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Jugend und gesellschaftlicher Wandel aus kriminologischer ... - VOJA

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<strong>Jugend</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>gesellschaftlicher</strong> <strong>Wandel</strong><br />

<strong>aus</strong> <strong>kriminologischer</strong> Sicht<br />

Dr. iur. Martin Brandenstein, Dipl.-Psych.<br />

Institut für Strafrecht <strong>und</strong> Kriminologie, Universität Bern<br />

19. November 2011<br />

Trägertagung<br />

Verband offene Kinder- <strong>und</strong><br />

<strong>Jugend</strong>arbeit Kanton Bern


Überblick<br />

• I Kriminalität im Spiegel von Statistiken<br />

• II Entwicklungskriminologische Bef<strong>und</strong>e<br />

• III Identität als gesellschaftliche <strong>und</strong><br />

psychologische Her<strong>aus</strong>forderung<br />

• IV Ausblick auf die <strong>Jugend</strong>arbeit der<br />

Zukunft<br />

2


I Kriminalität in der Schweiz<br />

im Spiegel von Statistiken<br />

Verurteilungen von <strong>Jugend</strong>lichen 1934-2004<br />

3


I Kriminalität in der Schweiz<br />

im Spiegel von Statistiken<br />

Verurteilungen von <strong>Jugend</strong>lichen, jungen Erwachsenen <strong>und</strong><br />

Erwachsenen nach kantonalen Strafgesetzen bzw. nach dem<br />

Strafgesetzbuch 1934-2004<br />

4


pro 100000 Einwohner<br />

I Kriminalität in der Schweiz<br />

im Spiegel von Statistiken<br />

Verurteilungen von <strong>Jugend</strong>lichen, nach dem StGB<br />

1946-2004 – deliktspezifische Differenzierung<br />

5


Entwicklungen innerhalb des<br />

letzten Jahrzehnts<br />

<strong>Jugend</strong>strafurteile in der Schweiz 1999-2009; absolute Zahlen;<br />

insgesamt sowie nach Geschlecht differenziert<br />

16.000<br />

14.000<br />

12.000<br />

10.000<br />

8.000<br />

6.000<br />

4.000<br />

2.000<br />

0<br />

12.151<br />

10.050<br />

1999<br />

2000<br />

2001<br />

2002<br />

2003<br />

2004<br />

2005<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

Datenquelle: B<strong>und</strong>esamt für Statistik Schweiz<br />

11.793<br />

2.101 3.271<br />

15.064<br />

<strong>Jugend</strong>strafurteile<br />

insgesamt<br />

Männlich<br />

Weiblich<br />

6


Entwicklungen innerhalb des<br />

letzten Jahrzehnts<br />

<strong>Jugend</strong>strafurteile in der Schweiz 1999-2009;<br />

prozentuale Aufteilung der betroffenen Geschlechter<br />

100%<br />

80%<br />

Weibliche <strong>Jugend</strong>liche<br />

60%<br />

40%<br />

Männliche <strong>Jugend</strong>liche<br />

20%<br />

0%<br />

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009<br />

Datenquelle: B<strong>und</strong>esamt für Statistik Schweiz<br />

7


Verhängte Sanktionen gegenüber<br />

<strong>Jugend</strong>lichen in der Schweiz<br />

Verurteilungen von <strong>Jugend</strong>lichen, nach Art der Sanktion 1956-2004<br />

8


Zusammenfassung der Bef<strong>und</strong>e <strong>aus</strong> den<br />

Urteilsstatistiken zur <strong>Jugend</strong>kriminalität (I)<br />

• Immer mehr <strong>Jugend</strong>liche werden strafrechtlich<br />

erfasst<br />

‣ Der Anstieg der registrierten <strong>Jugend</strong>kriminalität ist kein<br />

neuartiges Phänomen, sondern seit Beginn der statistischen<br />

Aufzeichnungen im Jahr 1934 fast durchgehend zu beobachten.<br />

• <strong>Jugend</strong>liche werden häufiger als Erwachsene<br />

verurteilt<br />

‣ Die Zunahme strafrechtlicher Verurteilungen von <strong>Jugend</strong>lichen<br />

auch über einen längeren Zeitraum hinweg führte nicht zu einem<br />

Anstieg der registrierten Erwachsenenkriminalität – es handelt<br />

sich bei der <strong>Jugend</strong>kriminalität offensichtlich um ein<br />

entwicklungsgeb<strong>und</strong>enes, episodisches Phänomen.<br />

9


Zusammenfassung der Bef<strong>und</strong>e <strong>aus</strong> den<br />

Urteilsstatistiken zur <strong>Jugend</strong>kriminalität (II)<br />

• Vermögensdelikte dominieren<br />

‣ In der Mehrzahl handelt es sich um überwiegend leichte<br />

Vermögensstraftaten, gefolgt von Betäubungsmittel- <strong>und</strong><br />

Verkehrsdelikten. Die Straftaten gegen Leib <strong>und</strong> Leben spielen<br />

nach wie vor eine untergeordnete Rolle, auch wenn deren Anteil<br />

in den letzten 20 Jahren angestiegen ist.<br />

• Geschlechtsstruktur bleibt konstant<br />

‣ Überwiegend männliche <strong>Jugend</strong>liche werden verurteilt.<br />

• Sanktionierung von straffällig gewordenen<br />

<strong>Jugend</strong>lichen hat sich verändert<br />

‣ Bis in die Mitte der 70er Jahre überwiegen zunächst die<br />

eingriffsintensiven <strong>aus</strong>serfamiliären Platzierungen<br />

(Erziehungsheim, Unterbringung in fremder Familie,<br />

Einschliessung), welche weitgehend zu Gunsten von<br />

ambulanten Massnahmen <strong>und</strong> Arbeitsleistungen abgelöst<br />

werden.<br />

10


Wozu Strafe?<br />

Strafe als<br />

Abschreckung des Täters?<br />

Rahmen für seine Resozialisierungsmassnahmen?<br />

Abschreckung der Allgemeinheit?<br />

Stärkung des allgemeinen Vertrauens in Gültigkeit der<br />

Normen?<br />

von allem unabhängige Genugtuung von<br />

Strafbedürfnissen (woher auch immer diese rühren)?<br />

Relativierungen<br />

11


II Entwicklungskriminologische Bef<strong>und</strong>e<br />

12


Inhalte der sog.<br />

„Entwicklungskriminologie“<br />

• Welche Einflüsse prägen die Persönlichkeit (negativ)<br />

dauerhaft?<br />

– Bio-psychische Veranlagungen zu Impulsivität <strong>und</strong> Aggressivität<br />

– elterlicher Erziehungsstil<br />

– frühkindliche Erlebnisse als Opfer häuslicher Gewalt<br />

– Förmliche Kontrollvorgänge<br />

• Welche Einflüsse tragen zur Abstandnahme von<br />

Kriminalität bei?<br />

– Veränderung des Lebensstils beim Erwachsenwerden (weniger<br />

Freizeit, mehr Verpflichtungen)<br />

– Wendepunkte in Lebensgeschichten (dauerhaftes<br />

Arbeitsverhältnis oder feste Partnerbeziehung)<br />

– Geschwächte Leistungsfähigkeit im Alter<br />

– Neubestimmung des Selbstbildes<br />

13


Selbstberichtete Delinquenzpfade nach Boers 2010<br />

Nicht Delinquente: 50%<br />

Gering Delinquente: 19%<br />

Lediglich im <strong>Jugend</strong>alter<br />

Delinquente: 13%<br />

Intensivtäter: 9%<br />

Frühauffällige: 13%<br />

Frühe Abbrecher: 4%<br />

Spätstarter: 5%<br />

14


Strategien zur Aufrechterhaltung<br />

des moralischen Selbstbildes<br />

Neutralisierungstechniken (Sykes & Matza 1968):<br />

– Ablehnung der Verantwortung im Sinne eines Billard-Ball-<br />

Selbstverständnisses, in dem der Delinquent sich hilflos in neue<br />

Situationen getrieben sieht,<br />

– Verneinung des Unrechts durch bagatellisierendes Um-<br />

Definieren etwa von Autodiebstahl in „Borgen“,<br />

– Ablehnung des Opfers durch dessen Verwandlung in eine<br />

Person, die Unrecht geübt <strong>und</strong> Rache verdient hat,<br />

– Verdammung der Verdammenden, indem Rechtstreue als<br />

Heuchler, Lehrer als Sadisten <strong>und</strong> die Polizei als korrupt, dumm<br />

<strong>und</strong> brutal dargestellt werden,<br />

– Berufung auf höhere Instanzen etwa beim Konflikt zwischen<br />

Ansprüchen der Fre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> solchen des Gesetzes, der<br />

gemäß den Wertvorstellungen des Delinquenten auf Kosten des<br />

Gesetzes gelöst werden muss.<br />

15


Kriminologische Theorie, die Selbstbild <strong>und</strong> Identität in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> rückt: Labeling Approach<br />

(«Etikettierungsansatz»)<br />

1. Variety of<br />

c<strong>aus</strong>es<br />

2. Initial or<br />

primary<br />

deviation<br />

3. Official<br />

label of<br />

delinquent/<br />

deviant<br />

4. Delinquent/<br />

deviant selfimage<br />

5. Continued<br />

involvement in<br />

delinquency or<br />

deviance<br />

Annahmen der Labeling Theory<br />

(<strong>aus</strong>: Bartollas: Juvenile Delinquency, S. 172)<br />

Gerade für identitätssuchende, suggestible <strong>und</strong> Grenzen<br />

<strong>aus</strong>testende <strong>Jugend</strong>liche von besonderer Tragweite!<br />

16


Präventiver Effekt des Strafens?<br />

Franz von Liszt (1905):<br />

„Wenn ein <strong>Jugend</strong>licher oder auch ein<br />

Erwachsener ein Verbrechen begeht <strong>und</strong> wir<br />

lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass er wieder ein Verbrechen begeht, geringer,<br />

als wenn wir ihn bestrafen.“ … Denn unter den<br />

Ursachen des Rückfalls „nehmen die Fehler<br />

unseres Strafgesetzbuchs, unserer<br />

Strafrechtspflege, unseres Strafvollzugs weit<strong>aus</strong><br />

die erste Stelle ein.“<br />

17


Bedeutung von Identität in<br />

verschiedenen Lebensphasen<br />

• Kindheit<br />

– „Ich-Bewusstsein“<br />

– Egozentrisches Weltbild<br />

• <strong>Jugend</strong><br />

– Feststellung der identitären Abhängigkeit von sozialer<br />

Umwelt<br />

– Eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben der<br />

<strong>Jugend</strong>lichen: Seine Identität zu „finden“<br />

– Erlernen <strong>und</strong> Akzeptieren von (sozialen) Grenzen<br />

erlaubten bzw. verbotenen Verhaltens<br />

Antworten auf Fragen finden:<br />

Wer will ich warum sein?<br />

Ist das sozialadäquat möglich?<br />

18


Identität im Erwachsenenalter<br />

Bedeutung von Identität für:<br />

• (nachhaltige) Verfolgung von Lebenszielen,<br />

• anhaltende soziale, insbesondere auch für<br />

intime Beziehungen,<br />

• komplexer werdende Rollenspiele (Partnerschaft<br />

<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaft, Arbeit),<br />

• Auseinandersetzung mit Beibehaltung vs.<br />

Veränderung des mit dem Alter scheinbar immer<br />

fester fixierten Lebenswegs.<br />

19


III Identität als psychologische <strong>und</strong><br />

gesellschaftliche Her<strong>aus</strong>forderung<br />

20


Identität im Kleinen <strong>und</strong> Grossen<br />

• Identität als Schnittstelle zwischen Individuum<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft<br />

Umfasst Aspekte der Entwicklungspsychologie,<br />

Sozialpsychologie <strong>und</strong> Soziologie<br />

• Gesellschaftliche Requisiten als Anhaltspunkte<br />

<strong>und</strong> Instrumente der Identitätsbildung<br />

Sozioökonomische <strong>und</strong> kulturelle Vorgaben<br />

Wir Menschen sind immer auch Kinder unserer Zeit!<br />

21


Was charakterisiert unsere<br />

• „Postmoderne“<br />

(gegenwärtige) Zeit?<br />

• Halt gebende Normen, Werte <strong>und</strong> Ideale<br />

verflüchtigen sich<br />

• Immer mehr Lebenskonzepte werden<br />

akzeptiert<br />

• Grenzen, tatsächlich auch im<br />

geografischen Sinne, weichen auf<br />

22


Welche Auswirkungen haben diese<br />

Symptome der Zeit auf Individuen?<br />

„Patchwork“-Identität:<br />

– Identität als integrierende Einheit, als Wurzel<br />

<strong>und</strong> Ziel des Verhaltens geht immer mehr<br />

verloren;<br />

– immer weniger Originalität, immer mehr<br />

„Kopierfähigkeit“ gefragt;<br />

– oberflächliche Lebensweise wird nahe gelegt,<br />

wonach es mehr auf die Aussenwirkung des<br />

Verhaltens <strong>und</strong> die Erfüllung von<br />

Rollenerwartungen zu achten gilt als auf das,<br />

was das „Innenleben“ verlangt.<br />

23


Vor allem betroffen:<br />

<strong>Jugend</strong>liche – von Überforderung bei<br />

Identitätsfindung <strong>und</strong> -bildung bedroht<br />

Kriminelles Verhalten wird begünstigt:<br />

• Flüchten in riskante, „intensive“<br />

Verhaltensweisen („thrill-seeking activities“)<br />

• Noch extremeres Ausreizen <strong>und</strong> Austesten von<br />

immer unverbindlicher erscheinenden (vor allem<br />

auch legalen) Grenzen<br />

24


IV Ausblick auf die <strong>Jugend</strong>arbeit<br />

der Zukunft<br />

25


Symptome verunsicherter Identitäten auch auf<br />

<strong>gesellschaftlicher</strong> <strong>und</strong> kriminalpolitischer Ebene?<br />

Einflüsse der “Postmoderne” auf Identität<br />

• Entsolidarisierung der Gemeinschaft,<br />

Vereinzelung des Individuums<br />

• “Nationale Identität” als durch Globalisierung<br />

bedrohter Identitätsanker?<br />

• De-Individualisierung des Menschen in der<br />

kriminologischen Theoriebildung (bspw. sog.<br />

“Rational-Choice-Theorie”)<br />

• Gesteigerte Strafmentalität (sog. “Punitivität”) als<br />

Symptom wachsender Verunsicherung<br />

26


Bedeutung von <strong>Jugend</strong>arbeit (I)<br />

• Verstehen <strong>und</strong> wohlwollendes Helfen statt<br />

strafender Symptombekämpfung<br />

– Straffälliges Verhalten als eine Eigenschaft der<br />

Gesellschaft, der Kultur, der Zeit – <strong>und</strong> des Alters<br />

anzuerkennen<br />

– Vorsorgende Gesellschaftspolitik wichtiger als<br />

plakative, symbolische, repressive Kriminalpolitik,<br />

insbesondere im Umgang mit <strong>Jugend</strong>lichen<br />

• Komplexere Grautöne nicht nur zulassen,<br />

sondern sich für diese interessieren<br />

27


Bedeutung von <strong>Jugend</strong>arbeit (II)<br />

• <strong>Jugend</strong>liche verdienen mehr denn je<br />

Aufmerksamkeit in Bezug auf ihre<br />

Hilfsbedürftigkeit, nicht hinsichtlich ihrer<br />

potentiellen Straftäterschaft.<br />

28


Bedeutung von <strong>Jugend</strong>arbeit (III)<br />

• Technischer Fortschritt, gesellschaftspolitische<br />

Wandlungen sprunghaft im Fluss<br />

Kluft zwischen Generationen wächst<br />

• <strong>Jugend</strong>arbeit als wichtiger Beitrag für Bestehen<br />

<strong>und</strong> zeitgemässe Entwicklung eines geordneten<br />

<strong>und</strong> zufriedenen Zusammenlebens zwischen<br />

den Generationen<br />

<strong>Jugend</strong>arbeit stellt Brücke in doppelter Hinsicht dar:<br />

Zwischen den Generationen<br />

Zwischen formeller <strong>und</strong> informeller Ebene<br />

29


Bedeutung von <strong>Jugend</strong>arbeit (IV)<br />

• <strong>Jugend</strong>arbeit kann <strong>Jugend</strong>lichen<br />

Orientierungspunkte für Ausrichtung <strong>und</strong><br />

Ausfüllung des (Alltags-)Lebens geben.<br />

– Unterstützung bei gefühlter Überforderung im<br />

Umgang mit gestiegenen Ansprüchen an die<br />

Lebensführung.<br />

– Hilfe bei der Entwicklung <strong>und</strong> Umsetzung<br />

längerfristiger Ziele.<br />

– Gewährleistung von (sinnvollen) Freizeitaktivitäten,<br />

die individuelles Potential fördern.<br />

30


Herzlichen Dank für<br />

Ihre Aufmerksamkeit!<br />

Dr. iur. Martin Brandenstein, Dipl.-Psych.<br />

Institut für Strafrecht <strong>und</strong> Kriminologie,<br />

Universität Bern<br />

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