Missbrauch in der Familie und Tastsinnstörung - Bernard Lievegoed ...
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DER ZEIT<br />
?IchZEICHEN<br />
Du!<br />
51<br />
Foto: Wolfgang Schmidt<br />
tragende E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Eltern ist zerbrochen, die Geschwistere<strong>in</strong>heit<br />
gesprengt, das eigene Format verloren. Die Rollen<br />
s<strong>in</strong>d doppelbödig <strong>und</strong> unklar – sie sche<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>s als sie<br />
tatsächlich s<strong>in</strong>d.<br />
Über den Tasts<strong>in</strong>n verb<strong>in</strong>det <strong>und</strong> trennt sich das K<strong>in</strong>d<br />
von se<strong>in</strong>er Umgebung<br />
Die Grenzverletzungen <strong>und</strong> unklaren Rollen wirken sich<br />
negativ auf die Reifung des Tasts<strong>in</strong>nes als Eigenwahrnehmungss<strong>in</strong>n<br />
aus. Um dies verstehen zu können, muss man<br />
zunächst wissen, wie sich <strong>der</strong> Tasts<strong>in</strong>n <strong>und</strong> Grenzs<strong>in</strong>n <strong>in</strong><br />
gesun<strong>der</strong> Weise entwickelt: In <strong>der</strong> Schwangerschaft, bei <strong>der</strong><br />
Geburt, bei <strong>der</strong> Pflege, beim Tragen, beim An- <strong>und</strong> Ausziehen<br />
entsteht im K<strong>in</strong>d während <strong>der</strong> ersten Lebensjahre e<strong>in</strong><br />
ganzheitliches, geschlossenes, sicheres Se<strong>in</strong>sgefühl. Aus<br />
diesem Gefühl heraus kann es sich von <strong>der</strong> Mutter o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Bezugspersonen nicht nur als getrennt wahrnehmen,<br />
son<strong>der</strong>n auch trennen. Bei weiterer Ausreifung führt<br />
diese Wahrnehmung des Selbst <strong>in</strong> die Trotzphase, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das<br />
K<strong>in</strong>d beg<strong>in</strong>nt »Ich« zu sagen <strong>und</strong> feststellt: »Ich will das –<br />
Mama will etwas an<strong>der</strong>es.«<br />
An dieser Stelle wird die Metamorphose des Tasts<strong>in</strong>ns <strong>in</strong><br />
den Ich-S<strong>in</strong>n deutlich. »Ich muss zuerst me<strong>in</strong> geschlossenes,<br />
abgegrenztes Dase<strong>in</strong>sgefühl über den Tasts<strong>in</strong>n ausbilden,<br />
aus diesem Gefühl heraus wissen, was ich will, um<br />
dann im nächsten Schritt e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Menschen als eigenständige<br />
Person mit e<strong>in</strong>em eigenen Willen, eigenen Bedürfnissen<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er eigenen Rolle zu begreifen. Diese<br />
Fähigkeit beschreibt Rudolf Ste<strong>in</strong>er mit dem Wort ›Ich-<br />
S<strong>in</strong>n‹: Der Ich-S<strong>in</strong>n vermag das Wesen, das ›Ich‹ <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Person, ihre Grenzen <strong>und</strong> ihre Rolle wahrzunehmen<br />
<strong>und</strong> zu achten«, führt Ingrid Ruhrmann aus.<br />
<strong>Missbrauch</strong> bedeutet, dass Nähe <strong>und</strong> Berührung zwischen<br />
Elternteil <strong>und</strong> K<strong>in</strong>d nicht alle<strong>in</strong> dazu dienen, die k<strong>in</strong>dlichen<br />
Bedürfnisse zu befriedigen. Stattdessen mischen sich die<br />
Bedürfnisse des Erwachsenen mit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, die er am K<strong>in</strong>d<br />
befriedigt. Da <strong>Missbrauch</strong> meist früh beg<strong>in</strong>nt, kann sich die<br />
durch den Tasts<strong>in</strong>n vermittelte Hülle nicht schließen <strong>und</strong><br />
ke<strong>in</strong> abgegrenztes, eigenes Dase<strong>in</strong>sgefühl entstehen. Stattdessen<br />
entwickelt sich e<strong>in</strong> verwirrendes, verunsicherndes<br />
Wir-Gefühl, <strong>in</strong> dem das K<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es »Ich-will-das!« erleben<br />
kann, son<strong>der</strong>n stets e<strong>in</strong>e Mischung aus Eigen- <strong>und</strong><br />
Fremdwillen erfährt. Und weil das K<strong>in</strong>d dem Erwachsenen<br />
völlig h<strong>in</strong>gegeben, ja ausgeliefert ist, wird es dessen Willen<br />
<strong>und</strong> nicht den eigenen wahrnehmen <strong>und</strong> erfüllen. ›<br />
2010 | November erziehungskunst