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Das Ungeborene trinkt mit Entwicklung und ... - Sucht Schweiz

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<strong>Das</strong> <strong>Ungeborene</strong> <strong>trinkt</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Entwicklung</strong> <strong>und</strong> Evaluation eines Projektes zur Verhinderung des Fetalen<br />

Alkoholsyndroms<br />

Silke MORLANG<br />

Assessorin des Lehramts an Gymnasien, Leiterin der Vorsorgestelle des Blauen Kreuzes (1996-<br />

1999), Kantonalverband Zürich<br />

Martin SIEBER<br />

Prof. Dr. phil., Forel Klinik, Ellikon an der Thur<br />

Zusammenfassung<br />

<strong>Das</strong> Fetale Alkoholsyndrom wird öffentlich kaum wahrgenommen, obwohl es bei 2-3 von Tausend<br />

Geburten nachweisbar ist. Mit seinem Projekt "<strong>Das</strong> <strong>Ungeborene</strong> <strong>trinkt</strong> <strong>mit</strong>" startete das Blaue Kreuz in<br />

Zürich 1997 eine Massnahme zur Verhinderung des FAS. Der Artikel schildert den Projektverlauf <strong>mit</strong><br />

seinen positiv wirkenden Zufällen <strong>und</strong> <strong>mit</strong> den Hindernissen, die die Verwirklichung weiterer<br />

Teilprojekte hemmten. In dieser Hinsicht steht das Projekt exemplarisch für viele im Bereich der<br />

Alkoholprävention <strong>und</strong> kann der Reflexion suchtpräventiver Strategien im Allgemeinen dienen. Im<br />

zweiten Teil des Artikels geht M. Sieber auf eine Evaluation der Broschüre ein. Aus ihr geht hervor,<br />

dass die vier gewählten Akzeptanz-Erfolgsindikatoren insgesamt einen günstigen Effekt der Broschüre<br />

ausweisen. Frauen werden geringfügig stärker von der Broschüre angesprochen als Männer.<br />

Entgegen der Erwartung haben Personen <strong>mit</strong> einem höheren Alkoholkonsum weniger gut auf die<br />

Broschüre angesprochen.<br />

Einleitung<br />

<strong>Das</strong> Fetale Alkoholsyndrom aus medizinischer Sicht<br />

Die Schädigung des Kindes, die durch übermässigen oder dauerhaften Alkoholkonsum der Mutter<br />

während der Schwangerschaft entstehen kann, ist seit längerem bekannt. Erste Beschreibungen<br />

dieser Alkoholschäden erfolgten durch die Kinderärzte Lemoine et al. (1968), internationale<br />

Beachtung erhielt die Alkoholembryopathie durch die Arbeit von Jones et al. (1973). In Deutschland<br />

legten Löser et al. (1985) eine pathogenetische Studie vor, bei welcher 68 Kinder retro- <strong>und</strong> prospektiv<br />

untersucht wurden. Eine Übersicht der Symptome der Alkoholembryopathie liefert die Tabelle 1.<br />

Tabelle 1<br />

Veränderung <strong>und</strong> Kennzeichen bei Alkoholembryopathie (Schweregrad I-III)<br />

Häufigkeit des<br />

Vorkommens<br />

Minderwuchs <strong>und</strong> Untergewicht (vor- <strong>und</strong> nachgeburtlich) 88%<br />

Kleinköpfigkeit (Mikrozephalie) 84%<br />

Geistige <strong>und</strong> statomotorische <strong>Entwicklung</strong>sverzögerung,<br />

zentralnervöse Störungen 89%<br />

Sprachstörungen 80%<br />

Hörstörungen ca. 20%<br />

Ess- <strong>und</strong> Schluckstörungen (bei Säuglingen) ca. 30%<br />

Muskelhypotonie 58%<br />

Hyperaktivität/Verhaltensstörungen 72%<br />

Feinmotorische Dysfunktionen/Koordinationsstörungen ca. 80%<br />

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Krampfanfälle 6%<br />

Emotionale Instabilität ca. 30%<br />

Gesichtsveränderungen 95%<br />

Herzfehler (meist Scheidewanddefekte) 29%<br />

Genitalfehlbildungen 46%<br />

Nierenfehlbildungen ca. 10%<br />

Augenfehlbildungen > 50%<br />

Extre<strong>mit</strong>äten- <strong>und</strong> Skelettfehlbildungen<br />

Verkürzung <strong>und</strong> Beugung des Kleinfingers 51%<br />

Verwachsung von Elle <strong>und</strong> Speiche (Supinationshemmung) 14%<br />

Hüftluxation 11%<br />

Kleine Zähne 31%<br />

Trichterbrust 12%<br />

Kielbrust 6%<br />

Gaumenspalte 7%<br />

Skoliose/Wirbelsäulenfehlbildung 5%<br />

Weitere Fehlbildungen<br />

Steissbeingrübchen 44%<br />

Leistenbruch 12%<br />

Hämangiome 10%<br />

Quelle: Jahrbuch <strong>Sucht</strong> ’96, S. 43<br />

Copyright © 1997 Hans-Jürgen Raab – Stand: 1. Oktober 1997<br />

Alkohol in der Schwangerschaft ist gemäss Löser (1999) die häufigste Verursachung von<br />

Missbildungen bei Kindern (Prävalenz bei Neugeborenen: 1:300). Bei einem täglichen Konsum von<br />

29g Alkohol in der Schwangerschaft wurde eine IQ-Minderung beim Kind von 7 Punkten festgesteellt.<br />

Die Intelligenzminderung ist nicht reversibel. <strong>Das</strong> Risiko für eine <strong>Sucht</strong>entwicklung dieser Kinder liegt<br />

bei über 30%. Zu Beginn der Schwangerschaft ist die Gefahr einer Schädigung am grössten.<br />

Problematisch ist deshalb, wenn die Mütter am Beginn der Schwangerschaft unbedenklich<br />

weitertrinken. Diagnostisch sprechen wir heute von einem fetalen Alkoholsyndrom (FAS). Die<br />

Inzidenzrate liegt bei zwei bis drei Kindern <strong>mit</strong> einem FAS pro 1000 Geburten. Dies ergibt für die<br />

<strong>Schweiz</strong> mind. 200 Neugeborene jährlich (SFA, ohne Jahresangabe).<br />

Die diagnostischen Möglichkeiten beim Fetalen Alkoholsyndrom sind eingeschränkt: Die schwersten<br />

Schädigungen, die in der Regel ein breites Spektrum möglicher Symptome indizieren, treten bei<br />

chronischem Trinken der Mutter auf. Schwierig ist jedoch die Zuordnung einzelner Symptome, z.B.<br />

einer Gesichtsanomalie oder einer einzelnen Verhaltensauffälligkeit, da hierfür unterschiedliche<br />

Ursachen vorliegen können. Schädigungen können auch schon bei einmaligem Alkoholkonsum<br />

insbesondere in den ersten 16 Schwangerschaftswochen auftreten. Es ist aber ebenso möglich, dass<br />

das Symptom spontan aufgetreten ist.<br />

<strong>Das</strong> Fetale Alkoholsyndrom aus suchtpräventiver Sicht<br />

Obwohl das Problem "Alkoholkonsum in der Schwangerschaft" seit Beginn der 70er Jahre in den<br />

medizinischen Wissenschaften thematisiert wird, ist es bis heute kein Gegenstand öffentlicher<br />

Diskussionen. Da der empirische Nachweis schwierig zu führen ist, scheuen die meisten<br />

Wissenschaftler davor zurück, die Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft generell zu<br />

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empfehlen <strong>und</strong> beschränken sich auf Aussagen zur Häufigkeit der möglichen Folgen für das<br />

Neugeborene bei erhöhtem Alkoholkonsum.<br />

Bei der <strong>Entwicklung</strong> von Präventionsmassnahmen zur Verhinderung des Fetalen Alkoholsyndroms<br />

sind drei Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen muss die Zielgruppe exakt festgelegt werden, denn<br />

schwangere Frauen, die schweren Alkoholmissbrauch betreiben oder alkoholabhängig sind, benötigen<br />

in der Regel therapeutische Hilfe <strong>und</strong> müssen anders angesprochen werden als Frauen <strong>mit</strong><br />

geringerem Alkohokonsum. Zum anderen muss eine Methode gef<strong>und</strong>en werden, Frauen möglichst<br />

schon vor oder direkt zu Beginn der Schwangerschaft zu erreichen <strong>und</strong> sie von einem abstinenten<br />

Umgang <strong>mit</strong> Alkohol zu überzeugen. Und drittens müssen Fachpersonen, z.B. Gynäkologen,<br />

Kinderärzte, Mütterberater u.a., aufgeklärt <strong>und</strong> als Mediatoren in die Massnahmen einbezogen<br />

werden.<br />

Zu Beginn der 90er Jahre erschienen in der <strong>Schweiz</strong> diverse Informationsbroschüren zum Thema<br />

"Alkohol <strong>und</strong> Schwangerschaft". Die detaillierteste Schrift war ein vierseitiges Faltblatt der<br />

<strong>Schweiz</strong>erischen Fachstelle für Alkohol- <strong>und</strong> andere Drogenprobleme (SFA). Dieses für diverse<br />

Zielgruppen entwickelte Faltblatt stellt die Fakten ausführlich dar. In den meisten anderen, weniger<br />

umfangreichen Broschüren wird ebenfalls sehr viel Wert auf die Überzeugungsarbeit durch Texte<br />

gelegt. Allerdings fehlt ihnen der wissenschaftliche Anspruch. <strong>Das</strong> Blaue Kreuz hat ebenfalls ein<br />

Präventionsprojekt durchgeführt, auf das im Folgenden näher eingegangen wird.<br />

<strong>Das</strong> Projekt "<strong>Das</strong> <strong>Ungeborene</strong> <strong>trinkt</strong> <strong>mit</strong>"<br />

Projekthintergr<strong>und</strong><br />

<strong>Das</strong> Blaue Kreuz hat die Thematik "Alkohol <strong>und</strong> Schwangerschaft" im Rahmen einer Broschüre <strong>mit</strong><br />

dem Titel "Schirm <strong>und</strong> Alkohol" aufgenommen. Diese vom Blauen Kreuz in Norwegen konzipierte<br />

Broschüre weist auf mehrere Situationen hin, in denen gr<strong>und</strong>sätzlich kein Alkohol getrunken werden<br />

sollte (im Strassenverkehr, am Arbeitsplatz, während der Schwangerschaft u.a.). Die Botschaft wird in<br />

erster Linie über das Bild ver<strong>mit</strong>telt; als Symbol dient das Glas, über welches ein Schirm ausgebreitet<br />

ist. <strong>Das</strong> Blaue Kreuz Zürich stellte sich die Aufgabe, das Thema "Schwangerschaft" in einem<br />

Einzelprojekt zu vertiefen. Dabei sollte durch die Betonung der Bildsprache <strong>und</strong> analoge Symbolik der<br />

Bezug zur Broschüre "Schirm <strong>und</strong> Alkohol" hergestellt werden. Die Broschüre ist für Frauen aller<br />

Bildungsniveaus konzipiert. Sie soll Frauen auf emotionale Weise ansprechen <strong>und</strong> dazu animieren,<br />

auf Alkoholkonsum während der Schwangerschaft zu verzichten. Der Einfluss der sozialen Umgebung<br />

auf die Entscheidung der Frau wird ebenfalls angesprochen. Die Verbesserung des detaillierteren<br />

Wissensstandes über das Fetale Alkoholsyndrom ist ein sek<strong>und</strong>äres Ziel. Als weiterführende<br />

Massnahme war geplant, Gynäkologen <strong>und</strong> andere Fachärzte über das Fetale Alkoholsyndrom zu<br />

informieren. In einem nächsten Schritt sollte eine "Wanderausstellung" in Spitälern die<br />

Öffentlichkeitsarbeit unterstützen.<br />

Die Planungsphase<br />

Positive Zufälle<br />

Obwohl das Projekt klar umrissen war, fehlten zunächst zündende Ideen für den Aufbau <strong>und</strong> die<br />

Gestaltung der Broschüre. Besonders hinderlich war der mangelnde Zugang zu betroffenen Müttern<br />

bzw. Kindern. Dies änderte sich, als die Projektleiterin (Erstautorin) per Zufall <strong>mit</strong> einem Kinderarzt<br />

aus Deutschland über das Thema sprach. Der Kinderarzt hatte einige Kinder von Müttern, die<br />

während der Schwangerschaft Alkohol konsumierten, mehrere Jahre lang beobachtet. Die<br />

Lebensgeschichte dieser Kinder, von denen z.T. sogar Fotoserien existieren, sind Informationen, die<br />

normalerweise nur sehr schwer zugänglich sind. Mit diesen konkreten Fallbeispielen vor Augen<br />

dauerte es dann nur noch zwei Wochen, bis das Konzept der Broschüre fertig war. Die<br />

Zusammenarbeit <strong>mit</strong> dem Grafiker war hervorragend, sodass nach kurzer Zeit der Entwurf der<br />

Broschüre in die Vernehmlassung gegeben werden konnte. Während die Betriebsangehörigen des<br />

Blauen Kreuzes <strong>und</strong> Personen aus dem Umfeld die Vorlage bis auf Kleinigkeiten guthiessen, stiess<br />

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der Textentwurf bei fremden Frauen, die der Zielgruppe angehörten, auf Kritik. Zum Glück haben<br />

einige der Frauen den Mut gef<strong>und</strong>en, ihre Kritik sehr deutlich zu formulieren, sodass der Text<br />

entsprechend geändert werden konnte. Insgesamt wurden ca. 30 000 Prospekte über Multiplikatoren<br />

(ÄrztInnen, Hebammen, Mütter- <strong>und</strong> Väterberatungen u.a.) verteilt. Die Adressaten des ersten<br />

Versandes konnten <strong>mit</strong>tels einer frankierten Postkarte die Qualität der Broschüre in 5 Punkten<br />

beurteilen. Die positive Bewertung führte zu einer zweiten Auflage, die auf Wunsch der Multiplikatoren<br />

um vier auf sieben Sprachen erweitert wurde.<br />

Hindernisse<br />

<strong>Das</strong> grösste Hindernis bei diesem Projekt waren die finanziellen Ressourcen. Mit grossem Aufwand<br />

wurden über 50 in- <strong>und</strong> ausländische Firmen, die Produkte aus dem Bereich "Mutter <strong>und</strong> Kind"<br />

herstellen, um Sponsoring angefragt – ohne Erfolg. Die meisten Firmen reagierten nicht oder –<br />

teilweise erst nach mehrmaligem Nachfragen – <strong>mit</strong> Standardantworten. Dreimal wurde die Ablehnung<br />

des Sponsorings jedoch auch da<strong>mit</strong> begründet, nicht <strong>mit</strong> der Alkoholproblematik in Verbindung<br />

gebracht werden zu wollen. <strong>Das</strong> Ergebnis der Anfrage bei über 20 Stiftungen war ein einmaliger<br />

Betrag von 1000 Franken. Die Broschüre wurde so<strong>mit</strong> allein durch den Beitrag, den das Blaue Kreuz<br />

aus dem Alkoholzehntel erhält, sowie aus Spendengeldern finanziert. Nicht nur dieses Projekt ist ein<br />

Beweis dafür, dass staatliche Beiträge neben privaten Spenden oftmals der einzige finanzielle<br />

Rückhalt für Präventionsmassnahmen gegen Alkoholmissbrauch sind.<br />

Unterstützung fand die Broschüre bei zwei Mitgliedern aus der Professorenschaft der Universitätsklinik<br />

Zürich: Frau Professorin Huch <strong>und</strong> Herr Professor Steinhausen übernahmen beratende Funktion bei<br />

der Textgestaltung <strong>und</strong> stellten ihr Konterfei zur Verfügung. Sie waren die einzigen aus einer<br />

grösseren Anzahl bekannter Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzte aus den Bereichen Gynäkologie <strong>und</strong> Pädiatrie, die<br />

das Projekt unterstützten. Einige Personen begründeten ihre Absage da<strong>mit</strong>, die Aussagen in der<br />

Broschüre zur Mitverantwortung des Partners <strong>und</strong> der sozialen Umgebung nicht <strong>mit</strong>tragen zu können.<br />

Da jedoch ein grosser Zusammenhang zwischen dem Alkoholmissbrauch von Einzelpersonen <strong>und</strong><br />

dem Alkoholkonsum in der Gesellschaft besteht, liess sich das Blaue Kreuz trotz dieser Absagen nicht<br />

davon abbringen, diese wichtigen Aspekte auch beim Thema Alkoholkonsum während der<br />

Schwangerschaft explizit zu nennen. Eine Anfrage bezüglich einer Wanderausstellung, die den<br />

zürcherischen Spitäler vorgelegt wurde, verblieb leider ohne positives Echo.<br />

<strong>Das</strong> mangelnde Interesse bei den medizinischen Fachpersonen zeigt, dass (Teil-)Projekte "reifen"<br />

müssen. Es macht keinen Sinn, sie gegen den Willen der Multiplikatoren durchzusetzen. Zur<br />

Prävention des Fetalen Alkoholsyndroms könnte bei Wiederaufnahme des Projekts erfolgreich sein,<br />

zunächst auf nationaler Ebene <strong>mit</strong> einzelnen Fachverbänden der Ärzteschaft zusammenzuarbeiten,<br />

um durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit <strong>und</strong> Weiterbildungsangebote vor Ort die genannten <strong>und</strong> neue<br />

Teilprojekte umzusetzen. Da das Blaue Kreuz Zürich für seine Präventionsarbeit nicht mehr durch den<br />

Alkoholzehntel unterstützt wird, hat es die Weiterführung des Projektes "<strong>Das</strong> <strong>Ungeborene</strong> <strong>trinkt</strong> <strong>mit</strong>"<br />

(vorläufig) zurückgestellt.<br />

Die Evaluation der Broschüre "<strong>Das</strong> <strong>Ungeborene</strong> <strong>trinkt</strong> <strong>mit</strong>"<br />

Broschüre <strong>und</strong> deren Zielsetzung<br />

Die mehrfarbige Broschüre besteht aus acht Seiten, die in vier Kapitel aufgeteilt sind. Zunächst wird<br />

die werdende Mutter <strong>mit</strong> einer fünfseitigen Bildergeschichte angesprochen. <strong>Das</strong> Titelblatt zeigt ein<br />

bauchiges Glas, das eine schwangere Frau symbolisiert. Über dem Glas ist ein aufgespannter Schirm.<br />

Unterstützt wird das Bild durch den Titel "<strong>Das</strong> <strong>Ungeborene</strong> <strong>trinkt</strong> <strong>mit</strong>" <strong>und</strong> den Untertitel "Unter dem<br />

Schirm bleiben wir trocken". Ein weiterer Zusatz "Was ich über den Alkoholkonsum vor <strong>und</strong> während<br />

der Schwangerschaft wissen sollte" weist auf den Informationsgehalt der Broschüre hin. Auf den<br />

ersten vier Seiten wird eine Geschichte erzählt: Eine Frau hat gerade erfahren, dass sie schwanger ist<br />

<strong>und</strong> fragt sich, was sie sich <strong>und</strong> dem Kind Gutes tun könnte <strong>und</strong> ob Alkoholkonsum dem Kind schadet.<br />

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An dieser Stelle wird in einem Satz die Information hinzugefügt, dass Alkohol auch schon in kleinen<br />

Mengen schädigend wirken kann. Auf der nächsten Seite entscheidet sich die werdende Mutter für die<br />

Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft. Symbolisch ist der Schirm über dem Glas<br />

aufgespannt. Anschliessend hofft die Frau, dass ihr Partner aus Solidarität ebenfalls in den nächsten<br />

Monaten alkoholabstinent sein wird <strong>und</strong> dass ihr Fre<strong>und</strong>eskreis einmal alkoholfrei feiert. Alle Personen<br />

werden durch Gläser symbolisiert, über die der Schirm aufgespannt ist. Im nächsten Abschnitt werden<br />

drei einfach herzustellende alkoholfreie Drinks <strong>mit</strong> verschiedenen Geschmacksrichtungen präsentiert.<br />

<strong>Das</strong> dritte Kapitel beinhaltet den fachlichen Hintergr<strong>und</strong> zum Fetalen Alkoholsyndrom auf einer Seite<br />

zusammengefasst. Abschliessend gibt es eine Adressliste von Blaukreuz-Beratungsstellen in der<br />

deutschen <strong>Schweiz</strong>.<br />

Die Kampagne soll bewirken,<br />

- dass vermehrt werdende Mütter während ihrer Schwangerschaft abstinent sind oder<br />

- dass sie ihren Alkoholkonsum reduzieren<br />

- dass sie von ihrem Partner oder anderen Beziehungspersonen darin unterstützt werden.<br />

Sek<strong>und</strong>äres Ziel ist die Verbesserung des Wissensstandes zum Fetalen Alkoholsyndrom.<br />

Eine direkte Evaluation dieser Ziele ist äusserst aufwendig <strong>und</strong> konnte <strong>mit</strong> den zur Verfügung<br />

stehenden Mitteln nicht geleistet werden. Die vorliegende Evaluation beschränkt sich auf die<br />

Akzeptanz der Broschüre <strong>und</strong> basiert auf der Annahme, dass eine positive Akzeptanz Voraussetzung<br />

dafür ist, dass eine günstige Wirkung erzielt werden kann. Die Kampagne kann dann wirksam sein,<br />

wenn die Broschüre <strong>mit</strong> den darin enthaltenen Botschaften a) insgesamt positiv aufgenommen wird<br />

<strong>und</strong> wenn sie b) beim Betrachter/der Betrachterin abstinenzmotivierend wirkt. Wir gingen ferner davon<br />

aus, dass eine Teilgruppe von Personen den Prospekt nur sehr kurz anschaut, eine andere<br />

Teilgruppe sich jedoch intensiver <strong>mit</strong> dem Inhalt befasst. Für beide Gruppen sollte die Broschüre auf<br />

positive Akzeptanz stossen <strong>und</strong> abstinenzmotivierend sein.<br />

Wir erwarten, dass der erste Eindruck insgesamt eher positiv sein sollte. Bei einem überwiegend<br />

negativen Eindruck müsste davon ausgegangen werden, dass die Broschüre nicht eingehender<br />

angeschaut wird <strong>und</strong> der positive Effekt der Interventionskampagne so<strong>mit</strong> ausbleiben würde. Ferner<br />

sollte die Broschüre nach der detaillierten Betrachtung insgesamt eher abstinenzmotivierend <strong>und</strong> nicht<br />

zum Trinken motivierend wirken.<br />

Methodik<br />

Stichprobe<br />

An der Evaluation hatten 51 PsychologiestudentInnen der Universität Zürich teilgenommen (38<br />

Frauen, 12 Männer). 47% der Befragten waren 20-25 Jahre alt, 31% waren 25-30 Jahre alt <strong>und</strong> 22%<br />

waren über 30 Jahre. <strong>Das</strong> Konsumverhalten von Alkohol ist insgesamt niedrig: 7 der 51 waren seit<br />

längerem abstinent, 12 aktuell abstinent. Die durchschnittliche Anzahl abstinenter Tage pro Monat lag<br />

bei 24 (S=6). Die durchschnittliche Anzahl Standarddrinks pro Woche betrug 3.5 (S=4.2), die Anzahl<br />

Drinks einer durchschnittlichen Trinksituaition lag bei 2.3 (S=1.6; N=51). Die Evaluation erfolgte im<br />

April 1999 im Rahmen der Vorlesung "Interventionsprogramme im <strong>Sucht</strong>bereich" des zweiten Autors.<br />

Evaluationsinstrument<br />

Im ersten Teil des anonym vorgelegten Fragebogens wurden fünf Fragen zum ersten Eindruck<br />

gestellt, den die Broschüre beim kurzen Durchblättern hinterlassen hatte. Anschliessend folgten sechs<br />

Fragen, die erst nach einer sorgfältigen Durchsicht (10 Min.) beantwortet werden konnten.<br />

Abschliessend wurden Fragen zu Geschlecht, Alter <strong>und</strong> Alkoholkonsum gestellt. (Die StudentInnen<br />

hatten vorgängig keine Informationen zu dieser Thematik erhalten). Abschliessend folgte eine<br />

Diskussion zur Broschüre.<br />

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Kriteriumsvariablen<br />

Als Kriterien verwendeten wir die positive Akzeptanz sowie die Abstinenzmotivation.<br />

a) Die positive Aufnahme/Akzeptanz wurde anhand folgender Kriterien erfasst<br />

- erster Eindruck der Broschüre: Frage: "Wie wirkte der Prospekt auf<br />

Sie?" (5-stufige Skala von sehr positiv = 1 bis sehr negativ = 5).<br />

- Eindruck nach eingehender Betrachtung der Broschüre (analog<br />

oben).<br />

- Zustimmung zur ver<strong>mit</strong>telten Botschaft, erfasst anhand der<br />

Motivation, die Broschüre anderen schwangeren Frauen aus dem<br />

Bekanntenkreis zu übergeben. Frage: "Würden Sie den Prospekt<br />

einer schwangeren Kollegin/Bekannten geben?" (Antwortalternativen:<br />

ja sofort / vielleicht / eher nicht / sicher nicht).<br />

b) Abstinenzmotivation: Frage: "Wirkte der Gesamteindruck der Broschüre auf Sie...<br />

abstinenzmotivierend? / neutral? / zum Trinken von Alkohol motivierend?"<br />

Diese Evaluationskriterien sollten bei den Studentinnen insgesamt ausgeprägter positiv in<br />

Erscheinung treten als bei den männlichen Komilitonen, da sie als potenzielle Mütter direkter<br />

angesprochen sind als ihre männlichen Kollegen. Aber auch bei den Studenten soll ein positiver Effekt<br />

vorhanden sei, da der Partner explizit in der Broschüre <strong>mit</strong>einbezogen ist.<br />

Der positive Effekt soll bei den stärkeren Alkoholkonsumenten ausgeprägter oder mindestens gleich<br />

gut ausgeprägt sein wie bei den Alkoholabstinenten, da in erster Linie die Alkoholkonsumentinnen <strong>und</strong><br />

nicht die Abstinenten angesprochen sind.<br />

Ergebnisse<br />

Eindruck<br />

Insgesamt war der erste Eindruck der Broschüre bei den 51 Befragten eher positiv (n = 23) oder sehr<br />

positiv (2) als eher negativ (14) oder sehr negativ (3). Bei 9 Personen wirkte er neutral. So<strong>mit</strong><br />

überwiegt der positive Effekt <strong>mit</strong> 49% gegenüber dem negativen Effekt <strong>mit</strong> 33%. Dieser positive<br />

Eindruck wird nach der detaillierten Betrachtung noch etwas ausgeprägter. Bei 57% wirkte der<br />

Prospekt eher oder sehr positiv <strong>und</strong> bei 22% eher oder sehr negativ (neutral: 10 Personen).<br />

Hinsichtlich der Weitergabe des Prospektes an eine schwangere Kollegin/Bekannte ist ebenfalls ein<br />

positives Ergebnis feststellbar: Der Prospekt würde von 72% vielleicht oder sofort weitergegeben <strong>und</strong><br />

nur 28% erwähnten, dass sie den Prospekt eher oder sicher nicht weitergeben würden.<br />

Abstinenzmotivation<br />

Auch bezüglich der Abstinenzmotivation besteht eher ein positives Ergebnis: 56% hatten bei sich<br />

einen abstinenzmotivierenden Eindruck erhalten, 36% einen neutralen <strong>und</strong> lediglich 4% einen zum<br />

Trinken von Alkohol motivierenden Eindruck.<br />

Geschlecht, Alter<br />

Hinsichtlich des Postulates, dass die Broschüre bei den Frauen eher positiver aufgenommen werde<br />

als bei Männern, besteht kein signifikantes Ergebnis. Die Korrelationen weisen jedoch in diese<br />

Richtung. Der positive Eindruck nach der detaillierten Betrachtung ist bei den Frauen etwas<br />

ausgeprägter als bei den Männern (Rangkorrelation Gechlecht x Eindruck: r = 0.19, p = 0.19). Der<br />

Prospekt wirkte zudem auf die Frauen eher stärker abstinenzmotivierend als auf die Männer (r = 0.23,<br />

p = 0.12). Die Korrelationen hinsichtlich Geschlechts <strong>und</strong> ersten Eindrucks sind schwächer (r = 0.15)<br />

<strong>und</strong> bezüglich der Weitergabe des Prospektes an eine schwangere Kollegin/Bekannte unbedeutend (r<br />

= 0.05). Hinsichtlich des Alters sind ebenfalls signifikante Zusammenhänge aufgetreten: Je älter,<br />

desto negativer war der Eindruck nach der detaillierten Betrachtung (r=.34, p=0.02) <strong>und</strong> desto seltener<br />

würde der Prospekte weiteregegeben werden (r=.35, p=0.02).<br />

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Konsumgewohnheiten<br />

<strong>Das</strong> Postulat, wonach Personen <strong>mit</strong> einem höheren Alkoholkonsum insgesamt positiver auf die<br />

Broschüre reagieren, wurde nicht bestätigt. Im Gegenteil: wir finden bei den Personen <strong>mit</strong> häufigerem<br />

Alkoholkonsum (Anzahl Standardtrinks pro Woche) eine positive signifikante Korrelation zur<br />

Trinkmotivation <strong>und</strong> nicht zur Abstinenzmotivation (r = 0.31, p = 0.03), d.h. die Broschüre wirkte eher<br />

trinkmotivierend. Die Korrelationen dieses Konsumindikators zu den anderen Kriteriumsvariablen sind<br />

ebenfalls positiv, jedoch nicht signifikant. Auch die Anzahl Drinks einer durchschnittlichen<br />

Trinksituation korreliert positiv <strong>mit</strong> der Trinkmotivation <strong>und</strong> nicht <strong>mit</strong> der Abstinenzmotivation (r = 0.37,<br />

p = 0.01). Signifikant ist ebenfalls die Korrelation zum ersten Eindruck der Broschüre (r = 0.35, p =<br />

0.018). Je höher der Konsum, desto negativer wirkte der Prospekt. Auch bei der Anzahl der<br />

abstinenten Tage pro Monat finden wir eine (negative) Korrelation zur Trinkmotivation <strong>und</strong> nicht zur<br />

Abstinenzmotivation (r = -0.26, p = 0.07).<br />

Zusammenfassend stellen wir fest, dass die vier gewählten Erfolgsindikatoren insgesamt einen<br />

günstigen Effekt der Broschüre ausweisen. Frauen werden geringfügig, jedoch nicht signifikant stärker<br />

von der Broschüre angesprochen als Männer. Entgegen der erwünschten Erwartung haben Personen<br />

<strong>mit</strong> einem höheren Alkoholkonsum insgesamt weniger gut auf die Broschüre angesprochen als<br />

Personen <strong>mit</strong> einem niedrigen Alkoholkonsum, d.h. die Broschüre wirkte nicht abstinenzfördernd.<br />

Diskussion<br />

Die vorliegende Evaluation konzentrierte sich auf die Akzeptanz der Broschüre. (Der Bekanntheitsgrad<br />

konnte nicht evaluiert werden). Aus ihr geht hervor, dass die vier gewählten Erfolgsindikatoren<br />

insgesamt einen günstigen Effekt der Broschüre ausweisen. Frauen werden geringfügig stärker von<br />

der Broschüre angesprochen als Männer. Entgegen der Erwartung haben Personen <strong>mit</strong> einem<br />

höheren Alkoholkonsum weniger gut auf die Broschüre angesprochen. Aus der Diskussion der<br />

befragten StudentInnen geht hervor, dass der Anblick der gefüllten Gläser (sehr erfrischendes Mix-<br />

Getränk) z.T. das Verlangen nach einem solchen Getränk weckte. Wir befinden uns hier in einem<br />

Dilemma: Einerseits soll die Broschüre gestalterisch perfekt erscheinen, andererseits kann dies<br />

möglicherweise gerade trinkmotivierend wirken.<br />

Bezüglich der verwendeten Evaluationsstichprobe sind StudentInnen keine repräsentative Stichprobe<br />

der Bevölkerung. Andererseits sind sie in einem Altersabschnitt, in welchem die Schwangerschaft eine<br />

gewisse Realität beinhaltet. Die Evaluationsergebnisse sind deshalb zumindest für diese<br />

Bildungsgruppe relevant. Für die detailliertere Interpretation wäre es hilfreich gewesen, wenn bei den<br />

befragten Personen der Kinderwunsch <strong>und</strong> die Kinderplanung <strong>mit</strong>berücksichtigt worden wären <strong>und</strong><br />

wenn zusätzlich eine Gruppe von schwangeren Frauen hätte erfasst werden können.<br />

Trotz des insgesamt positiven Ergebnisses der Akzeptanz-Evaluation bleiben einige Fragen offen, die<br />

anhand von weiteren Evaluationen geklärt werden können. Bei der Projektierung <strong>und</strong> Budgetplanung<br />

ist es wichtig, dass ein minimaler Aufwand für die Evaluation einberechnet wird. Die vorliegende<br />

Evaluation zeigt, dass <strong>mit</strong> wenig Aufwand Auskunft über das Ausmass <strong>und</strong> die Richtung der<br />

Akzeptanz eingeholt werden kann.<br />

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Literaturverzeichnis<br />

Löser, H., Schüller, M., Pfefferkorn, J.R., 1985: Alkoholembryopathie – Neue pathogenetische Aspekte<br />

<strong>und</strong> Ansätze zur Prävention. In: Keup, W. (Hrsg.). Biologie der <strong>Sucht</strong>. Springer, Berlin, Heidelberg, S.<br />

103-122.<br />

Löser, H., 1999: Alkohol <strong>und</strong> Schwangerschaft – Alkoholeffekte bei Embryonen, Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen. In: Singer, M.V., Teyssen, S. (Hrsg.): Alkohol <strong>und</strong> Alkoholfolgekrankheiten. Springer-<br />

Verlag, Berlin, Heidelberg.<br />

Jahrbuch <strong>Sucht</strong> ’96: Deutsche Hauptstelle gegen die <strong>Sucht</strong>gefahren. Neuland Verlag, Geesthacht,<br />

1997.<br />

Jones, K.L., S<strong>mit</strong>h, D.W., Ulleland, C.N., Streissguth A.P., 1973: Pattern of malformation in offspring of<br />

chronic alcoholic mothers. Lancet I, 1267.<br />

Lemoine, P., Harousseau, H., Borteyru, J.P., Menuet, J.C., 1968: Les enfants des parents alcooliques,<br />

anomalies observées à propos de 127 cas. Ouest Méd. 21: 476.<br />

SFA: Fetales Alkoholsyndrom. Drogeninfo. <strong>Schweiz</strong>erische Fachstelle für Alkohol- <strong>und</strong> andere<br />

Drogenprobleme, Lausanne (ohne Jahr).<br />

Korrespondenzadressen<br />

Silke Morlang, Caspar Wüst-Strasse 75, CH-8052 Zürich<br />

Martin Sieber, Prof. Dr. phil., Forel Klinik, CH-8548 Ellikon an der Thur<br />

Bestelladresse Broschüre: Blaues Kreuz, Kantonalverband Zürich, Prävention, Postfach 1167, CH-<br />

8031 Zürich, Tel. 01/272 04 12, Fax 01/272 04 23<br />

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