10.06.2015 Aufrufe

Sherlock Holmes – Seine Abschiedsvorstellung und andere Detektivgeschichten

Vollständig überarbeitete, korrigierte und illustrierte Fassung: “Des Löwen Mähne” (“The Lion’s Mane”), 1926, “Shoscombe Old Place” (“Shoscombe Old Place”), 1927, “Der Mann mit dem geduckten Gang” (“The Creeping Man”), 1923, “Seine Abschiedsvorstellung” (“His Last Bow”), 1917

Vollständig überarbeitete, korrigierte und illustrierte Fassung: “Des Löwen Mähne” (“The Lion’s Mane”), 1926, “Shoscombe Old Place” (“Shoscombe Old Place”), 1927, “Der Mann mit dem geduckten Gang” (“The Creeping Man”), 1923, “Seine Abschiedsvorstellung” (“His Last Bow”), 1917

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Arthur Conan Doyle<br />

<strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong><br />

<strong>Seine</strong> <strong>Abschiedsvorstellung</strong> <strong>und</strong> <strong>andere</strong><br />

<strong>Detektivgeschichten</strong>


Arthur Conan Doyle<br />

<strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong><br />

<strong>Seine</strong> <strong>Abschiedsvorstellung</strong> <strong>und</strong> <strong>andere</strong><br />

<strong>Detektivgeschichten</strong><br />

<strong>–</strong> Vollständige & Illustrierte Fassung <strong>–</strong><br />

Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag<br />

Published by Null Papier Verlag, Deutschland<br />

Copyright © 2013 by Null Papier Verlag<br />

2. Auflage, ISBN 978-3-95418-260-2<br />

Umfang: 123 Normseiten bzw. 156 Buchseiten<br />

www.null-papier.de/holmes


Original:<br />

»Des Löwen Mähne <strong>und</strong> <strong>andere</strong> Abenteuer von <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>«<br />

für die ersten 3 Geschichten<br />

Hugo Wille, Verlagsbuchhandlung, Berlin, 1928<br />

Übersetzung: Eve Fritsche <strong>und</strong> Else Baronin von Werkmann<br />

Illustrationen: Kurt Lange<br />

<strong>und</strong><br />

»<strong>Seine</strong> <strong>Abschiedsvorstellung</strong>«<br />

Übersetzung: Jürgen Schulze<br />

Illustrationen: Alfred Gilbert<br />

1


www.null-papier.de/holmes<br />

2


Die einzelnen Geschichten<br />

»Des Löwen Mähne« (»The Lion’s Mane«), 1926<br />

<strong>Holmes</strong> im Ruhestand, ohne Watson als fleißigen Chronisten.<br />

Aufzuklären gilt es die rätselhaften Umstände, die sich um den<br />

Unfalltod von Fitzroy McPherson ranken, eines ruhigen, heimlich<br />

verlobten Lehrers. War es wirklich ein Unfall? Welche<br />

Rolle spielt der angeblich beste Fre<strong>und</strong>? Und wieso hat die<br />

Verlobte ihre Absichten vor der eigenen Familie geheim gehalten?<br />

»Shoscombe Old Place« (»Shoscombe Old Place«), 1927<br />

John Mason, Cheftrainer des Gestüts von Shoscombe Old<br />

Place, wendet sich an <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>. Er ist in Angst um seinen<br />

Arbeitgeber, Sir Robert Norberton. Dieser versucht, seine<br />

Schulden mit einer waghalsigen Pferdewette zu tilgen. Welche<br />

Rolle spielt seine Schwester, von deren finanzieller Unterstützung<br />

er abhängig ist, in dem Spiel? Und wieso hat Norberton<br />

den H<strong>und</strong> der Schwester verschenkt?<br />

»Der Mann mit dem geduckten Gang« (»The Creeping<br />

Man«), 1923<br />

Trevor Bennett kontaktiert <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong>, um ihm von dem<br />

seltsamen Verhalten seines zukünftigen Schwiegervaters <strong>und</strong><br />

Dienstherrn, des angesehenen Professors Presbury, zu berichten.<br />

Dieser verhält sich in letzter Zeit sehr exentrisch. Er klettert<br />

nachts am Hause hoch, läuft auf allen Vieren <strong>und</strong> benimmt<br />

sich auch sonst wenig gentlemanlike.<br />

3


»<strong>Seine</strong> <strong>Abschiedsvorstellung</strong>« (»His Last Bow«), 1917<br />

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs trifft sich der deutsche<br />

Botschaftssekträter Baron von Herling mit von Bork, dem<br />

Kopf der Deutschen Spionage in England. Beide feiern ihren<br />

Erfolg, der Britannien im Zuge der anstehen Auseinandersetzungen<br />

schwer zu schaffen machen soll. Von Bork erwartet<br />

seinen besten Zuträger, dessen Verrat den Krieg entscheidend<br />

beeinflussen soll.<br />

4


Arthur Conan Doyle & <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong><br />

Womöglich wäre die Literatur heute um eine ihrer schillerndsten<br />

Detektivgestalten ärmer, würde der am 22. Mai 1859 in<br />

Edinburgh geborene Arthur Ignatius Conan Doyle nicht ausgerechnet<br />

an der medizinischen Fakultät der Universität seiner<br />

Heimatstadt studieren. Hier nämlich lehrt der später als Vorreiter<br />

der Forensik geltende Chirurg Joseph Bell. Die Methodik<br />

des Dozenten, seine Züge <strong>und</strong> seine hagere Gestalt wird der angehende<br />

Autor für den dereinst berühmtesten Detektiv der Kriminalliteratur<br />

übernehmen.<br />

5


Geburt <strong>und</strong> Tod des <strong>Holmes</strong><br />

Der erste Roman des seit 1883 in Southsea praktizierenden<br />

Arztes teilt das Schicksal zahlloser Erstlinge <strong>–</strong> er bleibt unvollendet<br />

in der Schublade. Erst 1887 betritt <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> die<br />

Bühne, als »Eine Studie in Scharlachrot« erscheint. Nachdem<br />

Conan Doyle im Magazin The Strand seine <strong>Holmes</strong>-Episoden<br />

veröffentlichen darf, ist er als erfolgreicher Autor zu bezeichnen.<br />

The Strand eröffnet die Reihe mit »Ein Skandal in Böhmen«.<br />

Im Jahr 1890 zieht der Schriftsteller nach London, wo er<br />

ein Jahr darauf, dank seines literarischen Schaffens, bereits seine<br />

Familie ernähren kann; seit 1885 ist er mit Louise Hawkins<br />

verheiratet, die ihm einen Sohn <strong>und</strong> eine Tochter schenkt.<br />

Ginge es ausschließlich nach den Lesern, wäre dem kühlen Detektiv<br />

<strong>und</strong> seinem schnauzbärtigen Mitbewohner ewiges Leben<br />

beschieden. Die Abenteuer der beiden Fre<strong>und</strong>e nehmen freilich,<br />

wie ihr Schöpfer meint, zu viel Zeit in Anspruch; der Autor<br />

möchte historische Romane verfassen. Deshalb stürzt er<br />

1893 in »Das letzte Problem« sowohl den Detektiv als auch<br />

dessen Widersacher Moriarty in die Reichenbachfälle. Die Proteste<br />

der enttäuschten Leserschaft fruchten nicht <strong>–</strong> <strong>Holmes</strong> ist<br />

tot.<br />

Die Wiederauferstehung des <strong>Holmes</strong><br />

Obwohl sich der Schriftsteller mittlerweile der Vergangenheit<br />

<strong>und</strong> dem Mystizismus widmet, bleibt sein Interesse an Politik<br />

<strong>und</strong> realen Herausforderungen doch ungebrochen. Den Zweiten<br />

Burenkrieg erlebt Conan Doyle seit 1896 an der Front in Südafrika.<br />

Aus seinen Eindrücken <strong>und</strong> politischen Ansichten resultieren<br />

zwei nach 1900 publizierte propagandistische Werke,<br />

wofür ihn Queen Victoria zum Ritter schlägt.<br />

6


Eben zu jener Zeit weilt Sir Arthur zur Erholung in Norfolk,<br />

was <strong>Holmes</strong> zu neuen Ehren verhelfen wird. Der Literat hört<br />

dort von einem Geisterh<strong>und</strong>, der in Dartmoor eine Familie verfolgen<br />

soll. Um das Mysterium aufzuklären, reanimiert Conan<br />

Doyle seinen exzentrischen Analytiker: 1903 erscheint »Der<br />

H<strong>und</strong> der Baskervilles«. Zeitlich noch vor dem Tod des Detektivs<br />

in der Schweiz angesiedelt, erfährt das Buch enormen Zuspruch,<br />

weshalb der Autor das Genie 1905 in »Das leere Haus«<br />

endgültig wiederbelebt.<br />

Das unwiderrufliche Ende des <strong>Holmes</strong><br />

Nach dem Tod seiner ersten Frau im Jahr 1906 <strong>und</strong> der Heirat<br />

mit der, wie Conan Doyle glaubt, medial begabten Jean Leckie<br />

befasst sich der Privatmann mit Spiritismus. Sein literarisches<br />

Schaffen konzentriert sich zunehmend auf Zukunftsromane,<br />

deren bekanntester Protagonist der Exzentriker Professor Challenger<br />

ist. Als populärster Challenger-Roman gilt die 1912 veröffentlichte<br />

<strong>und</strong> bereits 1925 verfilmte Geschichte »Die vergessene<br />

Welt«, die Conan Doyle zu einem Witz verhilft: Der<br />

durchaus schlitzohrige Schriftsteller zeigt im kleinen Kreis einer<br />

Spiritistensitzung Filmaufnahmen vermeintlich lebender<br />

Saurier, ohne zu erwähnen, dass es sich um Material der ersten<br />

Romanverfilmung handelt.<br />

Die späte Fre<strong>und</strong>schaft des Literaten mit Houdini zerbricht am<br />

Spiritismus-Streit, denn der uncharmante Zauberkünstler entlarvt<br />

zahlreiche Betrüger, während der Schriftsteller von der<br />

Existenz des Übernatürlichen überzeugt ist. Conan Doyles Geisterglaube<br />

erhält Auftrieb, als sein ältester Sohn Kingsley während<br />

des Ersten Weltkriegs an der Front fällt.<br />

7


Noch bis 1927 bedient der Autor das Publikum mit Kurzgeschichten<br />

um <strong>Holmes</strong> <strong>und</strong> Watson; zuletzt erscheint »Das Buch<br />

der Fälle«. Als Sir Arthur Conan Doyle am 7. Juli 1930 stirbt,<br />

trauern Familie <strong>und</strong> Leserschaft gleichermaßen, denn diesmal<br />

ist <strong>Holmes</strong> wirklich tot.<br />

Von der Bedeutung eines Geschöpfes<br />

Oder vielmehr ist <strong>Holmes</strong> ein ewiger Wiedergänger, der im<br />

Gedächtnis des Publikums fortlebt. Nicht wenige Leser hielten<br />

<strong>und</strong> halten den Detektiv für eine existente Person, was nicht<br />

zuletzt Conan Doyles erzählerischem Geschick <strong>und</strong> dem Realitätsbezug<br />

der Geschichten zu verdanken sein dürfte. Tatsächlich<br />

kam man im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert dem Bedürfnis nach etwas<br />

Handfestem nach, indem ein Haus in der Londoner Baker<br />

Street die Nummer 221 b erhielt. Dort befindet sich das <strong>Sherlock</strong>-<strong>Holmes</strong>-Museum.<br />

Conan Doyles zeitgenössischer Schriftstellerkollege Gilbert<br />

Keith Chesterton, geistiger Vater des kriminalistischen Pater<br />

Brown, brachte das literarische Verdienst seines Landsmanns<br />

auf den Punkt: Sinngemäß sagte er, dass es nie bessere <strong>Detektivgeschichten</strong><br />

gegeben habe <strong>und</strong> dass <strong>Holmes</strong> möglicherweise<br />

die einzige volkstümliche Legende der Moderne sei, deren Urheber<br />

man gleichwohl nie genug gedankt habe.<br />

Dass der Detektiv sein sonstiges Schaffen dermaßen überlagern<br />

konnte, war Conan Doyle selbst niemals recht. Er hielt seine<br />

historischen, politischen <strong>und</strong> später seine mystizistisch-spiritistischen<br />

Arbeiten für wertvoller, während die Kurzgeschichten<br />

dem bloßen Broterwerb dienten. Vermutlich übersah er bei der<br />

Selbsteinschätzung seiner vermeintlichen Trivialliteratur deren<br />

8


enorme Wirkung, die weit über ihren hohen Unterhaltungswert<br />

hinausging.<br />

So wie Joseph Bell, Conan Doyles Dozent an der Universität,<br />

durch präzise Beobachtung auf die Erkrankungen seiner Patienten<br />

schließen konnte, sollte <strong>Sherlock</strong> <strong>Holmes</strong> an Kriminalfälle<br />

herangehen, die sowohl seinen Klienten als auch der Polizei<br />

unerklärlich schienen. Bells streng wissenschaftliches Vorgehen<br />

stand Pate für Deduktion <strong>und</strong> forensische Methodik in den<br />

vier Romanen <strong>und</strong> 56 Kurzgeschichten um den hageren Gentleman-Detektiv.<br />

Professor Bell beriet die Polizei bei der Verbrechensaufklärung,<br />

ohne in den offiziellen Berichten oder in den<br />

Zeitungen erwähnt werden zu wollen. Die Ähnlichkeit zu <strong>Holmes</strong><br />

ist augenfällig. Wirklich war in den Geschichten die Fiktion<br />

der Realität voraus, denn wissenschaftliche Arbeitsweise,<br />

genaue Tatortuntersuchung <strong>und</strong> analytisch-rationales Vorgehen<br />

waren der Kriminalistik jener Tage neu. Man urteilte nach Augenschein<br />

<strong>und</strong> entwarf Theorien, wobei die Beweisführung<br />

nicht ergebnisoffen geführt wurde, sondern lediglich jene<br />

Theorien belegen sollte. Zweifellos hat die Popularität der Erlebnisse<br />

von <strong>Holmes</strong> <strong>und</strong> Watson den Aufstieg der realen Forensik<br />

in der Verbrechensaufklärung unterstützt.<br />

Ein weiterer interessanter Aspekt der Erzählungen betrifft Conan<br />

Doyles Neigung, seine eigenen Ansichten einzuarbeiten.<br />

Zwar bevorzugte er zu diesem Zweck <strong>andere</strong> Schaffenszweige,<br />

aber es finden sich gesellschaftliche <strong>und</strong> moralische Meinungen,<br />

wenn <strong>Holmes</strong> etwa Verbrecher entkommen lässt, weil er<br />

meint, dass eine Tat gerecht gewesen oder jemand bereits<br />

durch sein Schicksal genug gestraft sei. Gelegentlich ist dabei<br />

festzustellen, dass er Angehörige niedriger Stände gleichgültiger<br />

behandelt als die Vertreter der »guten Gesellschaft«.<br />

9


Fiktive Biografien des Detektivs, Bühnenstücke, Verfilmungen<br />

<strong>und</strong> zahllose Nachahmungen, darunter nicht selten Satiren, von<br />

denen Conan Doyle mit »Wie Watson den Trick lernte« 1923<br />

selbst eine verfasste, künden von der ungebrochenen Beliebtheit<br />

des kriminalistischen Duos, ohne das die Weltliteratur weniger<br />

spannend wäre.<br />

10


Des Löwen Mähne<br />

Es ist sehr eigentümlich, daß mir ein Problem, das wohl<br />

ebenso seltsam <strong>und</strong> ungewöhnlich war wie irgendeiner<br />

der vielen merkwürdigen Fälle, die ich während meiner<br />

langjährigen berufsmäßigen Tätigkeit bearbeitet habe, jetzt,<br />

nachdem ich mich ins Privatleben zurückgezogen hatte, in den<br />

Weg kam, <strong>und</strong> daß sich dasselbe in unmittelbarer Nähe meines<br />

Hauses abspielte.<br />

Ich hatte mich in meine kleine Villa in der Grafschaft Sussex<br />

zur Ruhe gesetzt, um mich vollständig dem nervenberuhigenden<br />

Naturleben hinzugeben, nach welchem ich mich so oft<br />

während der langen Jahre im Trubel Londons gesehnt hatte.<br />

Während dieses Abschnittes meines Lebens war der gute Watson<br />

fast ganz aus meinem Gesichtskreis verschw<strong>und</strong>en. Ein gelegentlicher<br />

Wochenendbesuch war das einzige, was mich mit<br />

ihm in Berührung brachte. Darum muß ich selbst mein Geschichtsschreiber<br />

sein.<br />

Wenn er doch nur hätte bei mir sein können. Wie w<strong>und</strong>erbar<br />

würde er die Begebenheit geschildert haben, <strong>und</strong> wie würde<br />

er meinen Erfolg, den ich schließlich trotz aller Schwierigkeiten<br />

hatte, ausgeschmückt haben! Wie die Verhältnisse jedoch<br />

liegen, bleibt mir nichts weiter übrig, als die Geschichte in meiner<br />

eigenen schlichten Art wiederzugeben <strong>und</strong> in meiner Darstellung<br />

Schritt für Schritt des beschwerlichen Weges, den ich<br />

zu gehen hatte, um das Geheimnis der Löwenmähne zu enthüllen,<br />

zu zeigen.<br />

Meine Villa liegt auf dem südlichen Abhang der Downs<br />

<strong>und</strong> gestattet einen weiten Überblick auf die unendliche See.<br />

11


An dieser Stelle besteht die Küste ausschließlich aus Kreidefelsen,<br />

von denen man nur auf einem einzigen langen, steilen <strong>und</strong><br />

beschwerlichen Fußsteig zum Meer gelangen kann. Am Ende<br />

des Steiges liegen selbst zur Zeit der Flut, in einer Breite von<br />

etwa h<strong>und</strong>ert Metern, Kiesel <strong>und</strong> Tang. Hier <strong>und</strong> da jedoch sind<br />

Einbuchtungen <strong>und</strong> Vertiefungen, welche prachtvolle<br />

Schwimmbassins darstellen, da sie durch jede Flut frisch gefüllt<br />

werden. Dieser w<strong>und</strong>ervolle Strand erstreckt sich kilometerweit<br />

in beiden Richtungen <strong>und</strong> wird nur an der Stelle unterbrochen,<br />

wo die kleine Bucht <strong>und</strong> die Siedlung von Fulworth<br />

liegen.<br />

Mein Haus steht einsam. Ich, meine alte Haushälterin <strong>und</strong><br />

meine Bienen haben unser Reich für uns allein. Ungefähr einen<br />

Kilometer von mir entfernt befindet sich Harold Stackhursts<br />

wohlbekanntes Bildungsinstitut. »Die Giebel« war ein großer<br />

Bau, in dem sich eine Anzahl junger Leute für verschiedene<br />

Berufe, unter der Leitung eines Stabes Lehrer, vorbereiteten.<br />

Stackhurst selbst, der über eine ausgezeichnete Bildung verfügt,<br />

war früher ein wohlbekannter Sportsmann. Wir verstanden<br />

uns gut vom ersten Tage an, an dem ich mich an der Küste<br />

ansiedelte, <strong>und</strong> er war der einzige Mensch, mit dem ich so<br />

zwanglos verkehrte, daß er bei mir <strong>und</strong> ich bei ihm ohne Einladung<br />

des Abends vorsprach.<br />

Gegen Ende Juli 1907 wehte ein so starker Sturm, daß die<br />

See bis an die Klippen rollte, wodurch bei Eintritt der Ebbe<br />

eine Lagune entstand. An dem Morgen, von dem ich spreche,<br />

war der Wind abgeflaut, <strong>und</strong> die ganze Natur erschien erfrischt<br />

<strong>und</strong> neu geboren. Es war unmöglich, an solch einem w<strong>und</strong>ervollen<br />

Morgen seine alltägliche Arbeit aufzunehmen, <strong>und</strong> so<br />

machte ich schon vor dem Frühstück einen Spaziergang, um<br />

die herrliche frische Luft in vollen Zügen zu genießen. Ich<br />

12


wanderte den Klippenweg entlang, der zu dem zum Strand führenden<br />

Abhang leitete. Während ich rüstig ausschritt, hörte ich<br />

hinter mir einen Anruf, <strong>und</strong> wie ich mich umdrehte, sah ich den<br />

lustig winkenden Harold Stackhurst.<br />

»Was für ein herrlicher Morgen, Mr. <strong>Holmes</strong>! Ich dachte es<br />

mir schon, daß ich Sie draußen treffen würde.«<br />

»Sie wollen schwimmen gehen, wie ich sehe?«<br />

»Ja! Sie sind <strong>und</strong> bleiben Detektiv«, rief er lachend <strong>und</strong><br />

klopfte auf seine ungewöhnlich dicke Tasche, die sein Badezeug<br />

enthielt. »McPherson ist schon sehr früh aufgebrochen, er<br />

wird wohl schon unten am Strand sein.«<br />

Fitzroy McPherson war der wissenschaftliche Lehrer, ein<br />

stattlicher junger Mensch, dessen Ges<strong>und</strong>heit durch ein Herzleiden,<br />

dem ein rheumatisches Fieber folgte, gelitten hatte.<br />

Trotzdem war er von Natur ein Athlet <strong>und</strong> war bei jedem Sport<br />

<strong>und</strong> Spiel, die nicht zu große körperliche Anforderungen an ihn<br />

stellten, der Besten einer. Sommer <strong>und</strong> Winter ging er schwimmen,<br />

<strong>und</strong> da ich selbst Schwimmer bin, habe ich mich ihm oft<br />

angeschlossen. In diesem Augenblick sahen wir den Mann<br />

selbst. Sein Kopf wurde oberhalb der Spitze der Klippe, wo der<br />

Weg endet, sichtbar. Dann erschien er in seiner ganzen Gestalt<br />

<strong>–</strong> taumelnd, als ob er betrunken wäre. Im nächsten Augenblick<br />

warf er die Arme hoch <strong>und</strong> fiel mit einem schrecklichen Schrei<br />

auf das Gesicht. Stackhurst <strong>und</strong> ich stürmten vorwärts <strong>–</strong> es mögen<br />

fünfzig Meter gewesen sein, die uns von ihm trennten <strong>und</strong><br />

drehten ihn auf den Rücken. Er lag offensichtlich im Sterben.<br />

Die glasigen eingesunkenen Augen <strong>und</strong> schrecklich erbleichten<br />

Wangen konnten nichts <strong>andere</strong>s bedeuten. Ein schwaches Lebenszeichen<br />

kam für einen Augenblick in sein Gesicht, <strong>und</strong> er<br />

13


stammelte ein paar Worte, in einer Art, als ob er eine dringende<br />

Warnung aussprechen wollte. Sie waren unklar <strong>und</strong> unverständlich,<br />

aber meinem Ohr klangen die letzten Worte, die sich<br />

wie ein Schrei seinen Lippen entrangen, wie: »Des Löwen<br />

Mähne.« Diese Worte schienen durchaus sinnlos <strong>und</strong> waren<br />

nicht zu deuten, aber ich konnte die Laute trotz allem Grübeln<br />

nicht in <strong>andere</strong> Form kleiden. Dann richtete er sich noch einmal<br />

halb vom Erdboden auf, warf die Arme in die Luft <strong>und</strong> fiel<br />

auf die Seite. Er war tot…<br />

14


Mein Gefährte war durch den plötzlichen Schreck wie gelähmt,<br />

ich selbst aber beachtete, wie man sich wohl denken<br />

kann, jede Einzelheit äußerst aufmerksam. Und das war nötig,<br />

denn es lag klar auf der Hand, daß wir es hier mit einem ganz<br />

außergewöhnlichen Ereignis zu tun hatten. Der Mann war nur<br />

mit seinem Burberry-Überzieher, Hosen <strong>und</strong> ungeschnürten<br />

Leinenschuhen bekleidet. Als er hinsank, war sein Mantel, der<br />

nur einfach um die Schultern geworfen war, herabgefallen, seinen<br />

Oberkörper entblößend. Wir starrten ihn verblüfft an. Sein<br />

Rücken war mit dunklen roten Striemen bedeckt, als ob er mit<br />

einer dünnen Drahtrute entsetzlich geschlagen worden wäre.<br />

Das Instrument, mit welchem diese Verletzung ausgeführt wurde,<br />

war augenscheinlich sehr biegsam, denn die langen bösen<br />

Striemen bedeckten bogenförmig seine Schultern <strong>und</strong> Rippen.<br />

Blut tropfte von seinem Kinn herab, denn er hatte in seiner<br />

Qual die Unterlippe durchbissen. Sein entstelltes <strong>und</strong> verzerrtes<br />

Gesicht legte Zeugnis davon ab, wie entsetzlich diese Qualen<br />

gewesen sein müssen. Ich kniete, <strong>und</strong> Stackhurst stand bei der<br />

Leiche, als uns plötzlich ein Schatten darauf aufmerksam<br />

machte, daß Ian Murdoch neben uns stand. Murdoch war der<br />

Mathematiklehrer des Institutes, ein hochgewachsener, dunkler,<br />

schlanker Mann, so schweigsam <strong>und</strong> sonderlich, daß von<br />

niemand gesagt werden konnte, er sei sein Fre<strong>und</strong>. Er schien in<br />

einer höheren Region, in einer andern Welt zu leben <strong>und</strong> wenig<br />

Verbindung mit dem täglichen Leben zu haben. <strong>Seine</strong> Schüler<br />

betrachteten ihn als ein Original <strong>und</strong> hätten vielleicht ihren<br />

Spott mit ihm getrieben, wenn sie nicht gewußt hätten, daß in<br />

den Adern dieses Mannes ein seltsames, fremdländisches Blut<br />

floß, das sich nicht allein in seinen kohlschwarzen Augen <strong>und</strong><br />

seiner dunklen Gesichtsfarbe, sondern auch in gelegentlichen<br />

Temperamentsausbrüchen, die man nur als wild bezeichnen<br />

konnte, zeigte.<br />

15


Als er einmal von einem kleinen, dem McPherson gehörenden<br />

H<strong>und</strong> belästigt wurde, packte er einfach das Tier <strong>und</strong> warf<br />

es glatt durch das Spiegelglasfenster. Stackhurst hätte ihn deshalb<br />

sicher entlassen, wenn er nicht ein so vorzüglicher Lehrer<br />

gewesen wäre. Das war der fremde eigenartige Mann, der an<br />

unserer Seite aufgetaucht war. Er schien von dem Anblick, der<br />

sich ihm darbot, ehrlich entsetzt zu sein, obgleich der Vorfall<br />

mit dem H<strong>und</strong>e als Beweis dafür gelten dürfte, daß zwischen<br />

den beiden Männern, dem Toten <strong>und</strong> ihm, keine allzu große<br />

Sympathie bestanden hatte.<br />

»Armer Kerl! Armer Kerl! Was kann ich tun? Wie kann ich<br />

helfen?«<br />

»Waren Sie bei ihm? Wissen Sie, was hier geschehen ist?«<br />

»Nein, ich hatte mich heute morgen verspätet, ich war überhaupt<br />

noch nicht am Strand. Ich komme direkt von den ›Giebeln‹.<br />

Wie kann ich Ihnen helfen?«<br />

»Eilen Sie sofort zur Polizeistation Fulworth <strong>und</strong> berichten<br />

Sie, was hier geschehen ist.«<br />

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begab er sich in größter<br />

Eile auf den Weg, <strong>und</strong> ich machte mich daran, den Fall zu untersuchen,<br />

während Stackhurst, der durch die Tragödie vollständig<br />

niedergeschmettert war, bei dem Toten blieb. Meine erste<br />

Aufgabe war natürlich, festzustellen, wer am Strande war.<br />

Vom Anfang des Fußweges aus konnte ich die ganze Küste<br />

übersehen; alles war vollständig öde <strong>und</strong> verlassen, nur ganz<br />

weit entfernt waren die Umrisse einiger Gestalten sichtbar, die<br />

16


sich in der Richtung auf das Dorf Fulworth bewegten. Nachdem<br />

ich diese Feststellung gemacht hatte, wanderte ich langsam<br />

den Fußweg hinab. Lehm <strong>und</strong> leichter Mergel <strong>und</strong> hin <strong>und</strong><br />

wieder etwas Kreide bildeten den Boden, <strong>und</strong> dieselbe Fußspur<br />

aufwärts <strong>und</strong> abwärts des Weges war deutlich erkennbar. Niemand<br />

anders als McPherson war an jenem Morgen auf diesem<br />

Wege nach dem Strand hinabgestiegen. An einer Stelle gewahrte<br />

ich den Abdruck einer geöffneten Hand mit leicht nach<br />

innen gekrümmten Fingern. Hieraus konnte man nur schließen,<br />

daß der arme McPherson beim Hinaufsteigen des Weges gefallen<br />

war. Auch sah ich hie <strong>und</strong> da r<strong>und</strong>e Eindrücke. Er war also<br />

mehrere Male auf die Knie gefallen. Am Ende des Weges befand<br />

sich die ziemlich große Lagune, die die Ebbe hinterlassen<br />

hatte. Am Rande derselben hatte sich McPherson entkleidet,<br />

denn sein Handtuch lag noch auf dem Felsen. Es war zusammengefaltet<br />

<strong>und</strong> trocken, so daß es den Anschein hatte, daß er<br />

gar nicht im Wasser gewesen war. Ein- oder zweimal, während<br />

ich so in dem Steingeröll herumspürte, fand ich kleine Sandstellen,<br />

auf denen die Spur seiner Strandschuhe <strong>und</strong> auch des<br />

bloßen Fußes sichtbar war. Diese letztere bewies, daß er bereits<br />

zum Baden fertig war, während man aus dem trockenen Handtuch<br />

wohl schließen konnte, daß er noch nicht im Wasser gewesen<br />

war.<br />

Und hier setzte die Aufklärung des Problems ein, das so<br />

seltsam wie nur je eines war, mit dem ich mich befaßt hatte.<br />

Der Mann war nicht länger als höchstens eine Viertelst<strong>und</strong>e am<br />

Strand gewesen. Daran war nicht zu zweifeln, denn Stackhurst<br />

war ihm vom Institut gefolgt. Er hatte sich entkleidet <strong>und</strong> war,<br />

wie die Spur des nackten Fußes bewies, im Begriffe gewesen,<br />

zu baden. Dann hatte er seine Kleider wieder übergeworfen,<br />

<strong>und</strong> zwar unvollständig <strong>und</strong> in höchster Eile, <strong>und</strong> war, ohne gebadet<br />

oder mindestens ohne sich abgetrocknet zu haben, zu-<br />

17


ückgeeilt. Und der Gr<strong>und</strong>, weshalb er seine Absicht geändert<br />

hatte, war, daß er in grausamer <strong>und</strong> unmenschlicher Weise gepeitscht<br />

worden war, gequält, daß er in wahnsinnigem Schmerz<br />

seine Lippe zerbissen hatte <strong>und</strong> nur noch soviel Kraft übrigbehalten<br />

hatte, fortzukriechen <strong>und</strong> zu sterben. Wer hatte diese<br />

grausame Tat begangen? An der Küste befanden sich kleine<br />

Grotten <strong>und</strong> Höhlen, aber die noch niedrigstehende Sonne schien<br />

voll in dieselben hinein, <strong>und</strong> sie boten daher keine Möglichkeit<br />

eines Versteckes.<br />

Dann waren noch die vorher erwähnten Umrisse menschlicher<br />

Gestalten zu beachten, aber sie schienen zu weit entfernt<br />

zu sein, als daß sie mit dem Verbrechen in Zusammenhang gebracht<br />

werden konnten, <strong>und</strong> außerdem lag das Wasser, in dem<br />

McPherson hatte baden wollen, bis an die Felsen reichend,<br />

zwischen ihm <strong>und</strong> jenen.<br />

Auf dem Meer befanden sich zwei oder drei Fischerboote in<br />

nicht allzu großer Entfernung. Vielleicht wäre es angebracht,<br />

sich einmal mit den Insassen zu befassen. Es gab also einige<br />

Momente, die zu beachten waren, aber ein wirklich augenfälliges<br />

Merkmal war für meine Forschung nicht vorhanden.<br />

Als ich schließlich zu dem Toten zurückkehrte, sah ich, daß<br />

sich eine Gruppe Menschen bei demselben angesammelt hatte.<br />

Stackhurst war natürlich auch noch dort, <strong>und</strong> Ian Murdoch war<br />

gerade mit Anderson, dem Schutzmann, eingetroffen, einem<br />

kräftigen, blondbärtigen Mann von der bedächtigen, gediegenen<br />

Art dieser Küstenmenschen, ein Menschenschlag, der ein<br />

gutes Herz unter der schwerfälligen äußeren Schale verbirgt. Er<br />

achtete auf alles, nahm von allem, was wir sagten, Notiz <strong>und</strong><br />

zog mich schließlich beiseite.<br />

18


»Ich wäre Ihnen für Ihren Rat dankbar, Mr. <strong>Holmes</strong>. Für<br />

mich ist das hier eine schwer zu bewältigende Aufgabe, <strong>und</strong><br />

wenn ich Fehler machen würde, dürfte es mir schlecht ergehen.«<br />

Ich riet ihm, sofort zu seinem unmittelbaren Vorgesetzten<br />

<strong>und</strong> zu einem Arzt zu schicken, außerdem zu verbieten, daß irgend<br />

etwas angerührt würde <strong>und</strong> so wenig wie möglich Fußspuren<br />

machen zu lassen. Inzwischen untersuchte ich die Taschen<br />

des Toten. Ich fand darin sein Taschentuch, ein großes<br />

Messer <strong>und</strong> ein kleines Visitenkartentäschchen. Aus diesem<br />

blickte ein Zettel heraus, welchen ich entfaltete <strong>und</strong> dem<br />

Schutzmann überreichte. Auf diesem Zettel stand in kritzlicher<br />

Frauenhandschrift folgendes geschrieben:<br />

›Ich werde da sein, darauf kannst Du Dich verlassen.<br />

Maudie.‹<br />

Es sah wie eine Liebesbotschaft aus, wie ein Versprechen,<br />

zum Stelldichein zu kommen, nur wo <strong>und</strong> wann, das blieb ungeklärt.<br />

Der Schutzmann legte den Zettel in das Täschchen zurück<br />

<strong>und</strong> steckte es wieder mit den andern Dingen in die Tasche<br />

des Überziehers. Nun, da für mich nichts mehr zu tun übrig<br />

blieb, wanderte ich nach meinem Haus zurück, um zu frühstücken,<br />

nachdem ich vorher noch dafür gesorgt hatte, daß die<br />

umliegenden Klippen sorgfältig abgesucht wurden.<br />

19


Nach etwa ein bis zwei St<strong>und</strong>en kam Stackhurst zu mir, um mir<br />

mitzuteilen, daß man den Toten nach dem Institut gebracht hatte,<br />

wo die gerichtliche Leichenschau stattfinden sollte. Er<br />

brachte auch noch einige ernste <strong>und</strong> entscheidende Neuigkeiten<br />

mit. Wie ich schon erwartet hatte, war die Untersuchung der<br />

kleinen Höhlen an der Küste resultatlos verlaufen, dagegen hatte<br />

eine Untersuchung der Briefschaften in McPhersons<br />

Schreibtisch Aufschlüsse über eine sehr vertrauliche Korrespondenz<br />

mit einem Fräulein Maud Bellamy in Fulworth ergeben.<br />

Es wurde festgestellt, daß die Verfasserin der Notiz mit<br />

der Schreiberin der gef<strong>und</strong>enen Briefe identisch war.<br />

»Die Polizei hat die Briefe«, erklärte Stackhurst, »deshalb<br />

konnte ich sie Ihnen nicht mitbringen. Aber es kann kein Zweifel<br />

darüber bestehen, daß es sich hierbei um eine ernsthafte<br />

Liebesangelegenheit handelt. Ich sehe jedoch keinen Gr<strong>und</strong> dafür,<br />

diese Liebessache mit dem schrecklichen Ereignis in Verbindung<br />

zu bringen, außer, daß die junge Dame ein Stelldichein<br />

mit dem Toten verabredet hatte.«<br />

»Aber es ist doch nicht anzunehmen, daß sie sich gerade an<br />

der Badestelle treffen würden, welche Sie alle zu benutzen<br />

pflegen«, warf ich ein.<br />

»Es war ein bloßer Zufall«, entgegnete er, »daß nicht mehrere<br />

Schüler sich McPherson angeschlossen hatten!«<br />

»War das bloßer Zufall?«<br />

Stackhurst runzelte die Stirn in Gedanken. »Ian Murdoch<br />

hielt sie davon ab«, sagte er, »er wird darauf bestanden haben,<br />

daß sie noch vor dem Frühstück einige Aufgaben erledigten.<br />

20


Der arme Kerl ist von dem ganzen Ereignis schrecklich mitgenommen.«<br />

»Und doch bin ich davon überzeugt, daß die beiden keine<br />

Fre<strong>und</strong>e waren.«<br />

»Eine Zeitlang standen sie nicht gut. Aber seit mehr als einem<br />

Jahre stand Murdoch dem McPherson so nahe wie kein<br />

<strong>andere</strong>r. Er gehört nicht zu den Menschen, die sich leicht <strong>andere</strong>r<br />

Zuneigung erwerben.«<br />

»Das scheint mir auch so. Mir ist in Erinnerung, daß Sie<br />

mir einmal von einem Streit wegen grausamer Behandlung eines<br />

H<strong>und</strong>es erzählten.«<br />

»Das war längst wieder vergessen.«<br />

»Aber die Sache hat doch vielleicht nachtragende Gefühle<br />

hinterlassen?«<br />

»Nein, ganz bestimmt nicht. Ich bin fest überzeugt, daß sie<br />

wirklich Fre<strong>und</strong>e waren.«<br />

»Nun wohl, wir müssen versuchen, die Affäre mit dem jungen<br />

Mädchen aufzuklären; kennen Sie dasselbe?«<br />

»Jedermann kennt sie. Sie ist die Schönheit der ganzen Gegend,<br />

eine Schönheit, <strong>Holmes</strong>, die die allgemeine Aufmerksamkeit<br />

auf sich lenkt. Ich wußte, daß McPherson von ihr gefesselt<br />

war, aber ich hatte keine Ahnung davon, daß die Beziehungen<br />

so vertraut waren, wie aus den Briefen tatsächlich hervorgeht.«<br />

»Wer ist sie denn?«<br />

21


»Sie ist die Tochter vom alten Tom Bellamy, dem Eigentümer<br />

aller Boote <strong>und</strong> Badekarren von Fulworth. Er hat als einfacher<br />

Fischer angefangen <strong>und</strong> ist jetzt ein wohlhabender Mann.<br />

Er <strong>und</strong> sein Sohn William führen das Geschäft.«<br />

»Wollen wir nach Fulworth gehen <strong>und</strong> sie aufsuchen?«<br />

»Unter welchem Vorwand?«<br />

»Ach, ein Vorwand wird schon leicht zu finden sein. So<br />

viel steht fest, dieser arme Mensch hat sich nicht selbst auf so<br />

schreckliche Weise mißhandelt. Wenn diese Verletzungen<br />

überhaupt durch eine Drahtrute verursacht wurden, so muß<br />

eine menschliche Hand mit im Spiele gewesen sein. Der Kreis<br />

seiner Bekanntschaft war in dieser einsamen Gegend sicher begrenzt.<br />

Wir wollen ihn nach allen Richtungen hin untersuchen,<br />

dann können wir schwerlich im Auffinden der Beweggründe,<br />

die uns auf die Spur des Verbrechers leiten dürften, fehlgehen.«<br />

Es wäre ein schöner Spaziergang über diese nach Thymian<br />

duftenden Hügel gewesen, wenn unsere Gedanken nicht durch<br />

die Tragödie, deren Zeugen wir waren, vergiftet gewesen wären.<br />

Das Dorf Fulworth liegt an einer halbkreisförmigen Einbuchtung.<br />

Hinter dem altertümlichen Dörfchen waren auf ansteigendem<br />

Terrain mehrere moderne Häuser entstanden. Zu<br />

einem von diesen führte mich Stackhurst.<br />

»Dort ist ›der Hafen‹, wie Bellamy das Haus genannt hat.<br />

Das dort mit dem Eckturm <strong>und</strong> dem Schieferdach. Nicht übel<br />

für einen Menschen, der mit nichts angefangen hat, aber <strong>–</strong> um<br />

Himmelswillen, sehen Sie nur! Was hat das zu bedeuten?«<br />

22


Die Gartenpforte des vorerwähnten Hauses hatte sich geöffnet,<br />

<strong>und</strong> ein Mann trat heraus. Da gab es keinen Irrtum; diese<br />

große eckige Gestalt war Ian Murdoch, der Mathematiklehrer.<br />

Einen Augenblick später begegneten wir ihm auf der Straße.<br />

»Hallo!« rief Stackhurst. Der Lehrer grüßte mit einem Seitenblick<br />

aus seinen eigentümlichen dunklen Augen <strong>und</strong> wollte<br />

vorübergehen, aber sein Chef hielt ihn an.<br />

»Was hatten Sie dort zu suchen?« fragte er. Murdochs Gesicht<br />

verzog sich ärgerlich. »Mr. Stackhurst, unter Ihrem Dache<br />

bin ich Ihr Untergebener. Es ist mir aber nicht bewußt, Ihnen in<br />

meinen Privatangelegenheiten irgendwelche Auskunft schuldig<br />

zu sein.«<br />

Stackhursts Nerven waren nach all den Geschehnissen des<br />

Tages aufs höchste angespannt. Sonst würde er sich beherrscht<br />

haben, aber jetzt verlor er vollständig die Gewalt über sich<br />

selbst.<br />

»Unter diesen Umständen ist Ihre Antwort eine glatte Unverschämtheit,<br />

Mr. Murdoch.«<br />

»Ihre eigene Frage dürfte die gleiche Bezeichnung verdienen.«<br />

»Dies ist nicht das erstemal, daß Sie sich mir gegenüber ungehörig<br />

benommen haben, aber sicher wird es das letztemal<br />

sein. Wollen Sie sich gefälligst so rasch wie irgend möglich<br />

nach einem <strong>andere</strong>n Posten umsehen.«<br />

»Es war ohnehin meine Absicht, dies zu tun. Ich habe mit<br />

dem heutigen Tage den einzigen Menschen verloren, der mir<br />

das Leben unter Ihrem Dach erträglich gemacht hatte.«<br />

23


Er setzte seinen Weg fort, während ihm Stackhurst mit zornigen<br />

Augen nachblickte. »Ist er nicht ein unmöglicher, unangenehmer<br />

Mensch?« rief er.<br />

Das, was sich meinem Gedankengang dabei markant aufprägte,<br />

war die Tatsache, daß Ian Murdoch die erste Gelegenheit,<br />

die sich ihm bot, ergriff, um aus dem Bereich des Verbrechens<br />

herauszukommen. Vage <strong>und</strong> unklare Verdachtsmomente<br />

fingen an, in meinem Kopf Fuß zu fassen. Vielleicht konnte der<br />

Besuch bei den Bellamys einiges Licht auf das Dunkel der Angelegenheit<br />

werfen. Stackhurst nahm sich zusammen, <strong>und</strong> wir<br />

schritten auf das Haus zu.<br />

Mr. Bellamy erwies sich als ein Mann mittlerer Jahre mit flammend<br />

rotem Barte. Er schien sehr schlechter Laune zu sein, <strong>und</strong><br />

sein Gesicht war fast so rot wie seine Haare.<br />

»Nein, mein Herr, ich wünsche keinerlei Einzelheiten.<br />

Mein Sohn hier«, damit wies er auf einen kraftvollen jungen<br />

Mann, mit finsterem mürrischen Gesicht, in der Ecke des<br />

Wohnzimmers, »ist, wie ich, der Meinung, daß die Aufmerksamkeiten<br />

von McPherson für meine Maud beleidigend waren.<br />

Jawohl, mein Herr, das Wort ›Heirat‹ wurde nie erwähnt, <strong>und</strong><br />

doch flogen die Briefe hin <strong>und</strong> her, <strong>und</strong> man traf sich, <strong>und</strong> noch<br />

allerlei mehr war zwischen ihnen, wofür aber keiner von uns<br />

einen Beweis bringen kann. Sie hat keine Mutter mehr, wir<br />

sind ihre einzigen Hüter. Wir sind entschlossen <strong>–</strong>«<br />

24


In diesem Augenblick wurde ihm das Wort durch das Erscheinen<br />

des jungen Mädchens selbst aus dem M<strong>und</strong> genommen.<br />

Über eines konnte es nur ein Urteil geben: sie würde jeder<br />

Gesellschaft, welche es auch sei, zur Zierde gereicht haben.<br />

Wer hätte sich vorstellen können, daß eine so kostbare Blume<br />

von solcher Abstammung <strong>und</strong> in solcher Umgebung erblühen<br />

kann. Frauen haben selten Anziehungskraft auf mich ausgeübt,<br />

denn mein Verstand hat immer mein Herz beherrscht, aber hier<br />

konnte ich nicht in das vollendet schöne Gesicht mit all der<br />

lieblichen Frische <strong>und</strong> den zarten Farben blicken, ohne davon<br />

25


überzeugt zu sein, daß kein junger Mann an so viel Lieblichkeit<br />

unberührt vorübergehen konnte. Wie ein Bild im Rahmen sah<br />

das junge Mädchen, welches die Tür aufgestoßen hatte <strong>und</strong> nun<br />

erwartungsvoll mit weit geöffneten Augen Harold Stackhurst<br />

gegenüberstand, aus.<br />

»Ich weiß bereits, daß Fitzroy tot ist«, sagte sie. »Sie können<br />

mir ruhig die Einzelheiten mitteilen.«<br />

»Der <strong>andere</strong> Bekannte von dir hat uns die Neuigkeiten<br />

schon mitgeteilt«, erklärte der Vater.<br />

»Es liegt kein Gr<strong>und</strong> vor, meine Schwester mit diesem Ereignis<br />

in Verbindung zu bringen«, bemerkte der junge Mann<br />

mürrisch.<br />

Die Schwester warf einen zornigen Blick auf den Bruder.<br />

»Dies ist meine Angelegenheit, William. Kümmere dich bitte<br />

nicht um meine Dinge; die gehen dich nichts an. Nach allem,<br />

was ich bis jetzt gehört habe, handelt es sich um ein Verbrechen;<br />

wenn ich helfen kann, den Schuldigen zu ermitteln, so ist<br />

das wohl das letzte, was ich für ihn, der dahingegangen ist, tun<br />

kann.«<br />

Sie hörte der kurzen Schilderung, die mein Begleiter gab,<br />

mit gespannter Aufmerksamkeit zu, die bewies, daß sie neben<br />

ihrer großen Schönheit auch einen starken Charakter besaß.<br />

Maud Bellamy wird immer als eine vollkommene <strong>und</strong> markante<br />

Frauenerscheinung in meiner Erinnerung bleiben. Es schien,<br />

als ob sie mich schon von Ansehen kannte, denn sie wandte<br />

sich mir mit den Worten zu:<br />

26


»Verhelfen Sie der Gerechtigkeit zum Siege, Mr. <strong>Holmes</strong>.<br />

Ihnen gehört meine Hilfe <strong>und</strong> mein Vertrauen, wer auch die<br />

Schuldigen sein mögen.« Es schien mir, als ob sie auf Vater<br />

<strong>und</strong> Bruder einen herausfordernden Blick warf, während sie zu<br />

mir sprach.<br />

»Ich danke Ihnen«, antwortete ich. »Ich schätze in solchen<br />

Angelegenheiten den Instinkt einer Frau sehr hoch ein. Sie gebrauchten<br />

die Bezeichnung ›die Schuldigen‹. Sie glauben also,<br />

daß mehrere Personen die Hand bei diesem Verbrechen im<br />

Spiele hatten?«<br />

»Ich kannte Mr. McPherson gut genug, um zu wissen, daß<br />

er ein mutiger <strong>und</strong> kraftvoller Mann war. Ein einzelner Mensch<br />

hätte ihm nie solche Gewalttätigkeit zufügen können.«<br />

»Könnte ich ein Wort unter vier Augen mit Ihnen<br />

sprechen?«<br />

»Ich rate dir, Maud, dich nicht in die Angelegenheit zu mischen«,<br />

rief der Vater zornig.<br />

Sie sah hilflos zu mir auf. »Was soll ich tun?«<br />

»Alle Welt wird den Sachverhalt bald genug wissen, so<br />

schadet es auch nichts weiter, wenn ich hier darüber spreche«,<br />

sagte ich. »Ich hätte lieber mit Ihnen allein gesprochen, aber da<br />

Ihr Vater es nicht erlauben will, so muß er der Besprechung<br />

beiwohnen.« Dann sprach ich von dem Zettel, der bei dem Toten<br />

gef<strong>und</strong>en worden war. »Dieser Zettel wird bei der gerichtlichen<br />

Untersuchung zweifellos zur Sprache kommen. Darf ich<br />

Sie bitten, dazu so viel Aufklärung zu geben, wie es Ihnen irgend<br />

möglich ist?«<br />

27


»Ich sehe keinen Gr<strong>und</strong>, warum ich etwas verheimlichen<br />

soll«, antwortete sie. »Wir waren verlobt <strong>und</strong> wollten heiraten,<br />

<strong>und</strong> wir hielten die Verlobung nur geheim, weil Fitzroy einen<br />

alten Onkel hatte, der im Sterben lag, <strong>und</strong> der ihn möglicherweise<br />

bei einer Heirat gegen seinen Wunsch enterbt hätte. Ein<br />

<strong>andere</strong>r Gr<strong>und</strong> war nicht vorhanden.«<br />

»Das hättest du uns doch sagen können«, entgegnete der<br />

alte Bellamy.<br />

»Das hätte ich getan, wenn du je das geringste Verständnis<br />

für mich gezeigt hättest.«<br />

»Es paßte mir nicht, daß meine Tochter mit Männern Verbindung<br />

pflegt, die ihren Kreisen fernstehen.«<br />

»Dein Vorurteil gegen ihn war schuld daran, daß wir dir<br />

nichts erzählten. Was nun dies Stelldichein anbelangt, so ist<br />

mein Zettel eine Antwort auf diese Nachricht«, <strong>und</strong> damit<br />

brachte sie einen zerknitterten Zettel, den sie bei sich trug, zum<br />

Vorschein.<br />

»Liebste«, lautete die Botschaft, »am alten Platz am<br />

Strand, am Dienstag gleich nach Sonnenuntergang. Nur dann<br />

bin ich abkömmlich. F.M.«<br />

»Dienstag ist heute, <strong>und</strong> ich hatte die Absicht, ihn heute<br />

abend zu treffen.«<br />

Ich drehte den Zettel herum. »Diese Botschaft kam nicht<br />

durch die Post. Wie kamen Sie in den Besitz?«<br />

»Diese Frage möchte ich lieber nicht beantworten. Das hat<br />

eigentlich nichts mit dem, was Sie aufklären wollen, zu tun.<br />

28


Aber alles, was zur Klärung beitragen kann, will ich gern beantworten.«<br />

An ihren Worten war nicht zu zweifeln, aber sie konnten<br />

unsere Untersuchung nicht fördern. Sie hatte keinen Gr<strong>und</strong>, anzunehmen,<br />

daß ihr Verlobter heimliche Feinde gehabt haben<br />

könne, aber sie gab zu, daß sie mehrere ehrliche Verehrer hätte.<br />

»Darf ich fragen, ob Ian Murdoch auch zu diesen gehört?«<br />

Sie errötete <strong>und</strong> schien verlegen.<br />

»Es gab eine Zeit, wo ich es geglaubt habe. Aber von dem<br />

Augenblick an, wo er meine Beziehungen zu Fitzroy kannte,<br />

hatte sich das geändert.«<br />

Wieder schien der Schatten, der diesen sonderbaren Menschen<br />

umgab, für mich festere Gestalt zu gewinnen. Hier mußte<br />

geforscht werden. Über sein Vorleben mußten Nachforschungen<br />

angestellt werden. Stackhurst war ein guter Mitarbeiter,<br />

denn auch ihm schienen Verdachtsmomente aufzusteigen.<br />

Wir kehrten von unserem Besuch im ›Hafen‹ mit der Hoffnung<br />

zurück, daß wir bereits ein Ende zur Lösung des verwickelten<br />

Knäuels in der Hand hatten.<br />

Eine Woche war verstrichen. Die gerichtliche Untersuchung<br />

hatte kein Licht auf das Dunkel der ganzen Angelegenheit geworfen<br />

<strong>und</strong> wurde bis auf weiteres vertagt, um neue Feststellungen<br />

machen zu können. Stackhurst hatte über das Vorleben<br />

seines Untergebenen diskrete Nachforschungen gemacht; auch<br />

hatte man sein Zimmer einer genauen Untersuchung unterzogen,<br />

jedoch ohne Erfolg.<br />

29


Ich selbst hatte alles noch einmal genau durchforscht, sowohl<br />

geistig wie räumlich, aber ohne zu irgendwelchen neuen<br />

Schlußfolgerungen oder Verdachtsmomenten zu gelangen. In<br />

meinen ganzen Memoiren wird der geneigte Leser nicht einen<br />

Fall finden, der mich so an die Grenzen meines Könnens<br />

brachte. Selbst meine Einbildungskraft konnte keine Lösung<br />

dieses geheimnisvollen Vorfalls bringen. Dann kam der Vorfall<br />

mit dem H<strong>und</strong>.<br />

Man hatte es meiner alten Haushälterin erzählt, wie solche<br />

Leute auf dem Lande sich einander Neuigkeiten zutragen.<br />

»Das ist aber eine traurige Geschichte mit Mr. McPhersons<br />

H<strong>und</strong>, Herr«, sagte sie eines Abends zu mir.<br />

Ich bin kein Fre<strong>und</strong> von solchen Zuträgereien, aber ihre<br />

Worte erregten meine Aufmerksamkeit.<br />

»Was ist mit Mr. McPhersons H<strong>und</strong>?«<br />

»Er ist tot, Herr. Er starb aus Gram um seinen Herrn.«<br />

»Woher wissen Sie das?«<br />

»Nun, Herr, alle Welt spricht doch davon. Das Tier hat sich<br />

schrecklich gebärdet <strong>und</strong> hat über eine Woche kein Futter angerührt.<br />

Dann fanden heute früh zwei von den Schülern das<br />

Tier tot an der Küste, genau an der Stelle, wo sein Herr sein<br />

Leben aushauchte.«<br />

›Genau an der Stelle.‹ Diese Worte ließen mir den Vorfall<br />

von Wert erscheinen. Eine dunkle Vorstellung, daß diese Tatsache<br />

von Wichtigkeit sei, tauchte in meinem Hirn auf. Daß der<br />

H<strong>und</strong> starb, war für jeden begreiflich, der die sprichwörtliche<br />

30


Treue der H<strong>und</strong>eseele kannte. Aber ›genau an der Stelle‹?<br />

Warum sollte dieser einsame Strand dem Tiere verhängnisvoll<br />

sein? War es möglich, daß auch dieses Tier einem Racheakt<br />

zum Opfer gefallen war? War es möglich? <strong>–</strong> Ja, die Vorstellung<br />

war dunkel, aber irgend etwas entwickelte sich da in meinem<br />

Geiste. Nach wenigen Minuten befand ich mich schon auf<br />

dem Wege zum Institut, wo ich Stackhurst in seinem Studierzimmer<br />

antraf. Auf meinen Wunsch ließ er die beiden Schüler,<br />

Sudbury <strong>und</strong> Blount, die den H<strong>und</strong> gef<strong>und</strong>en hatten, herbeiholen.<br />

»Ja, er lag genau am Rande des Wasserloches«, sagte der<br />

eine von ihnen. »Der H<strong>und</strong> muß der Fährte seines toten Herrn<br />

gefolgt sein.«<br />

Ich sah das treue kleine Geschöpf, einen Airedaleterrier,<br />

den man auf die Matte im Korridor gelegt hatte. Der Körper<br />

war starr <strong>und</strong> steif, die Augen waren herausgetreten <strong>und</strong> die<br />

Glieder verzerrt. Das waren alles Zeichen eines qualvollen Todeskampfes.<br />

Vom Institut wanderte ich abwärts zur Badestelle. Die Sonne<br />

war untergegangen, <strong>und</strong> der Schatten der großen Klippe lag<br />

schwarz <strong>und</strong> düster auf dem Wasser wie eine Bleiplatte. Der<br />

Platz lag einsam <strong>und</strong> verlassen, kein Leben rührte sich, nur<br />

zwei Wasservögel kreisten schreiend über mir. In dem schwindenden<br />

Lichte waren die Spuren des kleinen H<strong>und</strong>es, die um<br />

den Felsen, wo das Handtuch des Herrn gelegen hatte, herumliefen,<br />

im Sande schwach zu erkennen. Lange Zeit stand ich in<br />

Gedanken versunken, während die Schatten der Nacht um mich<br />

herum immer dunkler wurden. In meinem Kopf jagten sich die<br />

31


Gedanken. Sie wissen, was es bedeutet, von einem Albdrücken<br />

befallen zu werden, man fühlt, es ist etwas ganz Wichtiges da,<br />

man sucht es <strong>und</strong> kann es doch nicht fassen, trotzdem es ganz<br />

bestimmt vorhanden ist. So fühlte ich mich an jenem Abend,<br />

wie ich so allein an der Stätte des Todes stand. Schließlich<br />

wandte ich mich um <strong>und</strong> kehrte langsam heim.<br />

Ich hatte gerade das Ende des Fußsteiges erreicht, als mir<br />

plötzlich ein Blitz der Erleuchtung kam, ich wußte, wonach ich<br />

so lange eifrig <strong>und</strong> vergeblich gegrübelt hatte. Wenn Watson<br />

32


seine Geschichten nicht vergeblich geschrieben hat, muß es<br />

dem geneigten Leser erinnerlich sein, daß ich einen ausgedehnten<br />

Vorrat von allerlei Wissenskram besaß, der abseits der alltäglichen<br />

Kenntnisse lag, der eigentlich nichts mit exaktem<br />

Wissen zu tun hatte, mir aber oft bei meiner Arbeit von außerordentlichem<br />

Nutzen war. Mein Geist gleicht einer vollgepropften<br />

Rumpelkammer, in der alle möglichen Sachen verstaut<br />

sind, so viele, daß ich selbst nur eine schwache Vorstellung<br />

von dem, was vorhanden ist, habe. Ich wußte, daß da auch<br />

etwas sein mußte, was mir bei der Aufklärung dieses Falles<br />

helfen würde. Noch war es vage, aber ich wußte wenigstens,<br />

wie ich der Sache näherkommen konnte. Es war ungeheuerlich,<br />

unglaublich, <strong>und</strong> doch bot es immerhin eine Möglichkeit. Diese<br />

mußte ich voll <strong>und</strong> ganz ausnutzen.<br />

Ich hatte in meinem kleinen Hause eine große Dachstube,<br />

die mit Büchern vollgestopft war. Dahinein begab ich mich<br />

jetzt <strong>und</strong> suchte <strong>und</strong> wühlte dort eine St<strong>und</strong>e herum. Schließlich<br />

verließ ich die Dachstube mit einem kleinen Bändchen in<br />

Braun <strong>und</strong> Silber geb<strong>und</strong>en. Begierig schlug ich das Kapitel<br />

auf, das ich in dunkler Erinnerung hatte. Ja, es war tatsächlich<br />

eine weit hergeholte <strong>und</strong> unwahrscheinliche Annahme, <strong>und</strong><br />

doch konnte ich nicht Ruhe finden, ehe ich mich nicht überzeugt<br />

hatte, ob sie zutraf. Es war spät, wie ich mich zur Ruhe<br />

begab, im Geiste ungeduldig der Arbeit des kommenden Tages<br />

entgegensehend.<br />

Aber diese Arbeit begann mit einer ärgerlichen Unterbrechung.<br />

Ich hatte kaum meinen Morgentee getrunken <strong>und</strong> wollte<br />

mich auf den Weg zum Strand machen, als mich Inspektor<br />

Bardle von der Sussexer Polizeitruppe aufsuchte, ein Hüne von<br />

Mensch mit scharfem Blick, der mich jetzt mit einem besorgten<br />

Gesichtsausdruck ansah.<br />

33


»Ich weiß, welche reichen Erfahrungen Sie hinter sich haben,<br />

Mr. <strong>Holmes</strong>«, sagte er. »Mein Besuch ist natürlich ganz<br />

unoffiziell, <strong>und</strong> ich bitte um Ihr Stillschweigen darüber. Aber<br />

in dieser McPherson-Angelegenheit weiß ich mir keinen Rat<br />

mehr. Es handelt sich darum, soll ich eine Verhaftung vornehmen,<br />

oder soll ich sie unterlassen?«<br />

»Sie meinen Mr. Ian Murdoch?«<br />

»Ja, Mr. <strong>Holmes</strong>. Wenn Sie’s recht überlegen, kommt niemand<br />

anders in Frage. Das ist der Vorteil dieser verlassenen<br />

Gegend. Es bleibt nur ein kleines Gesichtsfeld für unsere Nachforschung.<br />

Wenn er nicht der Schuldige ist, wer sollte es sonst<br />

sein?«<br />

»Was haben Sie gegen den Mann vorzubringen?«<br />

Er war denselben Fingerzeigen nachgegangen wie ich.<br />

Murdochs Charakter <strong>und</strong> das geheimnisvolle Wesen, das den<br />

Mann umgab. <strong>Seine</strong> jähzornigen Temperamentsausbrüche, die<br />

sich bei dem Vorfall mit dem H<strong>und</strong> gezeigt hatten. Die Tatsache,<br />

daß er früher einmal mit McPherson Streit gehabt hatte,<br />

<strong>und</strong> es war vielleicht auch Gr<strong>und</strong> vorhanden, anzunehmen, daß<br />

er wegen Miss Bellamy eifersüchtig war. All die Anhaltspunkte,<br />

die ich selbst erwogen hatte, zählte er mir auf, aber neue kamen<br />

nicht hinzu, ausgenommen, daß Murdoch alles zu seinem<br />

Fortgange vorzubereiten schien.<br />

»Wie wäre meine Lage, wenn ich ihn, der mit all diesen<br />

Verdachtsmomenten belastet ist, entschlüpfen lasse!« Der<br />

stämmige, schwerfällige Mann machte sich offensichtlich<br />

große Sorgen.<br />

34


»Überlegen Sie«, sagte ich, »alle wichtigen Lücken in Ihrem<br />

Falle. Murdoch wird sicher sein Alibi an dem Morgen des<br />

Verbrechens nachweisen können. Er war bis zum letzten Augenblick<br />

mit seinen Schülern zusammen, <strong>und</strong> wenige Minuten<br />

nach McPhersons Erscheinen war er auch schon hinter uns.<br />

Dann bedenken Sie die absolute Unmöglichkeit, daß er allein<br />

einem Mann, der ebenso stark wie er selbst war, solche Gewalttätigkeiten<br />

hätte antun können. Endlich bleibt noch die<br />

Frage des Instruments, mit dem diese Verletzungen zugefügt<br />

wurden.«<br />

»Was kann das <strong>andere</strong>s gewesen sein als eine Peitsche oder<br />

biegsame Gerte oder dergleichen?«<br />

»Haben Sie die Verletzungen geprüft?« fragte ich.<br />

»Ich habe sie gesehen <strong>und</strong> ebenfalls der Arzt.«<br />

»Aber ich habe diese Spuren sehr sorgfältig untersucht, <strong>und</strong><br />

zwar mit Hilfe der Photographie. Sie haben ihre ganz besonderen<br />

Eigentümlichkeiten.«<br />

»Was sind das für Eigentümlichkeiten, Mr. <strong>Holmes</strong>?«<br />

Ich ging in meinen Arbeitsraum <strong>und</strong> holte von dort eine<br />

vergrößerte photographische Aufnahme. »Das ist meine Arbeitsmethode<br />

in solchen Fällen«, erklärte ich.<br />

»Sie machen aber auch alles gründlich, Mr. <strong>Holmes</strong>!«<br />

»Ich wäre wohl nicht das geworden, was ich bin, wenn ich<br />

nicht immer gründliche Arbeit geleistet hätte. Nun betrachten<br />

Sie einmal genau diesen Striemen, welcher r<strong>und</strong> um die rechte<br />

35


Schulter läuft. Fällt Ihnen dabei nicht etwas ganz Besonderes<br />

auf?«<br />

»Das kann ich nicht sagen.«<br />

»Sicher ist es augenfällig, daß die Spur in ihrer Stärke ungleichmäßig<br />

ist Da ist eine Stelle, wo der Bluterguß außergewöhnlich<br />

stark ist <strong>und</strong> hier eine weitere. Hier bei diesen <strong>andere</strong>n<br />

Striemen sind die Verletzungen ähnlicher Art. Was kann<br />

man hieraus schließen?«<br />

»Ich habe keine Ahnung. Wissen Sie es?«<br />

»Vielleicht, vielleicht auch nicht! Ich werde in Kürze vielleicht<br />

in der Lage sein, Ihnen mehr darüber zu sagen. Alles,<br />

was uns der Aufklärung dieser Spuren näherbringen kann, wird<br />

uns auch auf dem Wege zur Entdeckung des Verbrechens vorwärtsbringen.«<br />

»Es ist natürlich eine absurde Idee«, sagte der Inspektor,<br />

»aber wenn ein rotglühendes Eisennetz über dem Rücken gelegen<br />

hätte, könnte man meinen, diese schärfer markierten Stellen<br />

zeigten die Kreuzungen der einzelnen Maschen.«<br />

»Ein genialer Vergleich. Oder handelt es sich um eine straffe<br />

neunschwänzige Katze mit kleinen harten Knoten daran?«<br />

»Donnerwetter, Mr. <strong>Holmes</strong>, Sie haben’s getroffen!«<br />

»Oder es kann noch etwas ganz <strong>andere</strong>s sein, Mr. Bardle.<br />

Aber für eine Verhaftung ist Ihr Fall viel zu schwach begründet.<br />

Außerdem dürfen wir auch die letzten Worte: ›Des Löwen<br />

Mähne‹, nicht außer acht lassen.«<br />

36


»Ich habe schon gedacht, ob ›Ian‹ <strong>–</strong>«<br />

»Ja, ich habe das auch überlegt. Ob vielleicht das zweite<br />

Wort mit Murdoch in irgendwelcher Beziehung stehen kann? 1<br />

Nein, das ist nicht der Fall. Es war nur ein Schrei, aber ich bin<br />

sicher, daß es das Wort ›Mähne‹ war.«<br />

»Haben Sie vielleicht noch eine <strong>andere</strong> Erklärung, Mr. <strong>Holmes</strong>?«<br />

»Vielleicht doch. Aber ich möchte nicht darüber sprechen,<br />

bis ich weitere Feststellungen gemacht habe.«<br />

»Und wann wird das der Fall sein?«<br />

»Vielleicht schon in einer St<strong>und</strong>e, vielleicht noch früher.«<br />

Der Inspektor rieb sich sein Kinn <strong>und</strong> sah mich zweifelhaft<br />

an.<br />

»Ich wünschte, Mr. <strong>Holmes</strong>, ich könnte mal hinter Ihre<br />

Stirn sehen. Vielleicht hängt es mit jenen Fischerbooten zusammen?«<br />

»Nein, nein, sie waren viel zu weit entfernt.«<br />

»Nun, dann kommen nur noch Bellamy <strong>und</strong> sein großer<br />

Sohn in Frage? Sie waren beide nicht gut auf Mr. McPherson<br />

zu sprechen. Ob sie ihm wohl ein Leid zugefügt haben?«<br />

»Nein, lieber Fre<strong>und</strong>, Sie werden nichts aus mir herausholen,<br />

bis es nicht spruchreif ist«, sagte ich lächelnd. »Lieber In-<br />

1 Mähne=Mane, gesprochen [meyn]<br />

37


spektor, jeder arbeitet nach seiner eigenen Methode. Vielleicht<br />

ist es Ihnen recht, mich heute mittag hier aufzusuchen?«<br />

So weit waren wir gekommen, als eine fürchterliche Unterbrechung<br />

eintrat, die der Anfang vom Ende war.<br />

Meine Haustür wurde aufgerissen, stolpernde Fußtritte wurden<br />

im Vorraum hörbar. Ian Murdoch taumelte ins Zimmer, totenblaß,<br />

seine Kleidung in wilder Unordnung. Mit den knochigen<br />

Händen klammerte er sich an den Möbeln fest, um sich<br />

aufrecht zu halten. »Brandy! Brandy!«, ächzte er <strong>und</strong> fiel<br />

schwer atmend auf das Sofa.<br />

Er war nicht allein. Stackhurst war hinter ihm erschienen,<br />

keuchend <strong>und</strong> ohne Hut, fast ebenso aufgelöst wie sein Gefährte.<br />

»Ja, ja, Brandy«, schrie er. »Der Mann ist am Ende seiner<br />

Kraft, alles, was ich tun konnte, war, ihn hierher zu bringen. Er<br />

verlor auf dem Wege hierher zweimal die Besinnung.«<br />

Ein halbes Wasserglas von diesem starken Getränk hatte<br />

eine w<strong>und</strong>erbare Wirkung. Er richtete sich auf einem Arm<br />

hoch, warf seinen Rock ab <strong>und</strong> schrie: »Um Gottes willen, Öl,<br />

Morphium, Opium, irgend etwas, um diese Höllenqualen zu erleichtern.«<br />

Der Inspektor <strong>und</strong> ich schrien auf bei dem Anblick des entblößten<br />

Körpers. Kreuz <strong>und</strong> quer liefen die gleichen eigentümlichen<br />

netzartigen, rot gezeichneten Linien, welche dem armen<br />

Fitzroy McPherson den Todesstempel aufgedrückt hatten, über<br />

die Schultern des Mannes.<br />

38


Die Schmerzen waren augenscheinlich furchtbar <strong>und</strong> schienen<br />

den ganzen Körper ergriffen zu haben, denn während der<br />

Leidende einen Augenblick den Atem anzuhalten schien, färbte<br />

sich sein Gesicht fast schwarz, <strong>und</strong> er griff laut stöhnend nach<br />

seinem Herzen, während Schweißtropfen von seiner Stirne rannen.<br />

Es hatte den Anschein, als ob er jeden Moment sterben<br />

würde. Immer mehr Kognak wurde ihm durch die Kehle hinuntergegossen,<br />

<strong>und</strong> nach jedem Schluck erholte er sich etwas.<br />

Watte, in Olivenöl getaucht, schien den brennenden Schmerz<br />

der sonderbaren W<strong>und</strong>en zu lindern. Schließlich fiel sein Kopf<br />

schwer auf die Kissen. Die erschöpfte Natur machte ihr Recht<br />

geltend, <strong>und</strong> in einem Zustand, der halb Schlaf, halb Ohnmacht<br />

war, fand er Linderung seiner Schmerzen.<br />

Eine Frage an ihn zu stellen, war ein Ding der Unmöglichkeit,<br />

aber in dem Augenblick, als wir über seinen Zustand beruhigt<br />

waren, wandte sich Stackhurst mir zu.<br />

»Mein Gott, <strong>Holmes</strong>«, rief er, »was kann das sein?«<br />

»Wo fanden Sie ihn?«<br />

»Unten am Strand. An der Stelle, wo den armen McPherson<br />

der Tod packte. Wenn das Herz dieses Mannes so schwach gewesen<br />

wäre wie das von McPherson, wäre er jetzt nicht hier.<br />

Mehr als einmal habe ich auf dem Wege hierher geglaubt, es<br />

ginge mit ihm zu Ende. Zum Institut war der Weg zu lang, darum<br />

brachte ich ihn zu Ihnen.«<br />

»Sahen Sie ihn an der Küste?«<br />

»Ich ging an den Klippen spazieren, als ich seinen Schrei<br />

hörte. Er war am Rande des Wassers <strong>und</strong> taumelte herum wie<br />

39


ein Betrunkener. Ich rannte den Weg hinunter, warf einige<br />

Kleider über ihn <strong>und</strong> brachte ihn hierher. Um Gottes willen,<br />

<strong>Holmes</strong>, setzen Sie alle Ihre Kräfte ein, <strong>und</strong> scheuen Sie keine<br />

Mühe, um den Fluch, der auf diesem Orte zu haften scheint, zu<br />

beseitigen, denn sonst wird das Leben hier unhaltbar. Können<br />

Sie uns mit Ihrem Weltruf nicht Hilfe bringen?«<br />

»Ich denke, Stackhurst, es wird mir möglich sein. Kommen<br />

Sie jetzt mit mir. Und Sie, Herr Inspektor, begleiten uns. Wir<br />

werden sehen, ob wir Ihnen nicht den Mörder aushändigen<br />

können.«<br />

Wir überließen den Bewußtlosen der Pflege meiner Haushälterin<br />

<strong>und</strong> machten uns auf den Weg nach der todbringenden<br />

Lagune. Auf den Steinen lag ein Häufchen Handtücher <strong>und</strong><br />

Kleidungsstücke, die von dem verletzten Murdoch zurückgelassen<br />

worden waren. Langsam wanderte ich, meine Begleiter<br />

in Reih <strong>und</strong> Glied hinter mir, um das Wasser. Der größte Teil<br />

desselben war ganz flach, aber unter der Klippe, wo die Küste<br />

einen Bogen macht, war das Wasser vier bis fünf Fuß tief. Das<br />

war natürlich die Stelle, die ein Schwimmer bevorzugt; hier<br />

war das Wasser von einem herrlichen durchsichtigen Grün <strong>und</strong><br />

so klar wie Kristall. Eine Felsenplatte lag darüber, <strong>und</strong> dahin<br />

lenkte ich meine Schritte, die Tiefe des Wassers unter mir<br />

scharf beobachtend. Ich hatte schließlich die tiefste <strong>und</strong> ruhigste<br />

Stelle erreicht, als meine Augen plötzlich das erblickten,<br />

wonach sie so eifrig Umschau hielten. Ich brach in einen Triumphruf<br />

aus.<br />

40


»Cyanea«, rief ich. »Cyanea! Seht euch des Löwen Mähne<br />

an.«<br />

Das seltsame Etwas, auf das ich zeigte, sah tatsächlich aus<br />

wie ein verwirrter Teil einer Löwenmähne.<br />

Es lag auf einem Felsvorsprung etwa drei Fuß unter der<br />

Wasseroberfläche, eine sonderbare, vibrierende behaarte Kreatur<br />

mit Silberstreifen zwischen den gelben Strähnen. Sie be-<br />

41


wegte sich in langsamen Ausdehnungen <strong>und</strong> Zusammenziehungen.<br />

»Dies Geschöpf hat Unheil genug angestiftet. <strong>Seine</strong> Tage<br />

sind vorüber«, rief ich. »Helfen Sie mir, Stackhurst, wir werden<br />

den Mörder für immer unschädlich machen.«<br />

Gerade über der Felsecke lag ein großer Stein. Wir schoben<br />

denselben vor uns her, bis er mit fürchterlichem Aufplatschen<br />

ins Wasser fiel. Nachdem sich die Wasseroberfläche wieder<br />

geglättet <strong>und</strong> geklärt hatte, sahen wir, daß der Stein auf dem<br />

Felsvorsprung lag. Ein zuckender Teil der gelben Masse zeigte<br />

uns, daß unser Opfer unter dem Stein begraben war. Ein dicker<br />

öliger Schaum quoll unter diesem hervor, färbte das Wasser<br />

ringsherum <strong>und</strong> stieg langsam zur Oberfläche empor.<br />

»Nun bin ich aber platt«, rief der Inspektor. »Was ist das,<br />

Mr. <strong>Holmes</strong>? Ich bin hier auf diesem Fleck Erde geboren <strong>und</strong><br />

aufgewachsen, aber niemals habe ich eine solche Kreatur gesehen.<br />

Die ist an der Küste von Sussex nicht heimisch.«<br />

»Das ist kein Nachteil für Sussex«, bemerkte ich.<br />

»Der Südweststurm wird sie hergetrieben haben. Lassen Sie<br />

uns in mein Haus zurückkehren. Dann werde ich Ihnen einiges<br />

von dem schrecklichen Erlebnis eines Menschen erzählen, der<br />

aus eigener Erfahrung von derselben Gefahr der See zu berichten<br />

weiß.«<br />

Als wir wieder in meinem Arbeitszimmer angelangt waren,<br />

fanden wir, daß sich Murdoch so weit erholt hatte, daß er aufrecht<br />

sitzen konnte. Er war noch benommen, <strong>und</strong> hin <strong>und</strong> wie-<br />

42


der krampfte er sich vor Schmerzen zusammen. In abgebrochenen<br />

Worten erklärte er, daß er keine Ahnung davon habe, was<br />

mit ihm geschehen sei, er wußte nur, daß ihn diese schrecklichen<br />

Schmerzen plötzlich durchzuckt hatten, <strong>und</strong> daß er alle<br />

Kräfte hatte anspannen müssen, um das Ufer zu erreichen.<br />

»Hier ist ein Buch«, sagte ich, den kleinen Band aufnehmend,<br />

»das mir das erste Licht in das geworfen hat, was sonst<br />

vielleicht immer in Dunkel gehüllt geblieben wäre. Es ist das<br />

Buch ›Im Freien‹ von dem berühmten Naturk<strong>und</strong>igen J.G.<br />

Wood. Wood selbst ist durch eine Begegnung mit dieser abscheulichen<br />

Kreatur beinahe ums Leben gekommen, so konnte<br />

er aus eigener Erfahrung schreiben. ›Cyanea Capillata‹ ist der<br />

vollständige Name des schrecklichen Geschöpfes, dessen Angriff<br />

so lebensgefährlich ist wie nur irgend möglich, <strong>und</strong> dessen<br />

Verletzungen mehr schmerzen als der Biß einer Kobra. Lassen<br />

Sie mich Ihnen einen kurzen Überblick geben.<br />

›Wenn der Badende eine wabblige r<strong>und</strong>liche Masse von<br />

lohfarbenen Häutchen <strong>und</strong> Fasern, ähnlich einem Armvoll Haare<br />

aus einer Löwenmähne mit etwas, das Silberpapier ähnelt,<br />

dazwischen sieht, dann möge er auf der Hut sein, denn das ist<br />

der gefährliche Stecher Cyanea Capillata.‹ Könnte unsere unheilvolle<br />

Entdeckung deutlicher beschrieben werden?<br />

Er erzählt weiter von seiner eigenen Begegnung, als er einmal<br />

an der Küste von Kent schwamm. Er gewahrte, daß die<br />

Kreatur fast unsichtbare Fasern bis zu einer Entfernung von<br />

fünfzig Fuß aussandte, <strong>und</strong> daß jedermann, der sich im Wasser<br />

in diesem Umkreis des tödlichen Mittelpunktes befand, in Todesgefahr<br />

schwebte. Selbst in ziemlich großer Entfernung war<br />

die Wirkung auf Wood fast verhängnisvoll. Die zahlreichen<br />

Fäden verursachten scharlachrote Linien auf seiner Haut. Bei<br />

43


genauer Untersuchung dieser Linien zeigte sich, daß dieselben<br />

aus Reihen von unendlich vielen, winzig kleinen Punkten <strong>und</strong><br />

Pusteln bestanden. Jeder Punkt sah aus, als ob er durch Stechen<br />

mit einer glühenden Nadel entstanden wäre. ›Der örtliche<br />

Schmerz war‹, so erzählt er weiter ›der, geringste bei dieser<br />

schrecklichen Folter. Krämpfe schossen durch die Brust, die<br />

mich, als ob ich von einer Kugel getroffen worden wäre, zu<br />

Fall brachten. Der Pulsschlag setzte aus, <strong>und</strong> dann machte das<br />

Herz sechs oder sieben Schläge, als ob es die Brust sprengen<br />

wollte.‹<br />

Es tötete ihn beinahe, während er doch nur der Begegnung<br />

im bewegten Meer <strong>und</strong> nicht in dem flachen ruhigen Wasser eines<br />

Badebassins ausgesetzt war. Er erzählt, daß er sich später<br />

kaum selbst wiedererkannte, so weiß, runzlig <strong>und</strong> verschrumpft<br />

war sein Gesicht. Er trank eine ganze Flasche Brandy, <strong>und</strong> das<br />

schien ihm das Leben gerettet zu haben. Da haben Sie das<br />

Buch, Herr Inspektor, nehmen Sie es bitte mit <strong>und</strong> lesen Sie es.<br />

Sie werden dann sehen, daß es eine volle Erklärung der Tragödie<br />

des armen McPherson enthält.«<br />

»Und entlastet mich ohne Zweifel«, bemerkte Ian Murdoch<br />

mit schwachem Lächeln. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf,<br />

Herr Inspektor, auch Ihnen nicht, Mr. <strong>Holmes</strong>, denn Ihr Argwohn<br />

war verständlich. Ich fühle, daß ich dadurch, daß ich fast<br />

meines Fre<strong>und</strong>es Schicksal geteilt habe, noch in letzter St<strong>und</strong>e<br />

der Verhaftung entgangen bin.«<br />

»Nein, Mr. Murdoch. Ich war bereits auf der Spur <strong>und</strong> hätte<br />

Sie wohl vor diesem schrecklichen Erlebnis bewahren können,<br />

wäre ich so früh, wie es meine Absicht war, draußen gewesen.«<br />

44


»Woraus haben Sie geschlossen, Mr. <strong>Holmes</strong>, daß es sich<br />

um ein Seetier handelt?«<br />

»Ich bin eine Leseratte mit einem eigenartigen Rückerinnerungsvermögen<br />

für von den meisten Leuten unbeachtete Kleinigkeiten.<br />

Der Ausruf: ›Des Löwen Mähne‹ ließ mir keine<br />

Ruhe. Ich wußte, daß ich schon irgendwo einmal davon gehört<br />

hatte. Ich sagte Ihnen, daß das Buch die Kreatur beschreibt.<br />

Zweifellos trieb sie im Wasser, wie McPherson sie sah, <strong>und</strong><br />

diese wenigen Worte waren das einzige, was er uns zur Warnung<br />

vor der Gefahr noch zurufen konnte, ehe der Tod ihn ereilte.«<br />

»Also damit bin ich von dem Verdacht befreit«, sagte Murdoch,<br />

sich langsam erhebend. »Ein paar Worte möchte ich<br />

noch zur Erklärung sagen, denn ich weiß, wohin Ihre Nachforschungen<br />

gegangen sind. Es ist wahr, ich liebte das Mädchen,<br />

aber von dem Tage an, an dem sie meinen Fre<strong>und</strong> McPherson<br />

erwählte, hatte ich nur noch den einen Wunsch, ihr zu ihrem<br />

Glück zu verhelfen. Ich war zufrieden damit, abseits zu stehen<br />

<strong>und</strong> als Vermittler zu handeln. Ich habe oft Botschaften zwischen<br />

ihnen hin <strong>und</strong> her getragen, <strong>und</strong> weil ich ihr Vertrauen<br />

besaß <strong>und</strong> sie mir so teuer war, eilte ich zu ihr, um ihr meines<br />

Fre<strong>und</strong>es Tod mitzuteilen, bevor jemand mir in herzloser oder<br />

unvorsichtiger Art <strong>und</strong> Weise damit zuvorkommen würde. Sie<br />

wollte Ihnen nichts von unseren Beziehungen erzählen, aus<br />

Furcht, daß Sie mißbilligend darüber denken könnten <strong>und</strong> ich<br />

Schaden davon hätte. Aber wenn Sie gestatten, möchte ich jetzt<br />

versuchen, die ›Gables‹ wieder zu erreichen, denn ich sehne<br />

mich nach meinem Bett.«<br />

Stackhurst streckte ihm die Hand entgegen. »An unsere<br />

Nerven sind in den letzten Tagen starke Anforderungen gestellt<br />

45


worden«, sagte er. »Vergessen Sie, was vorgefallen ist, Murdoch.<br />

Wir werden uns künftig besser verstehen.« Sie gingen<br />

beide Arm in Arm als zwei Fre<strong>und</strong>e hinaus.<br />

Der Inspektor blieb bei mir zurück, mich mit erstaunten<br />

Augen bew<strong>und</strong>ernd anblickend. »Das haben Sie fein gemacht«,<br />

rief er endlich. »Viel habe ich schon von Ihnen gelesen. Ich<br />

konnte es aber nie recht glauben. Es ist großartig.«<br />

Ich fühlte mich gezwungen, den Kopf zu schütteln. Solche<br />

Lobphrasen dankend anzunehmen, bedeutete, sich etwas zu<br />

vergeben. »Die Aufklärung des Falles hat reichlich lange gedauert.<br />

Wenn der Tote im Wasser gef<strong>und</strong>en worden wäre, so<br />

hätte ich die Ursache wohl schneller feststellen können. Das<br />

Handtuch hatte mich irregeführt. Der arme Kerl konnte sich<br />

nicht mehr abtrocknen, <strong>und</strong> daraus schloß ich, daß er nicht im<br />

Wasser gewesen war. Wie konnte ich also auf den Gedanken<br />

kommen, daß irgendein Meerestier ihn angegriffen hatte? Das<br />

war es, was mich auf eine falsche Fährte brachte. Ja, ja, lieber<br />

Inspektor, es ist mir oft geglückt, den Herren von der hohen<br />

Polizei ein Schnippchen zu schlagen. Um ein Haar hätte Cyanea<br />

Capillata es dieses Mal getan.«<br />

46


Dieses E-Book mit noch mehr Geschichten erhalten Sie für 0,99 Euro unter<br />

null-papier.de/186<br />

in allen Formaten <strong>und</strong> für alle Apps <strong>und</strong> Lesegeräte.<br />

Ihr<br />

Jürgen Schulze, Null Papier Verlag

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!