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Sherlock Holmes – Eine Studie in Scharlachrot: Vollständige & Illustrierte Fassung (HD)

Die erste Sherlock-Holmes-Geschichte erstmals ungekürzt und illustriert (24 Zeichnungen) als digitale Ausgabe.

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Arthur Conan Doyle<br />

<strong>E<strong>in</strong>e</strong> <strong>Studie</strong> <strong>in</strong> <strong>Scharlachrot</strong>


Arthur Conan Doyle<br />

<strong>E<strong>in</strong>e</strong> <strong>Studie</strong> <strong>in</strong> <strong>Scharlachrot</strong><br />

<strong>–</strong> <strong>Vollständige</strong> & <strong>Illustrierte</strong> <strong>Fassung</strong> <strong>–</strong><br />

(A Study <strong>in</strong> Scarlet)<br />

Orig<strong>in</strong>al: Stuttgart, Verlag R. Lutz, ca. 1894<br />

Übersetzung: Margarete Jacobi, Illustrationen: Richard Gutschmidt<br />

Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag<br />

Published by Null Papier Verlag, Deutschland<br />

Copyright © 2012, 2013, 2014 by Null Papier Verlag<br />

5. Auflage, ISBN 978-3-95418-150-6<br />

Umfang: 157 Normseiten bzw. 201 Buchseiten<br />

www.null-papier.de/holmes


Inhaltsverzeichnis<br />

VORWORT...................................................................................6<br />

ARTHUR CONAN DOYLE & SHERLOCK HOLMES........................7<br />

AUS WATSONS ERINNERUNGEN................................................13<br />

Erstes Kapitel <strong>–</strong> <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>.........................................14<br />

Zweites Kapitel <strong>–</strong> Die Kunst der Schlußfolgerung...............27<br />

Drittes Kapitel <strong>–</strong> Brixton Street Nummer drei......................42<br />

Viertes Kapitel <strong>–</strong> Was uns John Rance erzählte....................59<br />

Fünftes Kapitel <strong>–</strong> Wir bekommen Besuch............................71<br />

Sechstes Kapitel <strong>–</strong> Tobias Gregson tut große Taten..............82<br />

Siebentes Kapitel <strong>–</strong> Es kommt Licht <strong>in</strong> das Dunkel..............97<br />

IM LANDE DER HEILIGEN.......................................................111<br />

Achtes Kapitel <strong>–</strong> Auf der großen Alkali Ebene...................112<br />

Neuntes Kapitel <strong>–</strong> Die Blume von Utah..............................127<br />

Zehntes Kapitel <strong>–</strong> John Ferrier spricht mit dem Propheten.139<br />

Elftes Kapitel <strong>–</strong> <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Flucht auf Leben und Tod.................148<br />

Zwölftes Kapitel <strong>–</strong> Die Racheengel....................................163<br />

FORTSETZUNG VON DR. WATSONS ERINNERUNGEN...............176<br />

DIE AUFLÖSUNG.....................................................................193<br />

5


DAS WEITERE VERLAGSPROGRAMM.......................................202<br />

6


Vorwort<br />

Dieses Buch basiert auf der Erstübersetzung von Margarete Jacobi<br />

aus dem Jahre 1894.<br />

Ich habe bewusst darauf verzichtet, es <strong>in</strong> die neue Deutsche<br />

Rechtschreibung (von 2006) zu übertragen. E<strong>in</strong> »Telegraphenamt«<br />

wird nicht zum »Telegrafenamt«, die »Phantasie« wird<br />

nicht zur »Fantasie« und das »daß« nicht zum »dass«.<br />

7


Der Text wurde nicht geändert, aber an mehreren Stellen behutsam<br />

angepasst. Ich habe versucht, bei wirklich nicht mehr gebräuchlichen<br />

Wörtern Ersatz zu f<strong>in</strong>den. War das nicht möglich,<br />

musste e<strong>in</strong>e erklärende Fußnote herhalten.<br />

Nur so macht me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach die Veröffentlichung dieser<br />

berühmten Geschichte S<strong>in</strong>n. Alles andere wäre e<strong>in</strong> Sakrileg.<br />

Ich verspreche ihnen, Sie werden bestens unterhalten werden.<br />

Jürgen Schulze, Juni 2012<br />

8


Arthur Conan Doyle & <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong><br />

Womöglich wäre die Literatur heute um e<strong>in</strong>e ihrer schillerndsten<br />

Detektivgestalten ärmer, würde der am 22. Mai 1859 <strong>in</strong><br />

Ed<strong>in</strong>burgh geborene Arthur Ignatius Conan Doyle nicht ausgerechnet<br />

an der mediz<strong>in</strong>ischen Fakultät der Universität se<strong>in</strong>er<br />

Heimatstadt studieren. Hier nämlich lehrt der später als Vorreiter<br />

der Forensik geltende Chirurg Joseph Bell. Die Methodik<br />

des Dozenten, se<strong>in</strong>e Züge und se<strong>in</strong>e hagere Gestalt wird der angehende<br />

Autor für den dere<strong>in</strong>st berühmtesten Detektiv der Krim<strong>in</strong>alliteratur<br />

übernehmen.<br />

Geburt und Tod des <strong>Holmes</strong><br />

Der erste Roman des seit 1883 <strong>in</strong> Southsea praktizierenden<br />

Arztes teilt das Schicksal zahlloser Erstl<strong>in</strong>ge <strong>–</strong> er bleibt unvollendet<br />

<strong>in</strong> der Schublade. Erst 1887 betritt <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> die<br />

Bühne, als »<strong>E<strong>in</strong>e</strong> <strong>Studie</strong> <strong>in</strong> <strong>Scharlachrot</strong>« ersche<strong>in</strong>t. Nachdem<br />

Conan Doyle im Magaz<strong>in</strong> The Strand se<strong>in</strong>e <strong>Holmes</strong>-Episoden<br />

veröffentlichen darf, ist er als erfolgreicher Autor zu bezeichnen.<br />

The Strand eröffnet die Reihe mit »E<strong>in</strong> Skandal <strong>in</strong> Böhmen«.<br />

Im Jahr 1890 zieht der Schriftsteller nach London, wo er<br />

e<strong>in</strong> Jahr darauf, dank se<strong>in</strong>es literarischen Schaffens, bereits se<strong>in</strong>e<br />

Familie ernähren kann; seit 1885 ist er mit Louise Hawk<strong>in</strong>s<br />

verheiratet, die ihm e<strong>in</strong>en Sohn und e<strong>in</strong>e Tochter schenkt.<br />

G<strong>in</strong>ge es ausschließlich nach den Lesern, wäre dem kühlen<br />

Detektiv und se<strong>in</strong>em schnauzbärtigen Mitbewohner ewiges Leben<br />

beschieden. Die Abenteuer der beiden Freunde nehmen<br />

freilich, wie ihr Schöpfer me<strong>in</strong>t, zu viel Zeit <strong>in</strong> Anspruch; der<br />

Autor möchte historische Romane verfassen. Deshalb stürzt er<br />

1893 <strong>in</strong> »Das letzte Problem« sowohl den Detektiv als auch<br />

9


dessen Widersacher Moriarty <strong>in</strong> die Reichenbachfälle. Die Proteste<br />

der enttäuschten Leserschaft fruchten nicht <strong>–</strong> <strong>Holmes</strong> ist<br />

tot.<br />

Die Wiederauferstehung des <strong>Holmes</strong><br />

Obwohl sich der Schriftsteller mittlerweile der Vergangenheit<br />

und dem Mystizismus widmet, bleibt se<strong>in</strong> Interesse an Politik<br />

und realen Herausforderungen doch ungebrochen. Den Zweiten<br />

Burenkrieg erlebt Conan Doyle seit 1896 an der Front <strong>in</strong> Südafrika.<br />

Aus se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>drücken und politischen Ansichten resultieren<br />

zwei nach 1900 publizierte propagandistische Werke,<br />

wofür ihn Queen Victoria zum Ritter schlägt.<br />

Eben zu jener Zeit weilt Sir Arthur zur Erholung <strong>in</strong> Norfolk,<br />

was <strong>Holmes</strong> zu neuen Ehren verhelfen wird. Der Literat hört<br />

dort von e<strong>in</strong>em Geisterhund, der <strong>in</strong> Dartmoor e<strong>in</strong>e Familie verfolgen<br />

soll. Um das Mysterium aufzuklären, reanimiert Conan<br />

Doyle se<strong>in</strong>en exzentrischen Analytiker: 1903 ersche<strong>in</strong>t »Der<br />

Hund der Baskervilles«. Zeitlich noch vor dem Tod des Detektivs<br />

<strong>in</strong> der Schweiz angesiedelt, erfährt das Buch enormen Zuspruch,<br />

weshalb der Autor das Genie 1905 <strong>in</strong> »Das leere Haus«<br />

endgültig wiederbelebt.<br />

Das unwiderrufliche Ende des <strong>Holmes</strong><br />

Nach dem Tod se<strong>in</strong>er ersten Frau im Jahr 1906 und der Heirat<br />

mit der, wie Conan Doyle glaubt, medial begabten Jean Leckie<br />

befasst sich der Privatmann mit Spiritismus. Se<strong>in</strong> literarisches<br />

Schaffen konzentriert sich zunehmend auf Zukunftsromane, deren<br />

bekanntester Protagonist der Exzentriker Professor Challenger<br />

ist. Als populärster Challenger-Roman gilt die 1912 veröffentlichte<br />

und bereits 1925 verfilmte Geschichte »Die verges-<br />

10


sene Welt«, die Conan Doyle zu e<strong>in</strong>em Witz verhilft: Der<br />

durchaus schlitzohrige Schriftsteller zeigt im kle<strong>in</strong>en Kreis e<strong>in</strong>er<br />

Spiritistensitzung Filmaufnahmen verme<strong>in</strong>tlich lebender<br />

Saurier, ohne zu erwähnen, dass es sich um Material der ersten<br />

Romanverfilmung handelt.<br />

Die späte Freundschaft des Literaten mit Houd<strong>in</strong>i zerbricht<br />

am Spiritismus-Streit, denn der uncharmante Zauberkünstler<br />

entlarvt zahlreiche Betrüger, während der Schriftsteller von der<br />

Existenz des Übernatürlichen überzeugt ist. Conan Doyles Geisterglaube<br />

erhält Auftrieb, als se<strong>in</strong> ältester Sohn K<strong>in</strong>gsley während<br />

des Ersten Weltkriegs an der Front fällt.<br />

Noch bis 1927 bedient der Autor das Publikum mit Kurzgeschichten<br />

um <strong>Holmes</strong> und Watson; zuletzt ersche<strong>in</strong>t »Das Buch<br />

der Fälle«. Als Sir Arthur Conan Doyle am 7. Juli 1930 stirbt,<br />

trauern Familie und Leserschaft gleichermaßen, denn diesmal<br />

ist <strong>Holmes</strong> wirklich tot.<br />

Von der Bedeutung e<strong>in</strong>es Geschöpfes<br />

Oder vielmehr ist <strong>Holmes</strong> e<strong>in</strong> ewiger Wiedergänger, der im Gedächtnis<br />

des Publikums fortlebt. Nicht wenige Leser hielten<br />

und halten den Detektiv für e<strong>in</strong>e existente Person, was nicht<br />

zuletzt Conan Doyles erzählerischem Geschick und dem Realitätsbezug<br />

der Geschichten zu verdanken se<strong>in</strong> dürfte. Tatsächlich<br />

kam man im 20. Jahrhundert dem Bedürfnis nach etwas<br />

Handfestem nach, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong> Haus <strong>in</strong> der Londoner Baker<br />

Street die Nummer 221 b erhielt. Dort bef<strong>in</strong>det sich das <strong>Sherlock</strong>-<strong>Holmes</strong>-Museum.<br />

Conan Doyles zeitgenössischer Schriftstellerkollege Gilbert<br />

Keith Chesterton, geistiger Vater des krim<strong>in</strong>alistischen Pater<br />

11


Brown, brachte das literarische Verdienst se<strong>in</strong>es Landsmanns<br />

auf den Punkt: S<strong>in</strong>ngemäß sagte er, dass es nie bessere Detektivgeschichten<br />

gegeben habe und dass <strong>Holmes</strong> möglicherweise<br />

die e<strong>in</strong>zige volkstümliche Legende der Moderne sei, deren Urheber<br />

man gleichwohl nie genug gedankt habe.<br />

Dass der Detektiv se<strong>in</strong> sonstiges Schaffen dermaßen überlagern<br />

konnte, war Conan Doyle selbst niemals recht. Er hielt<br />

se<strong>in</strong>e historischen, politischen und später se<strong>in</strong>e mystizistischspiritistischen<br />

Arbeiten für wertvoller, während die Kurzgeschichten<br />

dem bloßen Broterwerb dienten. Vermutlich übersah<br />

er bei der Selbste<strong>in</strong>schätzung se<strong>in</strong>er verme<strong>in</strong>tlichen Trivialliteratur<br />

deren enorme Wirkung, die weit über ihren hohen Unterhaltungswert<br />

h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g.<br />

So wie Joseph Bell, Conan Doyles Dozent an der Universität,<br />

durch präzise Beobachtung auf die Erkrankungen se<strong>in</strong>er<br />

Patienten schließen konnte, sollte <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> an Krim<strong>in</strong>alfälle<br />

herangehen, die sowohl se<strong>in</strong>en Klienten als auch der<br />

Polizei unerklärlich schienen. Bells streng wissenschaftliches<br />

Vorgehen stand Pate für Deduktion und forensische Methodik<br />

<strong>in</strong> den vier Romanen und 56 Kurzgeschichten um den hageren<br />

Gentleman-Detektiv. Professor Bell beriet die Polizei bei der<br />

Verbrechensaufklärung, ohne <strong>in</strong> den offiziellen Berichten oder<br />

<strong>in</strong> den Zeitungen erwähnt werden zu wollen. Die Ähnlichkeit<br />

zu <strong>Holmes</strong> ist augenfällig. Wirklich war <strong>in</strong> den Geschichten die<br />

Fiktion der Realität voraus, denn wissenschaftliche Arbeitswei-<br />

12


se, genaue Tatortuntersuchung und analytisch-rationales Vorgehen<br />

waren der Krim<strong>in</strong>alistik jener Tage neu. Man urteilte nach<br />

Augensche<strong>in</strong> und entwarf Theorien, wobei die Beweisführung<br />

nicht ergebnisoffen geführt wurde, sondern lediglich jene<br />

Theorien belegen sollte. Zweifellos hat die Popularität der Erlebnisse<br />

von <strong>Holmes</strong> und Watson den Aufstieg der realen Forensik<br />

<strong>in</strong> der Verbrechensaufklärung unterstützt.<br />

E<strong>in</strong> weiterer <strong>in</strong>teressanter Aspekt der Erzählungen betrifft<br />

Conan Doyles Neigung, se<strong>in</strong>e eigenen Ansichten e<strong>in</strong>zuarbeiten.<br />

Zwar bevorzugte er zu diesem Zweck andere Schaffenszweige,<br />

aber es f<strong>in</strong>den sich gesellschaftliche und moralische Me<strong>in</strong>ungen,<br />

wenn <strong>Holmes</strong> etwa Verbrecher entkommen lässt, weil er<br />

me<strong>in</strong>t, dass e<strong>in</strong>e Tat gerecht gewesen oder jemand bereits durch<br />

se<strong>in</strong> Schicksal genug gestraft sei. Gelegentlich ist dabei festzustellen,<br />

dass er Angehörige niedriger Stände gleichgültiger behandelt<br />

als die Vertreter der »guten Gesellschaft«.<br />

Fiktive Biografien des Detektivs, Bühnenstücke, Verfilmungen<br />

und zahllose Nachahmungen, darunter nicht selten Satiren,<br />

von denen Conan Doyle mit »Wie Watson den Trick lernte«<br />

1923 selbst e<strong>in</strong>e verfasste, künden von der ungebrochenen Beliebtheit<br />

des krim<strong>in</strong>alistischen Duos, ohne das die Weltliteratur<br />

weniger spannend wäre.<br />

13


Aus Watsons Er<strong>in</strong>nerungen<br />

14


I<br />

Erstes Kapitel <strong>–</strong> <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong><br />

m Jahre 1878 hatte ich me<strong>in</strong> Doktorexamen an der Londoner<br />

Universität bestanden und <strong>in</strong> Nelley den für Militärärzte<br />

vorgeschriebenen mediz<strong>in</strong>ischen Kursus durchgemacht.<br />

Bald darauf ward ich dem fünften Füsilierregiment Northumberland<br />

zugeteilt, welches damals <strong>in</strong> Indien stand. Bevor ich jedoch<br />

an den Ort me<strong>in</strong>er Bestimmung gelangte, brach der zweite<br />

afghanische Krieg aus, und bei me<strong>in</strong>er Landung <strong>in</strong> Bombay<br />

erfuhr ich, me<strong>in</strong> Regiment sei bereits durch die Gebirgspässe<br />

marschiert und weit <strong>in</strong> Fe<strong>in</strong>desland vorgedrungen. In Gesellschaft<br />

mehrerer Offiziere, die sich <strong>in</strong> gleicher Lage befanden,<br />

folgte ich me<strong>in</strong>em Korps, erreichte dasselbe glücklich <strong>in</strong> Kandahar<br />

und trat <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e neue Stellung e<strong>in</strong>.<br />

Der Feldzug, <strong>in</strong> welchem andere Ehre und Auszeichnungen<br />

fanden, brachte mir <strong>in</strong>dessen nur Unglück und Mißerfolg.<br />

Gleich <strong>in</strong> der ersten Schlacht zerschmetterte mir e<strong>in</strong>e Kugel das<br />

Schulterblatt und ich wäre sicherlich den grausamen Ghazis 1 <strong>in</strong><br />

die Hände gefallen, hätte mich nicht Murray, me<strong>in</strong> treuer Bursche,<br />

rasch auf e<strong>in</strong> Packpferd geworfen und mit eigener Lebensgefahr<br />

mit sich geführt, bis wir die britische Schlachtl<strong>in</strong>ie<br />

erreichten.<br />

Lange lag ich krank, und erst nachdem ich mit e<strong>in</strong>er großen<br />

Anzahl verwundeter Offiziere <strong>in</strong> das Hospital von Peshawar<br />

geschafft worden war, erholte ich mich allmählich von den ausgestandenen<br />

Leiden; ich war bereits wieder so weit, daß ich <strong>in</strong><br />

1 Ghazis, Ghāzī, manchmal auch Ghasi (arabisch, »wer e<strong>in</strong>en Kriegszug<br />

unternimmt«, Angreifer, Eroberer) ist ursprünglich die Bezeichnung für<br />

e<strong>in</strong>en muslimischen Krieger, der »auf dem Wege Gottes im Dschihad<br />

kämpft«<br />

15


den Krankensälen umhergehen und auf der Veranda frische<br />

Luft schöpfen durfte. Da befiel mich unglücklicherweise e<strong>in</strong><br />

Entzündungsfieber und zwar mit solcher Heftigkeit, daß man<br />

monatelang an me<strong>in</strong>em Wiederaufkommen zweifelte. Als endlich<br />

die Macht der Krankheit gebrochen war und me<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong><br />

zurückkehrte, befand ich mich <strong>in</strong> solchem Zustand der<br />

Kraftlosigkeit, daß die Ärzte beschlossen, mich ohne Zeitverlust<br />

wieder nach England zu schicken. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>n Monat später landete<br />

ich mit dem Truppenschiff ›Orontes‹ <strong>in</strong> Portsmouth; me<strong>in</strong>e<br />

Gesundheit war völlig zerrüttet, doch erlaubte mir e<strong>in</strong>e fürsorgliche<br />

Regierung, während der nächsten neun Monate den Versuch<br />

zu machen, sie wiederherzustellen.<br />

Verwandte besaß ich <strong>in</strong> England nicht; ich beschloß daher,<br />

mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Privathotel e<strong>in</strong>zuquartieren. Me<strong>in</strong> tägliches E<strong>in</strong>kommen<br />

belief sich auf elf und e<strong>in</strong>en halben Schill<strong>in</strong>g und da<br />

ich zuerst nicht sehr haushälterisch damit umg<strong>in</strong>g, machten mir<br />

me<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>anzen bald große Sorge. Ich sah e<strong>in</strong>, daß ich entweder<br />

aufs Land ziehen oder me<strong>in</strong>e Lebensweise <strong>in</strong> der Hauptstadt<br />

völlig ändern müsse.<br />

Da ich letzteres vorzog, sah ich mich genötigt, das Hotel zu<br />

verlassen und mir e<strong>in</strong>e anspruchslosere und weniger kostspielige<br />

Wohnung zu suchen.<br />

Während ich noch hiermit beschäftigt war, begegnete ich<br />

e<strong>in</strong>es Tages auf der Straße e<strong>in</strong>em mir bekannten Gesicht, e<strong>in</strong><br />

höchst erfreulicher Anblick für e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>samen Menschen wie<br />

mich <strong>in</strong> der Riesenstadt London. Ich hatte mit dem jungen<br />

Stamford während me<strong>in</strong>er <strong>Studie</strong>nzeit verkehrt, ohne daß wir<br />

e<strong>in</strong>ander besonders nahe getreten waren, jetzt aber begrüßte ich<br />

ihn mit Entzücken, und auch er schien sich über das Wiedersehen<br />

zu freuen. Bald saßen wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nahen Restauration zu-<br />

17


sammen bei e<strong>in</strong>em Glase We<strong>in</strong> und tauschten unsere Erlebnisse<br />

aus.<br />

»Was <strong>in</strong> aller Welt ist denn mit dir geschehen, Watson?«<br />

fragte Stamford verwundert, »du siehst braun aus wie e<strong>in</strong>e Nuß<br />

und bist so dürr wie e<strong>in</strong>e Bohnenstange.«<br />

Ich gab ihm e<strong>in</strong>en kurzen Abriß me<strong>in</strong>er Abenteuer und er<br />

hörte mir teilnehmend zu.<br />

»Armer Kerl«, sagte er mitleidig, »und was gedenkst du<br />

jetzt zu tun?«<br />

»Ich b<strong>in</strong> auf der Wohnungssuche«, versetzte ich; »es gilt die<br />

Aufgabe zu lösen, mir um billigen Preis e<strong>in</strong> behagliches Quartier<br />

zu verschaffen.«<br />

»Wie sonderbar«, rief Stamford; »du bist der zweite<br />

Mensch, der heute gegen mich diese Äußerung tut.«<br />

»Und wer war der erste?«<br />

»E<strong>in</strong> Bekannter von mir, der <strong>in</strong> dem chemischen Laboratorium<br />

des Hospitals arbeitet. Er klagte mir diesen Morgen se<strong>in</strong><br />

Leid, daß er niemand f<strong>in</strong>den könne, um mit ihm geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong><br />

sehr preiswürdiges, hübsches Quartier zu mieten, das für se<strong>in</strong>en<br />

Beutel alle<strong>in</strong> zu kostspielig sei.«<br />

»Me<strong>in</strong>er Treu«, rief ich, »wenn er Lust hat, die Kosten der<br />

Wohnung zu teilen, so b<strong>in</strong> ich se<strong>in</strong> Mann. Ich würde weit lieber<br />

mit e<strong>in</strong>em Gefährten zusammenziehen, statt ganz alle<strong>in</strong> zu hausen.«<br />

18


Stamford sah mich über se<strong>in</strong> We<strong>in</strong>glas h<strong>in</strong>weg mit bedeutsamen<br />

Blicken an. »Wer weiß, ob du <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> zum<br />

Stubengenossen wählen würdest, wenn du ihn kenntest«, sagte<br />

er.<br />

»Ist denn irgend etwas an ihm auszusetzen?«<br />

»Das will ich nicht behaupten. Er hat <strong>in</strong> mancher H<strong>in</strong>sicht<br />

eigentümliche Anschauungen und schwärmt für die Wissenschaft.<br />

Im übrigen ist er e<strong>in</strong> höchst anständiger Mensch, soviel<br />

ich weiß.«<br />

»E<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>er vermutlich?«<br />

»Ne<strong>in</strong> <strong>–</strong> ich habe ke<strong>in</strong>e Ahnung, was er eigentlich treibt. In<br />

der Anatomie ist er gut bewandert und e<strong>in</strong> vorzüglicher Chemiker.<br />

Aber me<strong>in</strong>es Wissens hat er nie regelrecht Mediz<strong>in</strong> studiert.<br />

Er ist überhaupt ziemlich überspannt und unmethodisch<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en <strong>Studie</strong>n, doch besitzt er auf verschiedenen Gebieten<br />

e<strong>in</strong>e Menge ungewöhnlicher Kenntnisse, um die ihn mancher<br />

Professor beneiden könnte.«<br />

»Hast du ihn nie nach se<strong>in</strong>em Beruf gefragt?«<br />

»Ne<strong>in</strong> <strong>–</strong> er ist ke<strong>in</strong> Mensch, der sich leicht ausfragen läßt;<br />

doch kann er zuweilen sehr mitteilsam se<strong>in</strong>, wenn ihm gerade<br />

danach zu Mute ist.«<br />

»Ich möchte ihn doch kennen lernen«, sagte ich; »e<strong>in</strong><br />

Mensch, der sich mit Vorliebe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e <strong>Studie</strong>n vertieft, wäre<br />

für mich der angenehmste Gefährte. Bei me<strong>in</strong>em schwachen<br />

Gesundheitszustand kann ich weder Lärm noch Aufregung vertragen.<br />

Ich habe beides <strong>in</strong> Afghanistan so reichlich genossen,<br />

19


daß ich für me<strong>in</strong>e Lebenszeit genug daran habe. Bitte, sage mir,<br />

wo ich de<strong>in</strong>en Freund treffen kann.«<br />

»Vermutlich ist er jetzt noch im Laboratorium. Manchmal<br />

läßt er sich dort wochenlang nicht sehen und zu anderen Zeiten<br />

bleibt er wieder von früh bis spät bei der Arbeit. Wenn es dir<br />

recht ist, suchen wir ihn zusammen auf.«<br />

Ich willigte mit Freuden e<strong>in</strong> und wir machten uns sogleich<br />

auf den Weg nach dem Hospital.<br />

»Du darfst mir aber ke<strong>in</strong>e Vorwürfe machen, wenn ihr nicht<br />

mite<strong>in</strong>ander auskommt«, sagte Stamford, als wir <strong>in</strong> die Droschke<br />

stiegen; »ich möchte dir weder zu- noch abraten.«<br />

»Wenn wir nicht zu e<strong>in</strong>ander passen, können wir uns ja<br />

leicht wieder trennen. De<strong>in</strong>e Vorsicht sche<strong>in</strong>t mir fast übertrieben,<br />

es muß noch etwas anderes dah<strong>in</strong>ter stecken. Heraus mit<br />

der Sprache, was hast du gegen den Menschen e<strong>in</strong>zuwenden?«<br />

»Nichts, gar nichts; er ist nur nach me<strong>in</strong>em Geschmack se<strong>in</strong>er<br />

Wissenschaft allzusehr ergeben. <strong>–</strong> Das grenzt schon an Gefühllosigkeit.<br />

Ich halte es nicht für undenkbar, daß er e<strong>in</strong>em guten<br />

Freunde e<strong>in</strong>e Priese des neuesten vegetabilischen Alkaloids<br />

e<strong>in</strong>geben würde <strong>–</strong> nicht etwa aus Bosheit, ne<strong>in</strong>, aus Forschungstrieb<br />

<strong>–</strong> um die Wirkung genau zu beobachten. Ebenso<br />

gern würde er freilich die Probe an sich selber machen, die Gerechtigkeit<br />

muß man ihm widerfahren lassen. Überhaupt ist<br />

Klarheit und Genauigkeit des Wissens se<strong>in</strong>e größte Leidenschaft;<br />

aber zu welchem Zweck er alle se<strong>in</strong>e <strong>Studie</strong>n betreibt,<br />

weiß der liebe Himmel.«<br />

21


Vor dem Hospital angekommen, stiegen wir aus, g<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong><br />

Gäßchen h<strong>in</strong>unter und traten durch e<strong>in</strong>e Tür <strong>in</strong> den Nebenflügel<br />

des weitläufigen Gebäudes. Hier war mir alles wohl bekannt<br />

und ich brauchte ke<strong>in</strong>en Führer mehr. Es g<strong>in</strong>g die kahle Ste<strong>in</strong>treppe<br />

h<strong>in</strong>auf, durch den langen, weißgetünchten Korridor, mit<br />

den Türen auf beiden Seiten, an den sich der niedrige Bogengang<br />

anschloß, welcher nach dem chemischen Laboratorium<br />

führte.<br />

In dem großen Saal, den wir betraten, waren sämtliche Tische<br />

mit Retorten, Reagensgläsern und kle<strong>in</strong>en We<strong>in</strong>geistlampen<br />

besetzt, während r<strong>in</strong>gs an den Wänden und überhaupt, woh<strong>in</strong><br />

man blickte, Flaschen von allen Größen und Formen umherstanden.<br />

Wir dachten zuerst, der Raum sei leer, bis wir an<br />

dem andern Ende e<strong>in</strong>en jungen Mann gewahrten, der, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e<br />

Beobachtungen versunken, über e<strong>in</strong>en Tisch gebeugt dasaß.<br />

Beim Schall unserer Fußtritte blickte er von se<strong>in</strong>em Experiment<br />

aus und sprang mit e<strong>in</strong>em Freudenruf <strong>in</strong> die Höhe. »Victoria,<br />

Victoria«, jubelte er, und kam uns, mit der Retorte <strong>in</strong> der<br />

Hand, entgegen. »Ich habe das Reagens gefunden, das sich mit<br />

Hämoglob<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em Niederschlag verb<strong>in</strong>det und sonst mit<br />

ke<strong>in</strong>em Stoff.«<br />

Er sah so glückstrahlend aus, als hätte er e<strong>in</strong>e Goldm<strong>in</strong>e<br />

entdeckt.<br />

»Me<strong>in</strong> Freund, Doktor Watson <strong>–</strong> Herr <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>«,<br />

sagte Stamford uns e<strong>in</strong>ander vorstellend.<br />

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwiderte<br />

<strong>Holmes</strong> <strong>in</strong> herzlichem Ton und mit kräftigem Händedruck. »Sie<br />

kommen aus Afghanistan, wie ich sehe.«<br />

22


Ich blickte ihn verwundert an. »Wieso wissen Sie denn<br />

das?«<br />

»O, das tut nichts zur Sache«, rief er, sich vergnügt die<br />

Hände reibend; »ich denke jetzt nur an Hämoglob<strong>in</strong>. Sicherlich<br />

werden Sie die Tragweite me<strong>in</strong>er Erf<strong>in</strong>dung begreifen.«<br />

»Es mag wohl als chemisches Experiment sehr <strong>in</strong>teressant<br />

se<strong>in</strong>, aber für die Praxis <strong>–</strong>«<br />

»Gerade <strong>in</strong> der Praxis ist es von größter Wichtigkeit für die<br />

Gerichtschemie, weil es dazu dient, das etwaige Vorhandense<strong>in</strong><br />

von Blutflecken zu beweisen. <strong>–</strong> Bitte, kommen Sie doch e<strong>in</strong>mal<br />

her.« In se<strong>in</strong>em Eifer ergriff er me<strong>in</strong>en Rockärmel und zog<br />

mich nach dem Tische h<strong>in</strong>, an welchem er experimentiert hatte.<br />

»Wir müssen etwas frisches Blut haben«, sagte er und stach<br />

sich mit e<strong>in</strong>er großen Stopfnadel <strong>in</strong> den F<strong>in</strong>ger, worauf er das<br />

herabtropfende Blut <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Saugröhrchen auff<strong>in</strong>g. »Jetzt mische<br />

ich diese kle<strong>in</strong>e Blutmenge mit e<strong>in</strong>em Liter Wasser <strong>–</strong> das<br />

Verhältnis ist etwa wie e<strong>in</strong>s zu e<strong>in</strong>er Million <strong>–</strong> und die Flüssigkeit<br />

sieht ganz aus wie re<strong>in</strong>es Wasser. Trotzdem wird sich, denke<br />

ich, die gewünschte Reaktion herstellen lassen.« Er hatte,<br />

während er sprach, e<strong>in</strong>ige weiße Kristalle <strong>in</strong> das Gefäß geworfen<br />

und goß jetzt noch mehrere Tropfen e<strong>in</strong>er durchsichtigen<br />

Flüssigkeit h<strong>in</strong>zu. Sofort nahm das Wasser e<strong>in</strong>e dunkle Färbung<br />

an und e<strong>in</strong> bräunlicher Niederschlag erschien auf dem Boden<br />

des Glases.<br />

»Sehen Sie«, rief er und klatschte <strong>in</strong> die Hände, wie e<strong>in</strong><br />

K<strong>in</strong>d vor Freude über e<strong>in</strong> neues Spielzeug. »Was sagen Sie<br />

dazu?«<br />

»Es sche<strong>in</strong>t mir e<strong>in</strong> sehr gelungenes Experiment.«<br />

23


»Wundervoll, wundervoll! Die alte Methode, die Probe mit<br />

Guajacum 2 anzustellen, war sehr umständlich und unsicher, die<br />

mikroskopische Untersuchung der Blutkügelchen aber ist wertlos,<br />

sobald die Flecken e<strong>in</strong> paar Stunden alt s<strong>in</strong>d. Me<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung<br />

wird sich dagegen ebenso gut bei altem wie bei frischem<br />

Blut bewähren. Wäre sie schon früher gemacht worden, so hätte<br />

man Hunderte von Verbrechern zur Rechenschaft ziehen<br />

können, die straflos davongekommen s<strong>in</strong>d.«<br />

»Me<strong>in</strong>en Sie wirklich?«<br />

»Ohne Frage. Bei der Krim<strong>in</strong>aljustiz dreht sich ja meist alles<br />

um diesen e<strong>in</strong>en Punkt. Vielleicht Monate, nachdem die<br />

Missetat begangen ist, fällt der Verdacht auf e<strong>in</strong>en Menschen,<br />

man untersucht se<strong>in</strong>e Kleider und f<strong>in</strong>det braune Flecke am<br />

Rock oder <strong>in</strong> der Wäsche. Das können Blutspuren se<strong>in</strong>, aber<br />

auch Rostflecke, Obstflecke oder Schmutzflecke. Mancher<br />

Sachverständige hat sich darüber schon den Kopf zerbrochen<br />

und zwar bloß, weil es an e<strong>in</strong>er zuverlässigen Beweismethode<br />

fehlte. Nun man aber das <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>sche Mittel besitzt,<br />

ist jede Schwierigkeit beseitigt.«<br />

Se<strong>in</strong>e Augen funkelten, während er sprach, er legte die<br />

Hand aufs Herz und machte e<strong>in</strong>e feierliche Verbeugung, als<br />

sähe er sich im Geist e<strong>in</strong>er Beifall klatschenden Menge gegenüber.<br />

»Da kann man Ihnen ja Glück wünschen«, sagte ich, verwundert<br />

über se<strong>in</strong>en Feuereifer.<br />

2 Guajacum: Reagenz zum Nachweis von nicht direkt sichtbarem Blut<br />

24


»Hätte man die Probe schon letztes Jahr anstellen können«,<br />

fuhr er fort, »es wäre dem Mason aus Bradford sicherlich an<br />

den Hals gegangen; auch der berüchtigte Müller, sowie Lefevre<br />

aus Montpellier und Samson aus New-Orleans wären überführt<br />

worden. Ich könnte Ihnen Dutzende von Fällen nennen, bei denen<br />

me<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung den Ausschlag gegeben hätte.«<br />

»Sie sche<strong>in</strong>en ja e<strong>in</strong> wandelnder Verbrecheralmanach zu<br />

se<strong>in</strong>«, me<strong>in</strong>te Stamford lachend; »schreiben Sie doch e<strong>in</strong> Buch<br />

über Krim<strong>in</strong>alstatistik.«<br />

»Das möchte wohl des Lesens wert se<strong>in</strong>«, erwiderte <strong>Holmes</strong>,<br />

der sich eben e<strong>in</strong> Pflaster auf den verwundeten F<strong>in</strong>ger<br />

klebte. »Ich muß sehr vorsichtig se<strong>in</strong>«, fügte er erklärend h<strong>in</strong>zu,<br />

»denn ich mache mir viel mit Giften zu schaffen.« Als er<br />

die Hand <strong>in</strong> die Höhe hielt, sah ich, daß sie an vielen Stellen<br />

bepflastert war und von scharfen Säuren gefärbt.<br />

»Wir kommen <strong>in</strong> Geschäften«, sagte Stamford, und schob<br />

mir e<strong>in</strong>en dreibe<strong>in</strong>igen Schemel zum Sitzen h<strong>in</strong>, während er<br />

ebenfalls Platz nahm. »Me<strong>in</strong> Freund hier sucht e<strong>in</strong>e Wohnung,<br />

und da Sie gern mit jemand zusammenziehen möchten, dachte<br />

ich, es wäre Ihnen vielleicht beiden geholfen.« <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong><br />

g<strong>in</strong>g mit Freuden auf den Vorschlag e<strong>in</strong>. »Ich habe e<strong>in</strong><br />

Auge des Wohlgefallens auf e<strong>in</strong> Quartier <strong>in</strong> der Baker Street<br />

geworfen, das vortrefflich für uns passen würde«, sagte er. »Sie<br />

haben doch nicht etwa e<strong>in</strong>e Abneigung gegen Tabaksdampf?«<br />

»O ne<strong>in</strong>, ich b<strong>in</strong> selbst e<strong>in</strong> starker Raucher.«<br />

»Das trifft sich gut. Ferner habe ich häufig Chemikalien bei<br />

mir herumstehen, die ich zu me<strong>in</strong>en Experimenten brauche.<br />

Würde Sie das belästigen?«<br />

25


»Durchaus nicht.«<br />

»Warten Sie <strong>–</strong> was habe ich sonst noch für Fehler? Manchmal<br />

bekomme ich Anfälle von Schwermut und tue dann tagelang<br />

den Mund nicht auf. Sie müssen mir das nicht übel nehmen.<br />

Kümmern Sie sich nur dann gar nicht um mich, und die<br />

Anwandlung wird bald vorüber se<strong>in</strong>. So <strong>–</strong> nun ist die Reihe an<br />

Ihnen, mir Bekenntnisse zu machen. Wenn zwei Menschen zusammen<br />

leben wollen, ist es gut, wenn sie im voraus wissen,<br />

was sie von e<strong>in</strong>ander zu erwarten haben.«<br />

Ich mußte über diese Generalbeichte lachen. »Ich halte mir<br />

e<strong>in</strong>en jungen Bullenbeißer 3 « gestand ich, »und kann ke<strong>in</strong>en<br />

Lärm vertragen, weil me<strong>in</strong>e Nerven angegriffen s<strong>in</strong>d; auch<br />

schlafe ich oft <strong>in</strong> den Tag h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> und b<strong>in</strong> überhaupt sehr träge.<br />

In gesunden Zeiten fröhne ich noch Lastern anderer Art, aber<br />

für jetzt s<strong>in</strong>d dies die hauptsächlichsten.«<br />

»Würden Sie unter ›Lärm‹ auch das Spielen auf e<strong>in</strong>er Viol<strong>in</strong>e<br />

verstehen?« fragte er besorgt.<br />

»Das kommt auf den Musiker an. Gutes Viol<strong>in</strong>spiel ist e<strong>in</strong><br />

Genuß für Götter <strong>–</strong> aber schlechtes <strong>–</strong>«<br />

3 Bullenbeißer waren kraftvolle, speziell für das »Bullbait<strong>in</strong>g« (Bullenbeißen)<br />

gezüchtete Hunde, deren Aufgabe es war, Bullen niederzur<strong>in</strong>gen. Diese<br />

Form des Tierkampfes genoss im England des 16. bis 18. Jahrhunderts hohe<br />

Popularität und war e<strong>in</strong> beliebter Sport für Menschen aller Klassen, bei dem<br />

große Summen gewettet wurden. Das gesamte Äußere dieser Bulldoggen<br />

(englisch »bulldogs«) war darauf ausgelegt, Bullen bei der Nase zu packen<br />

und zu Boden zu ziehen. [Wikipedia]<br />

26


»Freilich, freilich«, rief er vergnügt. »Nun, ich denke, die<br />

Sache ist abgemacht <strong>–</strong> das heißt, wenn Ihnen das Quartier gefällt.«<br />

»Wann können wir es besichtigen?«<br />

»Holen Sie mich morgen mittag hier ab, dann gehen wir zusammen<br />

h<strong>in</strong> und br<strong>in</strong>gen gleich alles <strong>in</strong>s re<strong>in</strong>e.«<br />

»Sehr wohl, also Punkt zwölf Uhr«, sagte ich, ihm zum Abschied<br />

die Hand schüttelnd.<br />

Wir ließen ihn dort bei se<strong>in</strong>en Chemikalien und g<strong>in</strong>gen nach<br />

me<strong>in</strong>em Hotel zurück. »Erklären Sie mir nur«, wandte ich<br />

mich, plötzlich stehend bleibend, an Stamford, »was ihn auf die<br />

Idee gebracht haben kann, daß ich aus Afghanistan komme?«<br />

Me<strong>in</strong> Gefährte lachte geheimnisvoll. »Schon mancher hat<br />

gern wissen wollen, wie <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> gewisse D<strong>in</strong>ge ausf<strong>in</strong>dig<br />

macht. Er besitzt eben e<strong>in</strong>e besondere Gabe.«<br />

»Aha, es steckt e<strong>in</strong> Rätsel dah<strong>in</strong>ter«, rief ich belustigt; »das<br />

ist ja höchst <strong>in</strong>teressant. Ich b<strong>in</strong> dir sehr verbunden für die neue<br />

Bekanntschaft. Das beste Studium für den Menschen bleibt ja<br />

doch immer der Mensch.«<br />

»<strong>Studie</strong>re ihn nur«, entgegnete Stamford. »Du wirst dabei<br />

manche Nuß zu knacken f<strong>in</strong>den. Ich wette darauf, er kennt dich<br />

bald besser als du ihn.«<br />

An der nächsten Straßenecke verabschiedeten wir uns und<br />

ich schlenderte alle<strong>in</strong> nach Hause.<br />

27


Zweites Kapitel <strong>–</strong> Die Kunst der Schlußfolgerung<br />

Unsere verabredete Besichtigung des Quartiers <strong>in</strong> der<br />

Baker Street Nr. 221b fand am nächsten Tage statt.<br />

Es gefiel mir außerordentlich; das große, luftige<br />

Wohnzimmer, welches sich an zwei behagliche Schlafstuben<br />

anschloß, war freundlich möbliert und sehr hell, da es se<strong>in</strong><br />

Licht durch zwei große Fenster erhielt. Unter uns beide geteilt,<br />

erschien auch der Preis der Wohnung so ger<strong>in</strong>g, daß wir sie auf<br />

der Stelle mieteten und sogleich e<strong>in</strong>zuziehen beschlossen.<br />

Noch am selben Abend ließ ich me<strong>in</strong>e Besitztümer vom Hotel<br />

h<strong>in</strong>überschaffen und <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> folgte bald darauf mit<br />

verschiedenen Koffern und Reisetaschen. In den ersten Tagen<br />

waren wir eifrig beschäftigt, auszupacken und unsere Sachen<br />

auf das vorteilhafteste unterzubr<strong>in</strong>gen. Als dann die E<strong>in</strong>richtung<br />

fertig war, begannen wir uns <strong>in</strong> Ruhe an unsere neue Umgebung<br />

zu gewöhnen.<br />

<strong>Holmes</strong> war e<strong>in</strong> Mensch, mit dem sich leicht leben ließ, von<br />

stillem Wesen und regelmäßig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Gewohnheiten. Selten<br />

blieb er abends nach zehn Uhr auf, und wenn ich morgens zum<br />

Vorsche<strong>in</strong> kam, hatte er immer schon gefrühstückt und war<br />

ausgegangen. Den Tag über war er meist im chemischen Laboratorium<br />

oder im Seziersaal, zuweilen machte er auch weite<br />

Ausflüge, welche ihn bis <strong>in</strong> die verrufensten Gegenden der<br />

Stadt zu führen schienen. Se<strong>in</strong>e Tatkraft war unverwüstlich, so<br />

lange die Arbeitswut bei ihm dauerte; von Zeit zu Zeit trat jedoch<br />

e<strong>in</strong> Rückschlag e<strong>in</strong>, dann lag er den ganzen Tag im Wohnzimmer<br />

auf dem Sofa, fast ohne e<strong>in</strong> Glied zu rühren oder e<strong>in</strong><br />

Wort zu reden. Dabei nahmen se<strong>in</strong>e Augen e<strong>in</strong>en so traumhaften,<br />

verschwommenen Ausdruck an, daß sicher der Verdacht <strong>in</strong><br />

mir aufgestiegen wäre, er müsse irgend e<strong>in</strong> Betäubungsmittel<br />

28


gebrauchen, hätte nicht se<strong>in</strong>e Mäßigkeit und Nüchternheit im<br />

gewöhnlichen Leben diese Annahme völlig ausgeschlossen.<br />

Nach den ersten Wochen unseres Beisammense<strong>in</strong>s war<br />

me<strong>in</strong> Interesse für ihn und der Wunsch zu ergründen, welche<br />

Zwecke er eigentlich verfolgte, <strong>in</strong> hohem Maße gestiegen.<br />

Schon se<strong>in</strong>e äußere Ersche<strong>in</strong>ung fiel ungeme<strong>in</strong> auf. Er war über<br />

sechs Fuß groß und sehr hager; se<strong>in</strong> scharfkantig vorstehendes<br />

K<strong>in</strong>n drückte Festigkeit des Charakters aus, der Blick se<strong>in</strong>er<br />

Augen war lebhaft und durchdr<strong>in</strong>gend, außer <strong>in</strong> den schon erwähnten<br />

Zeiten völliger Erschlaffung, und e<strong>in</strong>e spitze Habichtsnase<br />

gab se<strong>in</strong>em Gesicht etwas Aufgewecktes und Entschlossenes.<br />

Die Hände schonte er nicht, sie trugen fortwährend<br />

Spuren von T<strong>in</strong>ten und Chemikalien, auch hatte ich oft<br />

Gelegenheit, se<strong>in</strong>e große Geschicklichkeit bei allen Handgriffen<br />

zu bewundern, wenn er mit se<strong>in</strong>en fe<strong>in</strong>en physikalischen<br />

Instrumenten experimentierte.<br />

Ke<strong>in</strong> Wunder, daß me<strong>in</strong>e Neugier <strong>in</strong> hohem Grade rege war<br />

und ich immer wieder versuchte, die strenge Zurückhaltung zu<br />

durchbrechen, die er <strong>in</strong> allem beobachtete, was ihn selbst betraf.<br />

Das Geheimnis, welches me<strong>in</strong>en Gefährten umgab, beschäftigte<br />

mich um so mehr, als me<strong>in</strong> eigenes Leben damals<br />

völlig zweck- und ziellos war und wenige Zerstreuungen bot.<br />

Me<strong>in</strong> Gesundheitszustand erlaubte mir nur bei besonders günstiger<br />

Witterung auszugehen, und Freunde, die mich hätten besuchen<br />

können, um etwas Abwechslung <strong>in</strong> me<strong>in</strong> e<strong>in</strong>förmiges<br />

Dase<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen, besaß ich nicht.<br />

Daß <strong>Holmes</strong> nicht Mediz<strong>in</strong> studiere, wußte ich aus se<strong>in</strong>em<br />

eigenen Munde. Auch schien er ke<strong>in</strong>en bestimmten Kursus <strong>in</strong><br />

irgend e<strong>in</strong>er andern Wissenschaft durchgemacht zu haben, der<br />

ihm auf herkömmliche Weise die E<strong>in</strong>gangspforte <strong>in</strong> die Gelehr-<br />

29


tenwelt geöffnet hätte. Trotzdem verfolgte er gewisse <strong>Studie</strong>n<br />

mit wahrem Feuereifer und besaß <strong>in</strong>nerhalb ihrer Grenzen e<strong>in</strong><br />

so ausgedehntes und umfassendes Wissen, daß er mich oft<br />

höchlich dadurch überraschte. <strong>–</strong> War es denkbar, daß e<strong>in</strong><br />

Mensch so angestrengt arbeitete, sich so genau zu unterrichten<br />

suchte, ohne e<strong>in</strong>en bestimmten Zweck vor Augen zu haben? <strong>–</strong><br />

E<strong>in</strong> planloses Studium ist meist auch oberflächlich, und wer<br />

sich den Kopf mit hunderterlei E<strong>in</strong>zelheiten anfüllt, tut dies<br />

schwerlich ohne e<strong>in</strong>en triftigen Grund.<br />

Merkwürdigerweise war se<strong>in</strong>e Unwissenheit auf manchen<br />

Gebieten ebenso erstaunlich, als se<strong>in</strong>e Kenntnisse <strong>in</strong> anderen<br />

Fächern. Von Astronomie und Philosophie z.B. wußte er so viel<br />

wie gar nichts. Mußte es mir schon auffallen, als er sagte, er<br />

habe noch nie etwas von Thomas Carlyle 4 gelesen, so erreichte<br />

me<strong>in</strong>e Verwunderung doch den Gipfelpunkt, als sich zufällig<br />

herausstellte, daß er sich über unser Sonnensystem ganz<br />

falsche Vorstellungen machte. Wie <strong>in</strong> unserem neunzehnten<br />

Jahrhundert irgend e<strong>in</strong> zivilisiertes menschliches Wesen darüber<br />

im unklaren se<strong>in</strong> kann, daß die Erde sich um die Sonne<br />

dreht, war mir völlig unbegreiflich.<br />

»Setzt Sie das <strong>in</strong> Erstaunen?« fragte er lächelnd. »Nun Sie<br />

es mir gesagt haben, werde ich suchen, es so schnell wie möglich<br />

wieder zu vergessen.«<br />

»Es zu vergessen?!«<br />

4 Thomas Carlyle (1795 <strong>–</strong> Februar 1881 <strong>in</strong> London) war e<strong>in</strong> schottischer<br />

Essayist und Historiker, der im viktorianischen Großbritannien sehr e<strong>in</strong>flussreich<br />

war. Thomas Carlyle vertrat e<strong>in</strong>en sozialen Idealismus und bekämpfte<br />

Materialismus. Damit war er e<strong>in</strong>er der Ideengeber für verschiedene<br />

soziale Bewegungen. [Wikipedia]<br />

30


»Ja. <strong>–</strong> Sehen Sie, me<strong>in</strong>er Ansicht nach gleicht e<strong>in</strong> Menschenhirn<br />

ursprünglich e<strong>in</strong>er leeren Dachkammer, die man<br />

nach eigener Wahl mit Möbeln und Geräten ausstatten kann.<br />

Nur e<strong>in</strong> Tor füllt sie mit allerlei Gerümpel an, wie es ihm gerade<br />

<strong>in</strong> den Weg kommt und versperrt sich damit den Raum, welchen<br />

er für die D<strong>in</strong>ge braucht, die ihm nützlich s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> Verständiger<br />

gibt wohl acht, was er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Hirnkammer e<strong>in</strong>schachtelt.<br />

Er beschränkt sich auf die Werkzeuge, deren er bei<br />

der Arbeit bedarf, aber von diesen schafft er sich e<strong>in</strong>e große<br />

Auswahl an und hält sie <strong>in</strong> bester Ordnung. Es ist e<strong>in</strong> Irrtum,<br />

wenn man denkt, die kle<strong>in</strong>e Kammer habe dehnbare Wände<br />

und könne sich nach Belieben ausweiten. Glauben Sie mir, es<br />

kommt e<strong>in</strong>e Zeit, da wir für alles Neuh<strong>in</strong>zugelernte etwas von<br />

dem vergessen, was wir früher gewußt haben. Daher ist es von<br />

höchster Wichtigkeit, daß unsere nützlichen Kenntnisse nicht<br />

durch unnützen Ballast verdrängt werden.«<br />

»Aber das Sonnensystem <strong>–</strong>« warf ich e<strong>in</strong>.<br />

»Was zum Kuckuck kümmert mich das?« unterbrach er<br />

mich ungeduldig. »Sie sagen, die Erde dreht sich um die Sonne.<br />

Wenn sie sich um den Mond drehte, so würde das für me<strong>in</strong>e<br />

Zwecke nicht den ger<strong>in</strong>gsten Unterschied machen.«<br />

Mir schwebte schon die Frage auf der Zunge, was denn eigentlich<br />

se<strong>in</strong>e Zwecke wären, doch behielt ich sie für mich, um<br />

ihn nicht zu verdrießen. Unser Gespräch gab mir <strong>in</strong>dessen viel<br />

zu denken, und ich begann me<strong>in</strong>e Schlüsse daraus zu ziehen.<br />

Wenn er sich nur Kenntnisse aneignete, die ihm für se<strong>in</strong>e Arbeit<br />

Nutzen brachten, so mußte man ja aus den Zweigen des<br />

Wissens, mit denen er am vertrautesten war, auf den Beruf<br />

schließen können, dem er sich gewidmet hatte. Ich zählte mir<br />

nun alles auf, was er mit besonderer Gründlichkeit studierte, ja,<br />

31


ich machte mir e<strong>in</strong> Verzeichnis von den e<strong>in</strong>zelnen Fächern. Lächelnd<br />

überlas ich, das Schriftstück noch e<strong>in</strong>mal, es lautete:<br />

Geistiger Horizont und Kenntnisse von <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>.<br />

• Literatur <strong>–</strong> Null.<br />

• Philosophie <strong>–</strong> Null.<br />

• Astronomie <strong>–</strong> Null.<br />

• Politik <strong>–</strong> Schwach.<br />

• Botanik <strong>–</strong> Mit Unterschied. Wohl bewandert <strong>in</strong> allen vegetabilischen<br />

Giften, Belladona, Opium u. drgl. Eigentliche<br />

Pflanzenkunde <strong>–</strong> Null.<br />

• Geologie <strong>–</strong> Viel praktische Erfahrung, aber nur auf beschränktem<br />

Gebiet. Er unterscheidet sämtliche Erdarten<br />

auf den ersten Blick. Von Ausgängen zurückgekehrt,<br />

weiß er nach Stoff und Farbe der Schmutzflecke auf se<strong>in</strong>en<br />

bespritzten Be<strong>in</strong>kleidern die Stadtgegend von London<br />

anzugeben, aus welcher die Flecken stammen.<br />

• Chemie <strong>–</strong> Sehr gründlich.<br />

• Anatomie <strong>–</strong> Genau, aber unmethodisch.<br />

• Krim<strong>in</strong>alstatistik <strong>–</strong> Erstaunlich umfassend. Er sche<strong>in</strong>t<br />

alle E<strong>in</strong>zelheiten jeder Greueltat, die <strong>in</strong> unserem Jahrhundert<br />

verübt worden ist, zu kennen.<br />

• Ist e<strong>in</strong> guter Viol<strong>in</strong>spieler.<br />

32


• E<strong>in</strong> gewandter Boxer und Fechter.<br />

• E<strong>in</strong> gründlicher Kenner der britischen Gesetze.<br />

Weiter las ich nicht; ich zerriß me<strong>in</strong>e Liste und warf sie ärgerlich<br />

<strong>in</strong>s Feuer, »Wie kann der Mensch behaupten, daß es<br />

e<strong>in</strong>en Beruf gibt, <strong>in</strong> dem sich alle diese verschiedenartigen<br />

33


Kenntnisse verwerten und unter e<strong>in</strong>en Hut br<strong>in</strong>gen lassen«, rief<br />

ich. »Es ist vergebliche Mühe, dies Rätsel lösen zu wollen.«<br />

<strong>Holmes</strong>’ Fertigkeit auf der Viol<strong>in</strong>e war groß, aber ganz eigener<br />

Art, wie alles bei diesem ungewöhnlichen Menschen.<br />

Gelegentlich spielte er mir wohl des Abends von me<strong>in</strong>en Liebl<strong>in</strong>gsstücken<br />

vor, was ich verlangte; war er aber sich selbst<br />

überlassen, so ließ er selten e<strong>in</strong>e bekannte Melodie hören. Er<br />

lehnte sich dann <strong>in</strong> den Armstuhl zurück, schloß die Augen und<br />

fuhr mechanisch mit dem Bogen über das Instrument, welches<br />

auf se<strong>in</strong>en Knien lag. Die Töne, die er dann den Saiten entlockte,<br />

waren stets der Ausdruck se<strong>in</strong>er augenblicklichen Empf<strong>in</strong>dung,<br />

bald leise und klagend, bald heiter, bald schwärmerisch.<br />

Ob er dabei nur den wechselnden Launen se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>bildung<br />

folgte oder durch die Musik die Gedanken, welche ihn gerade<br />

beschäftigten, besser <strong>in</strong> Fluß br<strong>in</strong>gen wollte, vermochte ich<br />

nicht zu sagen. Ich hätte sicherlich gegen se<strong>in</strong>e herzzerreißenden<br />

Solovorträge E<strong>in</strong>spruch erhoben, alle<strong>in</strong>, um mich e<strong>in</strong>igermaßen<br />

für die Geduldsprobe zu entschädigen, die er mir auferlegte,<br />

endigte er gewöhnlich damit, daß er rasch h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander<br />

e<strong>in</strong>e ganze Reihe me<strong>in</strong>er Liebl<strong>in</strong>gsmelodien spielte und das<br />

versöhnte mich wieder.<br />

In der ersten Woche bekamen wir ke<strong>in</strong>en Besuch, und ich<br />

f<strong>in</strong>g schon an zu glauben, me<strong>in</strong> Gefährte stehe ebenso alle<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

der Welt, wie ich selber. Bald stellte sich jedoch heraus, daß er<br />

viele Bekannte hatte und zwar <strong>in</strong> allen Schichten der Gesellschaft.<br />

Der kle<strong>in</strong>e Mensch mit dem blaßgelben Gesicht, der e<strong>in</strong>er<br />

Ratte ähnelte und mir als Herr Lestrade vorgestellt wurde,<br />

kam im Lauf von acht Tagen m<strong>in</strong>destens drei- oder viermal. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>s<br />

Morgens erschien e<strong>in</strong> elegant gekleidetes junges Mädchen,<br />

das über e<strong>in</strong>e halbe Stunde dablieb. Am Nachmittag desselben<br />

Tages fand sich e<strong>in</strong> schäbiger Graubart e<strong>in</strong>, der wie e<strong>in</strong> jüdi-<br />

34


scher Hausierer aussah und h<strong>in</strong>ter dem e<strong>in</strong> häßliches, altes<br />

Weib here<strong>in</strong>schlürfte. Bei e<strong>in</strong>er späteren Gelegenheit hatte e<strong>in</strong><br />

ehrwürdiger Greis e<strong>in</strong>e längere Unterredung mit <strong>Holmes</strong> und<br />

dann wieder e<strong>in</strong> Eisenbahnbeamter <strong>in</strong> Uniform. Jedesmal,<br />

wenn sich e<strong>in</strong>er dieser merkwürdigen Besucher e<strong>in</strong>stellte, bat<br />

mich <strong>Holmes</strong>, ihm das Wohnzimmer zu überlassen, und ich zog<br />

mich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Schlafstube zurück. Er entschuldigte sich vielmals,<br />

daß er mir diese Unbequemlichkeit auferlege. »Ich muß<br />

das Zimmer als Geschäftslokal benützen, die Leute s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>e<br />

Klienten.«<br />

Auch diese Gelegenheit, mir Aufschluß über se<strong>in</strong> Tun zu<br />

verschaffen, ließ ich aus Zartgefühl ungenützt vorübergehen.<br />

Mir widerstand es, e<strong>in</strong> Vertrauen zu erzw<strong>in</strong>gen, das er mir nicht<br />

von selbst entgegenbrachte, und schließlich bildete ich mir e<strong>in</strong>,<br />

er habe e<strong>in</strong>en bestimmten Grund, mir se<strong>in</strong> Geschäft zu verheimlichen.<br />

Daß ich mich hier<strong>in</strong> getäuscht hatte, sollte ich <strong>in</strong>dessen<br />

bald erfahren.<br />

Am vierten März <strong>–</strong> der Tag ist mir im Gedächtnis geblieben<br />

<strong>–</strong> war ich früher als gewöhnlich aufgestanden und fand <strong>Sherlock</strong><br />

<strong>Holmes</strong> beim Frühstück. Me<strong>in</strong> Kaffee war noch nicht fertig,<br />

und ärgerlich, daß ich warten mußte, nahm ich e<strong>in</strong> Journal<br />

vom Tisch, um mir die Zeit zu vertreiben, während me<strong>in</strong> Gefährte<br />

schweigend se<strong>in</strong>e gerösteten Brotschnitten verzehrte.<br />

Me<strong>in</strong> Blick fiel zuerst auf e<strong>in</strong>en Artikel, der mit Blaustift<br />

angestrichen und ›Das Buch des Lebens‹ betitelt war. Der Verfasser<br />

versuchte dar<strong>in</strong> ause<strong>in</strong>anderzusetzen, daß es für e<strong>in</strong>en<br />

aufmerksamen Beobachter von Menschen und D<strong>in</strong>gen im alltäglichen<br />

Leben unendlich viel zu lernen gäbe, wenn er sich<br />

nur gewöhnen wollte, alles, was ihm <strong>in</strong> den Weg käme, genau<br />

und e<strong>in</strong>gehend zu prüfen. Die Beweisführung war kurz und<br />

35


ündig, aber die Schlußfolgerungen schienen mir weit hergeholt<br />

und ungereimt, das Ganze e<strong>in</strong>e Mischung von scharfs<strong>in</strong>nigen<br />

und abgeschmackten Behauptungen. E<strong>in</strong> Mensch, der zu<br />

beobachten und zu analysieren verstand, mußte danach befähigt<br />

se<strong>in</strong>, die <strong>in</strong>nersten Gedanken e<strong>in</strong>es jeden zu lesen und<br />

zwar mit solcher Sicherheit, daß es dem Une<strong>in</strong>geweihten förmlich<br />

wie Zauberei vorkam.<br />

»Das Leben ist e<strong>in</strong>e große, gegliederte Kette von Ursachen<br />

und Wirkungen«, hieß es weiter; »an e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Gliede<br />

läßt sich das Wesen des Ganzen erkennen. Wie jede andere<br />

Wissenschaft, so fordert auch das Studium der Deduktion und<br />

Analyse viel Ausdauer und Geduld; e<strong>in</strong> kurzes Menschendase<strong>in</strong><br />

genügt nicht, um es dar<strong>in</strong> zur höchsten Vollkommenheit zu<br />

br<strong>in</strong>gen. Der Anfänger wird immer gut tun, ehe er sich an die<br />

Lösung hoher geistiger und sittlicher Probleme wagt, welche<br />

die größten Schwierigkeiten bieten, sich auf e<strong>in</strong>fachere Aufgaben<br />

zu beschränken. Zur Hebung möge er zum Beispiel bei der<br />

flüchtigen Begegnung mit e<strong>in</strong>em Unbekannten den Versuch<br />

machen, auf den ersten Blick die Lebensgeschichte und Berufsart<br />

des Menschen zu bestimmen. Das schärft die Beobachtungsgabe<br />

und man lernt dabei richtig sehen und unterscheiden.<br />

An den F<strong>in</strong>gernägeln, dem Rockärmel, den Manschetten, den<br />

Stiefeln, den Hosenknien, der Hornhaut an Daumen und Zeigef<strong>in</strong>ger,<br />

dem Gesichtsausdruck und vielem andern, läßt sich die<br />

tägliche Beschäftigung e<strong>in</strong>es Menschen deutlich erkennen. Daß<br />

e<strong>in</strong> urteilsfähiger Forscher, der die verschiedenen Anzeichen zu<br />

vere<strong>in</strong>igen weiß, nicht zu e<strong>in</strong>em richtigen Schluß gelangen<br />

sollte, ist e<strong>in</strong>fach undenkbar.«<br />

»Was für e<strong>in</strong> törichtes Gewäsch«, rief ich, und warf das<br />

Journal auf den Tisch; »me<strong>in</strong>er Lebtag ist mir dergleichen nicht<br />

vorgekommen.«<br />

36


<strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> sah mich fragend an.<br />

»Sie haben den Artikel angestrichen«, fuhr ich fort, »und<br />

müssen ihn also gelesen haben. Daß er geschickt abgefaßt ist,<br />

will ich nicht bestreiten. Mich ärgern aber solche widers<strong>in</strong>nige<br />

Theorien, die daheim im Lehnstuhl aufgestellt werden und<br />

dann an der Wirklichkeit elend scheitern. Der Herr Verfasser<br />

sollte nur e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Eisenbahnwagen dritter Klasse fahren<br />

und probieren, das Geschäft e<strong>in</strong>es jeden se<strong>in</strong>er Mitreisenden<br />

an den F<strong>in</strong>gern herzuzählen. Ich wette tausend gegen e<strong>in</strong>s,<br />

er wäre dazu nicht imstande.«<br />

»Sie würden Ihr Geld verlieren«, erwiderte <strong>Holmes</strong> ruhig.<br />

»Was übrigens den Artikel betrifft, so ist er von mir.«<br />

»Von Ihnen?«<br />

»Ja; ich habe e<strong>in</strong> besonderes Talent zur Beobachtung und<br />

Schlußfolgerung. Die Theorien, welche ich hier ause<strong>in</strong>andersetze<br />

und die Ihnen so ungereimt ersche<strong>in</strong>en, f<strong>in</strong>den <strong>in</strong> der Praxis<br />

ihre volle Bestätigung, ja, was noch mehr ist <strong>–</strong> ich verdiene<br />

mir damit me<strong>in</strong> tägliches Brot.«<br />

»Wie ist das möglich?« fragte ich unwillkürlich.<br />

»Me<strong>in</strong> Handwerk beruht darauf. Ich b<strong>in</strong> beratender Geheimpolizist<br />

<strong>–</strong> wenn Sie verstehen, was das heißt <strong>–</strong> vielleicht<br />

b<strong>in</strong> ich der e<strong>in</strong>zige me<strong>in</strong>er Art. Es gibt hier <strong>in</strong> London Detektivs<br />

die Menge, welche teils im Dienst der Regierung stehen,<br />

teils von Privatpersonen gebraucht werden. Wenn diese Herren<br />

nicht mehr aus noch e<strong>in</strong> wissen, kommen sie zu mir, und ich<br />

helfe ihnen auf die richtige Fährte. Sie br<strong>in</strong>gen mir das ganze<br />

Beweismaterial, und ich b<strong>in</strong> meist imstande, ihnen mit Hilfe<br />

37


me<strong>in</strong>er Kenntnis der Geschichte des Verbrechens den rechten<br />

Weg zu weisen. Die Missetaten der Menschen haben im allgeme<strong>in</strong>en<br />

e<strong>in</strong>e starke Familienähnlichkeit unter e<strong>in</strong>ander und<br />

wenn man alle E<strong>in</strong>zelheiten von tausend Verbrechen im Kopfe<br />

hat, so müßte es wunderbar zugehen, vermöchte man das tausend<br />

und erste nicht zu enträtseln. Lestrade ist e<strong>in</strong> bekannter<br />

Detektiv. Er hat sich kürzlich mit e<strong>in</strong>er Falschmünzergeschichte<br />

herumgequält und mich deshalb so häufig aufgesucht.«<br />

»Und die andern Leute?«<br />

»Sie kamen meist auf Veranlassung von Privatleuten. Jeder<br />

von ihnen hat irgend e<strong>in</strong>e Sorge auf dem Herzen und holt sich<br />

Rat bei mir. Sie erzählen mir ihre Geschichte und hören auf<br />

me<strong>in</strong>e erklärenden Bemerkungen und dann streiche ich me<strong>in</strong><br />

Honorar e<strong>in</strong>.«<br />

»Können Sie wirklich, während Sie ruhig auf Ihrem Zimmer<br />

bleiben, die verwickelten Knoten lösen, welche die andern<br />

nicht zu entwirren vermögen, selbst, wenn sie mit eigenen Augen<br />

gesehen haben, wo sich alles zugetragen hat?«<br />

»Das habe ich oft getan: es ist bei mir e<strong>in</strong>e Art <strong>in</strong>nerer E<strong>in</strong>gebung.<br />

Liegt e<strong>in</strong> besonders schwieriger Fall vor, so besehe ich<br />

mir den Schauplatz der Tat wohl auch e<strong>in</strong>mal selbst. Ich habe<br />

so mancherlei Kenntnisse, die mir die Arbeit wesentlich erleichtern.<br />

Me<strong>in</strong>e große Übung <strong>in</strong> der Schlußfolgerung, wie sie<br />

jener Artikel darlegt, ist für mich zum Beispiel von hohem<br />

praktischem Wert. Mir ist die Beobachtung zur zweiten Natur<br />

geworden. Als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte,<br />

Sie kämen aus Afghanistan, schienen Sie sich darüber zu verwundern.«<br />

38


»Irgend jemand muß es Ihnen gesagt haben.«<br />

»Bewahre; ich wußte es ganz von selbst. Da me<strong>in</strong> Gedankengang<br />

meist sehr schnell ist, kommen mir die Schlüsse <strong>in</strong> ihrer<br />

Reihenfolge kaum zum Bewußtse<strong>in</strong>. Und doch steht alles <strong>in</strong><br />

logischem Zusammenhang. Ich folgerte etwa so: Der Herr sieht<br />

aus wie e<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>er und hat dabei e<strong>in</strong>e soldatische Haltung.<br />

Er muß Militärarzt se<strong>in</strong>. Die dunkle Gesichtsfarbe hat er nicht<br />

von Natur, denn am Handgelenk ist se<strong>in</strong>e Haut weiß, also<br />

kommt er geradeswegs aus den Tropen. Daß er allerlei Beschwerden<br />

durchgemacht hat, zeigen se<strong>in</strong>e abgezehrten Wangen;<br />

se<strong>in</strong> l<strong>in</strong>ker Arm muß verwundet gewesen se<strong>in</strong>, er hält ihn<br />

unnatürlich steif. In welcher Gegend der Tropen kann e<strong>in</strong> englischer<br />

Militärarzt sich Wunden und Krankheit geholt haben? <strong>–</strong><br />

Versteht sich <strong>in</strong> Afghanistan. <strong>–</strong> In weniger als e<strong>in</strong>er Sekunde<br />

war ich zu dem Schluß gelangt, der Sie <strong>in</strong> Erstaunen setzte.«<br />

»Wie Sie die Sache erklären, sche<strong>in</strong>t sie sehr e<strong>in</strong>fach. In<br />

Büchern liest man wohl von solchen D<strong>in</strong>gen, aber daß sie <strong>in</strong><br />

Wirklichkeit vorkämen, hätte ich nicht gedacht.«<br />

»Wenn es nur noch Verbrechen gäbe, zu deren Entdeckung<br />

man besonderen Scharfs<strong>in</strong>n braucht«, fuhr <strong>Holmes</strong> mißmutig<br />

fort. »Ich weiß, es fehlt mir nicht an Begabung, um me<strong>in</strong>en Namen<br />

berühmt zu machen. Ke<strong>in</strong> Mensch auf Erden hat jemals so<br />

viel natürliche Anlage für me<strong>in</strong> Fach besessen oder e<strong>in</strong> so tiefes<br />

Studium darauf verwendet. Aber was nützt mir das alles? Die<br />

Missetäter s<strong>in</strong>d sämtlich solche Stümper und ihre Zwecke so<br />

durchsichtig, daß der gewöhnliche Polizeibeamte sie mit Leichtigkeit<br />

zu ergründen vermag.«<br />

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Es verdroß mich, ihn mit solcher Selbstüberschätzung reden<br />

zu hören. Um der Unterhaltung e<strong>in</strong>e andere Wendung zu geben,<br />

trat ich ans Fenster.<br />

»Was mag wohl der Mann da drüben suchen?« fragte ich,<br />

auf e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fach gekleideten, stämmigen Menschen deutend,<br />

welcher sämtliche Häusernummern auf der gegenüberliegenden<br />

Straßenseite zu mustern schien. Er hielt e<strong>in</strong>en großen,<br />

blauen Umschlag <strong>in</strong> der Hand und hatte offenbar e<strong>in</strong>e Botschaft<br />

auszurichten.<br />

»Sie me<strong>in</strong>en den verabschiedeten Mar<strong>in</strong>esergeanten?« fragte<br />

<strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>.<br />

»Ich machte große Augen. Er hat gut mit se<strong>in</strong>er Weisheit<br />

prahlen«, dachte ich bei mir; »wer will ihm denn beweisen, daß<br />

er falsch geraten hat?«<br />

In dem Augenblick hatte der Mann, den wir beobachteten,<br />

unsere Nummer erblickt, und kam rasch quer über die Straße<br />

gegangen. Gleich darauf klopfte es laut an der Haustüre unten,<br />

man vernahm e<strong>in</strong>e tiefe Stimme und dann schwere Schritte auf<br />

der Treppe.<br />

Der Mann trat e<strong>in</strong>.<br />

»Für Herrn <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>«, sagte er, me<strong>in</strong>em Gefährten<br />

den Brief e<strong>in</strong>händigend.<br />

Ich ergriff die günstige Gelegenheit, um <strong>Holmes</strong> von se<strong>in</strong>er<br />

E<strong>in</strong>bildung zu heilen. An die Möglichkeit hatte er wohl nicht<br />

gedacht, als er den raschen Schuß <strong>in</strong>s Blaue tat. »Darf ich Sie<br />

wohl fragen, was Sie für e<strong>in</strong> Geschäft betreiben?« redete ich<br />

den Boten freundlich an.<br />

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»Dienstmann«, lautete die kurze Antwort. »Uniform gerade<br />

beim Schneider zum Ausbessern.«<br />

»Und früher waren Sie <strong>–</strong>« fuhr ich mit e<strong>in</strong>em schlauen<br />

Blick auf <strong>Holmes</strong> fort.<br />

»Sergeant bei der leichten Infanterie der königlichen Mar<strong>in</strong>e.<br />

<strong>–</strong> Ke<strong>in</strong>e Rückantwort? <strong>–</strong> Sehr wohl. Zu Befehl.«<br />

Er schlug die Fersen ane<strong>in</strong>ander, erhob die Hand zum militärischen<br />

Gruß und fort war er.<br />

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Jürgen Schulze, Null Papier Verlag

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