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Kinderbuch Lilotta von Julia Wiltinger

Lilotta ist ein kleines gelbes Nachtgespenst. Sie liebt es, zu spuken und den Menschen Streiche zu spielen. Gemeinsam mit ihrem Bruder Max stellt sie allerlei Unfug an. Henriette klauen sie die Perücke und Hilde die Pantoffeln. Dem Obsthändler legen sie Orangen ins Bett und Ulrich ziehen sie die Stinkesocken aus. Alles könnte weiter so lustig sein, wäre da nicht ein kleines Problem: Lilotta ist nicht unsichtbar! Eines Tages verbietet Papa ihr das Spuken. Lilotta aber hält sich nicht daran und begibt sich in große Gefahr…

Lilotta ist ein kleines gelbes Nachtgespenst. Sie liebt es, zu spuken und den Menschen Streiche zu spielen. Gemeinsam mit ihrem Bruder Max stellt sie allerlei Unfug an. Henriette klauen sie die Perücke und Hilde die Pantoffeln. Dem Obsthändler legen sie Orangen ins Bett und Ulrich ziehen sie die Stinkesocken aus.
Alles könnte weiter so lustig sein, wäre da nicht ein kleines Problem:
Lilotta ist nicht unsichtbar!
Eines Tages verbietet Papa ihr das Spuken. Lilotta aber hält sich nicht daran und begibt sich in große Gefahr…

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INHALT<br />

Wer glaubt an Gespenster?<br />

So eine Unverschämtheit!<br />

Spukgeschichten in der Zeitung<br />

Gute Medizin und ein guter Plan<br />

Besuch vor Mitternacht<br />

Der Pantoffelspuk<br />

<strong>Lilotta</strong> in Gefahr<br />

<strong>Lilotta</strong> ist gefangen<br />

Max ist elend zumute<br />

<strong>Lilotta</strong> bekommt Besuch<br />

Der Absturz<br />

Anna<br />

<strong>Lilotta</strong> ist wieder zuhause


Wer glaubt an Gespenster?<br />

Wenn du zum ersten Mal in die kleine Stadt Kirschberg kommst,<br />

denkst du vielleicht, es sei eine ganz gewöhnliche Stadt, eine<br />

Stadt wie jede andere. Wie in jeder gewöhnlichen Stadt gibt es<br />

einen Bäcker, einen Schuster, einen Metzger und viele andere<br />

Geschäfte. Es gibt Häuser, alte und neue Häuser und Straßen,<br />

krumme und gerade Straßen und es gibt Menschen, viele, viele<br />

Menschen, kleine und große, dicke und dünne. Wenn du mitten<br />

am Tag mitten in der Stadt stehst, dann kannst du sie sehen,<br />

die Menschen, wie sie vorübereilen, in die Geschäfte laufen und<br />

zur Schule, wie sie rennen oder schleichen, schlurfen oder hinken,<br />

wie sie sich unterhalten oder auch nur da stehen und in der<br />

Nase bohren.<br />

Nichts erscheint ungewöhnlich. Alles ist wie anderswo auch.<br />

Etwas jedoch ist anders. Etwas ist ganz und gar ungewöhnlich<br />

in dieser Stadt.<br />

Es mag mit dem Turm zusammenhängen. Inmitten der Stadt<br />

steht ein alter Turm. Er ist älter als die ganze Stadt. Keiner<br />

weiß, wozu er gut ist. Die alten Leute sagen, früher hätten die<br />

Ritter dort ihre Gefangenen eingesperrt. Irgendwann hätte jedoch<br />

jemand Gift ausgestreut. Wer danach noch einmal versucht<br />

habe, die große schwere Eichentür zu öffnen, sei auf der Stelle<br />

tot umgefallen. Seit vielen hundert Jahren habe niemand mehr<br />

den Turm betreten.<br />

Einmal meinte der Bürgermeister, man solle den Turm nun endlich<br />

instand setzen, damit er nicht eines Tages zusammenstürze.<br />

Es hat sich jedoch niemand gefunden, der bereit war, sein Leben<br />

zu riskieren. Trotzdem ist der Turm nicht zusammengestürzt<br />

und sieht auch noch recht stabil aus.<br />

3


Jeden Tag spazieren viele, viele Menschen um ihn herum. Kein<br />

Mensch hat es jedoch nochmals gewagt, die Tür zu öffnen.<br />

Neben dem Turm in einem schiefen Haus wohnt ein kleiner<br />

Mann. Er erzählt unglaubliche Geschichten.<br />

Nachts, wenn die Stadt dunkel sei und die Menschen schlafen,<br />

herrsche reges Treiben im Turm. Eulen und Fledermäuse habe<br />

er gesehen, aber das sei nicht alles gewesen. Er habe auch Stimmen<br />

gehört, menschliche Stimmen! Mitten in der Nacht hätten<br />

Kinder gesungen und gesprochen, aber er habe keine Kinder gesehen.<br />

Der Mann behauptet, die Stimmen kämen aus der Luft und<br />

manchmal auch aus dem Turm.<br />

Unglaublich!“ sagen die Leute.<br />

”<br />

So etwas gibt es doch gar nicht!“<br />

”<br />

Der Mann hat geträumt“, sagen sie.<br />

”<br />

Der Mann sieht Gespenster!“<br />

”<br />

” Nein“, antwortet der kleine Mann. Ich habe kein einziges Gespenst<br />

”<br />

gesehen!“<br />

Der kleine Mann könnte tatsächlich noch viele, viele Nächte auf<br />

dem Balkon stehen und durch das Fernglas spähen. Gespenster<br />

wird er nicht sehen, bis auf eines vielleicht, wenn er ganz genau<br />

schaut, möglicherweise!<br />

Vielleicht bemerkt er plötzlich etwas Gelbes, wie ein gelber Nebel,<br />

ein Tuch, das vorbeihuscht. Mehr wird er kaum erkennen.<br />

Dazu müsste er schon selbst ein Gespenst sein mit echten Gespensteraugen.<br />

Dann könnte er auch ohne Fernglas noch anderes<br />

sehen.<br />

4


Er würde verstehen, woher die Stimmen kämen und entdecken,<br />

dass in diesem Turm doch jemand wohnt. Wahrscheinlich würde<br />

er auf der Stelle ausziehen, wenn er erfährt, dass dort im Turm<br />

direkt neben ihm nicht nur eines, sondern gleich viele Gespenster<br />

wohnen:<br />

Dort lebt die kleine, gelbe <strong>Lilotta</strong> und ihr großer Bruder Max.<br />

Mit Mama und Papa zusammen sind sie eine ganz gewöhnliche<br />

Gespensterfamilie. Seit vielen, vielen Jahren wohnen sie<br />

im Turm. Und nachts zur Geisterstunde fliegen sie aus, fliegen<br />

durch die Stadt und treiben ihr Unwesen.<br />

Besonders Max und <strong>Lilotta</strong> lieben es, zu spuken und den Menschen<br />

Streiche zu spielen. Gerade gestern waren sie beim Obsthändler.<br />

Sie haben ihm nachts Orangen in das Bett gelegt und<br />

Äpfel und Tomaten!<br />

Heute fliegen sie zu Meister Ulrich und seiner Frau Henriette.<br />

Sie sind so neugierig. Henriette hat gerade ein kleines Baby bekommen<br />

und das wollen sie unbedingt sehen.<br />

Es ist eine laue Sommernacht. Alle Fenster stehen offen. Das ist<br />

gut für Max und <strong>Lilotta</strong>. Sie fliegen zum Schlafzimmerfenster.<br />

Leise steigen sie in das Zimmer.<br />

Da liegt der Meister und schnarcht, dass die Wände beben. Er<br />

hat die Decke bis zum Kinn gezogen und unten schauen seine<br />

Füße hervor. Das Bett neben ihn ist leer. Auch die Wiege ist<br />

leer.<br />

” Bei dem Lärm kann ja keiner schlafen!“, flüstert <strong>Lilotta</strong>. ” Bestimmt<br />

schläft das Baby jetzt in einem anderen Zimmer! Komm,<br />

lass uns suchen!“<br />

Sie fliegt zur Zimmertür hinaus in einen schmalen, langen Flur<br />

mit vielen anderen Türen. Max folgt ihr und zusammen spähen<br />

sie hinter jede einzelne Tür. Da ist ein Badezimmer und dahin-<br />

6


ter eine Küche. Alles ist dunkel, aber <strong>Lilotta</strong> und Max haben<br />

gute Nachtaugen. Sie sehen die Spüle mit dem vielen Geschirr<br />

und den Herd daneben mit einem großen Topf.<br />

Schau mal <strong>Lilotta</strong>, hier gibt es noch leckeren Kartoffelbrei!<br />

”<br />

Wollen wir?“, meint Max und steckt den Finger in den Topf.<br />

Aber <strong>Lilotta</strong> hat jetzt keine Lust auf Kartoffelbrei. Sie will weiter,<br />

das Baby finden.<br />

Im Nachbarraum hängt ein dunkler Samtvorhang hinter der<br />

Tür. <strong>Lilotta</strong> schiebt ihn zur Seite und wirklich, da ist ein Schlafraum<br />

mit einem großen Bett. Und in dem großen Bett unter einer<br />

dicken, großen Decke, da liegt es! Ganz klein und zerbrechlich<br />

schaut es aus. Es hat die Augen geschlossen und schläft.<br />

Dabei schmatzt und nuckelt es an seinem winzigen Daumen.<br />

<strong>Lilotta</strong> ist entzückt. Sie möchte es berühren. Noch nie hat sie<br />

ein so kleines Menschenbaby gesehen. Wie winzig und zart es<br />

ist.<br />

Wir müssen leise sein, damit es nicht aufwacht!“, flüstert Max.<br />

”<br />

Es ist so niedlich, fast so hübsch wie ein Gespensterbaby!“, findet<br />

<strong>Lilotta</strong>.<br />

”<br />

Wie es wohl heißt?“, fragt Max.<br />

”<br />

” Anton!“, meint <strong>Lilotta</strong>. Es sieht aus wie ein kleiner Anton!<br />

”<br />

Stimmt es, du heißt Anton?“<br />

Anton nuckelt weiter an seinem Finger und neben ihm liegt Henriette,<br />

seine Mutter. Sie schnarcht nicht so laut wie ihr Mann,<br />

aber sie pfeift und zischt ein bisschen und dabei wackeln die<br />

Nasenflügel.<br />

<strong>Lilotta</strong> kennt Henriette vom Metzgerladen. Dort verkauft Henriette<br />

immer Wurst und Fleisch. Manchmal stand sie noch mitten<br />

in der Nacht, wenn alle Menschen längst schliefen, in ihren<br />

Laden und zählte ihr verdientes Geld. <strong>Lilotta</strong> konnte sie <strong>von</strong> ih-<br />

7


em Turmfenster aus beobachten und immer, wenn sie Henriette<br />

sah, bekam sie großen Appetit auf Fleischwurst mit Schinken.<br />

Nur jetzt nicht. Jetzt hat sie gar keine Lust auf Wurst. Die<br />

Henriette hier im Bett sieht auch so seltsam aus, anders als im<br />

Laden. Schmächtig erscheint sie und klein mit dunklen, struppigen<br />

Haaren.<br />

Wenn sie im Metzgerladen steht, dann sieht sie mächtig und<br />

stolz aus mit einem großen bauschigem Kopf voller blonder Haare<br />

und spitzer Brüste unter der geblümte Schürze.<br />

<strong>Lilotta</strong> zweifelt, ob es wirklich Henriette sei. Aber auf dem Stuhl<br />

neben dem Bett liegt die geblümte Schürze und daneben, auf<br />

dem Nachtisch, da liegen auch die Haare, die <strong>Lilotta</strong> kennt.<br />

Blonde, bauschige Haare, sie liegen einfach so da. <strong>Lilotta</strong> ist<br />

begeistert.<br />

Sieh nur!“, ruft sie Max zu.<br />

”<br />

Aber Max hat nur Angst, dass Anton aufwacht.<br />

Sei leise!“, zischt er.<br />

”<br />

Max, die Haare sind nicht angewachsen. Henriette hat sie einfach<br />

ausgezogen - wie ein Hemd! Phänomenal, oder?“<br />

”<br />

Ihr müsst wissen, phänomenal“ ist <strong>Lilotta</strong>s Lieblingswort. Es<br />

”<br />

klingt so erwachsen, findet sie und gebraucht es, wann immer<br />

es passt oder auch nicht passt.<br />

Haare zum Ausziehen, das findet auch Max phänomenal. Eine<br />

echte Perücke haben beide noch nie gesehen.<br />

<strong>Lilotta</strong> betrachtet noch immer die Haare, mal die kurzen, schwarzen<br />

an Henriettes Kopf, dann die schönen blonden auf dem<br />

Stuhl. Sie berührt sie. Vorsichtig nimmt sie die Perücke und versucht<br />

es. Aber es ist nicht einfach. <strong>Lilotta</strong>s Kopf ist zwar sehr<br />

breit aber dennoch viel kleiner als Henriettes. Und so rutscht<br />

ihr die Perücke immer wieder über die Augen. Schließlich ent-<br />

8


deckt Max am unteren Rand ein Gummiband zum Verstellen.<br />

Nun versuchen sie es gemeinsam. Sie verstellen und ziehen und<br />

zerren an der Perücke, bis sie endlich sitzt, zwar etwas schief<br />

aber dennoch fest auf <strong>Lilotta</strong>s Kopf.<br />

Wie sehe ich aus? Bin ich schön?“<br />

”<br />

Sie tanzt durch den Raum, dreht sich und wirbelt herum, bis<br />

die Haare vollkommen durcheinander fliegen. Vor dem Spiegel<br />

bleibt sie stehen, wendet sich hin und her und bewundert sich<br />

<strong>von</strong> allen Seiten.<br />

” Wie findest du mich?“, fragt sie. Sag schon!“<br />

”<br />

Max kichert:<br />

Ein Gespenst mit Haaren! Fast siehst du aus wie ein Mensch!<br />

”<br />

Es fehlt nur noch...“<br />

Er sucht im Zimmer. Da fällt sein Blick auf die Schürze. Unter<br />

der Schürze liegen noch viele andere Kleidungsstücke <strong>von</strong> Henriette.<br />

<strong>Lilotta</strong> und Max interessieren sich nur für eines. Da liegt<br />

er, das muss er sein. <strong>Lilotta</strong> nimmt ihn entzückt in die Hand,<br />

dreht ihn hin und her. Sie überlegt, wie man ihn wohl anzieht.<br />

Es ist nicht leicht, einen echten Büstenhalter um ein flatterndes<br />

Gespenst zu ziehen und ihn festzuschnallen. Max hilft ihr und<br />

Max hat auch die Idee mit den Strümpfen. Er stopft in jede<br />

Seite einen Strumpf. Jetzt fehlt noch die Schürze und <strong>Lilotta</strong><br />

ist zufrieden.<br />

Was kann ich für sie tun?“, fragt sie mit verstellter Stimme<br />

”<br />

und Max muss lachen.<br />

9


” Ach, guten Tag Frau Henriette!“, scherzt er. Ich hätte gern<br />

”<br />

zweihundert Gramm <strong>von</strong> dem gekochten Schinken, bitte!“<br />

So, so, hätten sie gern, aber wie finden sie meine neue Schürze?<br />

”<br />

Sehe ich nicht wunderhübsch aus?“<br />

Wunderhübsch sehen sie aus, Frau Henriette!“, antwortet Max.<br />

”<br />

Geradezu phänomenal!“<br />

”<br />

<strong>Lilotta</strong> ist beglückt.<br />

” Ja“, sagt sie und tanzt vor dem Spiegel. Ich sehe wirklich<br />

”<br />

phänomenal aus!“ So vergnügt und ausgelassen sind sie, dass<br />

sie Anton ganz vergessen haben.<br />

Und da passiert es. Anton erwacht und beginnt zu knäckern.<br />

Erst nur ein wenig, dann immer lauter. Jetzt fängt er sogar an,<br />

richtig zu schreien. Er schreit und schreit und wird purpurrot<br />

im Gesicht.<br />

” Du warst zu laut!“, schimpft Max. Jetzt ist er wach! Was<br />

”<br />

machen wir jetzt?“<br />

Pst! Keine Sorge!“, beruhigt ihn <strong>Lilotta</strong>.<br />

”<br />

Ich könnte ein wenig singen und summen<br />

”<br />

und dann wird er schon verstummen!“<br />

Nein, bloß nicht!“, protestiert Max. Aber <strong>Lilotta</strong> singt schon.<br />

”<br />

Schlaf, Anton, schlaf!<br />

”<br />

die Mama ist ein Schaf!<br />

Dein Vater ist ein Trampeltier!<br />

Was kannst du armes Kind dafür!<br />

Schlaf...!“<br />

Anton scheint das Lied nicht zu gefallen. Aus dem kleinen, roten<br />

Hals schreit er und es ist ganz ein Wunder, dass Henriette noch<br />

nicht wach ist.<br />

11


Ich bin ein Gespenst!<br />

”<br />

Und will, dass du jetzt pennst!“,<br />

reimt <strong>Lilotta</strong> weiter, aber auch das beeindruckt Anton nicht.<br />

Erst als sie anfängt, den Kopf zu schütteln bis die Haare durcheinander<br />

fliegen, hält Anton plötzlich inne. Er schaut <strong>Lilotta</strong><br />

mit großen, aufgerissenen Augen an!<br />

Ich bin die Henriette,<br />

”<br />

und hüpfe um dein Bette!“,<br />

singt <strong>Lilotta</strong> und tatsächlich, sie fängt an zu hüpfen, rings um<br />

das Bett zu hüpfen.<br />

Jetzt muss Anton sogar lachen. Er lacht und gluckst und strampelt<br />

mit den kleinen Beinchen, bis ihm die Decke wegrutscht.<br />

Max und <strong>Lilotta</strong> freuen sich. Sie sind erleichtert. Das Baby ist<br />

ruhig! Aber nun ist es plötzlich sehr still. Auch Henriette ist<br />

still. Sie pfeift und zischt nicht mehr. Mit einem Mal holt sie<br />

tief Luft, atmet aus und schlägt die Augen auf.<br />

Versteck dich, schnell!“, flüstert Max.<br />

”<br />

<strong>Lilotta</strong> weiß, dass sie aufpassen muss. Eigentlich muss sie immer<br />

aufpassen. Eigentlich darf sie überhaupt nicht hier sein. Eigentlich<br />

sollte sie zuhause sein. <strong>Lilotta</strong> bekommt richtig schlechte<br />

Laune, wenn sie daran denkt. Nie kann sie spuken wie sie<br />

möchte. Immer muss sie vorsichtig sein, weil sie ein besonderes,<br />

eben ein gelbes Gespenst ist, und die Menschen sie sehen<br />

könnten. Max und all die anderen weißen Gespenster sind dagegen<br />

unsichtbar. <strong>Lilotta</strong> beneidet Max dafür. Sie möchte auch<br />

unsichtbar sein. Und es tröstet sie auch nicht, dass Mama und<br />

Papa und all die anderen Gespenster sie besonders hübsch finden,<br />

weil sie so schön gelb leuchtet. Sie möchte nicht leuchten<br />

und nicht besonders sein. Und aufpassen will sie am liebsten gar<br />

12


nicht mehr. Nur jetzt hat sie keine Wahl, denn wenn Henriette<br />

ihre Schürze sieht und die Haare auf ihrem Kopf, dann fällt die<br />

bestimmt in Ohnmacht. Das kann <strong>Lilotta</strong> nicht riskieren.<br />

Schnell huscht sie hinter den Vorhang und hält die Luft an. Hoffentlich<br />

ist es nicht schon zu spät. Vielleicht war sie zu langsam<br />

und Henriette hat sie schon bemerkt.<br />

Es bleibt still im Raum. Auch Anton ist nicht zu hören. <strong>Lilotta</strong><br />

wird unruhig. Ob Henriette schon ohnmächtig da liegt? Sie<br />

muss nachsehen, nur einen kleinen kurzen Blick.<br />

Ganz vorsichtig linst sie hinter dem Vorhang durch einen Schlitz,<br />

nur mit einem halben Kopf, nur mit einem Auge! Nur für einen<br />

kleinen Moment schaut sie auf das Bett.<br />

Und was sieht sie?<br />

Henriette liegt ausgestreckt auf dem Rücken. Ohnmächtig? Nein!<br />

Ruhig und entspannt liegt sie da und schläft. Dabei pfeift sie<br />

schon wieder und zischt und wackelt mit den Nasenflügeln. Auf<br />

ihrem Bauch liegt der kleine Anton. Ruhig und zufrieden sieht<br />

er aus. Die Augen sind geschlossen und er nuckelt an seinem<br />

winzig kleinen Daumen. Alles ist friedlich, als wäre nichts geschehen.<br />

<strong>Lilotta</strong> ist beruhigt. Nun will sie die beiden Schlafenden nicht<br />

länger stören. Sie hat eine neue Idee und ist schon ganz begeistert<br />

<strong>von</strong> ihrem Einfall.<br />

13


So eine Unverschämtheit!<br />

Jetzt geht es los!“, flüstert <strong>Lilotta</strong> ihrem Bruder zu und fliegt<br />

”<br />

samt Perücke, Büstenhalter und Schürze durch das Fenster.<br />

Wo willst du hin?“, fragt Max.<br />

”<br />

<strong>Lilotta</strong> antwortet nicht.<br />

Was hast du vor?“, will er wissen.<br />

”<br />

Er hält sie am Arm und fragt:<br />

Ist es nicht besser, wenn ich die Haare aufsetze?<br />

”<br />

<strong>Lilotta</strong> schüttelt den Kopf. Nein, diesen Spaß, den lässt sie sich<br />

nicht nehmen. Sie fliegt durch das Fenster in den Nachthimmel<br />

und dann kreist sie eine Runde um das Haus, bis sie endlich<br />

Ulrichs Zimmer findet. Max fliegt hinter ihr her.<br />

Es ist unmöglich, auf dich aufzupassen, <strong>Lilotta</strong>! Sei endlich<br />

”<br />

vernünftig und gib mir die Haare!“<br />

<strong>Lilotta</strong> schüttelt den Kopf und fliegt quer durch den Raum.<br />

Hol sie dir doch!“, ruft sie. Schon sitzt sie auf die Deckenlampe,<br />

schaukelt hin und her und zeigt ihm ihre gelbe Zunge.<br />

”<br />

Ich bin viel schneller!“, singt sie und beginnt sich mit der Lampe<br />

zu drehen und sich aufzuwickeln, bis es nicht mehr weiter<br />

”<br />

geht. Dann lässt sie los und dreht sich wie ein Wirbelwind.<br />

Ich bin viel schneller,<br />

”<br />

als ein Propeller!“,<br />

singt sie und lacht. Unter ihr der Meister Ulrich. Er schläft<br />

und schnarcht seelenruhig weiter. <strong>Lilotta</strong> guckt in seinen offenen<br />

Schnarchmund und da kommt ihr schon wieder ein Einfall.<br />

Max, pass auf!“, ruft sie ihren Bruder zu.<br />

”<br />

Jetzt geht‘s los!<br />

”<br />

Das wird famos!“<br />

14


Was hast du vor?“, fragt Max.<br />

”<br />

Sie zwinkert ihm zu. Dann stopft sie die Strümpfe noch mal fest<br />

in den Büstenhalter, zupft die Schürze zurecht und prüft, ob die<br />

Perücke noch hält.<br />

Ich bin Henriette,<br />

”<br />

ich gehe jetzt zu Bette!“<br />

singt sie und legt sich flugs mir nichts dir nichts in das freie<br />

Bett neben Ulrich. Max ist entsetzt.<br />

Bist du übergeschnappt?“ Wenn der aufwacht und dich sieht!“<br />

”<br />

” Papperlapapp!“, strahlt <strong>Lilotta</strong>. Der kann sich freuen, wenn<br />

”<br />

Henriette neben ihm liegt!“<br />

Sie schlüpft unter das dicke Federbett und schaut kess:<br />

Bitte Max!“, bettelt sie.<br />

”<br />

Ich spiele jetzt verstecken,<br />

”<br />

und du musst Ulrich wecken!“,<br />

reimt sie für ihren Bruder, aber der hat keine Lust auf Reime.<br />

Bitte, sei kein Spielverderber!“, bettelt <strong>Lilotta</strong> noch einmal und<br />

”<br />

weg ist sie, unter der Decke versteckt.<br />

Max überlegt. Nein, ein Spielverderber mag er nicht sein. Vielleicht<br />

wird es auch sehr lustig. Noch zögert er. Aber dann beginnt<br />

er.<br />

Zaghaft kitzelt er den Meister, erst am rechten Fuß und dann<br />

am linken.<br />

Nichts passiert!<br />

Ulrich räkelt sich, zuckt und wackelt nur ein wenig mit der rechten<br />

großen Zehe.<br />

Hey, du dicke Schnarchsocke!“, ruft <strong>Lilotta</strong> und lugt kurz unter<br />

”<br />

der Decke hervor. Wach endlich auf!“<br />

”<br />

Das hat Ulrich gehört. Er öffnet die Augen. Verwundert und<br />

15


halb noch im Schlaf brummt er:<br />

Schnarchsocke...Schnarchsocke?“. Er richtet sich auf, betrachtet<br />

seine Füße. Unsinn, träume ich? Wer redet da?“<br />

”<br />

”<br />

Von der Lampe über ihm tönt Max mit verstellter, tiefer Stimme:<br />

Wieso stinken deine Socken so?“.<br />

”<br />

Nun ist Ulrich wach.<br />

” Dummes Zeug“, entgegnet er. Die stinken doch gar nicht!“<br />

”<br />

Doch!“, tönt ein zartes Stimmlein unter der Decke gleich neben<br />

”<br />

ihm.<br />

Entsetzlich!“, ruft die tiefe Stimme <strong>von</strong> oben.<br />

”<br />

Ulrich wundert sich. Wer spricht da? Woher kommen nur diese<br />

Stimmen? Er kann niemanden sehen!<br />

Er kann auch nicht sehen, wie Max ihm die Socke auszieht.<br />

Er sieht nur eine Socke, wie sie immer länger wird, länger und<br />

länger und noch länger. Und dann rutscht sie ihm plötzlich vom<br />

Fuß. Einfach so! Wandert direkt zu seiner Nase.<br />

Bitte sehr! Eine Duftprobe gefällig!“, sagt Max.<br />

”<br />

Aber Ulrich schaut ängstlich zu der Socke.<br />

Nein! Um Himmels willen!“, schreit er entsetzt.<br />

”<br />

Max lässt die Socke auf die Bettdecke plumpsen.<br />

” Hilfe!“, ruft Ulrich. Geh weg!“, ruft er der Socke zu und<br />

”<br />

schüttelt die Decke, bis sie auf den Boden fällt.<br />

Schnarchsocke!“, piepst das Stimmlein unter der Decke.<br />

”<br />

Warum gehst du eigentlich mit deinen Stinkesocken ins Bett?“,<br />

”<br />

fragt die tiefe Stimme <strong>von</strong> oben.<br />

Das ist zuviel für Ulrich. Er muss seine Frau wecken.<br />

Henriette, wie gut das du hier bei mir schläfst!“, sagt er und<br />

”<br />

rüttelt an der Decke neben ihm. Henriette, hörst du, wach auf!“<br />

”<br />

Er rüttelt noch Mal. Aber nichts geschieht.<br />

16


Henriette, wach auf! Meine Socke, die spricht und fliegt!“<br />

”<br />

Aber niemand antwortet.<br />

Willst du denn nicht aufwachen, die Socke, die...die zieht sich<br />

”<br />

aus, ganz <strong>von</strong> allein, und dummes Zeug spricht sie!“<br />

Er klopft auf die Decke, aber keine Henriette rührt sich. Dann<br />

schließlich zieht er die Decke weg. Nur, was sieht er da? Er ist<br />

entsetzt.<br />

Wieso bist du so gelb, Henriette?“, ruft er und springt auf.<br />

”<br />

Du siehst ja scheußlich aus!“<br />

”<br />

” Ich möchte aber bitten!“, entgegnet <strong>Lilotta</strong>. Wieso sehe ich<br />

”<br />

scheußlich aus?“<br />

Na ja, so anders halt, wahrscheinlich träume ich noch!“ Ulrich<br />

”<br />

reibt sich die Augen.<br />

Es ist auch so dunkel hier!“, überlegt er und tastet mit der<br />

”<br />

Hand nach dem Schalter der Nachttischlampe. Aber die Lampe<br />

funktioniert nicht. Es bleibt dunkel.<br />

Er beugt sich vor, um seine Frau besser sehen zu können.<br />

Wieso bist du so aufgeplustert und vor allem so gelb!“, will<br />

”<br />

Ulrich wissen. Dabei schaut er ganz angewidert.<br />

Hat dich was gestochen, oder warum bist du so geschwollen?“,<br />

”<br />

fragt er.<br />

Aber <strong>Lilotta</strong> antwortet nicht. Sie findet Ulrich überhaupt nicht<br />

sympathisch.<br />

So ein aufgeblasener Pinsel, denkt sie. Ob der wohl glaubt, dass<br />

er selbst schöner ist. Sie jedenfalls findet ihn nicht schöner mit<br />

seinem dicken Kullerbauch und der einen Socke am Fuß. Er<br />

sieht aus wie ein Hampelmann, findet <strong>Lilotta</strong> und sie hat keine<br />

Lust, sich mit ihm weiter zu unterhalten.<br />

Mit samt Perücke und Schürze steht sie auf und bewegt sich zur<br />

Tür. Ihr Gang sieht ein wenig holprig aus, eben wie bei einem<br />

17


Gespenst, dass nicht gewohnt ist zu laufen.<br />

Ulrich ruft ihr hinterher:<br />

Was hinkelst du denn so, Henriette? Gleich fällst du noch hin<br />

”<br />

und brichst dir alle Knochen!“<br />

So Unrecht hat er damit nicht. Fast wäre sie wirklich gefallen<br />

und sie ist sehr erleichtert, als sie die Zimmertür hinter sich<br />

geschlossen hat. Nun braucht sie nicht mehr laufen und nicht<br />

mehr Henriette spielen. Für heute nacht reicht es ihr. Geschwind<br />

fliegt sie durch den langen schmalen Flur hinüber zu Henriette<br />

und Anton. Max folgt ihr lautlos.<br />

Hinter dem Samtvorhang liegen die beiden Schlafenden. Still<br />

ist es. Man hört nur das leise Pfeifen und Zischen <strong>von</strong> Henriette<br />

und dazwischen hin und wieder ein Schmatzen <strong>von</strong> Anton, der<br />

immer noch an seinem winzig kleinen Daumen nuckelt. <strong>Lilotta</strong><br />

wäre gern noch ein wenig bei Anton geblieben, aber im Flur<br />

hört sie schon Ulrichs Schritte und weiß, sie muss sich beeilen.<br />

Schnell reißt sie sich die Perücke vom Kopf und bindet die<br />

Schürze ab. Max ist schon draußen und wartet vor dem Fenster<br />

auf sie. Der Büstenhalter klemmt und <strong>Lilotta</strong> hört schon<br />

die Türklinke, als sie ihn endlich aus hat und aus den Fenster<br />

stürzt. Ob er sie noch gesehen hat, überlegt sie. Doch da hört<br />

sie ihn schon sprechen.<br />

Ach, Henriette!“, sagt er und beugt sich über die wahre Henriette.<br />

”<br />

Bin ich froh, dich so zu sehen! Wie ich dich liebe!“<br />

”<br />

Er küsst sie auf die Stirn.<br />

Du siehst so wunderhübsch aus!“<br />

”<br />

Henriette gähnt und öffnet die Augen.<br />

Ist was passiert?“, will sie wissen.<br />

”<br />

Nein, nein!“, antwortet Ulrich.<br />

”<br />

18


Aber warum kommst du mitten in der Nacht zu mir. Plötzlich<br />

fällt dir ein, wie hübsch ich aussehe? Da stimmt doch was<br />

”<br />

nicht!“<br />

Ach, Henriette, es war so fürchterlich! Ich hatte einen Albtraum,<br />

weißt du? Da warst du ganz aufgeplustert und gelb. Du<br />

”<br />

sahst schrecklich furchterregend aus, wie ein Gespenst! Ich meine,<br />

wenn es welche gebe, Gespenster, dann würden sie wohl so<br />

aussehen!“<br />

Bist du sicher, dass es ein Traum war?“, überlegt Henriette.<br />

”<br />

Wer weiß, vielleicht war es ja wirklich eins?“<br />

”<br />

Ulrich schüttelt energisch den Kopf.<br />

Unsinn! So etwas gibt es nicht! Das kann nur ein Traum gewesen<br />

sein.“<br />

”<br />

Wie auch immer, Traum oder Gespenst. Ich danke ihm jedenfalls!“<br />

”<br />

Wieso danken?“, will Ulrich wissen.<br />

”<br />

Na, weil dir auf diese Weise wieder eingefallen ist, dass du mich<br />

”<br />

liebst!“<br />

Max und <strong>Lilotta</strong> haben alles gehört. Sie haben versteckt draußen<br />

am Fenster gewartet und gelauscht. Zufrieden schaut Max<br />

zu seiner Schwerster:<br />

Hörst du, sie dankt dir?“<br />

”<br />

<strong>Lilotta</strong> nickt nur.<br />

Glaubst du nicht? Die freuen sich jetzt! Wir haben etwas Gutes<br />

gemacht.“<br />

”<br />

<strong>Lilotta</strong> nickt wieder. Aber sie spricht kein Wort. Auf dem ganzen<br />

Heimflug spricht sie nicht. Max dagegen redet ununterbrochen.<br />

Er ist so begeistert <strong>von</strong> dieser Spuknacht, dass er einen Salto<br />

19


nach dem anderen dreht. Zwischendurch schüttelt er sich vor<br />

Lachen und kann fast nicht weiterfliegen.<br />

Wir sind doch gute Gespenster, oder?“<br />

”<br />

<strong>Lilotta</strong> nickt wieder und Max redet weiter:<br />

Phänomenal gut, findest du nicht?“<br />

”<br />

Wieder nickt sie und Max dreht vor Freude eine Rolle rückwärts.<br />

Wie dich Ulrich angeschaut hat!“<br />

”<br />

Er reibt sich die Hände.<br />

Als wärst du das hässlichste Wesen, was er jemals gesehen<br />

”<br />

hat!“<br />

Danke!“, sagt <strong>Lilotta</strong> knapp.<br />

”<br />

Jetzt spürt sie es. Sie ist immer noch gekränkt. So hässlich,<br />

fürchterlich wollte sie nun auch nicht aussehen. Aber sie hat<br />

keine Lust mit Max darüber zu sprechen. Er würde das so und<br />

so nicht verstehen.<br />

So fliegt sie wortlos geradeaus, schnurstracks auf den dicken alten<br />

Turm zu, in dem sie wohnen. Nach Hause will sie, so schnell<br />

es geht. Alles andere ist ihr jetzt egal. Sie sieht nicht auf die<br />

leeren Straßen unter ihr. Sie merkt nicht, dass sie über viele<br />

Dächer hinweg fliegt. Sie denkt nicht an all die Menschen, die<br />

unter diesen Dächern schlafen. Auch den Uhu hört sie nicht, der<br />

bei der großen Eiche wohnt und ihr zuruft. Vor lauter Missmut<br />

hört und sieht sie überhaupt nichts, bis Tiger sie durch ein lautes<br />

Maunzen begrüßt.<br />

Er klettert auf einem Telegraphenmast und dann macht er etwas<br />

ganz Unmögliches. Er turnt tatsächlich auf einer Leitung<br />

herum, hoch oben in schwindelerregender Höhe.<br />

” Tiger!“, ruft <strong>Lilotta</strong> besorgt. Das ist viel zu gefährlich!“<br />

”<br />

Aber Tiger scheint nicht zu hören. Jetzt spaziert er Schritt für<br />

Schritt auf der viel zu schmalen und viel zu wackligen Leitung.<br />

20


<strong>Lilotta</strong> hält die Luft an.<br />

Pass auf, dass du nicht herunterfällst!“, schreit sie ihm zu, aber<br />

”<br />

er dreht sich nicht einmal um.<br />

Da fliegt sie um ihn herum und landet neben ihm.<br />

Bist du böse, weil du so lange hast warten müssen?“<br />


Warum soll Miezekätzchen dir böse sein?“, fragt<br />

”<br />

Max und grinst.<br />

Sag nie wieder Miezekätzchen!“, schimpft <strong>Lilotta</strong>.<br />

”<br />

Sonst erlebst du was!“<br />

”<br />

Miezekätzchen!“, ärgert Max, fliegt um den Mast<br />

”<br />

und weg.<br />

<strong>Lilotta</strong> fliegt hinterher. Sie stürzt sich auf den Bruder<br />

und krallt sich fest.<br />

” Au!“, ruft Max. Bist du verrückt? Du tust mir<br />

”<br />

weh!“<br />

Er besieht seinen Arm. Eine dicke Schramme ist zu<br />

sehen.<br />

Eigentlich bist du der Tiger!“, schimpft er und dreht<br />

”<br />

sich weg. Er fliegt nach Hause zum alten Turm.<br />

” Warte“, ruft <strong>Lilotta</strong>. Das habe ich nicht gewollt!“<br />

”<br />

Aber Max dreht sich nicht mehr um.<br />

<strong>Lilotta</strong> setzt sich zu Tiger. Eigentlich, im Geheimen<br />

weiß sie, das Max nicht ganz Unrecht hat. In<br />

Wirklichkeit ist Tiger kein Tiger, sondern ein ganz<br />

normaler schwarzer Kater. Nicht mal gestreift ist er.<br />

Aber <strong>Lilotta</strong> ist das egal. Sie weiß, dass Tiger ein<br />

echter Tiger ist und da spielt es doch gar keine Rolle,


ob er Streifen hat oder nicht.<br />

Du bist eben ein schwarzer Tiger und ich ein gelbes Gespenst,<br />

”<br />

da passen wir doch phänomenal gut zusammen!“, sagt <strong>Lilotta</strong>.<br />

In gewisser Weise ist das tatsächlich phänomenal, so ein schwarzer<br />

Tiger und ein gelbes Gespenst. Wahrscheinlich sind <strong>Lilotta</strong><br />

und Tiger deshalb auch so unzertrennlich. <strong>Lilotta</strong> kann Tiger alles<br />

erzählen. Eigentlich braucht sie gar nicht sprechen, sie schaut<br />

ihm nur in seine Augen und er versteht sofort.<br />

Von Anfang an war das so. Damals, als <strong>Lilotta</strong> ihn auf der Strasse<br />

gefunden hatte. Auch damals hatte er gleich alles verstanden.<br />

Obwohl er noch ein Baby gewesen war. Er war ganz verhungert<br />

und hatte Bisswunden am Kopf. Mama hatte Tiger einen Verband<br />

um den Kopf gewickelt und <strong>Lilotta</strong> hatte ihm warme Milch<br />

gegeben. Tiger war so schwach, dass er kaum sein Köpfchen heben<br />

konnte. <strong>Lilotta</strong> hatte stundenlang neben seinem Körbchen<br />

gesessen, ihn gestreichelt und ihm gut zugeredet:<br />

” Du bist ein Tiger“, hatte sie gesagt. Du bist ein Tiger und du<br />

”<br />

schaffst es.“<br />

Keiner hatte es damals glauben können. Alle haben sie gedacht,<br />

Tiger müsste sterben.<br />

Papa hatte im Scherz gesagt:<br />

Wenn dieser zerbrechliche, kranke, kleine Kater es schaffen sollte,<br />

dann will ich in Gottes Namen glauben, dass es ein Tiger<br />

”<br />

sei.“<br />

Ja, und dann musste Papa es tatsächlich glauben. <strong>Lilotta</strong> durfte<br />

Tiger behalten und ihn Tiger nennen.<br />

So war das damals. Inzwischen ist Tiger groß geworden und<br />

beschützt <strong>Lilotta</strong> wie eben ein echter Tiger, denn nur ein echter<br />

Tiger kann ein echtes Gespenst beschützen, das ist doch klar!<br />

Wenn es geht, begleitet Tiger <strong>Lilotta</strong> auch überallhin.<br />

23


Nur zum Spuken darf er nicht mit. Max will das nicht. Und so<br />

wartet Tiger dann immer sehnsüchtig auf seine <strong>Lilotta</strong>.<br />

Heute scheint er sie besonders vermisst zu haben. Er maunzt<br />

zur Begrüßung und dann schnurrt er und streift seinen Kopf<br />

immer wieder an <strong>Lilotta</strong>s Gewand. Auch <strong>Lilotta</strong> freut sich. Sie<br />

streichelt ihn und erzählt ihm alles <strong>von</strong> dieser Spuknacht, <strong>von</strong><br />

Henriette, Anton und den Haaren, <strong>von</strong> der Propellerlampe und<br />

den Stinkesocken und ganz zuletzt erzählt sie auch noch <strong>von</strong><br />

Ulrich und seiner Beleidigung. Aber als Tiger sieht, dass <strong>Lilotta</strong><br />

plötzlich traurig wird, nimmt er seine Tatze und berührt sie<br />

sanft. Da ist sie wieder froh und mag sich selbst, egal ob sie<br />

gelb ist und leuchtet, egal, ob Menschen wie Ulrich sie häßlich<br />

finden. Auf dem Heimflug klettert Tiger auf ihre Schulter. Er<br />

krallt sich fest. <strong>Lilotta</strong> strahlt. Es ist so schön, mit Tiger auf<br />

dem Rücken durch die Nacht zu fliegen, denkt sie.<br />

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