Wesen und Struktur der Globalisierung. Eine ... - Peter Gerdsen
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<strong>Wesen</strong> <strong>und</strong> <strong>Struktur</strong> <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong>.<br />
<strong>Eine</strong> kritische Zeitanalyse<br />
von <strong>Peter</strong> <strong>Gerdsen</strong><br />
Einleitung<br />
Bei <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong> handelt es sich um einen in <strong>der</strong> Gegenwart beson<strong>der</strong>s umstrittenen Begriff,<br />
<strong>der</strong> in seinen Auswirkungen bis in die Lebensbereiche fast aller Menschen hineinreicht. In den Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />
um die <strong>Globalisierung</strong> haben sich vehemente Befürworter, die in dieser Bewegung<br />
das Wohl <strong>der</strong> Menschheit sehen, aber auch radikale Gegner formiert, die in <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong> eine<br />
Bedrohung <strong>der</strong> Menschheit betrachten. In dieser Situation ist es notwendig, die Froschperspektive <strong>der</strong><br />
Gegner <strong>und</strong> Befürworter zu verlassen, um aus <strong>der</strong> Vogelperspektive die verschiedenen Dimensionen<br />
<strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong> zu untersuchen. Dazu ist es erfor<strong>der</strong>lich <strong>der</strong> Debatte um die <strong>Globalisierung</strong> eine<br />
erkenntnistheoretische Gr<strong>und</strong>lage zu geben. Dabei ist eine wichtige These meiner Abhandlung, daß es<br />
bestimmte Denkformen sind, die sich als geistige Quelle <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong> erweisen; denn es ist beabsichtigt,<br />
die Tiefenstrukturen des Geschehens sichtbar zu machen. Da die <strong>Globalisierung</strong> ein kulturenübergreifen<strong>der</strong><br />
Vorgang ist, müssen die Ergebnisse <strong>der</strong> Interkulturellen Philosophie Berücksichtigung<br />
finden. Deren »Konzept <strong>der</strong> Interkulturalität distanziert sich von je<strong>der</strong> Form von ›emotionalen‹<br />
<strong>und</strong> ›Nützlichkeitsargumenten‹. Sie will als eine Denknotwendigkeit unterschiedliche Denktraditionen<br />
mit ihren eigenen Fragestellungen <strong>und</strong> Lösungsansätzen als gleichberechtigt ins Gespräch bringen.<br />
Also ein Gespräch in gleicher Augenhöhe. Ihr liegt eine Pluralität zugr<strong>und</strong>e, die eine geistige<br />
Einheit aus <strong>der</strong> Vielheit <strong>der</strong> Kulturen ermöglicht.« 1<br />
Zunächst gilt es, eine »Analyse des Begriffs« <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong> vorzunehmen; denn eine gewisse<br />
Klarheit des Begriffs ist Voraussetzung für das Verständnis des Phänomens. In einem nächsten Schritt<br />
werden die Quellen aufgezeigt, aus denen sich die beson<strong>der</strong>en Denkformen herausgebildet haben, die<br />
<strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong> den Weg bereiteten. Im Anschluß daran wird auf die strukturelle Gewalt <strong>und</strong> den<br />
Verlust <strong>der</strong> Identität eingegangen. Zur Sprache kommt in diesem Zusammenhang auch <strong>der</strong> Einfluß<br />
des atheistischen Humanismus, die Bedeutung des Amerikanismus <strong>und</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Telekommunikations-<br />
<strong>und</strong> Transportsysteme für die <strong>Globalisierung</strong>. Abschließend wird <strong>der</strong> naheliegende Zusammenhang<br />
zwischen <strong>Globalisierung</strong> <strong>und</strong> Weltherrschaft analysiert.<br />
Analyse des Begriffs<br />
Zunächst ist es wichtig, zwischen Wort <strong>und</strong> Begriff zu unterscheiden. Worte sind Namen für Begriffe<br />
<strong>und</strong> diese stehen für bestimmte Gedankeninhalte. Die mangelnde Unterscheidung zwischen Wort<br />
<strong>und</strong> Begriff ist bereits ein Einfallstor für eine Manipulation des Denkens. Es kommt darauf an, den<br />
eigentlichen Gedankeninhalt des Begriffs <strong>Globalisierung</strong> in den Blick zu bekommen <strong>und</strong> ihn von manipulatorischen<br />
Eingriffen zu befreien.<br />
Wirft man einen Blick in die Internet-Enzyklopädie Wikipedia, so findet man die Definition: »Unter<br />
<strong>Globalisierung</strong> versteht man den Prozeß <strong>der</strong> zunehmenden internationalen Verflechtung in den Bereichen<br />
von Wirtschaft, Politik, Kultur, Umwelt, Kommunikation.« Treffen<strong>der</strong> wäre an dieser Stelle anzumerken,<br />
daß es sich weniger um eine »internationale Verflechtung« handelt, son<strong>der</strong>n daß es in <strong>der</strong><br />
Hauptsache darum geht, immer weitere Teile <strong>der</strong> Menschheit, einem einheitlichen Regelwerk auf den<br />
Bereichen Wirtschaft, Politik, Kultur, Umwelt, Kommunikation zu unterwerfen.<br />
Weiter heißt es dort: »Diese Intensivierung <strong>der</strong> globalen Beziehungen geschieht auf <strong>der</strong> Ebene von<br />
Individuen, Gesellschaften, Institutionen <strong>und</strong> Staaten. Als wesentliche Ursachen <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong><br />
gelten <strong>der</strong> technische Fortschritt, insbeson<strong>der</strong>e in den Kommunikations- <strong>und</strong> Transporttechniken sowie<br />
die politischen Entscheidungen zur Liberalisierung des Welthandels. Ab welchem Zeitpunkt man<br />
von <strong>Globalisierung</strong> sprechen kann, ist umstritten.« Daß die erdumspannenden Kommunikations- <strong>und</strong><br />
1 Braun, Ina; Scheidgen, Hermann-Josef: Interkulturalität - Wozu, Hamid Reza Yousefi <strong>und</strong> <strong>Peter</strong> <strong>Gerdsen</strong> im Gespräch,<br />
Nordhausen 2008.
Transportsysteme die <strong>Globalisierung</strong> beför<strong>der</strong>n, ist einleuchtend; von welchem Zeitpunkt an man von<br />
<strong>Globalisierung</strong> sprechen kann, dürfte vom Inhalt des Begriffs <strong>Globalisierung</strong> abhängen. Globalen<br />
Handel gab es in <strong>der</strong> Menschheit zu allen Zeiten, von <strong>Globalisierung</strong> im heutigen Sinne kann jedoch<br />
erst seit <strong>der</strong> europäischen Aufklärung gesprochen werden; denn <strong>der</strong>en Universalismus zielt darauf ab,<br />
die Ideen <strong>der</strong> Aufklärung auf die ganze Menschheit auszudehnen.<br />
Beson<strong>der</strong>s Aufschlußreich ist die Definition von <strong>Globalisierung</strong>, die Thomas P. M. Barnett gegeben<br />
hat: »Die <strong>Globalisierung</strong> ist ein Zustand gegenseitig gesicherter Abhängigkeit. Um seine Wirtschaft<br />
<strong>und</strong> Gesellschaft zu globalisieren, muß man in Kauf nehmen, daß fortan die eigene Zukunft vorrangig<br />
von <strong>der</strong> Außenwelt beeinflußt <strong>und</strong> umgestaltet wird, die eigenen Traditionen in Vergessenheit geraten.<br />
Man wird in Kauf nehmen müssen, daß importierte Waren <strong>und</strong> Erzeugnisse den Inlandsmarkt<br />
überfluten <strong>und</strong> die eigenen Erzeuger in diesem Konkurrenzkampf sich entwe<strong>der</strong> durchsetzen o<strong>der</strong><br />
verschwinden werden. Wir Amerikaner leben in einer solchen multikulturellen Freihandelszone <strong>und</strong><br />
genießen die absolute Freiheit, dahin zu gehen, wohin wir wollen, <strong>und</strong> unser Leben zu gestalten, wie<br />
es uns paßt. 2 «<br />
In dieser Definition ist auch bereits von den Konsequenzen die Rede: »Nur die <strong>Globalisierung</strong> kann<br />
Frieden <strong>und</strong> Ausgewogenheit in <strong>der</strong> Welt herbeiführen. Als Voraussetzung für ihr reibungsloses<br />
Funktionieren müssen vier dauerhafte <strong>und</strong> ungehin<strong>der</strong>te ›flows‹ gewährleistet sein: 1. <strong>der</strong> ungehin<strong>der</strong>te<br />
Strom von Einwan<strong>der</strong>ern 2. <strong>der</strong> ungehin<strong>der</strong>te Strom von Erdöl <strong>und</strong> Gas 3. <strong>der</strong> ungehin<strong>der</strong>te<br />
Strom von Krediten <strong>und</strong> Investitionen 4. <strong>der</strong> ungehin<strong>der</strong>te Strom von amerikanischen Sicherheitskräften«<br />
3 . Hier wird das einheitliche Regelwerk unmißverständlich angesprochen, das sich mit dem<br />
Begriff <strong>Globalisierung</strong> verbindet.<br />
Zusammenhang mit benachbarten Begriffen<br />
Das <strong>Wesen</strong> des Begriffs ist immer auch <strong>der</strong> Zusammenhang mit an<strong>der</strong>en Begriffen. So liegt es nahe,<br />
die drei Begriffe Kolonialismus, Menschenrechte <strong>und</strong> <strong>Globalisierung</strong> im Zusammenhang zu betrachten.<br />
Wie hängen sie miteinan<strong>der</strong> zusammen <strong>und</strong> welche Gemeinsamkeiten haben sie? Der Gegenbegriff<br />
zu ›global‹ ist ›lokal‹ im Sinne von örtlich begrenzt. Ein Staat, <strong>der</strong> von einem Volk als Sprachgemeinschaft<br />
gebildet wird, umfaßt ein örtlich begrenztes Gebiet <strong>der</strong> Erde. Errichtet ein solcher Staat ein<br />
System <strong>der</strong> wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Herrschaft über Regionen außerhalb seiner eigenen<br />
Grenzen, so hat man es mit Kolonialismus <strong>und</strong> so mit einer ersten Stufe zur <strong>Globalisierung</strong> zu tun.<br />
Die Rechte eines Menschen werden ihm von <strong>der</strong> Kultur des Staates, dem er angehört, zuerkannt. Die<br />
Menschenrechtslehre will die Rechte eines Menschen aus <strong>der</strong> lokalen Gültigkeit herausholen <strong>und</strong> zu<br />
einer globalen Gültigkeit verhelfen. Der Kolonialismus, Menschenrechte <strong>und</strong> <strong>Globalisierung</strong> verbindende<br />
Begriff ist also »Entgrenzung« o<strong>der</strong> »Aufhebung von Grenzen«. <strong>Globalisierung</strong> erweist sich als<br />
Oberbegriff; die Menschenrechte sind <strong>Globalisierung</strong> auf dem Gebiet des Rechtslebens: die ganze<br />
Menschheit wird unter ein einheitliches Gesetz gestellt. Gegenwärtig wird unter <strong>Globalisierung</strong><br />
überwiegend die Aufhebung <strong>der</strong> Grenzen hinsichtlich <strong>der</strong> Ökonomie <strong>und</strong> des Finanzwesens verstanden.<br />
Dabei geht es nicht um weltweiten Handel, den es schon immer gegeben hat, son<strong>der</strong>n Ökonomie<br />
<strong>und</strong> Finanzwesen unter ein einheitliches Regelwerk zu stellen. Verb<strong>und</strong>en ist damit die Aufhebung<br />
aller Volks - kulturellen Grenzen in Form einer zunehmenden Entmachtung <strong>der</strong> Nationalstaaten.<br />
Historische Wurzeln <strong>der</strong> Denkformen<br />
Nach <strong>der</strong> Analyse des Begriffs ›<strong>Globalisierung</strong>‹ geht es nun darum, in einer historischen Untersuchung<br />
die in <strong>der</strong> Vergangenheit liegenden geistigen Quellen offenzulegen, aus denen das gegenwärtige<br />
<strong>Globalisierung</strong>sgeschehen gespeist wird; denn <strong>der</strong>en Dynamik wird nur verständlich, wenn die<br />
Tiefenstrukturen sichtbar gemacht werden. Bei allem, was in <strong>der</strong> Welt geschieht, ist ein zweifaches zu<br />
unterscheiden: <strong>der</strong> äußere Verlauf in Raum <strong>und</strong> Zeit <strong>und</strong> die inneren Gesetzmäßigkeit davon.<br />
2 Barnett, Thomas P.M.: The Pentagonʹs New Map, War and Peace in Twenty-first Century, New York 2004.<br />
3 Ebenda.<br />
2
Neue Naturwissenschaft<br />
Die am Ausgang des Mittelalters sich ereignende Wissenschaftliche Revolution brachte eine »Neue<br />
Naturwissenschaft« hervor, die hinsichtlich Allgemeingültigkeit <strong>und</strong> Präzision ihrer Ergebnisse bisher<br />
ohne Beispiel war <strong>und</strong> die daher weit in an<strong>der</strong>e Wissenschaftsgebiete hineinstrahlte. Dabei entstanden<br />
neue Formen des Denkens, die auch für das <strong>Globalisierung</strong>sgeschehen maßgebend sind. Die Entstehung<br />
dieser neuen Formen wird hier in geraffter Weise geschil<strong>der</strong>t; denn sie ist an an<strong>der</strong>er Stelle 4<br />
ausführlich dargestellt <strong>und</strong> würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.<br />
Charakteristisch für die neue Naturwissenschaft ist eine gr<strong>und</strong>legende Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bewußtseinsverfassung.<br />
Der Mensch entzieht sich <strong>der</strong> Umarmung durch die Welt <strong>und</strong> zieht einen Trennungsstrich<br />
zwischen sich als erkennendem Subjekt <strong>und</strong> ihm gegenübertretenden, von ihm zu erkennenden<br />
Objekten. Dabei wird <strong>der</strong> Mensch zum Subjekt eines »reinen« Denkens. Alles Seelische, also<br />
alle Emotionen, Sympathien <strong>und</strong> Antipathien werden zum Schweigen gebracht. Damit findet gleichzeitig<br />
eine Entpersönlichung <strong>und</strong> eine Ernüchterung statt. Die Methode <strong>der</strong> Erkenntnisgewinnung ist<br />
charakterisiert durch das Zusammenwirken Theorie, Hypothese <strong>und</strong> Experiment sowie durch Einführung<br />
<strong>der</strong> Mathematik <strong>und</strong> <strong>der</strong> Erkenntnisgegenstand war die materielle Welt. Die Notwendigkeit <strong>der</strong><br />
Einführung <strong>der</strong> Mathematik in die neue Naturwissenschaft war zwangsläufig mit einer Quantifizierung<br />
des Erkenntnisgegenstandes verb<strong>und</strong>en. Im Gefolge <strong>der</strong> Quantifizierung ergaben sich automatisch<br />
eine Entqualifizierung <strong>und</strong> Bedeutungsentleerung.<br />
Dem Denken <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mathematischen Naturwissenschaft folgen<strong>der</strong> Sachverhalt zugr<strong>und</strong>e:<br />
Der Mensch ist so in <strong>der</strong> Welt gestellt, daß die Wirklichkeit <strong>der</strong> Welt für ihn zerlegt wird in einen<br />
sinnlichen, beobachtbaren <strong>und</strong> einen begrifflichen Anteil. Der Wirklichkeit teilhaftig wird <strong>der</strong> Mensch,<br />
wenn sich in seinem Bewußtsein diese beiden Anteile wie<strong>der</strong> zusammenfügen. Zueinan<strong>der</strong> haben<br />
diese beiden Anteile eine natürliche Adhäsion, so daß sich zu dem durch die Sinne beobachteten Anteil<br />
durch Intuition <strong>der</strong> dazugehörige begriffliche Anteil einfindet.<br />
Philosophische Umdeutung <strong>der</strong> Naturwissenschaft<br />
Als die im Zuge <strong>der</strong> »Wissenschaftlichen Revolution« entstandenen mathematischen Naturwissenschaften<br />
ihren Siegeszug antraten, gerieten sie in die Sphäre des philosophischen Denkens. Dabei entstand<br />
die Auffassung, die Methoden <strong>der</strong> Wissenschaft seien nichts an<strong>der</strong>es als Werkzeuge, gewissermaßen<br />
»Instrumente des Denkens». Instrumente aber kann man, wenn sie sich an einem bestimmten<br />
Kreis von Objekten bewährt haben, probeweise an einem an<strong>der</strong>en Gegenstandsbereich zum Einsatz<br />
bringen. Mit dieser instrumentellen Deutung <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Methode vollzog sich aber<br />
ein folgenschwerer Irrtum.<br />
Den »Erkenntnisgegenstand«, <strong>der</strong> sich auf die unbelebte materielle Welt bezog, wurde auf die Welt<br />
des Lebens <strong>und</strong> des Menschen übertragen. Man übersah dabei jedoch, daß die Methode bei dem Objekt<br />
eine Entqualifizierung, Bedeutungsentleerung <strong>und</strong> Sinnentleerung hervorruft, also letzlich das<br />
Objekt auf das Materielle reduziert. Wie sollte es auch an<strong>der</strong>s sein bei einer Methode, die für die Erforschung<br />
<strong>der</strong> materiellen Welt ersonnen wurde. Als sich die Wissenschaft die Brille <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen<br />
Methode aufsetzte, erblickte sie selbstverständlich nichts als reine Materie.<br />
Im Zuge <strong>der</strong> philosophischen Umdeutung <strong>der</strong> neuen Naturwissenschaft wurde auch <strong>der</strong>en charakterischer<br />
Denkprozeß verflacht. Das intuitive Denken wurde durch das schlußfolgernde Verstandesdenken,<br />
wie es aus <strong>der</strong> mittelalterlichen Scholastik überliefert war, ersetzt.<br />
<strong>Struktur</strong>elle Gewalt <strong>und</strong> Verlust <strong>der</strong> Identität<br />
Nun geht es darum, die aus den Denkformen sich ergebenden Konsequenzen zu untersuchen. Dabei<br />
zeigt sich, daß sich die mannigfachen Ausprägungen <strong>der</strong> Konsequenzen <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong>sbewegung<br />
in zwei Begriffe einordnen lassen: ›<strong>Struktur</strong>elle Gewalt‹ <strong>und</strong> ›Verlust <strong>der</strong> Identität‹.<br />
4 <strong>Gerdsen</strong>, <strong>Peter</strong>: Wie die Naturwissenschaften zum F<strong>und</strong>ament des Materialismus <strong>und</strong> Atheismus wurden - <strong>Eine</strong> wissenschaftstheoretische<br />
Orientierung, Professorenforum-Journal 2009 Vol. 10, No. 1.<br />
3
Der Begriff ›<strong>Struktur</strong>elle Gewalt‹ wurde bereits Anfang <strong>der</strong> siebziger Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts von<br />
dem norwegischen Soziologen <strong>und</strong> Friedensforscher Johan Galtung in die Literatur eingeführt. Galtung<br />
definiert strukturelle Gewalt als »vermeidbare Beeinträchtigung gr<strong>und</strong>legen<strong>der</strong> menschlicher<br />
Bedürfnisse o<strong>der</strong>, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad <strong>der</strong> Bedürfnisbefriedigung<br />
unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist«. <strong>Struktur</strong>elle Gewalt ist Gewalt ohne einen Akteur.<br />
Bei struktureller Gewalt ist die Ursache nicht auf konkrete Personen als Akteure zurückzuführen.<br />
Niemand tritt in Erscheinung, <strong>der</strong> einem an<strong>der</strong>en direkt Schaden zufügt. Mit seinem Konzept <strong>der</strong><br />
strukturellen Gewalt als Ursache von sozialer Ungerechtigkeit überwand Galtung die Grenzen des<br />
klassischen Gewaltbegriffs.<br />
Die Frage »Wer bin ich?«, also die Suche nach <strong>der</strong> Identität eines Menschen ist so alt wie die<br />
Menschheit selbst. Zahlreiche Wissenschaften wie die Psychologie, die Philosophie, die Sozialwissenschaften<br />
<strong>und</strong> neuerdings auch die Neurowissenschaften beschäftigen sich mit dieser Frage. Bei <strong>der</strong><br />
personalen Identität geht es um das Phänomen, daß man sich selbst trotz individueller Entwicklung<br />
über die Zeit <strong>und</strong> in verschiedenen Situationen <strong>und</strong> Kontexten als dieselbe Person wahrnimmt. Die<br />
soziale Identität beschreibt dagegen das Gefühl <strong>der</strong> Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, das für das<br />
Individuum ebenfalls identitätsstiftend wirkt. Man kann somit von einem komplexen Beziehungsgefüge<br />
<strong>der</strong> personalen <strong>und</strong> <strong>der</strong> sozialen Identität ausgehen. Die Definition von Eigenem <strong>und</strong> Fremdem,<br />
die Prozesse <strong>der</strong> sozialen Zuordnung <strong>und</strong> <strong>der</strong> individuellen Abgrenzung stehen in einer dynamischen<br />
Wechselbeziehung.<br />
Die <strong>Globalisierung</strong>sbewegung bringt beides hervor: strukturelle Gewalt <strong>und</strong> Verlust <strong>der</strong> Identität,<br />
wobei beide auch miteinan<strong>der</strong> zusammenhängen. Gefährdungen <strong>der</strong> Identität wird als strukturelle<br />
Gewalt empf<strong>und</strong>en. Zunächst gilt es aber, das geistige Klima darzustellen, in dem die <strong>Globalisierung</strong>sbewegung<br />
ein solches Tempo in <strong>der</strong> Entwicklung gewinnen konnte, wie man es gegenwärtig<br />
beobachten kann.<br />
Quellen <strong>der</strong> strukturellen Gewalt<br />
Wenn <strong>der</strong> Mensch sich in ein naturwissenschaftliches Verhältnis zur Welt bringt, wird dies zur<br />
Quelle von Gewalt, wenn er die Naturwissenschaft verläßt <strong>und</strong> in die Welt des Menschen hineingeht.<br />
In seinem Bewußtsein vollzieht <strong>der</strong> Mensch dabei eine Spaltung <strong>der</strong> Welt in Subjekt <strong>und</strong> Objekt. Dabei<br />
wird <strong>der</strong> Mensch zum Subjekt eines »reinen« Denkens. Alles Seelische, also alle Emotionen, Sympathien<br />
<strong>und</strong> Antipathien, Freude <strong>und</strong> Trauer werden zum Schweigen gebracht. Damit findet eine<br />
Entpersönlichung statt; <strong>der</strong> Mensch denkt <strong>und</strong> handelt mit <strong>der</strong> seelischen Kälte eines Roboters. Für<br />
einen Menschen in einer solchen Bewußtseinsverfassung verlieren die Objekte sämtliche Bedeutungen,<br />
Qualitäten, Sinnhaftigkeiten, Stimmungen <strong>und</strong> Tönungen. Paart sich dieses Bewußtsein mit einem<br />
rationalen Verstandesdenken, so sind alle Voraussetzungen für gewalttätiges Handeln gegeben.<br />
Beginnen Staat <strong>und</strong> Gesellschaft sich diesem Denkschema entsprechend durchzustrukturieren, so<br />
entsteht strukturelle Gewalt; denn <strong>der</strong> Mensch gelangt unter die Diktatur eines außermenschlichen<br />
Sachgesetzes.<br />
Für die Naturwissenschaftler ist die Situation so, daß sie die materielle Welt, <strong>der</strong>en Gesetze sie erforschen,<br />
nicht geschaffen haben. So sind die Gesetze, die sie zutage för<strong>der</strong>ten, nicht ihre Gesetze. Ganz<br />
an<strong>der</strong>s ist die Situation bei den Geisteswissenschaften. Die Qualitäten, Sinngehalte <strong>und</strong> Bedeutungen<br />
sind Erzeugnisse des Menschen, <strong>der</strong> sich dabei auf seine ›Vernunft‹ beruft ergänzt durch das logischschlußfolgernde<br />
Verstandesdenken. Als die Geisteswissenschaften ihre Bindung an die Religion verloren,<br />
ergab sich eine Selbstermächtigung <strong>und</strong> Entfesselung <strong>der</strong> Vernunft, die danach zur Quelle von<br />
Gewalt werden konnte; denn die Gewalttätigkeit vollzieht sich zunächst im Denken, das die Handlungen<br />
bestimmt <strong>und</strong> organisiert. Ein solches Handeln muß sich nicht direkt gegen Personen richten;<br />
aber es schafft Verhältnisse, die als strukturelle Gewalt auf Personen einwirkt.<br />
Dabei ist das Verhältnis des Menschen zur Welt wichtig. Der Naturwissenschaftler sieht sich so in<br />
Welt gestellt, daß ihm die Wirklichkeit von außen durch Beobachtung <strong>und</strong> von innen durch Intuition<br />
in Form von Begriffen <strong>und</strong> Theorien zufließt. Damit können die Begriffe nicht willkürlich gesetzt<br />
werden. Wenn dies jedoch stattfindet, liegt eine Form von Gewalttätigkeit im Denken vor, wie es zum<br />
Beispiel in <strong>der</strong> Philosophie wahrzunehmen ist; denn häufig liegt am Anfang einer Philosophie ein<br />
4
Begriffssystem, das offensichtlich willkürlich konstruiert wurde. So spielt auch bei dem gegenwärtigen<br />
<strong>Globalisierung</strong>sgeschehen das willkürliche Setzen von Begriffen eine wichtige Rolle. Solche Begriffe<br />
sind vor allem ›Menschenrechte‹, ›Demokratie‹, ›globaler Freihandel‹. Bei <strong>der</strong> Durchsetzung <strong>der</strong><br />
Begriffe haben die Medien eine wichtige Aufgabe.<br />
In diesem Zusammenhang ist eine Episode in Salman Rushdies Roman »Die satanischen Verse« 5 interessant.<br />
Darin wird geschil<strong>der</strong>t, wie eine <strong>der</strong> Hauptfiguren, Saladin, in einem Internierungslager für<br />
illegale Einwan<strong>der</strong>er landet. Dort stellt er fest, daß die an<strong>der</strong>en Häftlinge in Tiere verwandelt wurden:<br />
in Wasserbüffel, Schlangen <strong>und</strong> Greife; er selbst wird zum Ziegenbock. Wie sie das machen, fragt<br />
Saladin einen Mitgefangenen. ›Sie beschreiben uns‹, antwortet <strong>der</strong>, ›das ist alles. Sie haben die Macht<br />
<strong>der</strong> Beschreibung, <strong>und</strong> wir fügen uns den Bil<strong>der</strong>n, die sie konstruieren.‹ Hier geht um Herrschaft<br />
durch Setzen von Begriffen.<br />
Quellen <strong>der</strong> Entgrenzung<br />
Die bereits dargestellte naturwissenschaftliche Prägung des allgemeinen Wissenschaftsbegriffs bedeutet<br />
natürlich auch, daß alles von einer solchen Wissenschaft in den Blick genommene in ein Gefüge<br />
mathematischer Relationen umgewandelt wird. Die Folge davon ist eine Quantifizierung <strong>der</strong> Welt;<br />
alle Qualitäten werden weggefiltert. In einer menschlichen Kultur lassen sich drei Bereiche unterscheiden:<br />
das Wirtschaftsleben, das Rechtsleben <strong>und</strong> das Geistesleben. Die Quantifizierung <strong>der</strong> Lebensverhältnisse<br />
als Folge des naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsbegriffs verursacht eine<br />
Dominanz des Wirtschaftslebens: Das Rechtsleben <strong>und</strong> das Geistesleben erhalten eine ökonomische<br />
Prägung.<br />
Das Wirtschaftsleben o<strong>der</strong> die Ökonomie umfaßt die Finanz- <strong>und</strong> Bankenwelt, in <strong>der</strong> das Geld <strong>der</strong><br />
Maßstab von allem wird. Wie bereits angedaut ist <strong>Globalisierung</strong> im Gr<strong>und</strong>e genommen immer ein<br />
Prozeß <strong>der</strong> ›Entgrenzung‹ mit dem Ziel, die für einen bestimmten Bereich <strong>der</strong> Kultur in einer bestimmten<br />
Region geltenden Gesetze auf die die ganze Menschheit auszudehnen. Diese ›Entgrenzung‹<br />
entsteht unter an<strong>der</strong>em dadurch, daß das ›Grenzen Setzende‹ bei den zugr<strong>und</strong>eliegenden Denkformen<br />
nicht wahrgenommen wird; denn dieses beruht auf Qualitäten, Bedeutungen <strong>und</strong> Sinngehalten.<br />
So ist im Rechtsleben in Form <strong>der</strong> Menschenrechtsbewegung die <strong>Globalisierung</strong> weit fortgeschritten.<br />
Aber auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens hat die <strong>Globalisierung</strong> bereits so weitgehende Fortschritte<br />
gemacht, daß <strong>Globalisierung</strong> gleichgesetzt wird mit <strong>der</strong> Unterordnung <strong>der</strong> gesamten Menschheit unter<br />
ein ökonomisches Gesetz.<br />
Wie die Entwicklung gezeigt hat, wurde die naturwissenschaftliche Methode auf ein Stück Wirklichkeit<br />
angewandt, das wegen seiner verwickelten <strong>und</strong> <strong>und</strong>urchsichtigen Beschaffenheit dem Erkenntnisstreben<br />
hartnäckigen Wi<strong>der</strong>stand entgegengesetzt hatte: die Welt Lebendigen, des Seelischen <strong>und</strong><br />
des Geistigen <strong>und</strong> damit die Welt des Menschen. So entstand <strong>der</strong> Gedanke, dem Auguste Comte<br />
durch den Entwurf einer ›Sozialen Physik‹ <strong>und</strong> das Programm einer auf diese aufbauenden ›Technik<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft‹ zur Verwirklichung zu verhelfen versuchte. Weitergehend wurde dann die Welt <strong>der</strong><br />
menschlichen Dinge, die Welt des Staates, des Rechts, <strong>der</strong> Gesellschaft, <strong>der</strong> Wirtschaft, aber auch das<br />
seelisch-geistige Leben des einzelnen Menschen in ein System von Begriffen gefaßt, in dessen Bau das<br />
Gefüge <strong>der</strong> mathematischen Naturwissenschaft nachgebildet war.<br />
Verlust <strong>der</strong> Identität<br />
Wie wirkt das <strong>Globalisierung</strong>sgeschehen auf die Menschen ein, die in durch <strong>Globalisierung</strong> geprägten<br />
Verhältnissen leben? Zur Beantwortung dieser Frage muß ein Blick auf einen Sachverhalt geworfen<br />
werden, <strong>der</strong> in das Zentrum <strong>der</strong> menschlichen Existenz führt. Die Mitte einer Person ist ihre Individualität,<br />
das geistige <strong>Wesen</strong>, das vor <strong>der</strong> Geburt bereits existierte <strong>und</strong> nach dem Tode weiter existieren<br />
wird. Individualität bedeutet das Unteilbare, das Unverwechselbare, das Einmalige, das wodurch<br />
sich eine Individualität von allen an<strong>der</strong>en unterscheidet. In diesem Unverwechselbaren ist eine Person<br />
nur mit sich selbst identisch. Während des Lebens prägt nun eine Individualität ihr <strong>Wesen</strong> <strong>der</strong> sie<br />
umgebenden Welt ein. Fragt nun, wie erwähnt, eine Person »Wer bin ich?«, dann kann sie in die Um-<br />
5 Rushdi, Salman: Die satanischen Ferse, Reinbek 2007.<br />
5
welt blicken <strong>und</strong> sagen »Das bin ich!«. So empfindet eine Person die sie umgebende Welt als ihre<br />
Heimat.<br />
Wenn <strong>Globalisierung</strong> ein Entgrenzungsgeschehen ist, in dem die ganze Welt unter ein einheitliches<br />
Regelwerk gestellt werden soll, dann bedeutet dies zwangsläufig auch eine Unifizierung aller Lebensverhältnisse.<br />
Damit geht verloren, was Menschen als Heimat empfinden. Während des Lebens prägt<br />
eine Individualität ihr <strong>Wesen</strong> <strong>der</strong> sie umgebenden Welt ein. Aber auch umgekehrt wirkt die Welt auf<br />
die Individualität ein. So wird deutlich, daß das <strong>Globalisierung</strong>sgeschehen auf Gr<strong>und</strong> seiner gleichmachenden<br />
Tendenz ein die Identität einer Individualität gefährden<strong>der</strong> Vorgang ist. Schon 1929 erkannte<br />
<strong>der</strong> Soziologe Max Scheler 6 einen Trend zur Angleichung, <strong>der</strong> nicht nur die Sachen, son<strong>der</strong>n<br />
auch den Menschen selbst erfaßt habe. Rassen <strong>und</strong> Schichten, Temperamente <strong>und</strong> geistige Zuschnitte,<br />
Männliches <strong>und</strong> Weibliches findet er in einer großen Bewegung des Ausgleichs. Ein weltweit fortschreiten<strong>der</strong><br />
Abbau <strong>der</strong> Profile <strong>und</strong> Unterschiede, den Scheler voraussah, hat sich längst auch auf die<br />
Normen <strong>und</strong> Werte ausgebreitet <strong>und</strong> erfaßt ihre inneren Entsprechungen: die Schranken des Gefühls<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Sitte. 7 Es wird noch weiter unten zu zeigen sein, wie die Verneinung <strong>und</strong> Ablehnung Gottes<br />
in gleicher Weise wie die <strong>Globalisierung</strong>sbewegung in das Bestreben, alles <strong>und</strong> alle gleich zu machen,<br />
führt. Religionslosigkeit <strong>und</strong> <strong>Globalisierung</strong> gefährden die Identität des Menschen; denn letztlich ist<br />
Religion das, was die Identität des Menschen begründet.<br />
Untergang <strong>der</strong> Völker<br />
Es ist es nicht verw<strong>und</strong>erlich, wenn unter dem Einfluß eines solchen Denkens, das mit De-<br />
Personalisierung <strong>und</strong> De-Individualisierung einhergeht, alles, was für den Menschen identitätsstiftend<br />
ist, verloren geht.<br />
Seit Jahrtausenden waren die Völker die Hauptträger <strong>der</strong> Geschichte, viel mehr als Individuen, Rassen,<br />
Klassen o<strong>der</strong> internationale <strong>Struktur</strong>en. Jedes Volk hat seine beson<strong>der</strong>e Geschichte. So ist nach<br />
dem Zusammenbruch des Reiches Karls des Großen in seinem Westteil das französische Volk entstanden<br />
durch gelungene Verschmelzung von gallischen, fränkischen <strong>und</strong> römischen Elementen. Bis<br />
heute hat es eine starke Identität, ein Bewußtsein <strong>der</strong> Zusammengehörigkeit eine gemeinsame Sprache,<br />
Denkweise, Lebensform <strong>und</strong> Kultur. Etwa um die gleiche Zeit entstand im östlichen Teil des karolingischen<br />
Reiches vor etwa 1000 Jahren das deutsche Volk. Auch dieses ist als eine Legierung von<br />
verschiedenen regionalen Stämmen unterschiedlicher Herkunft anzusehen, die ebenfalls in diesen<br />
1000 Jahren eine erstaunlich stark ausgeprägte Gemeinsamkeit mit beson<strong>der</strong>s typischen, international<br />
unverwechselbaren Merkmalen einschließlich seiner Sprache, Kulturgeschichte <strong>und</strong> seiner Lebensgewohnheiten<br />
entwickelt hat.<br />
Die <strong>Globalisierung</strong>sbewegung wirkt daraufhin, alle Grenzziehungen durchlässig zu machen o<strong>der</strong><br />
ganz aufzuheben mit <strong>der</strong> Folge, daß an die Stelle <strong>der</strong> bisherigen Nationalstaaten eine multikulturelle<br />
Welteinheitsgesellschaft tritt. Die <strong>Globalisierung</strong> läuft letztlich darauf hinaus, daß die bestehenden<br />
Völker <strong>und</strong> Kulturen miteinan<strong>der</strong> verschmelzen <strong>und</strong> ihre bisherige Identität verlieren.<br />
Unter dem Einfluß <strong>der</strong> geschil<strong>der</strong>ten Denkformen werden alle Qualitäten, Bedeutungen <strong>und</strong> Sinngehalte<br />
weggefiltert; im Rahmen <strong>der</strong> ökonomischen <strong>Globalisierung</strong> bedeutet dies, daß immer mehr<br />
Dinge zur Ware werden. Die Handelsgeschäfte beziehen sich mittlerweile auf Bereiche, die ihnen bislang<br />
entgingen. Kultur, Dienstleistungen, Bodenschätze, Produkte des geistigen Eigentums geraten<br />
unter die Herrschaft des freien Handels. Alles Lebende, was in dieses ökonomische System gerät,<br />
kommt als Ware, als totes Produkt heraus. Während früher in erster Linie Staaten die Handelnden<br />
waren, sind es heute unter den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong> hauptsächlich die multinationalen<br />
Konzerne; denn diese beherrschen die Investitionen <strong>und</strong> den Handel, während die Banken einen Finanzbereich<br />
kontrollieren, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> eigentlichen Wirtschaft immer mehr abgetrennt wird. So wird<br />
eine um die Staatsnationen herum organisierte Welt zu einer ökonomischen Welt, die von den sogenannten<br />
›global players‹ strukturiert wird.<br />
6 Vgl. Scheler, Max: Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs. In: Lichtenberg/Shotwelt/Scheler: Ausgleich als Aufgabe <strong>und</strong><br />
Schicksal,Berlin 1929.<br />
7 <strong>Gerdsen</strong>, <strong>Peter</strong>: Blockiertes Deutschland - Von den geistigen Auseinan<strong>der</strong>setzungen unserer Zeiz, Dresden 2004.<br />
6
Treibsätze <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong><br />
Welche Triebkräfte sind es eigentlich, die bestimmte Denkformen <strong>und</strong> ihre Konsequenzen sowie<br />
auch die darauf aufbauende Zivilisation zur weltweiten Ausbreitung bringen? Hier spielt <strong>der</strong> atheistische<br />
Humanismus eine wichtige Rolle. Woher kommt <strong>der</strong> missionarische Eifer, mit dem die Vereinigten<br />
Staaten von Amerika den ›american way of life‹ über die Welt verbreiten wollen <strong>und</strong> dabei<br />
auch nicht vor militärischer Gewalt zurückschrecken? Hier ist das Phänomen ›Amerikanismus‹ zu<br />
untersuchen. Aber auch die globalen Telekommunikations- <strong>und</strong> Transportsysteme sind von Bedeutung.<br />
Atheistischer Humanismus<br />
Diese Bewegung konstituierte sich in einer radikalen Abwendung vom Christentum. Das geschah<br />
auf dem Hintergr<strong>und</strong> einer f<strong>und</strong>amentalen Bewußtseinsverän<strong>der</strong>ung in Europa. Ein kraftvoller Freiheitsimpuls<br />
wendete sich gegen die übermächtige Präsenz <strong>der</strong> katholischen Kirche, die ein absolutes<br />
Deutungsmonopol über die Inhalte des Christentums beanspruchte. So verwarfen große Teile <strong>der</strong><br />
europäischen Bevölkerung ihre Religion. Aber <strong>der</strong> Mensch ohne Religion leugnet die Existenz Gottes<br />
<strong>und</strong> erhöht damit sich selbst zu Gott, allerdings mit weitreichenden Konsequenzen. Wenn <strong>der</strong> Mensch<br />
sich selbst auf den Thron Gottes setzt, macht er sich damit zur höchsten Instanz.<br />
<strong>Eine</strong> Folge davon ist, daß er keine Autoritäten über sich ertragen kann <strong>und</strong> daß er fanatisch danach<br />
trachten muß, alle Menschen gleich zu machen. So führt die Leugnung Gottes in den Gleichheitswahn.<br />
Während im Christentum die Identität des Menschen durch die Tatsache begründet ist, daß Gott den<br />
Menschen nach seinem Bilde geschaffen <strong>und</strong> ihn als Person angesprochen hat, sieht <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Gott<br />
leugnende Mensch seine Identität außer in seinem Leibe in seiner Lebensorientierung, seinen Taten<br />
<strong>und</strong> Verhaltensweisen, obwohl diese jedoch nur den Grad seiner Abwendung von Gott kennzeichnen.<br />
Das fanatische Bemühen, alle Menschen gleich zu machen, führt zu einer <strong>Globalisierung</strong> <strong>und</strong> damit<br />
Vereinheitlichung aller Lebensweisen <strong>und</strong> aller Lebensorientierungen sowie letztlich auch aller kulturellen<br />
Bereiche, nämlich des Wirtschaftslebens, des Rechtslebens <strong>und</strong> des Geistenslebens.<br />
Das Phänomen ›Amerikanismus‹<br />
Die Ideologie <strong>der</strong> Vereinigten Staaten von Amerika o<strong>der</strong> auch die Weltanschauung <strong>der</strong> amerikanischen<br />
Gesellschaft wird bestimmt durch zwei sich scheinbar wi<strong>der</strong>sprechende <strong>und</strong> sich gleichzeitig<br />
ergänzende Komponenten: durch eine beson<strong>der</strong>e Ausprägung des Christentums <strong>und</strong> durch einen<br />
hohen Uniformismus des amerikanischen Lebens. Dieser Amerikanismus erweist sich als mächtiger<br />
Treibsatz <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong>; mit missionarischem Eifer verbreiten die Vereinigten Staaten von Amerika<br />
den erwähnten ›american way of life‹ über die ganze Welt.<br />
Zunächst zum Uniformismus: Da die amerikanische Nationalität auf einem Vertrag zwischen Einwan<strong>der</strong>ern<br />
verschiedener Herkunft beruht, müssen alle beson<strong>der</strong>en kulturellen Gepflogenheiten ins<br />
Private abgedrängt, das heißt aus dem staatsbürgerlichen Bereich herausgehalten werden. Dadurch<br />
entsteht eine außerordentliche Eintönigkeit <strong>der</strong> amerikanischen Gesellschaft, die bereits Tocqueville<br />
unterstrichen hat, indem er bemerkt, daß nicht einmal eine Abfolge zeitweiliger Unruhen <strong>und</strong> kurzlebiger<br />
Moden sie werde brechen können. Wer es in den Vereinigten Staaten nicht so machen will, wie<br />
es alle machen, ist so gut wie ein toter Mann. 8<br />
Und zur Bedeutung <strong>der</strong> Religion: Alle Beobachter weisen darauf hin, daß die Religion in <strong>der</strong> amerikanischen<br />
Gesellschaft allgegenwärtig ist. In ›God we trust‹ steht auf allen Banknoten, <strong>und</strong> seit 1956<br />
ist es sogar ein nationaler Wahlspruch. Aber die Religion wird in einem optimistischen, man könnte<br />
sagen materialistischen Sinne umdefiniert. Das Christentum wird calvinistisch <strong>und</strong> erhält eine alttestamentarische<br />
Prägung. Der Calvinismus deutet den materiellen Erfolg als Zeichen <strong>der</strong> Gnadenwahl<br />
Gottes. In einem Brief an Thomas Law äußerte Jefferson schon 1814 die Überzeugung: »Die Natur hat<br />
den Nutzen für den Menschen zum Maß <strong>und</strong> Prüfstein <strong>der</strong> Tugend gemacht.« Der Richter Holmes<br />
8 Benoist, Alain de: Schöne vernetzte Welt - <strong>Eine</strong> Antwort auf die <strong>Globalisierung</strong>, Tübingen 2001.<br />
7
fügte hinzu: »Es gibt keinen besseren Prüfstein für die Wahrheit eines Gedankens als seine Fähigkeit,<br />
sich auf einem Markt Akzeptanz zu verschaffen.« 9<br />
Bereits zu Beginn <strong>der</strong> Einwan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Europäer auf den amerikanischen Kontinent spielte die<br />
Vorstellung, von Gott als Volk auserwählt zu sein, eine große Rolle. Das Fehlen eines Volkes mit gemeinsamer<br />
Geschichte prägte die amerikanische Nationenbildung entscheidend. So bot sich denn die<br />
Vorstellung des ›von Gott auserwählten Volkes‹ an, um zur Konstruktion amerikanischer nationaler<br />
Identität beizutragen. Amerika versteht sich auch als ›B<strong>und</strong> mit Gott‹, analog dem B<strong>und</strong>, den Stämme<br />
Israels gemäß dem Alten Testament mit Gott geschlossen hatten. Wenn mit dem US-amerikanischen<br />
nationalen Interesse argumentiert wird, so ist implizit auch immer davon die Rede, daß es sich bei<br />
dieser Nation um das auserwählte Volk Gottes handelt. Nur so ist die unauflösliche Verbindung des<br />
US-amerikanischen Nationalbewußtseins mit einem Sendungsbewußtsein verständlich, welches an<strong>der</strong>e<br />
ideengeschichtliche Sichtweisen neben sich nicht aufkommen lassen kann. Das US-amerikanische<br />
nationale Interesse ist die immer neue Bestätigung des B<strong>und</strong>es mit Gott.<br />
Was Amerikanismus bedeutet, das zeigt auch das 1997 veröffentlichte Buch ›The Grand Chessboard‹<br />
von Zbigniew Brzezinski. Dieses Buch gewährt einen tiefen Einblick in die langfristigen Interessen<br />
US-amerikanischer Machtpolitik. Es enthält einen analytischen Abriß <strong>der</strong> geopolitischen Zielsetzungen<br />
<strong>der</strong> Vereinigten Staaten für einen Zeitraum von 30 Jahren. In <strong>der</strong> deutschen Übersetzung heißt<br />
das Buch »Die einzige Weltmacht« 10 . Dieser Titel bezeichnet den ersten Gr<strong>und</strong>satz, nämlich den erklärten<br />
Willen, die »einzige« <strong>und</strong> – wie Brzezinski es nennt – sogar »letzte« Weltmacht zu sein. Noch<br />
entscheiden<strong>der</strong> ist jedoch die zweite Prämisse. Derzufolge ist Eurasien »das Schachbrett, auf dem <strong>der</strong><br />
Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird«. Diesem zweiten Gr<strong>und</strong>satz liegt<br />
die Einschätzung zugr<strong>und</strong>e, daß eine Macht, die in Eurasien die Vorherrschaft gewinnt, damit auch<br />
die Vorherrschaft über die gesamte übrige Welt gewonnen hätte. »Dieses riesige, merkwürdig geformte<br />
eurasische Schachbrett – das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt – ist <strong>der</strong> Schauplatz<br />
des global play«, wobei »eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die<br />
Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist«. Und zwar einfach deshalb, weil Eurasien <strong>der</strong> mit<br />
Abstand größte Kontinent ist, auf dem 75 Prozent <strong>der</strong> Weltbevölkerung leben <strong>und</strong> <strong>der</strong> drei Viertel <strong>der</strong><br />
weltweit bekannten Energievorkommen beherbergt. Brzezinski kommt zu dem Schluß, daß das erste<br />
Ziel amerikanischer Außenpolitik darin bestehen muß, »daß kein Staat o<strong>der</strong> keine Gruppe von Staaten<br />
die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben o<strong>der</strong> auch nur <strong>der</strong>en Schiedsrichterrolle<br />
entscheidend zu beeinträchtigen.« Es gelte, »die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer<br />
neuen Macht erfolgreich« hinauszuschieben. Die USA verfolgen das Ziel, »die beherrschende Stellung<br />
Amerikas für noch mindestens eine Generation <strong>und</strong> vorzugsweise länger zu bewahren«. Sie müssen<br />
»das Emporkommen eines Rivalen um die Macht vereiteln«.<br />
Telekommunikations- <strong>und</strong> Transportsysteme<br />
Nun ist <strong>der</strong> Blick auf zwei Ergebnisse <strong>der</strong> Ingenieurwissenschaften, die aus den mathematischen<br />
Naturwissenschaften hervorgegangen sind, zu lenken: die weltumspannenden Telekommunikations<strong>und</strong><br />
Transportsysteme. Die mo<strong>der</strong>nen Telekommunikationssysteme in ihren verschiedenen Ausprägungen<br />
des Telephonnetzes <strong>und</strong> des Internets bewirken eine Entgrenzung hinsichtlich <strong>der</strong> Zeit. Da<br />
Nachrichten nahezu gleichzeitig an allen Orten <strong>der</strong> Welt verfügbar sind, wurde die Zeit überw<strong>und</strong>en;<br />
die Zeit bildet keine Begrenzung mehr. In entsprechen<strong>der</strong> Weise bewirken die mo<strong>der</strong>nen weltumspannenden<br />
Transportsysteme eine Entgrenzung hinsichtlich des Raumes. Beliebige Entfernungen<br />
können in kürzester Zeit überw<strong>und</strong>en werden. <strong>Globalisierung</strong> bedeutet ja, daß das kulturelle Regelwerk<br />
einer bestimmten Region über die gesamte Welt ausgedehnt wird. Die mo<strong>der</strong>nen Telekommunikations-<br />
<strong>und</strong> Transportsysteme erweisen sich bei einem solchen Vorhaben als mächtige Treibsätze.<br />
9 Benoist, Alain de: Schöne vernetzte Welt - <strong>Eine</strong> Antwort auf die <strong>Globalisierung</strong>, Tübingen 2001.<br />
10 Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie <strong>der</strong> Vorherrschaft, Frankfurt a.M. 2002.<br />
8
<strong>Globalisierung</strong> <strong>und</strong> Weltherrschaft<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich wohnt <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong>sbewegung die Tendenz inne, alle Regionen <strong>der</strong> Menschheit<br />
hinsichtlich aller kulturellen Bereiche unter ein Regelwerk zu stellen. Offen bleibt die Frage, wer o<strong>der</strong><br />
was dieses Regelwerk bestimmt. Es sind auf diese Frage verschiedene Antworten möglich. So ist es<br />
denkbar, daß die Entstehung <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong> auf die Ausbreitung bestimmter Formen des Denkens<br />
zurückzuführen ist. Bezieht man sich jedoch auf das Buch von Thomas P.M. Barnett 11 , so sind es<br />
die Vereinigten Staaten von Amerika, welche die <strong>Globalisierung</strong> <strong>und</strong> über diese eine Weltherrschaft<br />
durchsetzen wollen.<br />
Geistige <strong>Struktur</strong>en<br />
Was bedeutet eigentlich im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert »Weltherrschaft«? 12 Dieser Begriff ist ja nicht so zu verstehen,<br />
daß er nach Art des Römischen Imperiums o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Form des Kolonialismus verwirklicht<br />
wird. Auch bedeutet es nicht, daß ausgehend von einem Land die übrige Welt militärisch besetzt<br />
wird. Weltherrschaft hat in <strong>der</strong> Gegenwart <strong>der</strong>jenige erlangt, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Lage ist, <strong>der</strong> Welt <strong>und</strong> damit<br />
<strong>der</strong> gesamten Menschheit seine Gesetze aufzuprägen. Damit geht es in erster Linie um eine »geistige<br />
Herrschaft«. 13<br />
Möglich ist eine solche Herrschaft durch Beeinflussung <strong>und</strong> Enteignung des Denkens <strong>der</strong> Menschen.<br />
Begriffe <strong>und</strong> Ideologien sind es nun, die den Zugriff auf das Denken <strong>der</strong> Menschen ermöglichen. Unter<br />
dem Einfluß <strong>der</strong> Ideologien, die mit Hilfe <strong>der</strong> Medien in die Köpfe hineingehämmert werden, erfolgt<br />
eine Fremdbestimmung des Denkens <strong>und</strong> des Bewußtseins. Ein beson<strong>der</strong>es Kennzeichen dieser<br />
Herrschaft ist es nun, daß sich die Menschen dieses Verlusts <strong>der</strong> Freiheit gar nicht bewußt sind; ja sie<br />
feiern ihren Weg in die Unfreiheit als große Errungenschaft bei <strong>der</strong> Verwirklichung ihrer persönlichen<br />
Freiheit. Um die Bedeutung <strong>der</strong> Begriffe wußte auch schon Konfuzius, <strong>der</strong> große Philosoph des alten<br />
China. Als Konfuzius einmal gefragt wurde, welche Maßnahmen im Staate er zuerst ergreifen würde,<br />
wenn er die Macht hätte zu bestimmen, antwortete er: Sicherlich die Richtigstellung <strong>der</strong> Begriffe! 14<br />
Natürlich können im Leben <strong>der</strong> Völker die Begriffe <strong>und</strong> damit das Denken verkommen; daß aber die<br />
Korrumpierung <strong>der</strong> Begriffe zur Waffe wird, ist eine neue Erscheinung.<br />
Dabei geht es um ein ganzes Spektrum von Begriffen <strong>und</strong> Ideologien, die alle unter dem Begriff<br />
»<strong>Globalisierung</strong>« zusammengefaßt werden. Die <strong>Globalisierung</strong> ist Entgrenzungsprogramm, das diesen<br />
Begriffen <strong>und</strong> Ideologien weltweite Gültigkeit verschaffen soll. Dabei sind diese Begriffe <strong>und</strong><br />
Ideologien wesentlicher Bestandteil <strong>der</strong> kulturellen Gegebenheiten <strong>der</strong> sogenannten »westlichen<br />
Wertegemeinschaft«. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind <strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong>sbewegung,<br />
die sich zum Ziel gesetzt hat neue »Heilslehren« in die Welt zu tragen. Deren Bestandteile<br />
beziehen sich im politischen Bereich auf das Prinzip <strong>der</strong> »Demokratie«, im rechtlichen Bereich<br />
auf die »Menschenrechte« <strong>und</strong> im ökonomischen Bereich auf den »Freihandel«, allerdings in<br />
Verbindung mit dem freien grenzüberschreitenden Verkehr von Kapital, Waren <strong>und</strong> Dienstleistungen.<br />
Der pseudo-religiöse Charakter dieser Heilslehren zeigt sich in ihrer Tabuisierung. Unmöglich ist es,<br />
sie zu hinterfragen, sie zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen, ohne sich schlimmen Verdächtigungen<br />
auszusetzen. Sie werden als Gr<strong>und</strong>wahrheiten ganz selbstverständlich immer vorausgesetzt.<br />
So wird von <strong>der</strong> Demokratie gesagt, sie die beste aller möglichen Staatsformen, <strong>und</strong> um jede weitere<br />
Diskussion abzuwehren wird ergänzt, eine bessere gäbe es nicht. Diese drei Heilslehren sind dabei<br />
durchaus in einem Zusammenhang zu sehen; sie bilden gewissermaßen drei Komponenten eines<br />
Ganzen <strong>und</strong> sprechen alle Menschen in ihrem <strong>Wesen</strong>skern stark an. Mit <strong>der</strong> Demokratie ist <strong>der</strong> Begriff<br />
Mitbestimmung verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> mitbestimmen möchten eigentlich alle. Und daß die Menschenrechte<br />
letztlich die Zustimmung aller finden, zumal von Pflichten nicht die Rede ist, versteht sich fast von<br />
selbst.<br />
11 Barnett, Thomas P.M.: The Pentagon’s New Map - War and Peace in the twenty-first Century, New York 2004.<br />
12 <strong>Gerdsen</strong>, <strong>Peter</strong>: Die Menschenrechte - Dekonstruktion <strong>und</strong> Rekonstruktion eines umstrittenen Begriffs.In: Hamid Reza Yousefi<br />
/ Klaus Fischer / Ina Braun / <strong>Peter</strong> <strong>Gerdsen</strong> (Hrsg.): Wege zu Menschenrechten, Nordhausen 2008.<br />
13 <strong>Gerdsen</strong>, <strong>Peter</strong>: Deutschland in den Fesseln <strong>der</strong> Ideologien, Dresden 2005.<br />
14 <strong>Gerdsen</strong>, <strong>Peter</strong>: Blockiertes Deutschland - Von den geistigen Auseinan<strong>der</strong>setzungen unserer Zeit, Dresden 2004.<br />
9
Die Demokratie gewinnt ihre eigentliche Bedeutung erst im Zusammenhang mit den Medien. Wenige<br />
Menschen berichten, kommentieren, zeigen <strong>und</strong> wählen aus, was Millionen sehen, hören <strong>und</strong> in<br />
sich aufnehmen. Journalisten besitzen gesellschaftliche Privilegien, die es ihnen erlauben, mehr als<br />
an<strong>der</strong>e Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft auf den Meinungs- <strong>und</strong> Willenbildungsprozeß Einfluß zu nehmen.<br />
Der Soziologe Helmut Schelsky schreibt: Durch den Einsatz <strong>der</strong> sinn- <strong>und</strong> bewußtseinsprägenden<br />
Schalthebel bilden Journalisten <strong>und</strong> Redakteure als Multiplikatoren die eigentliche gesellschaftspolitische<br />
Schlüsselindustrie. Publizistik ist Macht, die vierte Gewalt im Staate, analysiert Karl Steinbuch.<br />
Diese These verschärft Alexan<strong>der</strong> Solschenyzin: Die Medien sind in den westlichen Län<strong>der</strong>n zur<br />
größten Macht geworden; mächtiger als die Legislative, die Polizeigewalt <strong>und</strong> die Rechtsprechung.<br />
Die als Mediokratie gepriesene »höchste Form <strong>der</strong> Demokratie« wird von ihren Gegnern als Mediendiktatur<br />
beschimpft <strong>und</strong> als Zwangskollektivierung des Bewußtseins mit immer schärferen Methoden<br />
bekämpft.<br />
Auf dem Felde <strong>der</strong> Ökonomie ist eine Weltherrschaft bereits verwirklicht worden; denn das in <strong>der</strong><br />
westlichen Welt entstandene Finanz- <strong>und</strong> Bankensystem sowie die damit verb<strong>und</strong>ene marktwirtschaftlich<br />
orientierte Wirtschaftordnung haben sich in allen Regionen <strong>der</strong> Welt durchgesetzt. <strong>Eine</strong><br />
logische Ergänzung zu diesem weltbeherrschenden ökonomischen System ist die Ideologie <strong>der</strong> Menschenrechte.<br />
Beiden Systemen ist gemeinsam die außerordentlich Abstraktheit <strong>und</strong> die Tendenz <strong>der</strong><br />
Auflösung <strong>der</strong> Volksgrenzen.<br />
Abschließend sei bemerkt, daß alle geistigen <strong>Struktur</strong>en <strong>der</strong> europäischen Aufklärung entstammen.<br />
Für den Philosophen David Goldberg ist »Unterwerfung« das prägende Kennzeichen <strong>der</strong> Aufklärung:<br />
»Unterwerfung <strong>der</strong> Natur durch den menschlichen Intellekt, koloniale Herrschaft durch physische<br />
<strong>und</strong> kulturelle Dominanz <strong>und</strong> wirtschaftliche Überlegenheit durch Beherrschung <strong>der</strong> Marktgesetze.« 15<br />
Kritiker <strong>der</strong> Aufklärung halten <strong>der</strong>en Universalismus für rassistisch, weil er darauf abzielt, an<strong>der</strong>en<br />
Völkern euro-amerikanische Konzepte von Rationalität <strong>und</strong> Objektivität vorzuschreiben. »Die universalistischen<br />
Diskurse des mo<strong>der</strong>nen Europa <strong>und</strong> <strong>der</strong> Vereinigten Staaten«, so Edward Said, »setzen<br />
auf das freiwillige o<strong>der</strong> unfreiwillige Schweigen <strong>der</strong> nicht-europäischen Welt.« 16<br />
Politische <strong>Struktur</strong>en<br />
Die Vorstellung einer absoluten inneren Souveränität des Staates wird durch die <strong>Globalisierung</strong>sbewegung<br />
immer weiter ausgehöhlt. <strong>Eine</strong> zunehmende inhaltliche Universalisierung <strong>und</strong> völkerrechtliche<br />
Institutionalisierung des Menschenrechtsgedankens trägt genau so dazu bei wie die ökonomische<br />
<strong>Globalisierung</strong>, welche den Einfluß <strong>der</strong> Regierungen auf das wirtschaftliche Geschehen zunehmend<br />
einschränkt. In diesem Prozeß zeigt sich – wie Ernst Otto Czempiel es bezeichnet hat – die »Existenz<br />
eines allgemeinen, die vertikale <strong>Struktur</strong> des internationalen Systems durchbrechenden <strong>und</strong> die Souveränität<br />
<strong>der</strong> Staaten relativierenden Rechtsbewußtseins.« 17<br />
Nachdem die erste Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts die Herausbildung des universalen Gewaltverbots<br />
gebracht <strong>und</strong> die zweite Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts die Universalisierung <strong>der</strong> Menschenrechte auf<br />
Kosten <strong>der</strong> staatlichen Souveränität vorangetrieben hat, muß es nun um die Verbindung dieser beiden<br />
Normen mit an<strong>der</strong>en Elementen in einer Rechtsordnung gehen, die man in Anlehnung an Immanuel<br />
Kant als »kosmopolitisches Recht« bezeichnen könnte. Unter kosmopolitischem Recht versteht man<br />
jenes sich mehr <strong>und</strong> mehr entwickelnde Recht, das die staatliche Souveränität zunehmend einschränkt<br />
<strong>und</strong> einem gemeinsamen Rahmen unterwirft.<br />
Walden Bello, Direktor des Bangkoker Forschungsinstituts »Focus on the Global South« <strong>und</strong> Professor<br />
an <strong>der</strong> Universität <strong>der</strong> Philippinen in Diliman, formuliert stellvertretend für viele Stimmen aus<br />
dem Süden die zentrale Bedeutung <strong>der</strong> Souveränität für die Staaten, die sich nach wie vor in den unteren<br />
Rängen <strong>der</strong> Weltpyramide befinden: »Nun mag für einige Leute im Norden, die zu Staaten gehören,<br />
die den Rest <strong>der</strong> Welt beherrschen, nationale Souveränität ein Kuriosum sein. Für uns im Süden<br />
dagegen ist die Verteidigung dieses Prinzips eine Angelegenheit von Leben <strong>und</strong> Tod, eine zwin-<br />
15 Goldberg, David Theo: Racist Culture, Oxford 1993.<br />
16 Said, Edward: Culture and Imperialism, London 1993.<br />
17 Czempiel, Ernst-Otto: Friedensstrategien, 1998.<br />
10
gende Bedingung für die Realisierung unserer kollektiven Bestimmung als Nationalstaat in einer<br />
Welt, in <strong>der</strong> die Mitgliedschaft in einem Nationalstaat eine gr<strong>und</strong>legende Bedingung für den ungehin<strong>der</strong>ten<br />
Zugang zu den Menschenrechten, politischen Rechten <strong>und</strong> wirtschaftlichen Rechten ist.<br />
Ohne einen souveränen Staat als Rahmen sind unser Zugang <strong>und</strong> unsere Nutznießung dieser Rechte<br />
gefährdet.« Da die Nationalstaaten immer noch die entscheidenden gesellschaftlichen Organisationsformen<br />
<strong>der</strong> Menschen sind, plädieren diese Stimmen für eine offensive, ja ›aggressive‹ Verteidigung<br />
ihrer staatlichen Souveränität, »denn <strong>der</strong> Imperialismus ist nun einmal so, daß er es als Präzedenzfall<br />
für an<strong>der</strong>e, in <strong>der</strong> Zukunft liegende Fälle benützt, wenn man ihm einmal den kleinen Finger gibt.« 18<br />
Weltherrschaft hat in <strong>der</strong> Gegenwart <strong>der</strong>jenige erlangt, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Lage ist, <strong>der</strong> Welt <strong>und</strong> damit <strong>der</strong><br />
gesamten Menschheit seine Gesetze aufzuprägen. Damit geht es in erster Linie um eine »geistige<br />
Herrschaft«. Von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung auf dem Wege zu einer solchen Herrschaft ist natürlich<br />
die Aushöhlung <strong>der</strong> Souveränität <strong>der</strong> Einzelstaaten. Dabei spielen die Menschenrechtsdeklarationen<br />
eine wichtige Rolle, indem sie die ideologische Ummantelung <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong>sbewegung bilden.<br />
Der eigentliche Kern des schillernden Begriffs <strong>der</strong> <strong>Globalisierung</strong> ist die letztlich alle Staaten <strong>der</strong> Welt<br />
erfassende Wirtschaftsordnung. Die Welthandelsorganisation WTO <strong>und</strong> das Bretton-Woods-System<br />
bilden die Basis dieser Wirtschaftsordnung.<br />
Die Welthandelsorganisation WTO, World Trade Organization, ist eine internationale Organisation<br />
mit Sitz in Genf, die sich mit <strong>der</strong> Regelung von Handels- <strong>und</strong> Wirtschaftsbeziehungen beschäftigt. Ziel<br />
<strong>der</strong> WTO ist <strong>der</strong> Abbau von Handelshemmnissen <strong>und</strong> somit die Liberalisierung des internationalen<br />
Handels mit dem weiterführenden Ziel des internationalen Freihandels, um somit die Wohlfahrt <strong>der</strong><br />
teilnehmenden Volkswirtschaften zu erhöhen. Und das Bretton-Woods-System, benannt nach <strong>der</strong><br />
Konferenz von Bretton Woods, ist ein Währungssystem, das vom goldhinterlegten US-Dollar als<br />
Leitwährung bestimmt ist. Die Bretton-Wood-Organisationen, bzw. Institutionen, sind die Weltbank<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Internationale Währungsfonds.<br />
Institutionelle <strong>Struktur</strong>en<br />
Im überstaatlichen Raum haben sich im Jahre 1945 die Vereinten Nationen als globale internationale<br />
Organisation konstituiert. Als die wichtigsten Aufgaben <strong>der</strong> Organisation werden in <strong>der</strong> Charta <strong>der</strong><br />
Vereinten Nationen die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, die För<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> internationalen Zusammenarbeit <strong>und</strong> bezeichnen<strong>der</strong> Weise <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Menschenrechte bezeichnet.<br />
Die Vereinten Nationen haben ihren Hauptsitz in New York <strong>und</strong> 3 weitere Sitze in Genf, Nairobi<br />
<strong>und</strong> Wien. In Den Haag befindet sich <strong>der</strong> Internationale Gerichtshof. Anzumerken ist, daß nach offiziellem<br />
Sprachgebrauch sich die Sitze <strong>der</strong> Vereinten Nationen nicht in dem jeweiligen Land befinden,<br />
son<strong>der</strong>n nur von diesen umgeben werden, d. h. daß <strong>der</strong> Internationale Gerichtshof in Den Haag ist,<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hauptsitz <strong>der</strong> Vereinten Nationen in New York. In den Vereinten Nationen gelten Regeln<br />
eigener Art <strong>und</strong> die Staatsmacht des jeweiligen Sitzlandes darf dort keine Zwangsmaßnahmen ausüben,<br />
wodurch ihre Souveränität insoweit nicht infrage steht. Daß Einrichtungen <strong>der</strong> Vereinten Nationen<br />
eine Art »Internationales Territorium« darstellen würden, ist völkerrechtlich nicht anerkannt.<br />
Jedoch sind ihre Einrichtungen exterritoriales Gebiet, vergleichbar dem von Botschaften. Gemäß Kapitel<br />
3, Artikel 7 <strong>der</strong> Charta haben die Vereinten Nationen sechs Hauptorgane, die für die Entscheidungsprozesse<br />
maßgeblich sind: die Generalversammlung, das Sekretariat, <strong>der</strong> Sicherheitsrat, <strong>der</strong><br />
Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialrat, <strong>der</strong> Treuhandrat <strong>und</strong> <strong>der</strong> Internationale Gerichtshof in Den Haag. 19<br />
18 Bello, Walden: Humanitäre Interventionen - Die Entwicklung einer gefährlichen Doktrin, in Znet Deutschland vom 14. 1.<br />
2006.<br />
19 Wikipedia: Vereinte Nationen.<br />
11