geschuppte Echsenmann, an einem Nebentisch über ein Napf mit gepöckeltem Fisch<br />

gebeugt, schnoberte mit schwer durchschaubarem Zug um sein fransiges Maul an einem Krug mit<br />

Wasser. Dann und wann glitt seine Klaue in den Beutel an seiner Flanke, tastete dort herum - es<br />

mochte ein Seufzen sein, das schnorchelnde Geräusch, als er die Finger wieder hervorzog, sich wieder<br />

seiner Mahlzeit widmete...<br />

„Ihr?“ Der Sammler starrte den Nuu-Giik an, als hätte sich ihm in dessen Gestalt soeben die Untiefe<br />

von Macarok offenbart. Der pelzige Hüne kauerte aber nur da und schwieg, mal schweiften seine<br />

Augen dahin, dann dorthin. Er rieb sich die großen Hände, wippte in den Knien. Immer wieder<br />

musterte er den Atamanen mit verlegenem Grinsen.<br />

Sarjana stand etwas unschlüssig. Sie wollte etwas sagen, vermitteln - indes mußte sie sich<br />

eingestehen, daß sie sich ein wenig ängstigte, unbehaglich fühlte, sah sie diese Zusammenkunft<br />

zweier Wesen, die sie beide, ohne zu zögern, unheimlichsten Märchen hätte entspringen lassen... ein<br />

Atamane und ein Bärenmann, der Teufel und ein Ungetier... Wäre da nicht die seltsame -<br />

Menschlichkeit gewesen, als der Bär sie zu dem Lager des Fetaks? des Verwundeten geführt hatte,<br />

um den er sie sich zu kümmern geheißen hatte...<br />

Sarjana räusperte sich leise, drehte sich zum Eingang und wollte gerade gehen - als sie die die Blicke<br />

in ihrem Rücken spürte. Sie schaute zurück und sah die beiden, jeder mit einem jeweils so<br />

undurchschaubaren Ausdruck auf den so unterschiedlichen Gesichtern - aber beide sahen ihr,<br />

unzweifelhaft, mit einer gewissen Sanftheit nach... Sarjana lächelte und verließ wortlos die Höhle.<br />

„Sie ist eine gute Frau“, sagte Den, bewegte seinen Kopf der Heilerin nach. „Sie hat sofort geholfen!“<br />

Der Sammler hob kurz die Braue; es sah maskenhaft aus: „Sie wird entlohnt werden“, erwiderte er<br />

unbewegt.<br />

Den schüttelte den Kopf.“Sie wollte nichts, wirklich nichts - ich glaube, sie dachte, ich könnte ihr<br />

nichts geben...“ murmelte er.<br />

Der Sammler versteifte sich. „Ein Atamane“, knurrte er, „bezahlt seine Schulden! Das ist Gesetz!“<br />

Dann fragte er, was sich denn zugetragen habe, daß er sich jetzt hier, in dieser Höhle wiederfinden<br />

müsse.<br />

„Ihr wurdet überfallen“, erwiderte Den zögerlich.<br />

„Ich kann es mir mittlerweile denken! Von wem?“<br />

„Weiß ich nicht! Habe sie, es waren zwei, habe sie vertrieben“, und Stolz schwang in seiner Rede mit.<br />

„...zwei?“ Der Sammler schüttelte, von sich selbst angewidert, den Kopf. Zwei. „Und Ihr wart -<br />

zufällig - in der Nähe...?“ Ein zaghaftes Zähneblecken war die Antwort.<br />

„Ah“, machte der Sammler nur. Und er senkte den Blick. Seine Finger spielten unmerklich mit dem<br />

Saum seines Mantels. Ein leichte Verspannung drückte seinen Nacken, trotz der weichen Liegestätte,<br />

welche jedoch, was ihm bisher eigentlich entgangen war, sogar angenehm und würzig duftete. Er<br />

richtete seine Gedanken auf die lästige Stelle des Nackens und spürte sofort, wie die Muskeln sich<br />

lösten.<br />

Er zuckte auf, als ihn etwas berührte. Den zog die grobe Hand hastig zurück. Wieder diese<br />

Verlegenheit. „Nun“, fragte der Sammler, sehr kalt, sehr beherrscht, „was ist denn?“ Es war so<br />

abstoßend, wie er es auch wollte. Allein, der Nuu-Giik schüttelte nur langsam den breiten Schädel.<br />

Als er wieder sprach, klang seine tiefe Stimme verwirrt und kleinlaut: „Ich habe damals“, sagte er,<br />

„gar nicht wirklich - nicht geschafft, Euch wirklich den - meinen Dank...“<br />

Da aber! sank der Atamane in sich zusammen, schlug die Hände vor sein Gesicht und erzitterte: „Ihr<br />

beschämt mich!“ rief er nahezu entsetzt, „Ihr beschämt mich!“ Der Nuu-Giik kippte erschrocken nach<br />

hinten, als der Sammler in einen wehklagenden, schwingenden Sprechgesang verfiel - „Aber - oh - ich<br />

wollte...“<br />

„Nein, nein!“ rief der Sammler. Er warf verzweifelt den Umhang über sein Haupt. „Mein Leben<br />

verdanke ich Euch...“


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

„Aber - oh...“<br />

„Und Ihr wagt es auch noch, so edel und großmütig zu sein, meinen unwürdigen Undank durch Eure<br />

Hochherzigkeit noch viel schlimmer - unerträglicher für mich zu machen, als er er eh schon ist...<br />

beqwia, beqwia val'love, cusa...“<br />

Aber er habe doch sein Leben gerettet, brüllte der Nuu-Giik und breitete entgeistert die Arme aus.<br />

„O nein, wenn es so einfach wäre...“ Der Atamane erhob sich ruckartig aus dem roten Tuch, setzte<br />

sich auf und stierte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere, wehrte aber den anderen ab, als dieser<br />

versuchte, ihm jetzt ins Gesicht zu blicken. „Ich bin ein Atamanai“, flüsterte er. „Wie soll ich es Euch<br />

erklären...“<br />

Eine kleine Stille; da sagte der Nuu-Giik: „...daß Ihr glaubt, ich hab´ was wertvolleres gerettet - als<br />

Ihr?“ Es klang nicht bitter, wohl eher neugierig.<br />

Allein, der Sammler schüttelte sich bei diesen Worten.<br />

Er atmete tief, schien sich zu beruhigen. Dann sprach er: „Ganz im Gegenteil!“ Und warf einen<br />

schmerzvollen Blick in das freundliche, fragende, offene Gesicht seines Gegenübers. „Ganz - im<br />

Gegenteil!“ Und er fuhr leise fort: „Wir glauben, Den vom Volke der Nuu-Giik, wir glauben, glauben<br />

wie kein anderes noch lebendes Volk je glaubte! Wir verehren den...“ Jäh brach er ab, als hätte er<br />

bereits zuviel gesagt. Er wirkte völlig erschöpft.<br />

Auf einmal stupste ihn etwas an die Wange, etwas hölzernes und Wasser tropfte herunter.<br />

Den reichte ihm eine Trinkschale aus hellem Holz. „Die gute Frau hat gesagt“, erklärte er, „Ihr sollt<br />

das trinken. Sie sagt, Ihr sollt sogar viel trinken! Vielleicht“, er grinste plötzlich mit seinem gelbgroßen<br />

Gebiß, „wenn Ihr wieder laufen könnt, dann... dann trinken wir was zusammen...“ und er<br />

fischte einen tönernen Krug unter einem Stein hervor, entkorkte ihn mit den Zähnen, daß sich der<br />

heftig-scharfe Geruch nach frisch Gebranntem entfaltete.<br />

Da lächelte Lanungo - tasächlich lächelte er: und Den freute sich unbändig, als er den Blutswanderer<br />

das erste Mal wirklich lächeln sah, ohne Maske und ohne die merkwürdige Höflichkeit wie zuvor.<br />

Wenig später war der Sammler eingeschlafen.<br />

Als die Nacht hereinbrach, füllte sich die Schenke. Bald tummelten sich, im dumpfen Licht der<br />

Pechfackeln, die Gäste des „Totenschädels“ über den feucht-muffigen Bohlen.<br />

Obgleich die warme Sommerzeit keine gute Zeit für die Schankwirte war, denn lieber lärmten die<br />

Leute durch die lauen Straßen als im Innern der Wirthäuser, konnte Harl heute gute Geschäfte machen<br />

- viel Bier und Schnaps wurde verlangt und getrunken, und die eine oder andere Thekenwette tröstete<br />

den Wirt darüber hinweg, daß der Winter, seine vollen Stuben frierender Menschen noch weit entfernt<br />

waren.<br />

Der große Echs saß immer noch an seinen Tisch gezwängt, hatte aber ein in schwarzes Fell<br />

gebundenes Buch hervorgezogen und schrieb mit einem Kohlestift in seiner bauchigen Schrift.<br />

Wäre der Echs, der sich selbst „Zir“ nannte, erst seit kurzem in <strong>Elek</strong>-<strong>Mantow</strong> gewesen, hätte seine<br />

ungewohnte Erscheinung heute abend sicher wieder den einen oder anderen herausgefordert - daß ein<br />

„Tier“ hier aufrecht auf zwei Beinen umherschlich, war für einige schon verwunderlich genug. Daß<br />

dieses „Tier“ dann auch noch die Kunst des Schreibens beherrschte, fanden hingegen fast alle<br />

außerordentlich. Und wieder hätte es, diesmal aus Neid, einige zu unüberlegten Handlungen<br />

hingerissen, wäre nicht inzwischen bekannt gewesen, daß Zir schnell und geschickt mit seinem<br />

Stielhammer war...<br />

In seiner Tasche verbarg Zir den Grund, weswegen er sich in die geteilte Stadt im Osten Nontariells<br />

begeben hatte: eine kleine, schwarze Perle, die so kalt und schwarz war, als hätte nie ein Lichtstrahl<br />

sie berühren können. Ein gefährliches Kleinod. Es hatte Meuchler, gedungene Söldner, Hinterhalte<br />

und Tod im Gefolge. In der letzten Zeit war es freilich ruhig gewesen, als hielte irgendetwas seine<br />

schützende Hand über ihn... Er legte den spitzen Kopf in den Nacken, schüttete aus dem Krug in sein<br />

halbgeöffnetes, von dunkelgeäderten Hautfalten durchzogenes Maul. Er schlürfte durch die scharfen<br />

Zähne.<br />

Er hatte erfahren, daß einer der „Feuerjäger“, wie die Urszzzzsraxszsxch jene Wesen benannten, in<br />

der Stadt sei, und auch auf der Suche nach einer schwarzen Perle. Zu dumm, daß Zir diese<br />

Möglichkeit, mehr über seinen Schatz zu erfahren, nicht ausschöpfen konnte: einen „Jäger“ um etwas<br />

zu bitten, und sei es auch nur die Antwort auf eine Frage, hieße ihn einzuladen - damit jede<br />

Gegenwehr aufzugeben - einem den „Pfad“ zu rauben und also jede Aussicht auf eine Wiedergeburt.


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

Man mußte warten, bis der rote Jäger einen von sich aus ansprach. Allein, das hatte dieser bisher nicht<br />

getan! was womöglich hieß, daß er eine ganz andere Perle im Auge hatte, als die von Zir...<br />

Er fingerte die Perle aus seinem Beutel und betrachtete sie.<br />

In diesem Augenblick johlte es hinter ihm auf; er schloß sofort seine Klaue und blickte herum: eine<br />

Gruppe Gaukler, Fahrendes Volk, Nush'quai in ihren bunten Gewändern, mit Schellen und allerlei<br />

Spielkram in Händen, war in den „Totenschädel“ eingezogen und während einige von ihnen sich an<br />

den Schanktisch begaben, fingen andere an, auf ihren Flöten und Geigen zu spielen. Sogleich scharten<br />

sich die Gäste um die Musikanten, klatschten und gröhlten die Lieder mit...<br />

Zir beobachtete diese Leute neugierig. Die Bleichhäutigen gab es in so vielen Arten und Formen, und<br />

alle waren sie sonderbar - es gab Braunhäute, Blauhäute, Gelbhäute, jetzt sogar Rothäute. Doch gefiel<br />

ihm der Auftritt, machte er doch gute Stimmung, und singend und tanzend waren die Beichhäutigen<br />

noch am umgänglichsten... Er merkte sogar, wie er bereits mit seiner dreidornigen Fußklaue begonnen<br />

hatte, im Takt der lustigen Weise mitzuwippen.<br />

Eine junge Frau mit herrlich blauen Augen wirbelte inzwischen, ihre weiten Röcke wie ein fliegendes<br />

Rad, durch die Stube - die teils derben Zurufe der begeisterten Männer beantwortete sie ebenso derb,<br />

aber lachend; ihre roten Haare flogen, als sie über ihre Brüder sprang, die in knienden Tanz gegangen<br />

waren und sie klatschend anfeuerten und umlagerten. Sie lachte laut, und ein goldenes Amulett blitzte<br />

um ihren Hals...<br />

Plötzlich schrie sie auf. Alles verstummte.<br />

Sie stieß einen langen und gellenden Schrei aus, dann riß sie an der Kette, um ihren Hals, schleuderte<br />

sie zu Boden. Im selben Augenblick fühlte Zir einen stechenden Schmerz in seiner Klaue, so<br />

entsetzlich und jäh, daß er mit einem gequältem Fauchen die Krallen öffnete - die schwarze Perle<br />

kollerte auf den Tisch...<br />

Seine grüngeschuppte Haut wölbte sich übelriechend, eine kleine, kreisförmige Brandwunde zischte<br />

an seiner Faust... Und die junge Nush'quai, die kreischend, Worte in einer fremden Sprache, in die<br />

Arme eines ihrer Freunde fiel, zeichnete genau auf der schönen, weißen Brust mit den zarten, hellen<br />

Sprenkeln ein rechteckiges, längliches Brandmal - und rechteckig und länglich war der Anhänger an<br />

der Kette, der nun golden auf den Bohlen glomm!<br />

Lanungo erwachte mit einem Schrei.<br />

Allgemein erhob sich ein Tumult: „Hexerei“, brüllte da wer, da und dort wurden die ersten Dolche<br />

gezogen. Krüge gingen zu Bruch und zwei, drei Gäste flohen in die Nacht. Die weinende Tänzerin<br />

wurde von ihren Brüdern gestützt; im Hintergrund schrie der Wirt zornig auf das Volk ein.<br />

Zir starrte von seiner Klaue auf die Perle, hin und her. Große Hölle der Sümpfe, dachte er, was ist das<br />

für ein Teufelswerk... Jemand stieß von hinten gegen ihn, unbedacht, aber Zir wurde gegen den Tisch<br />

geschmettert, die Perle machte einen schwarzblitzenden Satz - im letzten Augenblick, bevor sie in die<br />

Stampede der Gäste geraten wäre, schnappte sie die Krallenhand des Echsen, und ließ sie so schnell<br />

in seiner Tasche verschwinden, daß er gar nicht sagen konnte, ob immer noch das teuflische Glühen<br />

von ihr ausgegangen war... Er packte seinen Hammer, drängte sich zur Türe und stürzte hinaus.<br />

Inzwischen hatte sich ein Kreis um das goldene Amulett am Boden gebildet: alle deuteten auf die<br />

Brust der Tänzerin, redeten erregt aufeinander ein und viele heilige Zeichen verschiedener Gottheiten<br />

wurden geschlagen in Richtung des verhexten Schmuckstücks. Ein kleiner, alter Fiedler warf<br />

schließlich ein Tuch über die Unglückliche, versuchte sie mit Hilfe der anderen Fahrensleute<br />

hinauszubringen - aber dem widersetze sich die Menge heftigst. Konnte man denn ausschließen, daß<br />

dieses Weib nicht doch mit bösen Mächten im Bunde stand? Vielleicht war das Amulett ja im<br />

Gegenteil ein gesegnetes Stück, das die Frau für eine Frevelei gebrandmarkt hatte? Feuerprobe,<br />

Feuerprobe, wurde gefordert, und die Gaukler und Musikanten wurden starr vor Angst.<br />

„Was ist denn hier geschehen?“ setzte sich da eine tiefe Stimme über den wüsten Lärm hinweg.<br />

„Yanec!“ Der Wirt zwängte sich durch; eine Axt umklammert, aber mit erleichterter Miene. „Yanec!<br />

Ihr kommt gerade recht...“ Und dann bedrängten sie den Ordenskrieger der Hesvite, jeder versuchte zu<br />

schildern und in einem zu erklären...<br />

„Bitte!“ Der hochgewachsene Mann mit dem schwarzen Bart hob beschwichtigend die Hände. Was<br />

der Aberglaube doch aus gestandenen, harten Männern und Frauen für Kinder machen konnte... Er<br />

wandte sich an die Spielleute. „Habe ich das richtig verstanden“, fragte er, „Eure Gefährtin wurde auf<br />

unerklärliche Weise - verbrannt? Durch das Amulett?“ Sie nickten eifrig, aber immer noch verstört.


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

Nicht jeder von ihnen schien <strong>Mantow</strong>in zu sprechen, doch gab sich der Fiedler als Wortführer zu<br />

erkennen.<br />

Er deutete mit dürren, beringten Fingern zu Boden. „Das dort!“ schnarrte er. „Das dort hat unsere<br />

Freundin verletzt...“ Und strich der Zitternden sanft über den Arm, sprach fremdländische, ruhige<br />

Worte zu ihr. Tatsächlich entspannte sich das Mädchen ein wenig, nickte ein paar mal, schluchzte.<br />

Yanec betrachtete das Amulett. Ein verbogener, recht verkratzter Streifen Gold, vielleicht zwei<br />

Daumen lang. An einem Ende war er durchbohrt, ein kleines, kreisrundes Loch; ein Teil der<br />

gerissenen Kette hing noch darin. Yanec war sich nicht sicher, ob einige der Kratzer nicht doch sehr<br />

fein ziselierte Bilder oder Zeichen waren - er beugte das Knie, berührte die kühle Oberfläche des<br />

Metalls. Nachdenklich schloß er die Augen. Dann begann er, seine Gedanken zu spannen. Als er sie<br />

auf das Metallstück richtete, überkam ihn ein sehr seltsames Gefühl: es war nicht Angst oder<br />

Schmerz, obwohl eine Beklommenheit mitschwang; aber die Ehrfurcht vor Größe und Glanz<br />

verspürte er, wie ein Kind, daß die Fassade eines prachtvollen Schlosses emporstaunt...<br />

Er riß sich zusammen. Vorsichtig, und die Menge erblich, hob er den blinkenden Streifen auf.<br />

Da! War da nicht etwas? Ein kalter Schauer lief über den Rücken, als ob ihn jemand plötzlich aus<br />

dunklen Schatten heraus beobachtete - tatsächlich blickte er sich um, sah aber nur die gespannten<br />

Gesichter der Umherstehenden. Yanec runtzelte die Stirn. „Eigenartig“, dachte er. „Kein Eindruck<br />

einer mir bekannten Kraft. Weder scheint der Himmel oder die Hölle hier am Werke gewesen zu<br />

sein...“ Er hörte das Wimmern der Frau.<br />

Die Spielleute standen unschlüssig, ob sie noch ein Urteil dieses großen Mannes mit dem<br />

Purpurfalken auf der gepanzerten Brust abwarten oder besser gleich ihre Freundin fortführen sollten -<br />

aber Yanec trat auf die kleine Gruppe zu: „Ich kann helfen“, sagte er mit freundlichem Lächeln.<br />

Einen Augenblick lang erntete er mißtrauische Blicke, dann nickte der Alte.<br />

Die Brandwunde schimmerte in bösem Rot, durchzogen von braunen Furchen - ein genauer Abdruck<br />

des Amuletts. Der Priester fühlte, daß die Arme schlimme Schmerze litt; also richtete er seinen Geist<br />

auf die Versehrung, hoffte auf die Linderung, die bald ihr und wie stets, auf merkwürdige Weise,<br />

dann auch ihm wiederfahren würde... Nichts. Yanec stutzte. Die Wunde hatte sich weder verändert,<br />

noch erkannte er bei er Frau irgendwelche Anzeichen der Genesung - ein weiterer Versuch, seine<br />

Heilkräfte wirken zu lassen, zeitigte ebenfalls keinerlei Wirkung...<br />

Als die anderen erschrocken aufstöhnten, erwachte er wie aus einem drückenden Traum. Vor ihm,<br />

während alle zurückwichen, in flammendem Rot, bleich und unbewegt, stand der atamanische<br />

Sammler.<br />

„Ihr - hier?“ brachte Yanec erstaunt hervor.<br />

Der Atamane nickte. „Gewiß!“ erwiderte er. Und streckte die Hand aus.<br />

„Was...“ Der Priester starrte ihn, die Hand verwirrt an.<br />

„Gebt es mir“, sagte der Sammler ruhig, „Ihr könnt nichts daraus erfahren. Und jeder Versuch, Ihr zu<br />

helfen“, er deutete mit dem Kopf nach der fassungslosen Tänzerin, die sich in die Arme ihrer nicht<br />

minder verschüchterten Brüder drückte, „ist aussichtslos!“<br />

Auf den fragenden Gesichtsausdruck des Ordenskriegers hin lächelte er leicht. „Ich kann es Euch<br />

nicht erklären“, sprach er dann, „und Ihr könntet es auch nicht verstehen. Gebt es mir!“ Fraglos war<br />

sein Ton schärfer geworden, aber die Haltung des Sammlers war immer noch friedlich und gelassen.<br />

Yanec zögerte kurz - die Augen, achte auf die Augen - dann reichte er dem Atamanen den Anhänger.<br />

„Seid Ihr wahnsinnig?“ rief einer aus der Menge. „Womöglich ist der Fetak die Ursache für den<br />

ganzen üblen Zauber...“ Ein beifälliges Gemurmel erhob sich, Fäuste wurden geschüttelt - da und dort<br />

drohten sie mit ihren Dolchen und Schwertern...<br />

„Narren!“ sagte da der Sammler, ohne indes in die Runde zu schauen. Und, nachdem es wieder still<br />

geworden war: „Wo ist der Echsenmann?“<br />

„Was?“ „Er meint den Echs...“ „Der hier gesessen hat...?“ „Wen...?“<br />

Der Echs sei also gegangen, stellte der Atamane fest. Kurz stand er sinnend, während er den<br />

Anhänger bedächtig in seinen Beutel gleiten ließ. Dann, mit einer leichten Verbeugung gegen Yanec<br />

und die Spielleute, einem funkelnden Seitenblick, der einige wieder sich hastig segnen machte,<br />

wandte er sich zur Tür.<br />

„Wartet!“ Yanec trat rasch von hinten an ihn heran.<br />

„Bitte, Cer dÍbrisco?“. Ohne sich umzudrehen.<br />

Er könne nicht einfach gehen, erklärte der Priester mit fester Stimme. „Ihr habt Erklärungen, wie es<br />

scheint - diese Leute haben ein Anrecht darauf sie zu erhalten!“


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

„Ich erachte diesen Anspruch nicht für stark“, erwiderte Lanungo, fast klang es spöttisch. „Und ich<br />

gebe Euch keine Erklärungen, Cer d'Ibrisco! Keinem hier! Pantuino!“ Im nächsten Augenblick fiel<br />

die Pforte hinter ihm ins Schloß. Draussen fanden die Nacheilenden nur noch leere Straßen und die<br />

Nacht.<br />

In den nächsten Tagen suchte Den den Sammler vergeblich.<br />

Er mußte feststellen, daß die Bereitschaft der Leute, ihn bei dieser Suche zu unterstützen, mehr als<br />

dürftig war. Viele wandten sich hastig ab, wenn die Sprache auf den Blutswanderer kam, und<br />

musterten Den daraufhin selbst mit fremdartigem Blick. Man sprach nicht gerne von jemandem, der,<br />

soviel erfuhr der Nuu-Giik zumindest, noch vor kurzem seine Finger gehabt hatte in einer üblen<br />

Angelegenheit (von Hexerei, verfluchtem Gold war die Rede, und einem Brandmal, das nichts<br />

anderes sei als das Auge des Fetaks, das er auf die Seele einer unglücklichen Nush'quai geworfen<br />

habe). Und er habe nach einem Drachen gesucht - es wird Zeit, diesem Schwarzkünstler 'was Heißeres<br />

als Drachenfeuer zu fressen zu geben!<br />

Irgendwer schwor noch Stein und Bein, er habe den roten Teufel leibhaftig gesehen, als der, zur<br />

Geisterstunde, sich mit einer wunderschönen, weißen Frau getroffen habe - zweifelsohne eine<br />

unheilige Fee, die ihm zu Diensten war, und zu was für Diensten, das dürfe sich der einfache Mensch,<br />

der Wert auf seine Seele legte, gar nicht ausmalen... Traurig hatte sich Den davongemacht.<br />

Dann aber, der Mittmond war zu zwei Vierteln bereits verstrichen, verbreitete sich in der geteilten<br />

Stadt lauffeuerartig eine außerordentliche Neuigkeit, welche Den aber in abgrundtiefe Verzweiflung<br />

stürzte.<br />

Es war in einer grauen Dämmerung gewesen, der Tag zur Nacht hin nahezu ausgeblutet. Jenseits der<br />

Kluft erhoben sich die Türme und Wälle der Oberstadt, die schwarzen Umrisse im Umfeld des<br />

sonnenlosen Himmels wie Kohle gegen das, was bereits Asche geworden war. Ein alter Mann, der<br />

sich aus den Ställen eines nahen Gasthauses Stroh gestohlen hatte, es jetzt unter seinem<br />

zerschlissenen Mantel zu einer Schlafstätte aufpolsterte, eine der namenlosen Bettelgestalten des<br />

Rattenlochs... Rauschkraut wärmte ihn und Abfall sättigte ihn. Er war müde, erschöpft. Was sollte er<br />

auch sonst sein... Niemand gab etwas auf ihn.<br />

Aber von seinem Versteck - es war nötig sich zu verstecken, um nicht das Opfer der Betrunkenen zu<br />

werden - von seinem Versteck aus sah er, was sich in dieser Mittmonddämmerung abspielte, hier am<br />

Rande der Schlucht.<br />

Er sah den gedrungenen Mann im dunklen Kapuzenmantel dort stehen, sein Gesicht sah er nicht, denn<br />

es schien kein Licht, wo er stand. Der Mann schien zu warten, denn er wandte den Kopf hin und her<br />

und spähte in das Dämmergrau der Umgebung. Dann kam der andere, der rote Mann, in seinen<br />

wehenden Gewändern und einem matt schimmernden Stab in der Hand.<br />

Sie trafen sich am Rande der Schlucht und der Alte war immerhin so nahe, daß er einzelne Worte<br />

wahrnehmen konnte: Was er wolle, fragte der Rote. Und der andere erwiderte mit einer Stimme, die<br />

wie aus einem zerschlagenen Munde kam, daß er mit ihm sprechen müsse. Dann sagte der Rote etwas<br />

von „Mutter“ und „Abkommen“, und der Dunkle lachte - seine nächsten Worte waren geflüstert und<br />

der Alte vermochte sie nicht zu verstehen - aber als nächstes sprach der Rote in schneidendem Ton<br />

von einer Warnung...<br />

Der Alte konnte sie sehen, wie sie dicht beieinander standen am Rande der Schlucht - und plötzlich<br />

der Gedrungene nach dem Roten packte, wie eine zubeissende Schlange! Wie sie rangen - lautlos -<br />

aber der Dunkle mit großer Kraft den Roten auf die Schlucht zudrängte... Seine Kapuze war<br />

abgeworfen worden, und er hatte ein Gesicht, schwärzer als die Wälle der Oberstadt.<br />

Es ging so schnell. Mit einem Schrei verschwanden sie über der Abbruchkante der Klamm.<br />

Zitternd kroch der Alte aus seinem Versteck. Die Schlucht lag nun wieder still, nur vereinzelt meinte<br />

man Steine kollern zu hören. Da fand der Alte im Zwielicht das Seil. Es lag straff gespannt, sein Ende<br />

hing in der Felsenschlucht. Ein Keuchen drang daraus... Und als der Alte aufschaute, kreuzte sich sein<br />

Blick mit dem des Wesens, das seinen Kopf aus dem Rachen der Schlucht erhob: ein rotes Auge war<br />

darin und die Haut war wulstig, rissig, finster wie Schlacke. So bohrte sich der Blick des Dämons,<br />

unverwandt, lähmend, in den alten Mann.<br />

Noch nie war der Alte so gerannt. Sein Atem rasselte, er glaubte an der Anstrengung zu ersticken. Als<br />

er einen letzten Blick nach hinten warf, gewahrte er den gedrungenen Mann, der den Roten in die<br />

Schlucht gerissen hatte, das Seil war um seinen Knöchel geknüpft. Behende sprang er aus der Klamm,<br />

schaute noch kurz hinein - und der Alte war sicher, daß der Dämon ihm ein Grinsen nachsandte... Der


Erkenntnis - Thomas Peter Goergen<br />

Rote ist tot, der Rote ist tot... Doch während der Bettler am Ende der Gasse stolperte und<br />

zusammenbrach, seine Zähne rasend aufeinanderschlugen, so laut, daß man es jenseits der Spalte<br />

hätte hören müssen (wie er dachte), war der Mörder wohl entwichen.<br />

Keiner legte Hand an den alten Mann, als der bebend in ein von Ratten wimmelndes Loch kroch.<br />

Und das war die Kunde von dem Geschehen in jener Mittmonddämmerung am Rande der Schlucht,<br />

die sich in den nächsten Tagen dann verbreitete: nämlich, daß der atamanische Sammler von einem<br />

Unbekannten in die Schlucht und, mochte er auch mit der tiefsten Tiefe der Hölle im Bunde sein, in<br />

den sicheren Tod gestürzt worden war!<br />

Atamanischer Glossar<br />

â kankel - fortan, für alle Zeiten<br />

Anq'ushaq - „Menschenbär“: Bezeichnung für die Nuu-Giik<br />

Dahr, Dahra - 1. Meister, Meisterin<br />

2. Gegenseitige Anrede der Sammler und Sammlerinnen<br />

ekke - tragen, belastet sein mit etw.<br />

ma - und<br />

Semala garka - „fliegende Hunde“: Redewendung für Kuriosität, Absonderlichkeit

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