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Wesen und Struktur der Globalisierung. Eine ... - Peter Gerdsen

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Der Begriff ›<strong>Struktur</strong>elle Gewalt‹ wurde bereits Anfang <strong>der</strong> siebziger Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts von<br />

dem norwegischen Soziologen <strong>und</strong> Friedensforscher Johan Galtung in die Literatur eingeführt. Galtung<br />

definiert strukturelle Gewalt als »vermeidbare Beeinträchtigung gr<strong>und</strong>legen<strong>der</strong> menschlicher<br />

Bedürfnisse o<strong>der</strong>, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad <strong>der</strong> Bedürfnisbefriedigung<br />

unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist«. <strong>Struktur</strong>elle Gewalt ist Gewalt ohne einen Akteur.<br />

Bei struktureller Gewalt ist die Ursache nicht auf konkrete Personen als Akteure zurückzuführen.<br />

Niemand tritt in Erscheinung, <strong>der</strong> einem an<strong>der</strong>en direkt Schaden zufügt. Mit seinem Konzept <strong>der</strong><br />

strukturellen Gewalt als Ursache von sozialer Ungerechtigkeit überwand Galtung die Grenzen des<br />

klassischen Gewaltbegriffs.<br />

Die Frage »Wer bin ich?«, also die Suche nach <strong>der</strong> Identität eines Menschen ist so alt wie die<br />

Menschheit selbst. Zahlreiche Wissenschaften wie die Psychologie, die Philosophie, die Sozialwissenschaften<br />

<strong>und</strong> neuerdings auch die Neurowissenschaften beschäftigen sich mit dieser Frage. Bei <strong>der</strong><br />

personalen Identität geht es um das Phänomen, daß man sich selbst trotz individueller Entwicklung<br />

über die Zeit <strong>und</strong> in verschiedenen Situationen <strong>und</strong> Kontexten als dieselbe Person wahrnimmt. Die<br />

soziale Identität beschreibt dagegen das Gefühl <strong>der</strong> Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, das für das<br />

Individuum ebenfalls identitätsstiftend wirkt. Man kann somit von einem komplexen Beziehungsgefüge<br />

<strong>der</strong> personalen <strong>und</strong> <strong>der</strong> sozialen Identität ausgehen. Die Definition von Eigenem <strong>und</strong> Fremdem,<br />

die Prozesse <strong>der</strong> sozialen Zuordnung <strong>und</strong> <strong>der</strong> individuellen Abgrenzung stehen in einer dynamischen<br />

Wechselbeziehung.<br />

Die <strong>Globalisierung</strong>sbewegung bringt beides hervor: strukturelle Gewalt <strong>und</strong> Verlust <strong>der</strong> Identität,<br />

wobei beide auch miteinan<strong>der</strong> zusammenhängen. Gefährdungen <strong>der</strong> Identität wird als strukturelle<br />

Gewalt empf<strong>und</strong>en. Zunächst gilt es aber, das geistige Klima darzustellen, in dem die <strong>Globalisierung</strong>sbewegung<br />

ein solches Tempo in <strong>der</strong> Entwicklung gewinnen konnte, wie man es gegenwärtig<br />

beobachten kann.<br />

Quellen <strong>der</strong> strukturellen Gewalt<br />

Wenn <strong>der</strong> Mensch sich in ein naturwissenschaftliches Verhältnis zur Welt bringt, wird dies zur<br />

Quelle von Gewalt, wenn er die Naturwissenschaft verläßt <strong>und</strong> in die Welt des Menschen hineingeht.<br />

In seinem Bewußtsein vollzieht <strong>der</strong> Mensch dabei eine Spaltung <strong>der</strong> Welt in Subjekt <strong>und</strong> Objekt. Dabei<br />

wird <strong>der</strong> Mensch zum Subjekt eines »reinen« Denkens. Alles Seelische, also alle Emotionen, Sympathien<br />

<strong>und</strong> Antipathien, Freude <strong>und</strong> Trauer werden zum Schweigen gebracht. Damit findet eine<br />

Entpersönlichung statt; <strong>der</strong> Mensch denkt <strong>und</strong> handelt mit <strong>der</strong> seelischen Kälte eines Roboters. Für<br />

einen Menschen in einer solchen Bewußtseinsverfassung verlieren die Objekte sämtliche Bedeutungen,<br />

Qualitäten, Sinnhaftigkeiten, Stimmungen <strong>und</strong> Tönungen. Paart sich dieses Bewußtsein mit einem<br />

rationalen Verstandesdenken, so sind alle Voraussetzungen für gewalttätiges Handeln gegeben.<br />

Beginnen Staat <strong>und</strong> Gesellschaft sich diesem Denkschema entsprechend durchzustrukturieren, so<br />

entsteht strukturelle Gewalt; denn <strong>der</strong> Mensch gelangt unter die Diktatur eines außermenschlichen<br />

Sachgesetzes.<br />

Für die Naturwissenschaftler ist die Situation so, daß sie die materielle Welt, <strong>der</strong>en Gesetze sie erforschen,<br />

nicht geschaffen haben. So sind die Gesetze, die sie zutage för<strong>der</strong>ten, nicht ihre Gesetze. Ganz<br />

an<strong>der</strong>s ist die Situation bei den Geisteswissenschaften. Die Qualitäten, Sinngehalte <strong>und</strong> Bedeutungen<br />

sind Erzeugnisse des Menschen, <strong>der</strong> sich dabei auf seine ›Vernunft‹ beruft ergänzt durch das logischschlußfolgernde<br />

Verstandesdenken. Als die Geisteswissenschaften ihre Bindung an die Religion verloren,<br />

ergab sich eine Selbstermächtigung <strong>und</strong> Entfesselung <strong>der</strong> Vernunft, die danach zur Quelle von<br />

Gewalt werden konnte; denn die Gewalttätigkeit vollzieht sich zunächst im Denken, das die Handlungen<br />

bestimmt <strong>und</strong> organisiert. Ein solches Handeln muß sich nicht direkt gegen Personen richten;<br />

aber es schafft Verhältnisse, die als strukturelle Gewalt auf Personen einwirkt.<br />

Dabei ist das Verhältnis des Menschen zur Welt wichtig. Der Naturwissenschaftler sieht sich so in<br />

Welt gestellt, daß ihm die Wirklichkeit von außen durch Beobachtung <strong>und</strong> von innen durch Intuition<br />

in Form von Begriffen <strong>und</strong> Theorien zufließt. Damit können die Begriffe nicht willkürlich gesetzt<br />

werden. Wenn dies jedoch stattfindet, liegt eine Form von Gewalttätigkeit im Denken vor, wie es zum<br />

Beispiel in <strong>der</strong> Philosophie wahrzunehmen ist; denn häufig liegt am Anfang einer Philosophie ein<br />

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